Ägypten: Kalkulierter Notstand

Ägypten befindet sich derzeit im Ausnahmezustand. Dabei begannen die Ereignisse am Freitag, den 9. September, mit ganz „normalen“ Protesten. Zunächst hatten zehntausende Menschen auf dem Kairoer Tahrirplatz gegen die Militärregierung demonstriert. Am späten Nachmittag zogen dann rund 3000 Demons­trant_innen zur israelischen Botschaft. Vor dieser war nach den wiederholten Protesten in den letzten Wochen eine drei Meter hohe Betonwand errichtet worden. Mit allerlei Geräten begannen die Demonstrant_innen die Mauer zu zerschlagen. Zu dieser symbolischen Aktion war zuvor über Twitter aufgerufen worden. Nicht geplant war dabei, dass eine Gruppe von Protestierern ins Gebäude eindrang, sich Zugang zum Botschaftsarchiv verschaffte, Dokumente aus den Fenstern zu werfen begann und schließlich Feuer legte. Bei den anschließenden Straßenschlachten schoss das Militär in die Menge, drei Menschen wurden getötet, etwa 1000 verletzt. Der israelische Botschafter wurde noch in derselben Nacht mitsamt seiner Familie außer Landes geflogen.

Die Militärregierung nutzte die Chance: Schon einen Tag später, am 11. September, wurden die Notstandsgesetze in vollem Umfang wieder in Kraft gesetzt und um neue Paragraphen erweitert. So sollen z.B. Polizisten nun gesetzlich dazu verpflichtet sein scharf zu schießen, falls es zu Angriffen auf öffentliche Gebäude kommt. Noch am Sonntagnachmit­tag wur­den 16 TV-Stationen durchsucht. Das Bü­ro der ägyptischen Al-Dschasira wur­de ge­schlossen und die Sendeanlagen beschlagnahmt.

Der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu äußerte sich nach den Vorfällen relativ versöhnlich und dankte der ägyptischen Armee dafür, dass sie das Botschaftspersonal beschützt hätte. Genau das erscheint bei genauerem Hinsehen aber fraglich. Zwar hatte die Militärregierung in einem vor Beginn der Proteste veröffentlichten Statement erklärt, man sei auf mögliche Angriffe auf Regierungsgebäude vorbereitet und würde jeden Gesetzesverstoß mit harten Maßnahmen beantworten. Vor der israelischen Botschaft wurden die Sicher­heitsmaßnahmen aber nicht verstärkt, sondern verringert. So konnten an diesem Tag zum ersten Mal seit 20 Jahren (!) Zivi­list_innen den Gehweg vor der Botschaft betreten, ohne von den Militärposten aufgehalten zu werden.

Auch sonst hielten sich die Sicherheitskräfte auffallend zurück. Die Soldaten sahen rund sieben Stunden dabei zu, wie die Mauer zerlegt wurde, bis sie eingriffen. Auch was die Vorgänge im Inneren des Gebäudes betrifft, gibt es einige Ungereimtheiten. Scheinbar waren zunächst vier junge Männer an der Fassade der Botschaft in den 18. Stock hinaufgeklettert, um dort die israelische Flagge abzunehmen und zu verbrennen. Die ägyptische Tageszeitung Al-Masry Al-Youm zitiert einen der Jugendlichen so: „Nachdem wir die Flagge heruntergeholt hatten, kam uns auf dem Weg nach unten ein Major der Armee entgegen und machte sich über uns lustig, indem er erklärte, wir wären doch gar nicht in der Botschaft gewesen, und zeigte uns die Eingangstür.“

Parallel dazu waren etwa 30 Leute über den Haupteingang ins Gebäude gelangt. Auch da hätte sich die Eskalation leicht verhindern lassen: Die jungen Männer mussten drei Türen aufbrechen, um in die Bot­schafts­räume zu kommen, was mehrere Stunden dauerte. In einem Video (2) ist zu sehen, dass während dieser Zeit Soldaten und Offiziere vor Ort waren, aber nicht eingriffen. Das wird auch von dem schon zitierten Demonstranten bestätigt: „Wir waren unbewaffnet, wir wussten, wie hart die Armee reagieren kann, wir wussten, dass sie uns dort einfach hätten festhalten können. Einige von ihnen kamen sogar mit uns zusammen in die Botschaftsräume.“ Die Soldaten beschränkten sich aber darauf, die israelischen Botschaftsmitarbeiter zu evakuieren. Und während vor dem Gebäude etwa 100 Leute verhaftet wurden, ließ man die Eindringlinge einfach laufen.

Es scheint also, als hätte das Militär die Eskalation zumindest indirekt gefördert. Denn der Regierung ist es zweifellos lieber, wenn die Leute gegen Israel demonstrieren und nicht gegen die Regierung. Schon drei Wochen zuvor, am 21. August, war ein junger Mann an der Fassade der Botschaft hochgeklettert, um die israelische gegen die ägyptische Flagge auszutauschen. Diesem Vorbild wollten die jugendlichen Fassadenkletterer am 9. September offenbar nacheifern. Der sog. „Flagman“ wurde nicht nur von den Medien und auf diversen Blogs als Held gefeiert, sondern auch von offizieller Seite geehrt: Er bekam eine Audienz bei Premierminister Essam Sharaf, und der Gouverneur seiner Heimatstadt versprach ihm zum Dank eine Eigentumswohnung.

Dass die Regierung keine Hemmungen hat, antiisraelische Ressentiments in der Bevölkerung zu schüren, um von internen Problemen abzulenken, zeigte sich schon Mitte Juni. Damals wurde ein junger Mann, Ilan Grapel, als angeblicher Mossad-Agent verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, bei Protesten die Menge zu Aktionen gegen die Armee angestachelt zu haben. Die Anklage basiert vor allem darauf, dass Grapel beim israelischen Militär gedient hat. Der angebliche Geheimdienstler legte aber scheinbar keinen großen Wert auf Geheimhaltung – Grapel hatte Bilder aus seiner Armeezeit (und solche, die ihn bei Protestaktionen zeigen) offen auf seiner Facebook-Seite gepostet.

justus

(1) www.almasryalyoum.com/en/node/495175
(2) egyptianchro­nicles.blogspot.com/2011/09/regarding-israeli-embassy-and-clashes.html#.TnDk4-zzOso

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