Archiv der Kategorie: Feierabend! #08

Castor-Oil

In Zeiten des immer größer werdenden Konkurrenzdrucks im Leipziger Blätter­wald muss man sich schon etwas Beson­deres einfallen lassen, um wenigstens ei­nen Teil der Druckkosten wieder in die Kasse zu bekommen. Das incipito legt neuerdings Gute-Laune-Tonträger bei und selbst das Leipziger Amtsblatt kommt meist zusammen mit irgendeinem tollen Zettel, wo man billig seine Pizza ordern kann. …und was tun wir?! Hoch schlugen die Wellen der Redax, was zu tun sei. Anfangsideen wie einen Gutschein für einen warmen Händedruck an Zoro-Tre­sen oder Uni-Imbiss, haben sich aus unterschiedlichen Gründen & Bedenken schnell zerschlagen. Dann kam uns der glorreiche Gedanke einer Kosmetikprobe – Aufbaucreme für Tag & Nacht! Gesagt getan, die entsprechende Geschäftsverbindung war schnell hergestellt. Die preiswertesten Lieferantlnnen kennt immer noch lydia (auch wenn sie sich bei solchen Dingen immer ungern in die Karten schauen lässt) und schon am nächsten Tag, wurden alle Redax-Mitglieder zu einer Nacht&Nebel-Entladeaktion zum Plagwitzer Bahnhof bestellt. Glücklich zurück in den trauten Redax räumen wollte natürlich erstmal jede(r) die auflagensteigernden Wunderpräparate bestaunen bzw. dann sogar am eige­nen Leibe auspro­bieren. Die Unge­duldigsten hierbei waren jedoch nicht, wie vielleicht vorurteilhaft vermu­tet, die doch eher kosmetikkritischen Redax-Damen, sondern ausgerechnet Schachmat kao. Noch ehe ihn irgendjemand zu­rückhalten bzw. die Anwendung der ge­orderten Präparate erklären konnte, hatte er schon drei davon aufgerissen und sich mit einem grunzenden: „Aufbau..Mhm!“ den Inhalt in den Rachen geschoben. Nach einer anfänglichen der Phase der Euphorie, wurde es im Laufe der nächsten Stunde zusehends stiller um un­seren Chef-Rezensionisten und bald dar­auf verabschiedete er sich mit einem et­was glucksigen „Gute Nacht..“

Die anfängliche Sorglosigkeit („So ein bisschen Cremeschlucken hat noch kei­nem geschadet… ich als Kind…“ etc.) war schnell dahin, als kao auch nach einer Wo­che noch nicht wieder auftauchte und schlug gar in helle Panik um, als der Ter­min des Redaxschlusses ohne eine verwert­bare Rezension oder ein Schachrätsel her­ankam. Mittlerweile mehrten sich die Be­denken gegenüber der Aufbaucreme, und so kam es, dass wir uns nicht mehr, wie Anfangs, nur an der schönen bunten Plastikfolie erfreuten, sondern endlich auch einmal begannen die Liste der Inhaltsstoffe kritisch zu beäugen. Nun… was ist eigentlich Castor-Oil?! Groß war das Entsetzen, was sich unser lieber Kol­lege da unwissentlich angetan hat. Sollten wir wirklich einen lieben Freund & Weg­gefährten an die gewissenlosen Machen­schaften von Kosmetikindustrie und Atommafia verloren haben? Wer schreibt in Zukunft unsere Rezensionen? Was hat lydia damit zu tun? …und wo verdammt, steckt der Typ jetzt eigentlich?

The Making Of…

Durchsuchung ohne „Befehl“

Großeinsatz der Polizei mit halber Hundertschaft und Hundestaffel gegen eine Party im alternativen Wohnprojekt B12 (Braustr. 20)

Es sollte eigentlich eine ganz normale Feier sein, tanzen, quat­schen, was trinken. Doch dann kam alles anders, aus Partygästen wurden Kriminelle, und die Polizei zeigte in der Nacht vom 14. auf den 15. August wieder einmal ihr autoritäres Gesicht. Nach Angaben der Polizei gab es von Nachbarn Beschwerden über die Lautstärke. Dies lieferte der Polizei einen günstigen Vor­wand, um das Projekt mit allen Privaträumen mal von innen „be­sichtigen“ zu können.

Es ist im übrigen das ewig gleiche peinliche Verhalten, an­statt die direkte Kommunikationsfähigkeit zu bemühen gleich die „Bullen" zu rufen. Und diese hatten auch nicht wirklich Inte­resse an einer gütlichen Einigung. Denn anstatt wie üblich auf die Lautstärke hinzuweisen und dann wieder abzuhauen, „ver­suchte die Polizei sofort, die Veranstaltung aufzulösen. Damit überschritt sie eindeutig ihre Befugnisse. Im weiteren Verlauf wur­de einigen Besucherinnen unterstellt, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet zu haben.

Deswegen kam es im Anschluss zu einem völlig unverhältnis­mäßigem Großaufgebot der Polizei. Dabei wurde das Haus von ca. 50 Beamten umstellt. Diese erklärten die Veranstaltung erneut für beendet und versuchten, sich ohne Durchsuchungsbefehl gewaltsam Zutritt zum Haus zu verschaffen. Als die BesucherInnen der Aufforderung nachkamen, das Haus zu ver­lassen, mussten sich einige ohne Grund ‚erkennungsdienstlich‘ behandeln lassen. Anschließend wurde das gesamte Haus durch­sucht. Dabei richtete die Polizei einige Sachschäden an. Jeglicher Protest der Betroffenen wurde ignoriert, Anzeigen gegen die Ein­satzleitung wurden pauschal zurückgewiesen. Auskünfte über rechtliche Grundlagen wurden ebenfalls nicht erteilt.“

Dies stellt, wie einige Besucherinnen in ihrer Presseerklärung feststellen, durchaus eine „neue Qualität der Repression gegen alternative und selbstverwaltete Strukturen in Leipzig dar.“

Es mag ausreichen, sich vorzustellen, wie man sich fühlt, wenn bewaffnete Unbekannte in die eigenen Privaträume eindringen, damit die eigene Rückzugsmöglichkeit mißachten und deren not­wendige Unverletzlichkeit brechen. Und man selbst kann nichts dagegen tun, als zuzuschauen.

kater francis murr

die Zitate sind aus der Pressemitteilung einiger BesucherInnen der B12; siehe auch: www.free.de/antifa-leipzig/pres_akt.htm

Lokales

Wenn Premierminister sterben…

Am 12. März diesen Jahres (2003) wurde der serbische Premierminister Zoran Djindjic auf offener Straße, am hellichten Tag erschossen. Die Mainstream-Medien ergingen sich in den folgenden Tagen in Wehklagen, nun stünde es um die Demokratie in Serbien schlecht. Selbstredend, dass dies – wie auch sonst – nur eine stark eingeschränkte Sicht der Dinge ist. Doch gerade zu der „Akte Djindjic“ gibt es noch eine ganze Menge spannender „Details“, die es lohnt zu kennen, da sie viel über diese „Demokratie“ erzählen.

Dies war nicht der erste Anschlag auf Djindjic. Schon am 21. Februar versuchte jemand, den Premier auf dem Weg zum Flughafen zu ermorden. Wer war Djindjic, und wieso hingen die westlichen Demokraten so an ihm?

Unter dem jugoslawischen Präsidenten Tito war Zoran Djindjic Dissident gewe­sen, der mit anderen Gleichgesinnten in der BRD Zuflucht fand. Nachdem er nach Belgrad zurückgekehrt war, war er 1989 einer der Gründer der Demokratischen Partei, welche eine der größten Anti-Milosevic-Parteien war. 1996 erlangte Djindjic internationale Berühmtheit, als er Massendemonstrationen gegen Milo­sevic koordinierte. Der Lohn für dieses Engagement war der Posten des Belgrader Bürgermeisters.

Während des NATO-Angriffs auf Jugos­lawien flüchtete er nach Montenegro. Nach dem Ende des Krieges unterstützte er Kostunica im politischen Kampf gegen Milosevic. Kostunica wurde Präsident von Jugoslawien und Djindjic Premierminister von Serbien. 2001 lieferte Djindjic Milosevic gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung, vieler serbischer Politi­ker und Kostunicas an das Haager Tribu­nal aus.

Djindjic verfolgte eine neoliberale Politik, sein technokratisches Auftreten und sei­ne Medienmanipulation ließen ihn in Serbien, dem ärmsten Staat des Balkans immer unbeliebter werden.

Die Stimmung heizt sich auf

Täglich protestierten damals mehr als 15 000 Arbeiter/innen gegen ihn, 900.000 wurden gefeuert (12,86 Prozent der bei einer Bevölkerung von 7 Millionen), soziale Unruhe kam auf. So­ziale Bewegungen wie u.a. „Another World is possible“ („eine ande­re Welt ist möglich“) nahmen Gestalt an und begannen, sich der Politik des Interna­tionalen Währungsfonds (IWF) zu wider­setzen. Dessen Politik beinhaltet in der Hauptsache Einschränkungen der Staats­ausgaben, was vor allem in sozialen Be­reich umgesetzt wird, Abwertungen der Währung, was die Produkte verteuert, und Privatisierungen im großen Maßstab.

In Bezug auf politische Parteien gab es in den letzten Jahren einen Machtkampf zwi­schen Kostunica und Djindjic. Der Machtkampf wurde zugunsten von Djindjic entschieden, nachdem Jugos­lawien durch die Union von Serbien und Montenegro ersetzt wurde. Kostunica stand nun ohne Amt da, zurückgeworfen auf Oppositionsarbeit. Doch Djindjic konnte sich letztlich nur wenige Wochen an diesem Sieg erfreuen…

Hier setzen die Spekulationen ein, wer den frischgebackenen Premier umgebracht hatte, der den westlichen Demokratien offensichtlich so genehm, weil zutraulich war.

Eine Theorie besagt, er sei ein Opfer sei­ner eigenen Allianzen geworden. Im ehe­maligen Jugoslawien hat sich in den letz­ten Jahren, wie auch in anderen Staaten, eine Klasse von neureichen Oligarchen gebildet, die unter Milosevic, wie Kos­tunica und Djindjic protegiert wurden. Ein anderes Szenario interpretiert die Er­mordung Djindjics als Komplott, der mit den Rivalitäten zwischen Berlin und Was­hington zusammenhängt. Möglicherweise wurde er von albanischen Nationalisten umgebracht, die im Süden Serbiens an Einfluss und Stärke gewinnen.

Gleich, welche Theorie nun mehr Wahr­heit enthält: der Kreis der neoliberalen Technokraten um Djindjic wird daraus zu profitieren wissen. Ebenso könnten sich nun mafiöse Strukturen, sowie die Natio­nalisten ermutigt fühlen. Am wahrscheinlichsten scheint wohl die Annahme, dass die neoliberalen Kräfte die­se Situation nutzen werden, um ihr Pro­jekt voranzutreiben. Insofern hat sich nicht viel geändert…

hannah

Nachbarn

…werden Anarchisten verfolgt

Nach dem Attentat auf den Premierminister am 12. März 2003 begann eine bis heute andauernde At­tacke auf die Anarchosyndikalistische Or­ganisation Serbiens und die Anarchisten im allgemeinen. In deren Verlauf wurde unter anderem der Sekretär der Anarcho­syndikalistischen Initiative Serbiens (ASI) verhaftet und nach drei Tagen aufgrund mangelnder Beweise wieder freigelassen ­nicht einmal für Anschuldigungen nach den Gesetzen des Kriegsrechts reichte es.

Sein Verbrechen war es, Sekretär des anarchistischen Syndikats zu sein, welches noch am Tag der Ermordung Djincjics eine Stellungnahme verfasst, aber nicht veröffentlicht hatte. Darin war zu lesen, dass die Anarchosyndikalisten den An­schlag weder bedauern noch begrüßen, da es ihnen nicht darum ginge, wer regiert, sondern dass sie keine Regierung brau­chen. Sie schrieben, dass sie auch nach dem Tod des Premiers den Fortgang der Privat­isierungen in Serbien erwarten. Sie riefen die Bevölkerung auf; sich revolutionär zu organisieren, um Kapitalismus und Staa­ten los zu werden und sich nicht um der ausgerufenen Ausnahmezustand zu küm­mern. Dieses Schreiben und unerwünsch­tes Gedankengut mussten herhalten, um Hausdurchsuchungen und Gefängnis zu rechtfertigen. Bis zum heutigen Tag läuft im serbischen Staat eine Kampagne von Gewerkschaftsbürokraten und Repräsen­tanten des Staates und der Regierung zur Denunziation der anarch(osyndikal) istischen Bewegung.

Um sich dagegen zu wehren, ver­öffentlichte das Syndikat folgenden Text, der am 10. Juli 2003 in der größten serbi­schen Wochenzeitung „NIN" (Wöchent­liche Informationszeitung), abgedruckt wurde, den wir in gekürzter Fassung hier abdrucken. Offenbar darf man nun, da der Ausnahmezustand vorbei ist, wieder un­gestraft laut denken…

Der Klassenkonflikt als ein Anreiz für erfolgreiche Kommunikation

[…] Seit einigen Monaten warnt Herr Milenko Smiljanic (1), Präsident der SSSS, die serbische Regierung ständig, dass – würde sie die Zusammenarbeit mit ihm verweigern – sich der Protest radika­lisieren würde, anarchistische Gewerk­schaften entstehen und somit die Mas­sen toben werden.

Jeder, der die Positionen der Anarcho­syndikalisten ein wenig kennt, hier und anderswo in der Welt, weiß, dass dies bil­lige Propaganda eines Bürokraten ohne Unterstützung und Verhandlungsop­tionen ist, dessen Position von un­befriedigten und hintergangenen (Ge­werkschafts)Mitgliedern ernstlich an­gegriffen wird. Anarchosyndikalisten ha­ben nie und nirgends sinnlose Gewalt und Ausschreitungen in den Straßen propagiert. Worauf wir immer wieder hinge­wiesen haben ist, dass wir – wenn wir unsere Rechte nicht auf zivilisierte Weise durchsetzen können – den Barbaren auf der anderen Seite dennoch nicht gestat­ten werden, unser Leben nach ihren Maß­stäben zu gestalten. Im Gegenteil, wir werden auf die einzige Art und Weise ant­worten, die sie verstehen.

Den Politikern ist es ein leichtes, ih­ren kriminellen Aktivitäten nachzugehen, nachdem sie ihrer Posten enthoben sind; aber der Arbeiter, der nach vielen Jahren Arbeit gefeuert wird, hat in dieser Gesellschaft keine Perspektive.

Anarchosyndikalisten wurden wäh­rend aller vergangenen Kriege für ihren Antimilitarismus verleumdet, eingesperrt, gefoltert und ermordet. Gewalt ist für uns kein Fetisch. Das bedeutet aber nicht, dass wir auf unseren Hintern hocken und zu­lassen werden, dass unser Leben unter den Teppich der Privatisierung gekehrt wird.

Um unsere Ziele zu erreichen, werden wir alle brauchbaren Mittel anwenden, die nicht im Kontrast zu unseren ethischen Positionen stehen und tatsächlich zur Ver­besserung der Lebensumstände der Ar­beiter/innen und anderer unterdrückter Menschen beitragen.

Betrachten wir die Sache mal von der anderen Seite: Fragen wir den Staat und die Bosse, was sie über Gewalt denken. Wer beginnt die Kriege und warum? […] Wer holt die, privaten Sicherheitsdienste und Bodyguards, wenn er die Arbeiter/ innen feuert und die Fabrik mit Gewalt übernimmt? […] Das ist Gewalt, die mehr als offensichtlich und sehr brutal ist. […]

Wir erwarten nicht, dass Politiker viel von uns halten, es kümmert uns auch nicht was sie denken (wenn sie überhaupt den­ken). Aber es gibt einen anderen interes­santen Grund, warum die Gewerk­schaftsbürokraten versuchen, unsere Me­thoden für die Rechte der Arbeiter/innen zu kämpfen verfälschen und verzerren. Enttäuschte Mitglieder der „großen" Ge­werkschaften, die sich über die Verknö­cherung der Gewerkschaftsbürokratie im klaren und angewidert sind von den Un­mengen von Lügen, beginnen den Gewerkschaftszentralen massenhaft den Rü­cken zu kehren.

[…] Jedem vernünftigen, zivilisiertem Menschen leuchtet ein, dass seine Stim­me am ehesten in einer nicht-hierarchi­schen, direkt-demokratischen Gewerk­schaft Gewicht hat, in der Entscheidun­gen nur von den Mitgliedern getroffen werden – und nicht von den Bürokraten, die von oben eingesetzt sind und deshalb andere Interessen haben als diejenigen, die sie vertreten sollen.

Anders als bei den Mainstream-Ge­werkschaften werden in unseren Syndikat Entscheidungen nicht von einer bestochenen Führung (SSSS), der ser­bischen Regierung (ASNS) (2) oder aus­ländischen Geldgebern (Nezavisnost (3)) getroffen, sondern nur von den Mitglie­dern. […]

Während des Protestmarsches am 25. Juni versuchten Smiljanic und seine Cli­que ständig, uns von dem Protest zu sepa­rieren, und riefen die Arbeiter/innen auf, uns zu boykottieren. Dennoch wurden sie mit der ungestümen Antwort der Arbei­ter/innen konfrontiert, die die echten Be­weggründe hinter diesem Aufruf durch­schauten. Aufgebrachte Waffenbauer hät­ten die Sache fast handgreiflich mit einem Bürokraten der SSSS geklärt, der geschrien hatte „Schmeißt diese Leute mit den schwarz-roten Fahnen und antistaatlichen Transparenten raus!“

Wiederholen wir noch einmal die Grundlagen unserer Aktivitäten: […] Wir alle leben in einem ständigen Krieg des Staates gegen die Gesellschaft und der Chefs gegen die Arbeiter/innen. Dies wird an der Beziehung des Staates zu den Me­dien sichtbar. (4) Wir reagieren auf ihre Attacken. Wir verteidigen uns.

Die Gesellschaft kann ihren Wider­stand auf verschiedenen Wegen zeigen, aber die einzige Möglichkeit die Aus­beutungsgesellschaft, die Macht von Men­schen über Menschen, das Leiden, den Schmerz, die Armut und die Lügen ein für alle mal zu beenden, ist es, sich hier und jetzt in den revolutionären Syndika­ten zu organisieren, die nicht aufhören werden zu kämpfen, bis wir beginnen in Freiheit zu leben. […]

Lassen wir sie mit ihren Kämpfen al­lein und konzentrieren wir uns auf unsere Ziele: Ein besseres Leben hier und heute. Bedeutet dass, in den Straßen zu protes­tieren? Straßenblockaden? Besetzung der Fabriken bis wir bekommen, was wir ver­langen? Forderungen nach dem Vier-Stun­den-Tag? Generalstreik bis alle unsere Zie­le erreicht sind? Kann uns jemand diese Aktionen verbieten?

Wie auch immer, ein diktatorisches Regime wurde auf diese Weise gestürzt und ein anderes kam an dessen Stelle, in­dem es das Chaos nutzte. Wir sollten nie wieder zulassen, dass Politiker und Bosse unsere Kämpfe für ihre Ziele nutzen. Wir brauchen keine Kooperation mit politi­schen Parteien. […] Um neue soziale Be­ziehungen zu schaffen, gleichberechtigte, nicht-hierarchische Beziehungen zwischen den Menschen, dazu brauchen wir keine Schafherden/Hirten. Aber wie für alle po­sitiven Errungenschaften der Zivilisation, die wir gegen die dunklen Kräfte des Aber­glaubens besitzen, benötigen wir nur ein wenig Selbstbewusstsein. […]

Belgrader Gruppe der Anarcho-Syndika­listischen Initiative

Anmerkungen des Übersetzers:
(1) Führer der größten Zentralgewerkschaft in Serbien (SSSS in serbisch), eine Gewerkschaft, die ihre Wurzeln in der staatskommunistischen Ära Jugoslawiens hat und Milosevic während seiner Regierung unterstützte.
(2) ASNS ist die „gelbe“ Gewerkschaft der Regierung, ihr Kopf ist der Arbeitsminister.
(3) Nezavisnost [Unabhängigkeit] ist die Gewerkschaft, mit engen Verbindungen zur AFL­CIO. dem größten Gewerkschaftsdachverband in den USA.
(4) Die serbische Regierung hat kürzlich verschiedene Gerichtsverfahren gegen mehrere Zeitschriften und Radio-/Fernsehstationen (darunter NIN) angestrengt, da diese die Arbeit der Regierung kritisiert hatten.

Nachbarn

revolutionshop@craiova

In Craiova, im Süden Rumäniens, sind derzeit 10 bis 15 Leute dabei, einen Infoladen aufzubauen. Da es erst der zweite Infoladen dieser Art in Rumänien ist und diese Entwicklungen noch sehr jung sind, verdient es besondere Aufmerksamkeit. Wir wollten mehr darüber wissen und haben die Leute vor Ort besucht und ein Interview gemacht.

FA!: Erzählt uns etwas über eure Situati­on rund um den Infoladen. Habt Ihr Pro­bleme mit Polizei und Behörden?

Wir haben den Raum für den Infoladen seit fünf Monaten und sind sehr glücklich darüber, da wir keine Miete zahlen, son­dern nur Wasser und Strom. Es ist außer­dem sehr praktisch, weil er im Zentrum der Stadt liegt. Wir hoffen, dass wir viele Leute damit ansprechen und die Idee von einem anderen Leben und Denken rüber­bringen können.

Bisher haben wir keine Probleme mit Polizei und Behörden, da es noch kein ge­öffneter Raum ist und nur wenige Leute davon wissen. Im Moment ist es also o.k.. Nach der Eröffnung könnten wir mög­licherweise Probleme mit Polizei und Geheimpolizei bekommen, da schon jetzt Telefone abgehört werden und so zukünf­tige Aktionen schon im Vorfeld bekannt sind.

Solch ein Projekt wie der Infoladen ist neu in Rumänien. Es gibt nicht viele Akti­onen, daher auch nicht viele Probleme. Es ist wichtig zu sagen, dass Anarchisten ein schlechtes Image in Rumänien haben und es werden jede Menge Lügen über uns verbreitet, denn wir wer­den Stalinisten genannt, Drogen­dealer, wir würden die Schule schmeißen und nur Lärm auf der Straße machen.

FA!: Tragen auch die lokalen und natio­nalen Zeitungen zum schlechten Ruf bei?

Ja, wir haben große Probleme mit der Presse. Sie nennt sich unabhängig, holt ihre Informationen aber von Polizei, Regierung und einflussreichen Leuten. Interessant ist, dass die Geheimpolizei letztes Jahr auf ihrer Home­page einen Artikel über Anarchismus in Rumänien veröffentlichte, in dem sie wieder Lügen verbreiteten. Die meis­ten Zeitungen, lokale und nationale, druckten daraufhin genau denselben Arti­kel ab.

Generell schreiben die Zeitungen aber Gutes über unsere Aktionen, z.B. über „Food not Bombs" oder Demonstrationen. Aber sobald es um das Wort Anarchismus geht, schreiben sie wieder die schlechtes­ten Sachen. Dieselben Reporter schreiben also gut über unsere Aktionen und schlecht über unsere Idee. Sie wissen nicht was Anarchismus bedeutet.

FA!: Habt ihr Probleme mit Faschisten und Nationalisten in Craiova und in Ru­mänien?

Es gibt eine neue Gruppe mit dem Namen Noua Dreapte (N.D.; Neue Rechte), welche stark in Bukarest vertreten ist, aber sie haben Mitglie­der in allen größeren Städten. In Craiova ist die Antifaschis­tische Bewegung bisher immer größer gewesen. Es gibt vielleicht 5 bis 6 junge Faschisten, aber sie tun nichts und leben im Untergrund. N.D. machen viel Propaganda und bekommen große politi­sche Unterstützung von der Partei Romania Mare (Große Rumänische Partei, Anm.: nicht größte!). Sie helfen ihnen mit Geld. Der Präsident ist ein Stalinist und Hitlerist und schon zu Ceausescu-Zeiten aktiv gewesen und heute gut Freund mit Haider, Berlusconi und Le Pen.

FA!: Welche Art von Propaganda macht die N.D.? Gibt es Pogrome gegenüber Roma oder Juden?

Die Nationalisten sind in erster Linie gegen die Roma, aber auch gegen Juden, Homosexuelle und Ungarn (Anm.: Min­derheit in Rumänien). Letztes Jahr töte­ten Nazis in Timisoara einen Straßenjun­gen. In Bukarest sprühten Nazis an das jü­dische Theater „Arbeit macht frei“. Die Zeitungen reagierten auf die Ak­tionen, verurteilten den Inhalt jedoch nicht.

FA!: Ist die N.D. in der Regierung vertre­ten?

Nein, sie ist bisher nur eine Organisa­tion, möchte aber in naher Zukunft zu ei­ner Partei werden. Neben N.D. gibt es auch noch Blood and Honour in Rumä­nien. Sie sind verboten, haben aber seit ei­nem Jahr eine Internetseite mit viel Pro­paganda. Sie arbeiten aber nicht mit der N.D. zusammen.

FA!: Organisieren sie Konzerte oder an­dere Veranstaltungen?

Es ist nicht möglich für sie, weil sie keine Plätze und Orte dafür haben. Aber sie haben eine Band namens Comandorul Hoissan.

FA!: Wieviele Mitglieder und Sympathi­santen gibt es um die N.D.?

Einige hundert in ganz Rumänien. Ein großer Teil davon ist um das Fußballteam Dynamo Bukarest vertreten und es gibt auch einige Hooligans. Die Clubmanager unterstützen diese Entwicklung, so waren im Fernsehen bei Spielen Keltenkreuze und andere Flaggen zu sehen, obwohl diese illegal sind. Als sie in Craiova spielten, durf­ten wir dagegen mit unseren Flaggen „ge­gen Rassismus" nicht ins Stadion.

FA!: Gibt es Organisationen, Vereine oder Gruppen mit denen ihr zusammenarbei­tet oder von denen ihr Unterstützung er­hoffen könnt?

Vor 2-3 Jahren versuchten wir mit an­deren Gruppen zusammen zu arbeiten, aber die Geheimpolizei kam uns zuvor und sprach mit den NGO’s (Non Governmental Organisations / Nicht-Regierungs-Organisationen), dass sie nicht mit uns kol­laborieren sollten, weil wir Anarchisten wä­ren.

Einige NGO’s, z.B. Frauen- und Menschenrechtsgruppen, bekommen Geld vom Staat aber machen keine Aktionen. Daher kennt sie auch niemand in Rumä­nien. Als wir am ersten März die Antikriegsdemo veranstalteten, fragten wir bei. einer Menschenrechtsorganisation nach Unterstützung für die Anmeldung, aber sie sagten das wäre weder ihr Aufgabenfeld noch ihr Geschäft. Gute Zusammenarbeit findet mit der Gruppe aactivist aus Timisoara statt. Wir arbeiten sehr eng zu­sammen. Über Bukarest, die „anarchist aktion", wissen wir nichts. Und dann gibt es noch in kleineren Städten einige Leute zu denen wir Kontakt haben.

FA!: Habt ihr auch Kontakte außerhalb Rumäniens?

Wir haben enge Kontakte in die USA, nach Deutschland, Ungarn, Frankreich, Italien und Österreich. Nach Bulgarien wollten wir Kontakt aufnehmen, bekamen – aber von dort bisher keine Antwort. Timisoara hat auch noch viele Kontakte nach Serbien, da es nahe an der Grenze liegt.

FA!: Was ist in nächster Zeit rund um den Infoladen geplant, wie geht es voran? Welche Hilfe von außer­halb könnt ihr ge­brauchen?

Momentan sind wir finanziell bank­rott. In einem Monat wollen wir einen Computer auf Raten kaufen, außerdem in Zukunft einen Kopierer und einen Dru­cker. Wir sind alle arbeitslos oder Studen­ten und haben wenig Geld. Das Leben ist hart. Alles was wir benötigen müssen wir von unserem eigenen Geld bezahlen, erst kommt das Überleben und dann der Infoladen. Materielle Hilfe ist besser. als Geld. Ansonsten stre­ben wir an, den Infoladen jeden Tag offen zu haben und uns besser als bisher zu organisieren. Außer­dem wünschen wir uns, dass neue junge Leute dazu kommen werden.

FA!: Erreicht ihr bei eu­ren Aktionen oder bei Konzerten neue Leute?

Bei Konzerten sind meistens immer dieselben Leute (Anm.: Konzerte sind selten, alle paar Monate).

Zum 1. Mai 2002 haben wir eine Ak­tion in der Innenstadt gemacht und ha­ben u.a. Bilder ausgestellt, wofür viel Inte­resse bestand. Dieses Jahr allerdings war es nicht so gut, weil viel Polizei da war, und die Leute sich deshalb nicht zum Stand ge­traut haben. Sie machen Probleme wegen nichts.

FA!: Danke für das interessante Ge­spräch!!!

Falls jemand Bücher, Bro­schüren, Zines oder ähnliches in englischer Sprache über hat, oder nicht mehr braucht, die Craiova-Leute brauchen eine Menge davon. Bisher verfügen sie über ein kleines Regal mit nur wenig Lesestoff

Kontakt:
revolutionshop@hotmail.com

Anarchie in Warschau 2003

Vom 27.-30.06. fand in Warschau die anarchistische Osteuropa-Konferenz (siehe Aufruf FA!#6) statt. Verschiedene Gruppen und Projekte mit libertären Ansätzen, hauptsächlich aus den ehemaligen Ostblockländern, fanden sich zu einem Erfahrungsaustausch, zur Diskussion neuer Strategien sowie zum Knüpfen neuer Kontakte zusammen.

 

Die Teilnehmerinnen waren schon in den Einladungen zu einer hohen Eigenin­itiative und dem Vorstellen Ihrer lokalen Projekte aufgefordert worden. So wurde auch über die Repression gegen die Satire­zeitschrift in Navinki in Weißrußland be­richtet (siehe S. 1/2). Aus Weiß­rußland und der Ukraine sorg­ten zwei Theatergruppen mit sozialkritischen Stücken für die kulturelle Untermalung.

Anfangs nur wegen des güns­tigen Datums für diesen Zeit­raum angesetzt, um anschließend gemeinsam zum Grenzcamp nach Krynki an der weißrussischen Grenze zu fahren, kam es im Verlaufe der Vorbereitung zur Abspaltung einer Gruppe, die schon die Konferenz selbst direkt in den Kontext der Grenzcamp-Vorbereitung setzen wollte. War man sich im Vorfeld noch da­rüber einig gewesen, das Problem der neuen EU-Außengrenze im Osten Polens und der neuen Visa-Pflicht mit in die Konferenz einfließen zu lassen, kam jedoch keine Einigung über die Gewich­tung des Themas zustande. Aus diesem Grund entstand die pa­radoxe Situation, dass zur selben Zeit, im selben Gebäude, Tür an Tür mit dem AnarchistInnentreffen eine Antiborder-Konferenz stattfand. Teilneh­merinnen waren irritiert, wenn sie über einen speziellen Workshops zu hören be­kamen: „…wissen wir nicht — das gehört zur Anarchokonferenz.“ Die inhaltliche Qualität des Treffens litt spürbar darunter, obwohl zumindest schon die Begegnung an sich für die meisten Teilnehmerinnen des Treffens einen hohen Gewinn darstell­te.

Zum offenen Konfliktausbruch kam es nach der nicht angemeldeten Demonstra­tion am Montag, bei der über eine der größten Brücken Warschaus ziehend, der Verkehr fast zum Erliegen gebracht wur­de. Warnenden Stimmen bezüglich des Ab­schieberisikos für z.B. die weißrussischen und ukrainischen Teilnehmerinnen wur­de nur sehr nachlässig begegnet, was nur noch zu einer weiteren Vertiefung der Differenzen zwischen den Organisatorinnen führte. Dass es bei den folgenden kurzzei­tigen Gewahrsamnahmen und „nur“ 50 Zloty Strafe für jeden der 16 Verhafteten blieb, kann als großes Glück angesehen werden. Andererseits wird den meisten, wie immer, gerade diese spektakuläre Aktion als das obligatorische Adrenalin-&-Schweiß-Happening mit dem „Weißt Du noch…?!“-Effekt in Erinnerung bleiben.

Trotz aller Pannen und Kon­flikte wurde von den meisten Teilnehmerinnen eine eher positi­ve Bilanz gezogen. Dies vor allem im Vergleich zu den mehrfach in den 90igern stattgefundenen „Ost/West-Konferenzen“, welche für weitaus weniger Resonanz gesorgt hatten. Oft wurde hier zu sehr in den Denkschemen der westeuropä­ischen Gruppen (nicht selten aus der Perspektive einer besseren so­zialen Absicherung heraus) gedacht und geurteilt, welche sich aufgrund von Mentalitäts- und Struktur­unterschieden nicht immer auf die osteuropäischen Verhältnisse über­tragen lassen.

lydia

Links zu osteuropäischen gruppen: www.nadir.org/nadir/initiativ/osteuropa/

Nachbarn

Graffiti: „gewöhnlicher Faschismus“?

In Halle und Leipzig gründeten sich Vereine, um der illegalen Graffiti-Szene den Kampf anzusagen

In Leipzig bildete sich vor kurzem das „Aktionsbündnis Stattbild“. Diesem gehö­ren 20 Mitglieder an, darunter die Stadt, die Stadtwerke, die LWB und die Graffitientfernungsfirma FEBAX. In Halle hat sich der Verein „Halle-gegen-Graffiti e.V.“(www.halle-gegen-graffiti.de) gegrün­det, in dem FEBAX auch mitwirkt. Ihre Mittel sind Denunziation durch die Bür­ger und verschärfte Repression, sowie öffentlichkeitswirksame Entfernungen von Graffiti. Während in Leipzig Denunziationstelefone eingerichtet wurden, fordert der Hallenser Verein „eine Art Volksbewegung gegen den Spraydosen­vandalismus“ und schreibt den Sprayern „hochorganisierte Strukturen“ zu. Sowohl Eckardt Nowak, Vorstandschef des Aktionsbündnis, wie auch der Verein in Halle fordern verstärkte Repression und ein Graffitibekämpfungsgesetz.

Beiden Vereinen ist gemeinsam, daß ihre Aushängeschilder Männer sind, die meinen, Krieg spielen zu müssen. Während Norbert Beitel, Vertreter der Stadt Leipzig im Bündnis, „eine klare Kampfansage an die Szene“ propagiert, wählt Peter Sodann, Intendant des Neuen Theaters in Halle und Tatort-Kommissar, markigere Worte und bezeichnet Graffiti als Ausdruck des „gewöhnlichen Faschismus“. Und was ist mit den Graffiti-Jägern, die versuchen ihre Sauberkeit und Ordnung als Bürger- und Volkswille zu verkaufen? Auch wenn von Faschismus wohl noch lange nicht die Rede sein kann, sprechen die ag­gressive Rhetorik und die ange­wandten Mittel der Denunziation und Repression für sich.

Diese Drohung wollten sich einige Sprayer in Halle nicht bieten lassen und beklebten die Schaufensterscheiben am Theaterkomplex Kulturinsel mit der Aufschrift „Gewalt er­zeugt Gegengewalt, Peter“. Und auch den Faschismus-Vorwurf gaben sie zurück und sprayten (nicht sonderlich politisch kor­rekt) ein Hitler-Porträt an eine Wand der Barfüsserstraße, in dessen Mitte die Köpfe von Peter Sodann und Christoph Bergner (CDU, ebenfalls Graffiti-Jäger) gemalt waren. Davon ist Sodann natür­lich sehr geschockt und meinte: „wir kön­nen über alles reden“. Auch mit jenen, denen schließlich er den Kampf angesagt hat und seiner Meinung nach gewöhnli­che Faschisten sind?

kater francis murr

Mehr zu verschiedenen Aspekten der Graffitiproblematik in den FA!-Ausgaben #1 – #4 und #7.

Lokales

Schwarzfahren, das letzte Abenteuer der Kavaliere?

Schon der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, hat vor der Fraktion der SPD zum Thema „Agenda 2010 für Wirtschaft und Arbeit“ am 08. April 2003 in Berlin uns alle gemahnt, dass wir „keine andere Wahl [haben], als Ernst zu machen mit dem ‚aktivierenden‘ Sozialstaat. Das mag schmerzhaft klingen, aber es wird erträglicher, wenn wir das Ziel dahinter wieder in den Vordergrund rücken: Unser Land bis zum Ende des Jahrzehnts zur Vollbeschäftigung zurück zu führen.“

Das Schöne beim „aktiven Sozial­staat“ ist, dass jeder mitmachen kann, auch mit kleinem Geldbeutel. Und das geht beispielsweise so:

Man könnte ohne Fahrschein mit Bus oder Straßenbahn fahren, was eigentlich kaum weiter auffallen würde. Dann wür­de man von zwei als Kontrolleure ange­stellten Menschen erwischt. Es würde ein Zettel ausgefüllt werden, den man für 40 Euro der LVB zurück­geben soll. Falls man aber unbelehrbar ist und die Frechheit hat, ständig oder öfters knapp bei Kasse zu sein, oder aber partout nicht einsehen will, dass alles was kosten muss – dann hört der Spaß auf. Dann wird erneut ein Zettel ausgefüllt, der (zur An­zeige gemausert) mehrere Polizeibeamte beschäftigt.

Nun wächst sich die Anzeige zu einer Anklageschrift aus und damit befasst sich die Staatsanwaltschaft. Wenn es zu einem Gerichtsverfahren kommt, sind noch einmal eine handvoll mehr Leute mit der Affaire befasst. Gefängnisstrafen von bis zu einem Jahr sind vorgesehen, aber auch deftige Geldstrafen, die man dann z.B. als Kontrolleur abarbeiten kann.

Mit nur zwei oder drei Mal Schwarz­fahren sorgt man dafür, dass die Arbeits­losenrate nicht noch weiter steigt. Und ganz nebenbei hat man auch noch den Kontrolleuren zu Sinnhaftigkeit verholfen.

Um eben diesen Sektor am Laufen zu halten, haben sich seit einiger Zeit Poli­zei, Staatsanwaltschaft und Leipziger Ver­kehrsbetriebe (LVB) zu einer großangeleg­ten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zusammengeschlossen:

Vor einigen Wochen war in der LVZ zu lesen, dass die Anzahl der Straftäter ge­stiegen sei. Bei den Justiziaren stapele sich das Papier und das Polizeirevier Süd rich­te gar eine Extra-Arbeitsgruppe von sieben Be­amten ein. Bei Bedarf würden auch wei­tere Reviere herangezogen. Die Polizei fährt selbst schwarz und sorgt für die Mas­sen an Schwarzfahrern? Nun, soweit sind wir noch nicht. Dieses Arbeitsgebiet wur­de ja erst neu entdeckt.

Die Zahl der „Straftaten“ stieg dras­tisch, das heißt, von den Erwischten wur­den mehr Übeltäter angezeigt: 1440 (2000), 2088 (2001), 5775 (2002), in den ersten sechs Monaten diesen Jahres 3842. Nicht die Anzahl der Schwarzfahrer/innen ist gestiegen, auch wurden nicht mehr Kontrolleure eingesetzt. Lediglich mehr Beamte müssen ihre Zeit mit Sachen zu­bringen, die sonst die Praktikanten erle­digen. Staatsanwälte schreiben Anklagen im Akkord und Richter stöhnen über Atemnot aufgrund der Papierberge.

Nun soll Schwarzfahren noch heraus­fordernder werden, denn die Kontrolleur/innen erhalten seit kurzem eine neue tech­nische Ausrüstung. Der Sprecher der LVB, Rheinhard Bohse, kam zu der Schluß­folgerung: „Die Fahrt ohne Ticket wurde schon zum Sport.“ Na dann, freie Fahrt bis Olympia!

Sehr viel gefährlicher für Leib und Leben scheint das Fahren ohne Fahrschein in der Hauptstadt zu sein seit die BVG private Sicherheitsdienste als Kontrolleu­re engagieren. Eine 54-jähige Frau wurde mit einem seit zehn Minuten abgelaufe­nen Fahrschein erwischt und brutal abge­führt. Wäre sie von den Beamten der BVG ertappt wurden, wäre die Sache wahr­scheinlich sanfter abgelaufen. Scheinbar dienen die privaten Kontrolleure zum Durchgreifen, während die Festangestellten eher auf das Firmenimage achten müssen.

hannah

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom Mittwoch, 16. Juli 2003 Morgenpost.berlinl.de

Lokales

Zur Not auch gegen ihren Willen

Die nun vollendete Arbeitsmarkt­reform nach dem Hartz-Konzept ist schon seit einigen Monaten, seit 1. April 2003, in der Wirklichkeit zu erleben. So erfolgreich wie die Reformer erwartet hat­ten, war die staatlich vermittelte Leiharbeit bisher noch nicht. Davon unbeirrt verab­schiedete der Bundestag am 13. August die letzten beiden großen Gesetze – „Hartz III und IV“.

Mit dem Hartz-III-Gesetz wird das Arbeitsamt umgestaltet zur „kunden­orientierten Bundesagentur für Arbeit“. Diese Neuorientierung tritt zum I. Janu­ar 2004 in Kraft und bedeutet zunächst einmal „intensivere Beratung“: verschärf­te Kontrollen und erhöhter Druck. Ein Mitarbeiter soll sich um 75 Erwerbslose kümmern – das wären etwa 50,000 „Fall­manager“, womit die Bundesagentur als ABM von landesweiter Bedeutung gelten darf. Mit der „Gewährung passiver Leis­tungen“ ist es jedenfalls vorbei. Und auch mit der amtlichen Ruhe. Das Ar­beitsamt soll künftig wie ein Unternehmen geführt werden, mit einem verant­wortlichen Management und strikter Erfolgskon­trolle. Wer erinnert sich da nicht an die Deutsche Bahn? Mittels „definierter Kennzahlen“ soll die Er­füllung der Zielvorgaben – klar, Reduktion der Arbeitslosigkeit – überprüft werden. Sta­tistik ist alles, der Mensch ist nichts.

Hartz IV etabliert durch die Zusammen­legung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe eine „Grundsicherung für Arbeitssuchen­de“. Das ganze tritt am 1. Juli 2004 in Kraft und heißt Arbeitslosengeld II; Sozialhilfe erhalten dann nur noch erwerbs­unfähige Menschen, diejenigen die weni­ger als drei Stunden täglich arbeiten kön­nen. Die „glücklichen“ Erwerbsfähigen er­fahren eine „intensivere Beratung“, einen erhöhten Druck seitens der neuen Bun­desagentur. Denn wer sich der Beratung oder Wiedereingliederung verweigert, muss die nächsten drei Monate mit etwa 100 Euro weniger (30 Prozent) auskom­men. Weigern sich Jugendliche unter 25 Jahren, bekommen sie drei Monate lang überhaupt kein Arbeitslosengeld. Dieses Prozedere kann zweimal in gleichem Ausmaß wiederholt wer­den. In der Presse­erklärung heißt es, eine Verweigerung sei eine „Pflichtverletzung“ – Arbeitspflicht?

In diesem Zusammenhang sei an eine Pas­sage in Schröders Agenda-2010-Rede (14.3.) erinnert: „Ich akzeptiere nicht, dass Menschen mit der gleichen Bereitschaft zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Hö­he bekommen. So kann erfolgreiche Inte­gration nicht aussehen.“ Es geht also um die „Integration“ derjenigen, die eine „Be­reitschaft zu arbeiten" zeigen. Als Partei mit 140jähriger, sozialistischer Tradition weiß man in der SPD sehr wohl, was „ar­beiten“ heißt: „ausgebeutet werden“. Schröder und die Partei wären nicht sozi­aldemokratisch, würden sie dabei nicht an alle Menschen der „deutschen Gesell­schaft“ denken. So kommt mangelnde „Bereitschaft" einer Pflichtverletzung gleich. Die Regierung geht mit ihrem Ar­beitseifer voran und will mittels Sonder­programm (1.9. die­ses Jahres bis 31. Au­gust 2005) 100.000 „Langzeitarbeitslose“ vermitteln – die So­zialhilfe wird in Höhe des Lohns gekürzt.

Das können jedoch nicht alle Maßnahmen gewesen sein, denn der Arbeitsmarkt hat zwei Kundenkreise – wie der Zeitungs­markt für Leser und für Anzeigenkunden. Knute für die einen, Zuckerbrot für die anderen. Hartz III umfasst neben der Ori­entierung auf die Erwerbslosen auch eine Senkung der Lohnnebenkosten – aus Sicht der Unternehmer gehören diese „Neben­kosten“ zum Faktor Lohn – also Senkung der Lohnkosten und die Pauschalisierung von Eingliederungszuschüssen. Diese Zu­schüsse zu den Lohnkosten werden offizi­ell gezahlt, um die „Minderleistungen“ des ehemals Erwerbslosen auszugleichen – bei Einarbeitung maximal 30 Prozent für bis zu sechs Monate, bei erschwerter Vermitt­lung bis zu 50 Prozent für 12 Monate, bei Alter bis zu 50 Prozent für 24 Monate. Pauschalisiert werden auch andere, spezi­ell ostdeutsche Lohnkostenzuschüsse (SAM), Und für Herbst ist eine „Offensi­ve“ angekündigt, zur „Verbesserung der fi­nanziellen Situation des Mittelstandes“.

Für Erwerbslose steht eine „Verbesserung der finanziellen Situation“ nicht zur De­batte – ebenso wenig für RentnerInnen. Schröder weiß, worauf es bei Wirtschafts­politik ankommt: Politik für „die Wirt­schaft“, für’s Kapital. Dabei handelt es sich um eine spezielle Wirtschaft, denn Produktion und Handel an sich geraten nicht ins Stocken geraten – es geht um Rentabilität: die Arbeitskraft muss billi­ger werden und der Markt muss expan­dieren, um den Gewinn zu realisieren. Die Preissenkung der Ware Arbeit selbst reicht nicht aus – wie an der Bilanz der Personal Service Agenturen kenntlich wird: „Der­zeit haben die Arbeitsämter 671 Agentu­ren unter Vertrag mit Plätzen für 30.000 Arbeitslose. Beschäftigt waren nur 6100 Arbeitslose, in einen Job vermittelt wur­den bisher 117.“ (1) Die notwendige Ex­pansion vollzieht sich heute, da alle Kon­tinente erschlossen sind, durch Neuerun­gen, durch neuartige Waren. Daher rührt die neu entdeckte Liebe zu Wissenschaft und Bildung – der Etat des Bildungs­ministeriums sei „seit 1998 um 25 Prozent“ gestiegen, heißt es in einer weiteren Presse­erklärung. (2)

… nicht die Vernunft einer menschlichen Gesellschaft

All diese Maßnahmen sind vernünftig – sie folgen der Vernunft des Gewinns. Gewiss können auch Wochenende, bezahlter Ur­laub, 35-Stunden-Woche und Sozial­versicherungen in dieser Logik gedacht werden… die Vernunft einer menschlichen Gesellschaft ist es nicht. Wenn aber in ei­ner krisengeschüttelten Wirtschaftsord­nung sich seit 20 Jahren alle Hoffnungen immer wieder zerschlagen, dann werden diese Vergünstigungen und Rechte wieder undenkbar. Verteidigen wir uns, denken wir das Undenkbare! Nicht nur an Wohl­stand denken wir, auch an Freiheit … wir haben Stiefel im Gesicht nicht gern, wir wollen unter uns keinen Sklaven seh`n, und über uns keinen Herrn.

Bisher ist noch kein Land in Sicht für Po­litik und Wirtschaft – aller Erfolgsrhetorik zum Trotz. Sie haben uns nichts zu bieten. Bisher ist noch kein Land in Sicht für Le­ben und Emanzipation – niemand wird uns das bieten. Das können wir nur selbst schaffen.

A.E.

(1) Financial Times Deutschland, 11.8.03
(2) Zur Bildungspolitik, siehe auch S. 12 in diesem Heft: „Einsicht in die Notwendigkeit". Die Zahlen und Zitate stammen von der Bundes­regierung (www.bundesregierung.de) und vom Ar­beitsamt (www.arbeitsamt.de)

Hartz-Gesetze

Unbegrenztes Camp(f)en

Es läuft bekanntlich so einiges falsch. Das meiste sogar miserabel. Und wir kön­nen uns über alles aufregen, denn immer­hin erfahren wir es. So die weitverbreitete Einstellung sich kritisch fühlender Men­schen. Nur wer, das ist die Frage, hat denn aus „normalen“ Medien etwas über den größten deutschen Dauer-Polizeieinsatz gehört, der jemals außerhalb eines Gip­fels stattfand und Köln für die erste Augusthälfte in den „Ausnahmezustand“ (0-Ton Polizei) versetzte? Nur wenige reg­ten sich auf über dauernde Kontrollen, Straßensperren und Verhaftungen durch den „Grünen Block“.

Lediglich die Kölner Lokalpresse trau­te sich, tagelang gegen „Gewalttouristen", „Chaoten" und „Schläger" zu hetzen, wo­mit jedoch ironischerweise nicht die om­nipräsenten Grünuniformierten gemeint waren…

Auslöser für die gigantische Repressionsmaschinerie, die sage und schreibe 8300 meist schwer gepanzerte Beamte mitsamt Wasserwerfern, Räumpanzern, Hubschraubern und so weiter aufbot, war das diesjährige Antirassistische Grenzcamp das sich auch dieses Mal wieder auf die Fahnen geschrieben hatte, staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus zu demaskieren und anzugreifen.

Menschen mit nichtdeutschem Aussehen und dem fal­schen Pass werden hierzulande aus­gegrenzt, in Lager gesperrt, zur Drecks­arbeit gezwungen und bei Nichtausnutzbarkeit abgescho­ben. Menschenleben und -schicksale spie­len für diese perfide Verwertungspolitik keine Rolle, sie bedient sich vielmehr (weil´s so schön einfach ist) der noch wi­derlicheren Rassismen, die in Deutschland immer noch gegen „Untermenschen“ und ähnlich „undeut­sches“ Gesindel exis­tent sind, letztendlich, um von der eigenen Ausbeutungssituation ablenken zu können. Ein Relikt der NS-Zeit, sowohl men­tal als auch ökonomisch.

Als „Spitzen des Eisbergs" thematisierte das Grenzcamp besonders die als Abschre­ckung gedachte Zwangs­unterbringung von Mi­grantInnen in Lagern und die brutale Ab­schiebepraxis, bei der BGS-Beamte schon so manchen Flüchtling um­brachten. Beiden Prakti­ken gemeinsam ist, dass private Konzerne aus dem Leid der Menschen saftige Gewinne schlagen. So die Hotel­gruppe Accor, die „Ferienlinie“ LTU und die Lufthansa AG. Diese hervorstechen­den Beispiele bilden Ansatzpunkte für Antirassistische Öffentlichkeitsarbeit so­wohl mit Flugblättern und lautstarken Demos als auch mit Direkten Aktionen und echt subversiver Kommunikations­guerilla („deportation class"). Und so ge­lang es den Aktivistinnen des Camps in der ersten Augustwoche einigermaßen, den öffentlichen Raum umzugestalten und der Brutalität der herrschenden Ideologie etwas buntes, anderes entgegenzusetzen – etwas, auf das ein Staat nur eine Antwort kennt….

Am Morgen des 9. August, die Polizei war schon hochmotiviert dabei, eine Nazi-Demonstration zu schützen und Antifa­schistinnen fest zu nehmen, wurde das komplette Camp von etwa zwölf Hundert­schaften Bereitschaftspolizei umzingelt. Knüppel und Tränengas wurden einge­setzt, viele verletzt. Die Polizei stellte den Leuten bei fast 40 Grad das Wasser ab und fing irgendwann mit dem Abtransport der „Gefangenen“ an, von denen einige 16 Stunden im Kessel verbringen mussten.

Die Polizei, die den ganzen Tag über den Eindruck von Hooligans vermittelte, stützte sich bei dem Raid auf das geneh­migte Camp auf eine schwammige „allge­meine Gefahrenabwehranalyse“. Worum es eigentlich ging war wohl nicht die Be­endigung des Camps (das wäre am nächs­ten Tag eh vorbei gewesen) sondern viel­mehr um das Sammeln von über 500 Datensätzen der eingekesselten Menschen für den Staatsschutz.

Antirassismus wird also kriminalisiert – Rassismus und Menschenrechte sind ein Tabuthema für unsere ach so tolerante Staatsmacht. Diese könnte sich mit einer derart willkürlichen Repressionsmaß­nahme allerdings selbst ein Bein gestellt haben, denn trotz der ziemlich gleichge­schalteten Presse, die meist gar nichts und wenn dann meist Hofberichterstattung brachte, kam es in ganz Europa zu einer Welle der Solidarität. Allein in Deutsch­land fanden in über 30 (!) Städten, darunter auch in Leipzig, Demos und Be­setzungen statt. Das Motto: „Köln ist überall – das camp(f)en geht weiter!" In Frankreich, Spanien und Italien kam es zu weiteren, grenzenlosen Protesten und na­türlich auch wieder zu Verhaftungen und Repression. Dass kein Wort davon in irgendwelchen etablierten Medien zu se­hen oder zu hören war, zeigt einmal mehr, was für ein gefährliches Thema mit Anti­rassismus angeschnitten wird und wie wichtig es ist, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen!

Dies könnte weiter dazu beitragen eine offensive, antirassistische Bewegung zu schaffen, die sich nicht auf Staaten bezieht, sondern die Kernpunkte gesellschaftlicher Herrschaft, nämlich jede Form von Gren­zen angreift und abschafft.

no nation no border – fight law and order

soja

An der Grenze