„Die Bereitschaft Ja zu sagen“

Freiheit und Widerstand bei Joachim Gauck

Bundespräsident Joachim Gauck ist der selbst ernannte „Liebhaber der Freiheit“ unter den deutschen Politikern. Seit bald einem Vierteljahrhundert tourt der überzeugte Antikommunist nun schon durch deutsche Medienarenen und Universitäten, um einer irrlichternden, mit den Verhältnissen unzufriedenen Bevölkerung von den freiheitlichen Segnungen der hiesigen Gesellschaft zu künden. Die Stimmen der Unzufriedenen sind, allen Verkündungen zum Trotz, bisher nicht verstummt. Ein Blick auf das Verständnis von Freiheit, für das Gauck wirbt, erklärt warum.

Im Mittelpunkt seines Freiheitsbegriffs steht die Verantwortung. Wer die politischen Debatten seit der Jahrhundertwende verfolgt hat, mag sich bei diesem Wort erinnert fühlen an rot-grüne Regierungsjahre, an die Agenda 2010, hier insbesondere an das Mantra von der Eigenverantwortung. Für den erklärten Agenda-Freund Gauck bedeutet Verantwortung „die Bereitschaft, Ja zu sagen, zu den vorfindlichen Möglichkeiten der Gestaltung und Mitgestaltung.“ (1) Nur wer also dazu bereit ist, „Ja zu sagen“ zu den bestehenden sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen innerhalb einer Gesellschaft, kann, so Gauck, überhaupt in Freiheit handeln: „Wenn wir uns derart […] zu der uns umgebenden Wirklichkeit verhalten, dürfen wir das als Verantwortung bezeichnen. Ich nenne die Freiheit der Erwachsenen »Verantwortung«“. (2) Diese „Freiheit der Erwachsenen“ kann jedoch nur in einem geeigneten gesellschaftlichen Rahmen sinnvoll ausgeübt werden, und dieser Rahmen ist für Gauck die staatsbürgerliche Herrschaft von freiheitlich-demokratischer Art. Ist diese Herrschaftsform innerhalb eines Gemeinwesens nur schwach ausgeprägt, oder überhaupt nicht vorhanden, besteht Grund zum Widerstand: „Die DDR-Regierung nannte uns zwar »Bürger«. […] Dabei wussten wir, gelehrt von der europäischen Aufklärung und einigen Staaten in denen Demokratie schon zuhause war, dass Bürger diejenigen Menschen sind, die Bürgerrechte haben, und diese auch ausüben können. Wir, die wir diese Bürgerrechte nicht hatten, waren zwar auch wertvoll und hatten unsere Würde – aber Bürger waren wir nicht. […] Die Freiheit war nicht dort, wo ich lebte.“ (3) Gaucks Kritik am DDR-Regime zielt mithin nicht ab auf ein Vorhandensein von Herrschaft per se, sondern nur auf die in­effektive Or­ga­nisation von Herrschaft. Die rohe, allzu offen­sichtliche Poli­zeistaatlichkeit der DDR machte es ihren Bewohnern letztlich unmöglich, daran zu glauben, herrschende Klasse und Bevölkerung verfolgten gemeinsame politische und ökonomische Interessen. Eine echte positive Hinwendung der allgemeinen Bevölkerung zur herrschenden Klasse war in der DDR zur Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse nicht notwendig, und daher auch nicht vorgesehen. Die von Gauck verfochtene staatsbürgerliche Herrschaftsform freiheitlich-demokratischer Prägung hingegen baut auf die Fähigkeit des mit staatlich eng abgefassten Freiheitsrechten ausgestatteten Bürgers zur Einsicht in die Notwendigkeit des Vorhandenseins der bestehenden Herrschaft. Sie vertraut also auf das, was Gauck „Freiheit der Erwachsenen“ nennt – eine echte, positive, geradezu vertrauensvolle Hinwendung zur Macht, eine vom Bürger selbst für gut und richtig gehaltene Bejahung der bestehenden Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft: „Wir werden gebraucht und alles wird gebraucht, was aus Untertanen Bürger macht. […] Es braucht eine Geneigtheit seiner Bewohner für die der französische Schriftsteller Montesquieu sogar den Begriff Liebe verwandte. Als Deutscher und Kind dieses Jahrhunderts denkt man natürlich sofort an die Fülle missbrauchter Gefühle – die Liebe zu Scholle, Heimat, Nation zum Thron und zum Führer – und hört weg. Aber wir sollten die alte Begrifflichkeit vielleicht neu buchstabieren. Es könnte ja sein, dass wir auf eine innere Wahrheit stoßen, die wir dringend brauchen.“ (4)

Freiheit bei Gauck rekurriert also auf eine Freiheit des Beherrschten vermittels staatsbürgerlicher Freiheitsrechte wie dem Recht auf freie Rede, der Gewissens- und Wahlfreiheit, Vertrauen in politische Führer und gesellschaftlichen Eliten aufzubauen, um dann schließlich an die „gute Herrschaft“, an Einigkeit und Interessengleichheit zwischen herrschender Klasse und Gesamtbevölkerung glauben zu können. Diese Freiheit, sich „aus freien Stücken“ und „guten Gewissens“ einer herrschenden Klasse verschreiben zu können, erhebt Gauck zum Grundbestandteil der menschlichen Natur: „Unsere Fähigkeit zur Verantwortung ist somit nicht etwas, das durch Philosophen, Politiker oder Geistliche quasi von außen in unser Leben hineingebracht würde, sondern gehört zum Grundbestand des Humanum“. (5) Wer gegen diese, dem Menschen angeblich innewohnenden Bestimmung, „Verantwortung zu übernehmen“, Widerstand leistet, d.h. wer es wagt, das so in Staatsbürgerlichkeit abgefasste Herrschaftsgefüge der Bundesrepublik, bzw. anderer westlicher Demokratien fundamental abzulehnen, versündigt sich an sich selbst und seinen Mitmenschen. Widerstand gegen die hiesige Gesellschaft ist damit moralisch delegitimiert, aber auch psychologisch unhaltbar, denn Gauck will entdeckt haben, „dass es einen unglaublich kraftvollen Indikator für dieses Ja zu einem Leben in Verantwortung gibt […] Es ist nämlich so, dass unsere Psychen uns belohnen, wenn wir leben, was als Potenz in uns angelegt ist.“ (6)

Entsprechend abschätzig beurteilt Gauck dann auch jeden dennoch stattfindenden Versuch einer Kritik an den politischen und ökonomischen Resultaten dieser freiheitlich-demokratisch abgefassten Herrschaft. So erscheinen ihm die Proteste gegen die Sozialreformen der Agenda 2010 als „töricht und geschichtsvergessen“ (7), Antikapitalismus-Debatten „albern“ (8), und Kriegsgegner „glückssüchtig“ (9). Bundesdeutsches Politikpersonal darf, so Gauck, nicht „beschimpft“ werden, denn diese sind schließlich „nicht Erwählte von Gottes Gnaden, sondern es sind von uns und aus unserer Mitte Erwählte. Und darum haben sie unsere Farbe, unsere Tugenden und unsere Laster. Es ist wohlfeil, sich von ihnen abzuheben, als gehörten sie einer anderen Rasse an. Es ist übrigens auch verantwortungslos.“ (10) Folgerichtig konstatiert Gauck mit Blick auf staatsbürgerliche Herrschaft und Lohnsklaverei das Ende menschlicher Geschichte: „Warum gehen wir oft in die nicht-demokratische Welt hinaus, und tun so, als hätte unsere demokratische Welt »Nichtwerte« ? […] Kann nur ein polnischer Ministerpräsident, wie Donald Tusk, der die Unfreiheit des Sozialismus erlebt hat, formulieren, was unser aller Grundhaltung zu Europa sein sollte: »Es ist tatsächlich der beste Ort der Welt, etwas besseres hat bisher niemand erdacht!«? […] Darin zeigt sich: Wenn wir politische Freiheit gestalten wollen, gibt es nicht allzu viele Varianten. Ich jedenfalls kenne keine, die den Grundsätzen dieser westlichen Variante von Eigenverantwortung vorzuziehen wäre. Es gab zwar Gegenentwürfe, in Europa erwachsen aus dem Marxismus […] Aber diese Entwürfe haben sich nicht behauptet […] Und deshalb gibt es auch keinen Grund für den alt-neuen Versuch, eine neue Variante von Antikapitalismus in die politische Debatte zu bringen.“ (11)

Worin auch immer nun eine annehmliche oder „richtige“ Variante von Freiheit bestehen mag, in der Befähigung Herrschaft unter Zuhilfenahme von staatlich genehmigten Bürgerrechten schätzen zu lernen, kann sie kaum bestehen. Kein Mensch sehnt sich nach Herrschaft, und niemand akzeptiert sie widerstandslos. Davon zeugen Gefängnisausbrüche, Arbeitsniederlegungen und Delinquenzen im Schulalltag genauso wie jener dauernde Spott an den Politiker_innen, den Gauck nicht gelten lassen will. Diesen Sachstand empfinde ich als ungemein beruhigend.

carlos

(1) Joachim Gauck, „Freiheit – ein Plädoyer“, S.26, Kösel-Verlag, 2012
(2) ebd.
(3) ebd., S.17 ff.
(4) Joachim Gauck, „Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen – Denkstationen eines Bürgers“, S.149, Siedler Verlag, 2013
(5) Joachim Gauck, „Freiheit – ein Plädoyer“, S.36, a.A.o.
(6) ebd., S.40
(7) Thomas Rogalla, „Joachim Gauck nennt die Hartz IV-Proteste berechtigt, sieht aber einen grundlegenden Unterschied zum Herbst 1989“, Berliner Zeitung, 09.08.2004
(8) http://www.sueddeutsche.de/politik/occupy-beweung-und-die-macht-der-finanzmaerkte-gauck-empfindet-antikapitalismus-debatte-als-unsaeglich-albern-1.1166051
(9) http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/06/120612-Bundeswehr.html
(10) Joachim Gauck, „Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen – Denkstationen eines Bürgers“, S.194, a.A.o.
(11) Joachim Gauck, „Freiheit – ein Plädoyer“, S.55 ff., a.A.o.

Warum Degrowth und nicht Klassenkampf?

Ein Beitrag von Autodidaktische Initiative e.V.

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Degrowth. Neue Bewegungen geben sich nicht mehr mit den vorgefundenen Lebensbedingungen zufrieden, sondern gehen vielfältige Wege, um den Glauben an das „mehr ist besser“ zu erschüttern. Ob wissenschaftliche Studien und Reflexionen, offene Gemeinschaftsgärten und Werkstätten – alle eint, dass sie das unbegrenzte Wachstum als Königsweg für menschlichen Fortschritt in Frage stellen und mit der Idee des Degrowth einen neuen Diskurs entwickeln.
Dieser Diskurs äußert sich auf vielfältige Weise: Solidarisches Wirtschaften und Praktiken des „Commoning“, unmittelbare (Wieder-)Belebung des sozialen Miteinanders und „einfacher”, ressourcenschonender Techniken, regenerative Energien und Regionalisierung – es geht darum, Möglichkeiten des Miteinanders zu stärken, die der neoliberale, globalisierte Kapitalismus verunmöglicht oder an den Rand drängt.
Der Diskurs, den die AkteurInnen bilden, ist jung, frisch und modern, passend zur positiven Ästhetik unseres Jahrhunderts. Aktiv und experimentell treffen sich hier radikale DenkerInnen und tatkräftige PraktikerInnen aus der Mitte der Gesellschaft. Diese Mitte wird betont, denn das Ziel ist es, möglichst viele Menschen auf diesen Weg „mitzunehmen”. Es geht darum, einzusehen, dass es angesichts von Klimawandel & Co. so nicht weiter gehen kann und eine ökologisch-soziale Transformation im Sinne (fast) aller Mitglieder der Gesellschaft ist. Das Mittel dazu könne nur Aufklärung und nicht der Kampf eines Teils der Gesellschaft gegen einen anderen sein. „Degrowth ist realistisch, unbegrenztes Wachstum auf einem begrenzten Planeten nicht” – so formuliert es z.B. der Sozialpsychologe Harald Welzer.
Veränderung ökonomischer Rahmenbedingungen, Umverteilung, Stärkung regionaler Wirtschaftsräume, Lebensqualität, demokratische Teilhabe und Inklusion sind die zentralen politischen Schlagworte der Bewegung. Die Systemfrage hingegen wird nur selten laut ausgesprochen; das Wort Kapitalismus findet man in den Debatten kaum, Kommunismus ist keine Option. Zwar gibt es innerhalb der Degrowth-Strömungen auch solche, die versuchen Kritik am kapitalistischen System und Ökologie als eine Einheit zu sehen (attac, Kolleg Postwachstumsgesellschaften an der Uni Jena). Doch ist zu beobachten, dass der „Mainstream“ der Bewegung, vertreten bspw. durch den Volkswirt Niko Peach, sich stark auf „Bewusstseinswandel“, „ressourcensparende Produktion“ und „nachhaltigen Konsum“ fokussiert und kapitalismuskritische Analysen eher ausblendet.
Das macht ein bisschen stutzig, denn eigentlich sind Wachstum und Kapitalismus doch nur zwei Ausdrücke für dasselbe Problem. In der Kritik steht ja nicht irgendein diffuses Wachstum, schon gar nicht das Wachstum an Lebensqualität, sondern ein Wachstum basierend auf der Expansion von Märkten in jede Ecke des Globus und nahezu alle Lebensbereiche, getragen von permanenten Investitionen in die Überwindung zeitlicher und räumlicher Schranken, in die Steigerung von Produktivität und die Verdichtung von Produktionszeiträumen – mit all den bekannten Folgen für Mensch und Umwelt. Kurz: es geht um das kapitalistische Wachstum.

MARX – Nein danke?!

Karl Marx hat in seinem Hauptwerk „Das Kapital” so gut wie kein anderer herausgearbeitet, dass die in Konkurrenz zueinander stehenden und nach Produktions- und Innovationsvorsprüngen suchenden Privatunternehmen gerade das Wachstum .hervorbringen, welches das System am Laufen hält. Dass der Begriff des Kapitalismus dennoch kaum eine Rolle in der Wachstums-Analyse der Degrowth-Bewegung spielt, hat einerseits strategische, andererseits perspektivische Gründe.
Strategisch scheint Kapitalismuskritik immer noch eng an die sozialistische Bewegung gebunden zu sein, die sich so schnell wohl kaum vom „Schock” des real existierenden Sozialismus erholen, d.h. so schnell nicht wieder hegemonial werden wird. Das ist auch gut so, mögen die meisten denken, zu sehr ist der Marxismus auch in der „linken“ Strömung als dogmatisch und altmodisch bekannt. Mit langen, abstrakten Analysen und Schlussfolgerungen, zu deren Gelingen die Einzelnen scheinbar nichts tun können. Dagegen ist die neue Bewegung auf das Hier und Jetzt ausgerichtet. Selber etwas tun, direkt neue Wege beschreiten – dieser Geist hat eine hohe Anziehungskraft, gerade auf die vielen jungen AktivistInnen.
Zudem stößt offensichtliche Kapitalismuskritik schnell die VertreterInnen von Unternehmen vor den Kopf – diese jedoch sollen für die Transformation der Gesellschaft mit ins Boot geholt werden. Initiativen wie die „Gemeinwohl-Ökonomie” wollen Unternehmen beispielsweise durch sozial-ökologische Rankings ermuntern ihren Kurs zu ändern. Dazu jedoch braucht es eine kommunikative Grundlage.
Perspektivisch trennt die Degrowth-Bewegung u.a. ihr soziokultureller Hintergrund von der marxistischen Bewegung. ArbeiterInnenbewegungen und Gewerkschaften spielen als Zielgruppen kaum ein Rolle, auch finden sich wenig VertreterInnen aus dem industriellen Gewerbe in den Degrowth-Organisationen selbst. Die gesellschaftlichen Diskurse der „Wissensgesellschaft“ und „Deindustrialisierung“ tragen dazu bei, dass diese Gruppen als nahezu irrelevant für die Kämpfe in den alten Industriestaaten scheinen.
Auf der theoretischen Ebene fällt der Unterschied im Abstraktionsgrad der Analyse ins Auge. Den wissenschaftlichen Vordenkern von Degrowth ließe sich aus marxistischer Sicht ein Mangel an Abstraktion unterstellen, welchen sie mit der Disziplin teilen, der sie entspringen: der VWL. Sie beschäftigt sich weniger mit grundlegenden Zusammenhängen und sozialen Verhältnissen. Anders als die Mainstream-VWL entlarven die Wachstumskritiker das alte Versprechen, dass Wachstum Wohlstand für alle schafft. Aber die Herangehensweise bleibt auf ähnliche Weise im Konkreten, Unmittelbaren gefangen. In fast programmatischer Art sucht die Postwachstumsökonomie nach systemimmanenten Strategien, wie dem Versprechen des Wohlstands näher zu kommen ist. Die Herangehensweise erinnert an die Utopisten des 19. Jahrhunderts, gegen die Marx sich mit seiner Analyse wandte.

Der kleine und der große gemeinsame Nenner

Folgt man der marxschen Analyse, liegt die Wurzel allen Übels darin, dass individuell agierende Einzelkapitalisten die Kontrolle über die Organisation der Produktion (inklusive der ArbeiterInnen) besitzen, um Waren für einen anonymen Markt zu produzieren – und den zahlreichen Spannungen, die sich hieraus ergeben. Denn ein Teil des produzierten Mehrwerts kommt weder dem Konsum der Kapitalisten noch der Lebenserhaltung der Arbeiter zu Gute, sondern fließt in die Ausweitung der Produktion (Erweiterung des Maschinenparks, Aufkauf von Konkurrenten etc.). Diese sogenannte Kapitalakkumulation wird durch die Konkurrenz zwischen den Einzelkapitalen beflügelt und kennzeichnet die gesamte Geschichte des Kapitalismus. Vergrößerte Kapitale gehen mit vergrößerten Mehrwerten einher, die sich in der Produktion verwerten sollen. So ist Kapital immer auf der Suche nach neuen Anlagequellen, und immer mehr Produktionszweige und Dienstleistungen werden der Logik des Kapitalismus unterworfen. Dadurch steigt wiederum der Ausstoß von Waren, die konsumiert werden müssen (statt „konsumiert“ müsste „verkauft“ stehen – was mit den Waren nach dem Verkauf passiert, kann den KapitalistInnen ja egal sein). Der Absatz muss ständig vergrößert werden. Eine Reduzierung des Konsums, wie Degrowth-Vertreter sie als Ziel für ein „besseres Wirtschaften“ vertreten, ist mit dieser Logik nicht vereinbar. Der Kapitalismus strebt seinem Wesen nach nicht nach einem Gleichgewicht. Die marxistischen KapitalismuskritikerInnen zielen in ihren Analysen und Bestrebungen folglich auf Veränderung dieser sozialen Konstellation ab. Eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel soll die Kontrolle über Bedingungen der Arbeit und des Ressourcenverbrauchs wieder in die Hand der Menschen legen und die anonyme Marktfunktion durch die gesellschaftliche Regelung von Produktion und Austausch ersetzen, so dass die Menschen wieder HerrInnen ihrer eigenen Produkte werden.
Auch Degrowth verfolgt das Ziel, dass die Wirtschaft dem Menschen dient und nicht andersrum. Doch scheint man sich hier leichter auf einen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ – die Abkehr vom Wachstum – einigen zu können, von dem sich mehr Menschen überzeugen lassen. Durch viele kleine Schritte auf politischem Wege, so die Idee, sowie durch kulturelles Umdenken und ein verändertes Bewusstsein der individuellen VerbraucherInnen könnte der wachstumsgetriebene Kapitalismus langsam in einen anderen Zustand transformiert werden. Ein schöner Gedanke! Erscheint er doch viel machbarer als eine komplette, gar gewalttätige Umwälzung. Ein friedlicher Wandel könnte aus der jetzigen Krise geradewegs in eine neue Zeit führen. Als Beleg dienen eben all die kleinen Pionier-Projekte, die ohne antikapitalistische Rhetorik ganz praktisch etwas anpacken.
Doch damit gerät oft gerade die Mehrheit der Gesellschaft aus dem Blick, die eigentlich „mitgenommen” werden soll. Die strukturelle Gewalt, die im Zwang liegt, seine eigene Arbeitskraft verkaufen und somit das Potential zur Mitgestaltung der materiellen, gesellschaftlichen Basis aus der Hand geben zu müssen, trifft in Deutschland immer noch auf einen Großteil der erwerbsfähigen Menschen zu. Für die junge, gut ausgebildete und sozial vernetzte, weiße und gesunde Schicht, aus der sich die Degrowth-Bewegung in Deutschland überwiegend speist, sind diese Zwänge möglicherweise nicht so unmittelbar spürbar.
Dies ist allerdings auch kein Aufruf, einen klassisch kommunistischen Standpunkt wiederzubeleben. Denn auch wenn die Kritik hier grundlegender und radikaler an sozialer Gerechtigkeit ausgerichtet scheint, kann es doch auch auf dieser Seite an Verständnis für die Probleme und Erfordernisse der aktuellen Zeit fehlen. Das beweisen die vielen kommunistischen WachstumsbefürworterInnen.

Voneinander zu lernen, ist nicht trivial!

In beiden Bewegungen gibt es Strömungen, an deren emanzipatorischem Potential man zweifeln kann – und die dafür zu recht von dem jeweils anderen Lager kritisiert werden – andererseits sind sich die verschiedenen Strömungen aus einer bestimmten Perspektive ziemlich nahe. Und tatsächlich gibt es auch viele Menschen, die sich beiden Bewegungen zugehörig fühlen. Problematisch wird es, wenn eine der beiden behauptet, dass sich mit der Abschaffung ihres Hauptgegners (Lohnarbeit/ Wachstum) die jeweiligen „Nebenwidersprüche“ einfach so erledigen würden. Unsere Gesellschaft bildet eine Totalität: Wie wir leben, unsere aller-persönlichsten Beziehungen zu Mitmenschen und Dingen und die globalen Auswirkungen dieser Verhältnisse sind verknüpft.
Auch wenn eine „alternative“ Minderheit nun mehr Aufmerksamkeit bekommt, auch wenn der Kapitalismus sich langsam auf ein Überleben im post-fossilen Zeitalter einstellt, so werden sich seine Dynamiken – Zentralisierung von Geld, Macht und Ressourcen zu Ungunsten von Mensch und Umwelt – nicht abstellen lassen, wenn sich nicht eine Mehrheit gemeinsam gegen die Grundlagen dieses Systems stellt.
Der große Wunsch nach einem besseren System, der die Bewegungen eint, sollte dazu antreiben, voneinander zu lernen. Das klingt vielleicht trivial, ist es angesichts der herrschenden Berührungsängste aber nicht. Die Degrowth-Bewegung könnte die kapitalismuskritische Bewegung davon überzeugen, dass der Aufbau von utopischen Projekten im Jetzt wichtig ist – u.a., um Freiräume und ein Milieu für die Organisation einer breiten Bewegung zu schaffen. Die Vorurteile von SozialistInnen gegenüber den WachstumskritikerInnen sind oft viel zu undifferenziert und vorschnell.
Andersrum würde es der Degrowth-Bewegung viel bringen, wenn sie stärker auf die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung eingeht und bestehende Arbeitskämpfe wie bei Amazon tatkräftig unterstützt. Denn der fromme Wunsch nach einer freundlichen Gesellschaft bleibt garantiert wirkungslos, wenn er nur in den engen Grenzen von kleinen („Freizeit“-) Projekten verwirklicht wird. Hier können die Marx’ schen Analysen helfen, sich bewusst zu machen, in welchen Verhältnissen wir uns bewegen und welcher Situation wir mit unseren Projekten gegenüberstehen. Das Aufklärungs-Ideal ernstzunehmen heißt auch, sich selbst in Bezug auf schwierige Fragen kritisch zu schulen.
Eine Degrowth-Bewegung, die es mit einer wirklich sozialen und ökologischen Transformation ernst meint, sollte sich zudem mit der antikapitalistischen Bewegung darüber austauschen, wie ein Ansatz, der nicht nur das individuelle Handeln, sondern Institutionen und die Gesetze des Wirtschaftens verändern will, gegen bestehende Interessen durchgesetzt werden kann. Beide Bewegungen gemeinsam könnten eine starke neue linke Bewegung schaffen. Eine nicht-kapitalistische Welt ist möglich!

ADI

Don’t Super Size Us!

Degrowth als Chance eines gesellschaftlichen Wandels.

Es gibt so einige Annahmen, die mensch das ganze Leben mit sich führt und nie von selbst aus hinterfragt, als ob sie bei Geburt eingepflanzt worden wären. Und je länger sie sich festwachsen, desto überraschter ist mensch vielleicht, wenn diese konventionellen Denkweisen einfach mal angezweifelt werden. Die (Internationale) Degrowth-Konferenz (für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit), die vom 2. bis zum 6. September in Leipzig stattfinden wird, könnte der Anfang eines Trends sein, der unser wirtschaftliches Denken und Handeln langfristig verändern wird. Wie oft findet man doch Bestandsaufnahmen und Prognosen verschiedener nationaler und transnationaler Organisationen zum Wirtschaftswachstum, wie oft hört man doch Forderungen und Versprechungen höheren Wachstums in den Medien. Das Bruttoinlandsprodukt ist in unserer Gesellschaft für die meisten ein Seismograf für die Qualität zukünftiger Lebensbedingungen. Mehr Wachstum = unbedingt wünschenswert, weniger Wachstum = katastrophal. Welche_r Politiker_in würde sich nicht lächerlich machen und öffentlichen Spott auf sich ziehen, wenn er oder sie mit dem Versprechen auftreten würde, für weniger oder gar negatives Wachstum zu sorgen?
Den Problemen, die mit ständigem Wachstum einhergehen, wird in den Medien eher nur nebenbei Beachtung geschenkt. Der erste Aspekt, der einem in einem Zeitalter wachsenden Umweltbewusstseins einfallen mag, ist der der ökologischen Nachhaltigkeit. Steigendes Wirtschaftswachstum setzt als Bedingung immer voraus, dass genügend Rohstoffe vorhanden sind, die sich zu Zwischen- oder Endprodukten verarbeiten lassen und beim Verkauf einen Profit ergeben können. Je wirtschaftlich fortgeschrittener eine Gesellschaft ist, desto mehr Ressourcen müssen darauf verwendet werden, das materielle Niveau zu halten und noch zu steigern. Kann das gutgehen?
Es werden schon jetzt bereits kontroverse Debatten darüber geführt, ob einige für die Entwicklung von Volkswirtschaften essentielle Rohstoffe in baldiger Zukunft zuneige gehen könnten. Die bekannteste wäre die um Peak Oil. Die These: Die Menge verfügbaren rohen Öls sinkt auf ein Niveau herab, auf dem die Anforderungen heutiger wirtschaftlicher Notwendigkeiten nicht mehr erfüllt werden können. Die Folge wäre die, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt (der vielleicht schon jetzt erreicht ist) die Ölfördermenge nur noch fallen würde. Nicht nur bei Öl, das sowohl als Treibstoff als auch in vielen industriellen Erzeugnissen mitverwendet wird, stellt sich dieses Problem. Wertvolle Mineralstoffe und z.B. auch Uran sind ebenso von dieser Problematik betroffen und es ist ungewiss, ob erneuerbare Energiequellen rechtzeitig und effizient genug die Leistung der alten nicht-erneuerbaren wettmachen können. Auch fruchtbare Landflächen könnten in naher Zukunft knapp werden, wenn immer größere Plantagen dafür verwendet werden, Futter für Nutztiere zur Herstellung von tierischen Produkten und Tierfleisch zu produzieren.
Niemand weiß genau, was passieren würde, wenn ohne geeignete Ersatzmaterialien die Rohstoffquellen unserer Industrieproduktion versiegen würden. In dem Maße, wie heute wirtschaftliche Akteure regional, diese Regionen wiederum national und diese Nationen international und global voneinander abhängig und vernetzt sind, würden die Folgen sich überall schnell bemerkbar machen. Entweder die Menschheit pegelt sich auf das neue Niveau ein und nimmt in Anbetracht der Lage ein Schrumpfen der Wirtschaft hin, oder es käme zum verstärkten Wettkampf um die übrigen Schätze der Erde. Angesichts des globalen Konkurrenzsystems, in dem sich sowohl Nationen als auch transnationale Konzerne das meiste voneinander abringen wollen, wäre die letztere Möglichkeit wohl die wahrscheinlichere. Wenn die Peak-Theorien recht haben, geht es nicht um die Frage, ob wir negatives oder Nullwachstum hinnehmen wollen, sondern ob wir dies jetzt gemeinsam planen und durchführen oder uns in der Zukunft den riskanten und desaströsen Folgen stellen.
Und selbst wenn kein unmittelbarer Mangel droht, können die sozialen, menschlichen und ökologischen Kosten größer sein als der Nutzen, der durch das Abbauen und die wirtschaftliche Verwertung jener Rohstoffe erreicht werden soll. Mensch denke nur an die Vermüllung, Verschmutzung und Verpestung immer größerer landschaftlicher und ozeanischer Flächen, die zweifelhaften Folgen neuerer Gasfördermethoden wie dem Fracking, den anscheinend nicht mehr abzuwendenden Klimawandel mit seinen dramatischen und fatalen Konsequenzen und die Zerstörung der Lebensräume nativer Einwohner und indigener Bevölkerungen, aber auch der einer Vielzahl von Tieren. Die Leidtragenden sind also nicht nur wir selbst, sondern auch andere Lebenswesen und Menschen, denen wir uns mit unserem unverantwortlichen Wachstum bestenfalls fahrlässig, im schlimmsten Fall gar kriminell gegenüber verhalten. Ich möchte jedoch nicht den Eindruck erwecken, dass Wachstumskritik und Ent-Wachstum nur eine notwendige und schmerzhafte Reaktion auf die destruktiven Folgen des modernen Industrie- und Dienstleistungskapitalismus sein muss. Es geht auch um den zivilgesellschaftlichen Aspekt, also um die Frage: Was wollen wir selber? So wie es steht, ist das Wort „Wirtschaftswachstum“ geradezu ein Befehl, dem mensch als wirtschaftliches Subjekt geradezu verdonnert ist zu folgen. Wer dem nicht Gehorsam leisten will, um den ist es allgemein schlecht bestellt. Wer nicht so viel lohnarbeiten will, wie er es muss, der muss schnell damit rechnen, vom freien Markt und damit von seiner materiellen Selbsterhaltungsbasis getrennt zu werden. Wer gar nicht arbeiten will, muss mit Schikanen und dem Ruf eines „Schmarotzers“ leben. Das hört sich natürlich mehr nach Arbeits- als nach Wachstumskritik an. Ich denke jedoch, dass beides ziemlich eng miteinander verknüpft ist.
Wem kann man diese strenge Arbeitsethik anlasten, wenn nicht dem geradezu zwanghaften Verlangen, so viel Wachstum, wie möglich aus der arbeitsfähigen Bevölkerung auszuquetschen? Ob diese Wirtschaftssteigerung tatsächlich sinnvoll ist, in einer Verbindung mit unseren eigenen Bedürfnissen und unserem Wohlbefinden steht, wird da nicht gefragt. Brauchen wir z.B. wirklich das Wachstum in der Werbungs- und Marketingbranche, in der selbsternannte „Experten“ und „Kreative“ der Gewinnung von noch so kleinen Marktanteilen wegen uns immer dümmere Produktpropaganda vor die Nase setzen und uns glauben lassen, dass wir Standardprodukt x unbedingt brauchen und sogar noch viel mehr als Standardprodukt y? Brauchen wir eine immer größere Produktion von trivialen Konsumgütern, die als Quasi-Opiate den eintönigen kapitalistischen Alltag erträglich machen sollen, wenn die meisten Menschen sich vielleicht ein Leben wünschen, das mehr Authentizität und Freiraum für eigene Entfaltung beinhaltet? Wollen wir immer mehr Bereiche des Lebens verwirtschaftlichen und der marktwirtschaftlichen Arbeitsteilung preisgeben, die wir mit etwas mehr Zeit vielleicht auch einfach selber bewerkstelligen könnten?
Obwohl ich durch meine Wortwahl und meine suggestiven Fragestellungen meine Ansichtsweisen schon verraten habe, will ich nicht meinen, dass sie die richtigen sein müssen. Es sind aber solche wichtige Fragen, die sich uns in der Öffentlichkeit aufdrängen müssten, es leider aber umso weniger tun. Es soll natürlich auch nicht gesagt werden, dass Wachstumskritik automatisch kapitalismuskritisch wäre. Es gibt mehrere Strömungen der Mainstream-Wirtschaftswissenschaften, die meinen, Wirtschaftswachstum sei eben nicht das Fundament, sondern nur einer der Balken des Marktwirtschafts-Hauses, das mensch entfernen kann, ohne das ganze Gebäude einstürzen lassen zu müssen. Ob Ent-Wachstum automatisch auch Kapitalismuskritik beinhaltet ist eine schwierige theoretische Frage, die nicht so leicht beantwortet werden kann. Es fällt jedoch auf, dass die Probleme, die mit der Vorherrschaft des Wachstumsgebots einhergehen, die selben sind, mit denen sich auch Kapitalismuskritiker beschäftigt haben,
Es bleibt auch offen, ob Wachstumskritik effektiv z.B. mit der Kritik der ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung oder der hierarchisierten und mit stillen Zwängen bestückten Arbeitskultur verbunden werden kann. Welche Richtung die Bewegung, die mit Begriffen wie „Nullwachstum“, „Ent-Wachstum“ und „Postwachstumsökonomie“ auf sich aufmerksam macht, letztendlich beschreiten wird, ist noch unklar. Es bleibt daher abzuwarten, welche Stoßrichtung ihre Mitglieder ihr letztendlich geben werden.

Alphard

Neues Ermittlungsverfahren nach §129 gegen Linke in Leipzig!

In Sachsen laufen laut jüngsten Aussagen des Innenministeriums Ermittlungen gegen drei Personenzusammenhänge, die im Verdacht stehen, „kriminelle Vereinigungen“ nach § 129 Strafgesetzbuch zu bilden. Neben zwei Zusammenhängen in Dresden ist auch eine „Gruppierung“ in Leipzig im Visier. Dieser werden 12 Personen zugeordnet.
Das Strafgesetzbuch definiert eine „kriminelle Vereinigung“ nach § 129 als „Personenzusammenschluss von gewisser Dauer, dessen Zweck oder Tätigkeit darauf gerichtet ist, Straftaten zu begehen.“ Zielrichtung der kriminellen Handlungen muss die „Störung der öffentlichen Ordnung“ sein, wobei es sich um ein rechtlich unbestimmtes Konstrukt handelt.
Die Paragraphen 129, 129a und b des Strafgesetzbuches wurden dazu geschaffen politische Strukturen zu durchleuchten. Auch zahlreiche Jurist*innen und Bürgerrechtler*innen kritisieren den Paragraphen völlig zurecht. Um nach § 129 belangt zu wer­den muss gar keine Straf­tat be­gan­gen wor­den sein. Mittels des – willkürlichen – Anfangsverdachtes werden die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren stark ausgeweitet: Ob Telekommunikationsüberwachung und Postkontrolle, Observation, verdeckte Ermittler*innen, akustische und optische Wohnraumüberwaschung oder Rasterfahndung: die Palette ist breit. Im Rahmen der Ermittlungen kann es auch zu Hausdurchsuchungen, ED-Behandlungen und DNA-Abnahmen kommen.
Auch die ver­meint­li­che Un­ter­stüt­zung und Werbung für eine kri­mi­nel­le (§ 129) oder ter­ro­ris­ti­sche Ver­ei­ni­gung (§ 129a) wird unter Stra­fe ge­stellt, mit einer Gesetzesänderung durch die rot-grüne Bundesregierung und durch Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes wurden die Hürden dafür allerdings erhöht.
Die De­fi­ni­ti­on des­sen, was kri­mi­nell und ter­ro­ris­tisch sein soll, ist schwam­mig und von der po­li­ti­schen Agen­da der je­wei­li­gen Lan­des-​ oder Bun­des­re­gie­rung ab­hän­gig. Kein Wun­der also, dass die po­li­ti­sche Linke mit Ab­stand am häu­figs­ten mit Er­mitt­lungs­ver­fah­ren nach den 129er Paragrafen über­zo­gen wurde. Zwi­schen 1990 und 1996 gab es 1.116 Ver­fah­ren gegen linke und 23 gegen rech­te Grup­pen. In den letz­ten Jah­ren sanken die Zahlen der Ermittlungen gegen links erheblich. Dafür wuchs die Zahl von Ver­fah­ren nach § 129 b (Kri­mi­nel­le und ter­ro­ris­ti­sche Ver­ei­ni­gun­gen im Aus­land).
Mit insgesamt zwei laufenden und einem ruhenden Ermittlungsverfahren nach § 129 gegen links dürfte Sachsen also weit vorn liegen.
Die Ge­schich­te des Paragraphen 129 reicht bis ins 19. Jahr­hun­dert zu­rück und reiht sich in die deut­sche Tradition der autoritären Be­kämp­fung ba­sis­de­mo­kra­ti­scher, pro­gres­si­ver Kräf­te ein. Seine Vor­läu­fer rich­te­ten sich zum Bei­spiel 1848 gegen die re­pu­bli­ka­nisch-​re­vo­lu­tio­nä­ren Be­stre­bun­gen gegen re­ak­tio­nä­re Herr­schafts­struk­tu­ren. Im Deutschen Reich richtete sich der § 129 bereits gegen „staats­feind­li­che Bestrebun­gen“ und damit gegen so­zia­lis­ti­sche und so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Be­we­gun­gen. Diese Linie zog sich weiter in die Weimarer Republik, in der der Paragraf ex­zes­siv gegen so­zia­lis­ti­sche und kom­mu­nis­ti­sche Ak­ti­vi­tä­ten und Or­ga­ni­sa­tio­nen an­ge­wen­det wurde. Die Kri­mi­na­li­sie­rung von lin­ken Be­we­gun­gen ver­schie­dens­ter Cou­leur er­reich­te mit der Trans­for­ma­ti­on der Wei­ma­rer Re­pu­blik in den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus ihren Hö­he­punkt. Der 129er Pa­ra­graph lebte fort und dien­te der Ver­fol­gung jeg­li­cher An­ders­den­ken­der.
Im post­fa­schis­ti­schen Deutsch­land, das sich der Ur­sprün­ge des Reichs­straf­ge­setz­bu­ches von 1871 be­dien­te, wurde der § 129 schnell zum wich­ti­gen In­stru­ment im Kampf gegen links. Er spiel­te bei der Ver­fol­gung von Kom­mu­nis­t*in­nen und dem Ver­bot der KPD eine zen­tra­le Rolle. In die­sem Zu­sam­men­hang kam es in den 1950er und 60er Jah­ren zu 100.0​00 Er­mitt­lungs­ver­fah­ren und 10.​000 Ver­ur­tei­lun­gen wegen der Be­tei­li­gung an kri­mi­nel­len Ver­ei­ni­gun­gen. Zeit­gleich wurde der § 129 sogar ver­schärft und neben der Mit­glied­schaft auch die Un­ter­stüt­zung und das Wer­ben für eine „kri­mi­nel­le po­litische Ver­ei­ni­gung“ unter Stra­fe ge­stellt.
Ei­gens zur Ver­fol­gung der Roten Armee Frak­ti­on wurde 1976 der § 129a – Bil­dung einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­nigung – ge­schaf­fen. 2003 folg­te die Va­ri­an­te b. Diese wie­der­um er­mög­licht es dem Staat Men­schen zu kri­mi­na­li­sie­ren, die Mit­glied einer im Aus­land tä­ti­gen „kri­mi­nel­len oder ter­ro­ris­ti­schen“ Vereinigung sind, für diese wer­ben oder sie un­ter­stüt­zen. Diese Re­ge­lung ist be­son­ders will­kür­lich, unter­liegt sie doch ganz be­son­ders au­ßen­po­li­ti­schen In­ter­es­sen Deutsch­lands.
Die Paragraphen 129 ff waren und sind Gesinnungs-und Ermittlungsparagraphen gegen die politische Linke. Zumeist löst sich der Tatvorwurf im Zuge der Ermittlungen in Luft auf. Nur etwa fünf Prozent aller Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung werden bis zur Anklage fortgeführt, bei etwa einem Prozent kommt es zu einer Verurteilung. Doch darum geht es den Behörden auch nicht. Ziel ist das Offenlegen von Strukturen und das Zermürben von Einzelnen.

Rote Hilfe Leipzig

Die Rote Hilfe empfiehlt:
Auf Hausdurchsuchungen vorbereiten! Räumt eure Woh­nun­gen auf bzw. aus! Vermeidet Zufallsfunde wie waffenähnliche Gegenstände oder kriminalisierte Substanzen!
Stehen die Cops vor der Tür: Lass dir den Durchsuchungsbefehl zeigen, rufe den/die Rechtsanwalt/wältin deines Vertrauens an und versuche eine/n Zeug/in dazuzuholen.
Alles weitere zur Hausdurchsuchung kann hier nachgelesen werden:
antirepression.noblogs.org/polizeikontakt/hausdurchsuchungen/


Eine Checkliste für die Wohnungswand findet ihr hier:
antirepression.noblogs.org/files/2013/01/Hausdurchsuchung.pdf

Kein Austausch über politische Fragen per Telefon, Mail, Facebook!
Lass dein Telefon bei Plena zu Hause, nutze für E-Mail/Chat gängige Verschlüsselungstechnik und lasse keine sensiblen Daten unverschlüsselt auf Festplatten rumliegen. Meidet Facebook!
Seid wachsam: sowohl erkennungsdienstliche Maßnahmen als auch DNA-Entnahmen gehören zum Standard-Repertoire der Repressionsbehörden!

Aktuelle Hintergründe zum §129-Verfahren gibt’s auf
leipzig.antifa.de

Was sonst noch so war…

Videoüberwachung für alle! Anfang Juni wurde in einem leerstehenden Haus in der Plagwitzer Gießerstraße eine Überwachungskamera gefunden – klar ist bislang, dass sie auf Initiative der Leipziger Staatsanwaltschaft dort aufgestellt wurde, über den Zweck der Maßnahme darf weiter spekuliert werden.

Am 21. Juni beteiligten sich etwa 150 Menschen an einer Demonstration auf dem Leipziger Augustusplatz unter dem Motto „Überwachung stoppen – Grundrechte stärken!“

Bei diversen Solidaritäts-Aktionen gingen diverse Sachen kaputt: Am 20. Juni zogen etwa 30 Leute durch Plagwitz, um für den in Wien inhaftierten Antifaschisten Josef zu demonstrieren. Dabei wurde u.a. eine Haltestelle beschädigt. Ebenfalls beschädigt – mit Farbbeuteln und Flaschen – wurde eine Woche später das Technische Rathaus, wo auch die Leipziger Ausländerbehörde sitzt.

Nach Connewitz sind nun andere Stadtteile dran: Seit dem 7. August gibt es auch in der Eisenbahnstraße einen neuen Polizeiposten. Geöffnet hat der jeweils von 10 bis 17 Uhr. Drei Beamte sollen als „Bürgerpolizisten zum Anfassen“ (LVZ-Polizeiticker vom 7.8.) dafür sorgen, dass Kinder und Senioren nun auch im Leipziger Osten wieder angstfrei auf der Straße herumtollen können.

Seit Mitte Juli war ein Haus in Anger-Crottendorf besetzt – am 13. August schlug die Staatsmacht zu: Die Polizei räumte und nahm vier Besetzer_innen vorläufig fest.

Noch was? Ach ja: „Hypezig“ ist jetzt out, stattdessen heißt es „Likezig“ oder „Lovezig“. Aber das habt ihr sicher schon gemerkt…

Freikörper unerwünscht? Burka für Männer!

Ein Nachtrag zum Reclaim the Fields/ Anti B87n – Camp; Juli 2014

Liebe LeserInnen,
wir, die Redaktion, haben das Gefühl, dass der folgende Text kontroverse Diksussionen auslösen kann. Er wurde uns zugeschickt und wir fanden die persönliche Perspektive auf geschlechtsspezifische Dresscodes interessant. Wie immer hoffen wir natürlich auf diskursfördernde LeserInnenbriefe.


Sehlis, ein kleines Dörfchen nordöstlich von Leipzig. Das Netzwerk „Reclaim the Fields“ und eine Bürgerinitiative gegen den geplanten Bau der Bundesstraße B 87n hatten zu einem einwöchigen Aktions- und Protestcamp eingeladen. Nachdem ich es leider erst am Freitag zum Camp geschafft hatte, verpasste ich wegen einer Orga-Aufgabe auch noch das Plenum. Beim Anstehen an der Essensschlange dann plötzlich doch die ersten warmen Sonnenstrahlen des Tages. `Hemd aus!` war mein Reflex, denn ich liebe warme Sonne auf der Haut. Es dauerte keine Minute, bis eine Bekannte auf mich zukam und mir sagte, das Camp sei ein `Kein-freier-Oberkörper-Bereich`. Ich war ziemlich geschockt und weigerte mich spontan, mein Hemd wieder anzuziehen. Als ich dann am Tisch saß, kam eine andere Frau, jetzt mit dem orangefarbenen Armband des Awareness-Teams, und forderte mich ebenfalls auf, meinen Oberkörper zu bekleiden. Ich solle Rücksicht nehmen. Einige Frauen würden sich beim Anblick nackter biologisch männlicher Oberkörper unwohl fühlen, da es sie an sexuelle Gewalt gegen Frauen erinnern würde. Und überhaupt: Frauen könnten ja auch nicht einfach ihren Oberkörper freimachen. Das Plenum hätte es nach langen Diskussionen so beschlossen und wenn ich mich nicht daran halten wollte, wäre das wohl nicht der richtige Platz für mich. Ich verteidigte mich ebenso empört wie erfolglos. Irgendwie macht es einen fassungslos, mit dem Rücksichtnahme-Argument in so einer ureigenen und elementaren Sphäre wie der der Kleidung angegriffen zu werden. Erinnerungen schossen hoch, an eine Zeit, in der ich mit buntem Iro und zerfetzten Klamotten herumlief und meine Mutter mich inständig bat, doch Rücksicht auf sie zu nehmen und sie mit meinem Aussehen nicht so zu verletzen. Damals die flehenden, nun die fordernden Augen. Textile Rücksichtnahme scheint mein Thema zu sein. Der Versuch einer theoretischen Auseinandersetzung …

Freiheit als Individuum und Rücksicht als Mitglied eines sozialen Gefüges sind seit jeher Spannungsfelder menschlichen Lebens. Meine Freiheit endet dort, wo ich andere Menschen schädige, belästige, behindere, whatever. Naturgemäß herrschen über die konkreten Sachverhalte oft unterschiedliche Auffassungen der Beteiligten. Im Idealfall kommt es via Aushandlung zu einer gütlichen Einigung, meist zu einem Kompromiss. Am Ende ist die Grenze meiner Freiheit sowie die Grenze meiner Rücksichtnahme in einem zeitlichen und situativen Kontext definiert. Wichtig dabei ist, dass ich mich mit der Rücksichtnahme auch identifizieren kann, sie mir nicht als Schikane oder Anmaßung vorkommt. Im Fall von Nacktheit zum Beispiel finde ich ein Ideal anstrebenswert, welches den nackten Körper grundsätzlich bejaht und die Einschränkung erklärungsbedürftig macht. Andersherum wäre es für mich eben nicht akzeptabel, weil ich es nicht verstehen würde, warum Menschen per se ein Problem mit ihrem nackten Körper haben sollten. (In diesem Zusammenhang sollte mensch sich auch mal an die jahrzehntelangen Kämpfe erinnern, beispielsweise öffentlich nackt baden zu dürfen.) Die „Lust am Nacktsein“ als „Gegenbewegung zu einem als „muffig“ empfundenen Bürgertum und einer beengten, städtischen Lebens- und Wohnsituation mit wenig Luft und Licht“ (1) ist mir persönlich sehr sympathisch.

Wie gestaltet sich nun das Verhältnis von Freiheit und Rücksichtnahme im konkreten Fall? Beim RTF-Camp sollte das Unwohl-Fühlen der betroffenen Frauen schwerer wiegen als mein Unwohl-Fühlen (und das aller anderer betroffener Menschen), bei hochsommerlichen Temperaturen meinen Oberkörper nicht frei machen zu dürfen. Welches Ideal liegt dieser Argumentation zugrunde? Es ist das der größtmöglichen Rücksichtnahme, zumal in einem so sensiblen Bereich, wie dem der sexuellen Gewalt gegen Frauen. Orientierung an der/dem Schwächsten, Sensibelsten, Schutzbedürftigsten. Als ad hoc-Problemlösung wird darüber hinaus das Ziel der Angezogenheit proklammiert. Kleidung bedeckt nackte Haut, Synonym für Körperlichkeit und Sexualität, eben auch für Missbrauch von Sexualität. Möglichst umfassende Kleidung ist also gut, viel nackte Haut ist schlecht. Bis einfach alle Frauen mit männlicher Nacktheit klar kommen, müssen wir da halt durch.

Aber warum dann eigentlich nur den nackten Oberkörper verhüllen? Alles Sichtbare am Mann erinnert doch sichtbar an Mann, oder? Es könnte doch genauso gut um die nackten, stark behaarten, Beine oder Arme gehen, die die Sommergarderobe ans Licht bringt? Oder um den Bart? Muss der ab, wenn frau sich unwohl fühlt? All das gehört explizit zu Männern und könnte damit an männliche Gewalt erinnern. Würde eine Frau Rücksichtnahme fordern, dann wäre es soweit. Dann wäre die Burka für Männer wohl irgendwann die einzig logische Konsequenz?! Und was wäre denn auch schon dabei? Mal die paar Tage? Das lässt sich doch aushalten. Immerhin begleitet dieser Sack viele Frauen weltweit ihr ganzes Leben! Und noch dazu in viel wärmeren Ländern! Also habt euch bloß nicht so! Und ihre Redebeiträge beim Workshop oder bei der Kundgebung sollten Männer auch lieber von Frauen vorlesen lassen. Schließlich könnte auch eine männliche Stimme …

Ja, sorry, ich bin polemisch geworden. Denn wo ist die Grenze? Wer wird die nächste Forderung stellen, die unser Leben tendentiell beengter, anstatt befreiter macht? Kann Rücksichtnahme Selbstverleugnung als Basis haben? Schon die Forderung nach einem bedeckten Oberkörper in einem Sommercamp auf dem Land überschreitet die Grenze der Rücksichtnahme. Als Mensch bewege ich mich normalerweise immer in einem Raum, in dem ich mich mit anderen Menschen und den natürlichen Bedingungen arrangieren muss. Soll das für Frauen etwa nicht mehr gelten? Ich bin weiterhin immer mit einer Welt konfrontiert, die nie vollkommen meinen Erwartungen entspricht, die oft sehr unangenehm und sogar verletzend sein kann. Es ist einer der klassischen Irrwege emanzipatorischer Bewegungen, den jeweils Versklavten und Entrechteten quasi das Himmelreich auf Erden zu versprechen, wenn, ja wenn, erst Feind X oder Phänomen Y besiegt ist. (2) Die Erwartung einer Welt, die mich nicht verletzt, an der ich mich nicht reiben und abarbeiten muss, ist naiv. Biologische Männer gehören nun mal zu dieser Welt. Ergo muss frau sich mit ihnen auseinandersetzen, und zwar auf Basis einer grundsätzlichen Akzeptanz, auf Basis von Freiheit und Ratio und nicht auf Basis von Anmaßungen und Verboten. Hätte im Camp nicht ein sensibler Raum sein können, auch am femininen Unwohl-Fühlen zu arbeiten?

Neben dem Rücksichtnahme-Argument kam immer wieder das `Glotzargument`. Männer würden ja glotzen, wenn Frauen ihren Oberkörper frei machen. Da würden die Männer im Camp auch keine Ausnahme sein. Wohlgemerkt: Es handelt sich um jene Menschen, mit denen frau wahrscheinlich gerade noch im Workshop gesprochen hat, mit denen frau oft in gemeinsamen Wohnprojekten zusammenlebt, gemeinsam politische Arbeit macht, gemeinsam die Vokü schmeißt … Allen, allen steht der Mund offen, sobald sie paar nackte Titten sehen! Menschen nicht mehr als komplexe Persönlichkeiten wahrzunehmen, sondern auf ihre sexuelle Sphäre zu reduzieren, ist, mit Verlaub, sexistisch. Warum `glotzen` diese Männer eigentlich nicht am FKK-Strand? Nicht mal der, per Augenschein und Ohrenklang identifizierte, ganz gewöhnliche Durchschnittsmann glotzt am Strand! Jedenfalls nach meinen Erfahrungen. Alle scheinen entspannt zu sein. Gerade linke feministische AktivistInnen, die bei jeder Gelegenheit die sozio-kulturelle Konstruktion von Geschlechterrollen betonen, sollten doch klar sehen, dass es sich beim `Verbot` für Frauen, mit freiem Oberkörper rumzulaufen, um einen geradezu idealtypischen Fall dieser kulturellen Vorgaben handelt. Zugegeben: Es würde sehr viel Mut erfordern, die erste Frau oder eine der ersten Frauen mit freiem Oberkörper zu sein. Allen und damit auch sich selbst die Freiheit zu verbieten, scheint einfacher zu sein. Frauen, die eigentlich den Mut hätten, das Tabu anzugreifen, werden so ebenfalls ausgebremst.

Abschließend soll hier noch ein technischer Aspekt erwähnt werden: Über passende und zweckmässige Kleidung haben sich Menschen schon früher ihre Gedanken gemacht. Sie erfanden für den weiblichen Oberkörper an warmen Tagen den Bikini. Was ist eigentlich damit? Dieses Stück Textil sollte doch genügen? Oder wird mensch dann sagen: „Bikinis könnten aber unter Umständen zu aufreizend wirken.“ Dann weiß ich auch nicht weiter. Dann lasst uns alle graue Burkas anziehen! Egal ob Mann, Frau oder wie immer sich Menschen definieren. Gleichentrechtigung eben.

A. Schmidt

(1) http://de.wikipedia.org/wiki/Freikörperkultur
(2) Vgl.: Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte; Reinbeck bei Hamburg; 1969

Theaterwissenschaft bleibt!

„Kürzer geht’s nicht! – Bildung braucht Zukunft!“ – unter diesem Motto protestierten nahezu 10.000 Studierende gegen die Sparpolitik der Universität Leipzig. Sie forderten die Erhaltung aller universitären Angebote und ein Stopp der Stellenstreichungen.

Bis zu 172 Stellen sollen bis Ende 2020 von der Universität Leipzig gestrichen werden, etwa 1.000 sind es insgesamt im Freistaat Sachsen. Kurzfristig betroffen sind vor allem das Institut für Archäologie mit seiner 300-jährigen Tradition und das Institut für Theaterwissenschaften, dessen Studiengang nur zweimal in Ostdeutschland angeboten wird. Diese werden beide geschlossen. Aber nicht nur die Geisteswissenschaften sind von den vom Freistaat Sachsen auferlegten Sparzwängen betroffen. Das Institut für Pharmazie wird ebenso geschlossen, ferner muss das Institut für physikalische und theoretische Chemie je einen Professor und einen Mitarbeiter einbüßen. Weitere Schließungen sind auch in den nächsten Jahren zu erwarten. Studierende der Theaterwissenschaften besetzten drei Wochen später vom 14. bis zum 25. Juli das Rektorat, um ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Weitere Verhandlungen und Gespräche mit der Rektorin Beate Schücking brachten jedoch keine neuen Ergebnisse hervor.

Hintergründe

Am 21. Januar diesen Jahres gab das Rektorat die geplante Schließung des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig bekannt. Der Grund dafür sind die Kürzungsauflagen des Sächsischen Mi­nisteriums für Wissenschaft und Kunst (SMWK). 2010 verabschiedete der sächsische Landtag einen Kürzungsplan, laut dem bis 2020 über 1000 Stellen an sächsischen Hochschulen gestrichen werden sollen und beruft sich auf eine Statistik von 2009, die den Rückgang der Studierendenzahlen prognostiziert.
Das Gegenteil jedoch ist eingetreten, die Zahl an BewerberInnen für Studienplätze in Sachsen ist fast doppelt so hoch wie angenommen. Trotzdem wird der Kürzungsplan nicht angepasst und die Leipziger Theaterwissenschaft, „ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können“, wie Rektorin Beate Schücking betont, kurzerhand ganz abgeschafft. Und das, obwohl dieser Studiengang in den neuen deutschen Bundesländern ansonsten nicht angeboten wird. Abgesehen davon bietet Leipzig mit seiner vielfältigen Kulturlandschaft und der florierenden freien Theaterszene einen idealen Standpunkt für diese interdisziplinäre Wissenschaft. „Ich kann mir nicht vorstellen, was aus dieser Stadt ohne die Theaterwissenschaft werden soll“, so eine studentische Vertreterin, die sich außerdem in der Leipziger Freien Theater- und Kulturszene engagiert. „Ausgebildete und sich noch studierende Theaterwissenschaftler und Theaterwissenschaftlerinnen finden sich sowohl in Führungspositionen großer Kulturinstitutionen wie dem Schauspiel Leipzig, als auch unter den Künstlern und Künstlerinnen der freischaffenden Szene zu Hauf. Der Studiengang prägt Leipzig ungemein und ist eigentlich kaum wegzudenken. Dazu kommt, dass 20% der gesamten Theaterwissenschaft Deutschlands einfach wegfällt. Das ist beängstigend“, zeigt die Studentin auf.
Doch was passiert, wenn Bildung und Kultur als sich nicht lohnender Luxus abgetan wird?
Die Prorektoren um Frau Schücking lenkten bereits ein und deuteten im Gegensatz zur Aussage der Rektorin an, es gäbe keine plausiblen inhaltlichen Gründe, warum man das Institut schließe – unglücklicherweise seien hier viele Stellen mit Dozierenden besetzt, die kurz vor der Pensionierung stünden. Das SMWK fordert dieses Jahr die Streichung von 24 Stellen. Welche das sind, muss das Rektorat selbst entscheiden – das wird dann „Hochschulfreiheit“ genannt. Also werden die Stellen ausgewählt, die sowieso gerade am Auslaufen sind.
Nach aktuellsten Entwicklungen stehen dem Sächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst 85 Mio. Euro zusätzlich zur Verfügung – denn dank der BAföG-Reform 2014 übernimmt nun der Bund alleinig die Kosten der Studiumsförderung, die vorher teilweise vom Land getragen werden mussten. „Warum werden die frei gewordenen Mittel aus der BAföG-Reform nicht, wie in anderen Bundesländern, direkt in die Finanzierung der Hochschullehre gesteckt? Allein ein Teil des Geldes würde ausreichen, die 1042 Stellen im Hochschulbereich langfristig zu erhalten. Stattdessen soll das Geld z.B. in Neubauten und Großgeräte investiert werden. Das ist größtes Ausmaß von Geringschätzung (geistes-)wissenschaftlicher Arbeit, von Seiten der Landesregierung” so Paul Schwabe, studentischer Vertreter. Aus studentischer Sicht scheint sich die Landesregierung auch ansonsten gerade ins Aus zu katapultieren. Fachschaftsratmitlgied Torben Schleiner merkt an: „Der Freistaat Sachsen schneidet sich ins eigene Fleisch: In einem Land mit Bevölkerungsrückgang an den Unis Stellen zu kürzen und damit die Schließung ganzer Institute in Kauf zu nehmen, ist völlig kontraproduktiv: Institutionen zu beschneiden, die lernwillige junge Menschen im Land halten oder ins Land holen und damit eine Zukunft für Sachsen bauen, konterkariert alle Bestrebungen, Sachsen zukunftsfähig zu gestalten. Wenn dabei sogar für Sachsen einzigartige Institute wie die für Theaterwissenschaft und Archäologie geschlossen werden, wird die interdisziplinäre Erforschung und Auseinandersetzung mit kulturellen Praxen in Geschichte und Gegenwart schrittweise zurückgedrängt und wir laufen Gefahr, nur mehr marktwirtschaftlich und gewinnorientiert zu denken. Und in so einem Land möchte ich nicht leben.“
Im Kontext mit dem Wirtschaftsdiktat über Bildung und Kultur, das aktuell vor allem in Sachsen und Sachsen-Anhalt um sich greift, bleibt jedoch weiterhin fraglich, welche Motivation tatsächlich hinter der Schließung des Institutes steht.
„Wir befinden uns in einer Phase, in der die Gefahr hoch ist, dass sich die Gesellschaft irreparabel verändert“, erläutert Frau Baumbach, Professorin für Theaterwissenschaft, die Dimensionen: „Dies ist kein Kampf auf universitärer Ebene, dies ist ein politischer Kampf.“

Editorial #52

Pünktlich zur nächsten Wahl ist er auch wieder da, unser aller Lieblingsheftchen, der Feierabend!

Während sich die Politiker_innen aller sächsischen Parteien auf Wahlplakaten darüber streiten, wer an die Macht kom­men sollte, streiten wir uns auch. Al­lerdings inhaltlich. Über Degrowth zum Beispiel, oder über Waffenlieferungen an die Kurden. Oder Christlichen Anarchismus. Oder die vielschichtigen Interpretationsmöglichkeiten von Wörtern wie zerrissen oder fahren. Oder den Israel-Palästina-Konflikt – ach nein, da haben wir eigentlich keine Lust mehr drauf. Sei’s drum, einige Ergebnisse all dieser Debatten könnt ihr jedenfalls im Heft hier entdecken.

Ganz schweigsam ist leider unsere Homepage geworden, die in den letzten Monaten abgeschaltet war. Dabei hatten wir gerade unsere Aufkleber inklusive Webseiten-Hinweis produziert. Dumm gelaufen. War aber eh die falsche URL, die wir da hingetippt hatten… Mittlerweile kann man uns zwar online wieder finden, allerdings noch unsortiert und ohne Design. Wir arbeiten dran.

Ihr seht, es gibt verdammt viele Punkte, wo wir uns verbessern können und wollen. Im Reden darüber sind wir hingegen schon sehr gut.

Mit zerknirschten Grüßen,

Eure FA!-Redaktion

P.S.: Unsere Verkaufsstelle des Monats ist diesmal übrigens der Kiezkontor in Reudnitz.

Lyrik

Was ist los, was soll das hier?
Ist das eine Welt noch mehr?
Seht euch an, die ganzen Leute,
diese riesengroße Meute.
Auf Geld sind sie aus,
den großen Erfolg.
Das beste Aussehen
und ach – was solls.
So denken heute alle nur.
Die Welt ist nicht mehr bunt und schön,
grau ist sie,
man kann nichts mehr sehen.
Doch wartet,
es ist noch nicht zu spät,
ein kleiner Funken Hoffnung späht.
Die Menschen sind noch nicht verloren,
sie sind noch nicht ganz eingefroren.
Nun kommt schon her und glaubet mir,
was ändern, das kann jeder hier.

(R!)

HaiKu

Der Staat ruft zum Krieg
Heckler und Koch frohlocken
Oh, Pöbel tritt an!

(carlos)

Das Vokü-Rezept

Hi, bei uns in der Küche liegen schon seit Ewigkeiten mehrere Packungen Maisgrieß und ich hab echt keinen Plan, was wir damit machen könnten. Wir würden das ja gerne mal für eine Vokü verwenden. Habt ihr eine Idee? Schöne Grüße, Julia“

Liebe Julia,

Maisgrieß ist schon etwas sehr Spezielles, doch mit etwas Aufwand könnt ihr daraus ein superschmackhaftes Essen zaubern. Hier die Idee (für ca. 25 Personen):

Gang 1: Polenta-Suppe mit Räuchertofu und Kartoffeln

Zutaten:

5 Liter Gemüsebrühe 300g Polenta (Maisgrieß)

8-10 Kartoffeln 200g Räuchertofu

200ml Soja-Sahne 10 Knoblauchzehen

6 Zwiebeln 1 Bund Petersilie

Salz und Pfeffer Kokosfett oder Margarine

Zubereitung:

Zwiebeln fein würfeln, in Fett dünsten. Leicht salzen. Räuchertofu und Knoblauch fein würfeln, dazu geben. Kartoffeln schälen, würfeln und kurz mit anbraten. Alles mit Gemüsebrühe löschen und aufkochen lassen. 10min köcheln bis die Kartoffeln weich sind. Anschließend ganz langsam die Polenta reinrieseln lassen und öfter umrühren. Köcheln lassen, bis die Polenta weich ist. Aber Vorsicht: Kann schnell anbrennen, daher ständig rühren! Zum Schluss die Petersilie kleinhacken und mit der Sahne unterrühren, mit Salz und Pfeffer abschmecken. Fertig.

Gang 2: Gefüllte Paprikaschoten mit Polenta-Zitronen-Creme

Zutaten:

25 rote Paprika 500g Polenta

2l Gemüsebrühe 4 Zitronen

10-15 Tomaten 6 Zwiebeln

500g Champignons Hefeflocken

250ml Soja-Sahne Oregano

Kokosfett oder Margarine Salz und Pfeffer

Zubereitung:

Paprika halbieren und entkernen. Backbleche/Auflaufformen einfetten, Paprika darauf verteilen.

Zwiebeln schälen, kleinhacken. In einen Topf geben und in Fett glasig dünsten. Leicht salzen. Polenta und Brühe dazu, unter ständigem Rühren aufkochen lassen und köcheln lassen bis Polenta weich ist. (Rühren nicht vergessen!) Saft von Zitronen dazu geben.

Tomaten kleinwürfeln, Champignons in feine Scheiben schneiden, mit Oregano, Salz und Pfeffer würzen und alles neben den Paprikahälften auf den Blechen verteilen. Paprika mit Polenta füllen.

Alles bei 180 Grad 30 Minuten im Ofen backen.

Hefeflocken mit Sojasahne mischen bis eine sämige Masse entsteht. Masse auf Paprikahälften verteilen und weitere 5-10 Minuten backen. Kurz abkühlen lassen. Fertig.

Gang 3: Polenta-Yofu-Auflauf mit Kirschen

Zutaten:

250g Margarine (Alsan – raumwarm) 250g Polenta

200ml Agavendicksaft 2kg Soja-Joghurt

800g Kirschen (frisch oder aus dem Glas) 2 Zitronen

Zubereitung:

Margarine schaumig rühren. Agavendicksaft, Polenta, Soja-Joghurt und Saft der Zitronen unterrühren. 2/3 der Masse auf zwei bis drei Auflaufformen verteilen. Kirschen darauf verteilen und restliche Masse darüber geben. Auflauf im vorgeheizten Ofen bei 180 Grad 45 Minuten lang backen lassen. Kurz auskühlen lassen. Fertig.

Achtung, liebe Leser_innen! Auch ihr seid hiermit eingeladen, an dieser Rubrik mitzuwirken. Wendet euch mit eurer Liste von Zutaten an feierabendle@riseup.net, und lasst euch überraschen, wie sich daraus eine leckere Mahlzeit zubereiten lässt.