Armut simuliert Wachstum

So recht angebracht ist unsere Rubrik ja nicht (mehr) … geht es doch nicht allein um die Hartz-Gesetze, sondern um einen ganzen Komplex von Angriffen auf die Bevölkerungsmehrheit in diesem Staat. Zu diesem Komplex gehören die Gesundheitsreform inklusive einer Diskussion um die Pflegeversicherung und die Rentenreform ebenso wie der Bologna-Prozess. Nicht allein von Bedeutung ist die Verabschiedung im Bundestag und Modifizierung im Bundesrat (voraussichtlich noch im Oktober), sondern auch die gegenwärtigen Debatten um die Behebung der Wirtschaftskrise, um allgemeine Arbeitszeitverlängerung und Reformkonvents.

Die Hartz-Gesetze III und IV, wie sie im Feierabend! #8 behandelt wurden, sind zwar noch Gegenstand politischer Debatten, vor allem weil „Hartz IV“ vom Bundesrat bestätigt werden muss. Aber Veränderungen, die positive Auswirkungen auf die konkrete Situation der Erwerbslosen hätten, sind nicht zu erwarten. Schließlich sind sich Regierung und Nicht-Regierung, die sogenannte „Opposition“, im Kern einig: Arbeitslosen- und Sozialhilfe sollen zum Arbeitslosengeld Zwei (ALG II) zusammengefasst und abgesenkt werden, im Osten auf 331 Euro (im Westen 345). Uneinigkeit herrscht nur über die Staatsebene, mit der sich die rund zweieinhalb Millionen Menschen auseinandersetzen sollen, die von dieser Maßnahme betroffen sind: mit der „Bundesagentur für Arbeit“ oder mit den einzelnen Kommunen?

Es gibt auch kleinere Meinungsverschiedenheiten über den Stand der Dinge: während sich die SPD in Regierungsverantwortung zuversichtlich gibt – das gehört zum Handwerkszeug jeder Regierung und ist eigentlich nicht als Aussage zu werten – betont die CDU die Notwendigkeit weiterer Vorstöße. Denn so recht traut dem freundlicheren Geschäftsklimaindex wohl niemand, den ein Mitarbeiter der Deutschen Bank als bloßes „Szenario“ bezeichnete, schließlich gibt der Index nur die „persönliche Eindrücke“ (1) wider. Das wird vom Ifo-Institut ausdrücklich bestätigt: „Die Besserung beruht […] ausschließlich auf optimistischeren Erwartungen für die nächsten sechs Monate, während sich die Urteile zur aktuellen wirtschaftlichen Lage sogar weiter verschlechterten.“ (2) Aber um die tatsächliche wirtschaftliche Lage geht es in politischen Verlautbarungen kaum, eher um die Begründung weiterer Verschlechterungen. Denn der Aufschwung darf „nicht gefährdet werden“. Dementsprechend werden nun Forderungen nach Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich laut, sei es von CDU, Industrie- und Handelskammertag, Bund der Deutschen Industrie (BDI), Porsche oder Siemens. Vor allem mit dem Wegfall von Zuschlägen könnten die Stückkosten gesenkt und damit der Standort Deutschland für Investoren attraktiver werden. SPD und PDS teilen diese Ansicht, nur tönen sie derzeit weniger als vielleicht zu Zeiten des IG-Metall-Streiks, sondern sie schreiten – in Berlin – zur Tat, wenn sie beispielsweise aus der Ländertarifgemeinschaft austreten, um die Löhne im öffentlichen Dienst zu senken.

Auch bei der Arbeitszeitverlängerung geht es letztlich um eine Lohnsenkung – mehr Arbeit bei gleichem Lohn. Und hier findet sich die Verbindung zu den Hartz-Gesetzen und der Agenda 2010: seien es direkte oder indirekte, die Lohnkosten sollen sinken. Wenn Politik und Wirtschaft auch einig scheinen, gibt es doch diverse Fraktionen. Denn der deutsche Exportsektor, der durch die Senkung der Lohnstückkosten gestärkt wird, kann nur wachsen, wenn die produzierten Güter auch verkauft werden können. So werden seit 30 Jahren Wirtschaftskrisen behoben. Dass dies weiterhin so funktioniert, das bezweifelt so mancheR. Denn nicht nur die Wirtschaft der BRD steckt in der Krise. Die Financial Times argumentiert (FTD, 26.9.), dass Mehrarbeit nicht das Ende der seit 20 Jahren währenden Krise sei, weil es nicht so ist, dass „die Unternehmen ihre überquellenden Auftragsbücher nicht abarbeiten“ können. Vielmehr würden längere Arbeitszeiten zu Entlassungen führen, und also nicht zur Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Lage beitragen. Die wäre, so der Chefredakteur, nicht vor 2010 zu erwarten (3).

Aber mehr als den schon trivialen Ratschlag der unternehmerischen Innovation, hat auch er nicht zu bieten. Genau wie die FTD, zielt die „Einheitsfront“ der großen Koalition für unbezahlte Mehrarbeit auf die Verbesserung der Lage für einzelne Unternehmen – geringere Personalkosten schlagen sich unmittelbar positiv im Unternehmensgewinn nieder. Nur Individuallösungen beheben gesellschaftliche Probleme aber nicht. Beide Fraktionen sehen keinen Weg aus der Wirtschaftskrise.

Der Ansatz des typisch reaktionären Lagers „länger Arbeiten“ in der Debatte ist aber recht interessant: eine Arbeitszeitverlängerung stelle „keine unzumutbare Belastung für die Beschäftigten dar“. Es ist also die Frage, was wir hinnehmen, und was nicht!

Derzeit schlucken wir Kröte um Kröte. Zwar halten sich die Auswirkungen der Personal-Service-Agenturen (PSA) noch in Grenzen, sie weiten sich aber aus (siehe „Arbeitende Arme“). Die Diskussion um die „Arbeitspflicht“ zeitigt trotz der PSA-Anlaufzeit schon Wirkung – freilich auf anderem Gebiet. So wurden im ersten Halbjahr 155.000 Sperrzeiten gegen EmpfängerInnen von Arbeitslosengeld verhängt (zu den neuen Möglichkeiten des Amts, siehe Feierabend! #8). Das sind 24 Prozent mehr als im ersten Halbjahr 2002 – im Osten beträgt der Anstieg gar 42 Prozent. Bei EmpfängerInnen von Arbeitslosenhilfe wurde der Anteil der Sperre sogar um 64 Prozent gesteigert … immer feste druff. An diesen Zahlen läßt sich gewiss auch einiges an individueller Verweigerung der Arbeitspflicht ablesen. Aber noch nichts weist auf eine kollektive Abwehr hin. Noch nichts weist darauf hin, dass die „Montagsdemo gegen Sozialabbau“ einmal mehr als 1.000 TeilnehmerInnen hätte, und dass die Protestkultur über Demonstrationen hinaus ginge.

Die nun verabschiedeten Maßnahmen der Regierung – es heißt, dass im November bereits Renten- und Gesundheitsreform in Gesetze gegossen werden sollen – werden kollektive Aktionen und gegenseitige Hilfe aber unabdingbar machen. Deshalb meint der BDI auch, Vorkehrungen treffen zu müssen und treibt die politische Diskussion voran. Auf dem Industrie-Kongress (Berlin, 22.9.) wurde deutlich, was einen funktionalen Staat ausmacht: „Garantie der Rechtsstaatlichkeit … Sicherheit und Ordnung im Innern“ und die Bereitstellung von Infrastruktur.

 

A.E.

 

(1) A. Kunkel: Zur Prognosfähigkeit des ifo-Geschäftsklimas, März 2003.

(2) „Wird jetzt alles wieder gut?“, wildcat, No 67.

(3) „Was können Unternehmer tun, wenn die Politik stagniert?“, Sachsensonntag, 5.10.2003.

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