Archiv der Kategorie: Feierabend! #10

Häuser räumen! Rektoren kürzen!

Franz Häuser bleibt also weiterhin Rektor der Universität Leipzig. Nachdem er die Stelle des zurückgetretenen Volker Bigl einnahm, wurde er nun regulär gewählt. Im Universitätsjournal vom November verspricht er uns eine neoliberale und anpaßlerische Bildungspolitik: die Angleichung der Studierendenzahlen an die immer wieder gekürzten Lehrkapazitäten, was eine Verschärfung des Numerus Clausus und der Selektion bedeutet. Weiter steht er für die schnelle Umsetzung der Bologna-Beschlüsse (siehe auch FA! 8 & 9), und damit Bachelor und Master in allen Studiengängen. Und schließlich will er die Einwerbung von Drittmitteln steigern und damit die Abhängigkeit wissenschaftlicher Forschung von Wirtschaftsunternehmen befördern. Da fragt mensch sich, wozu braucht es eigentlich Kanzler und Rektoren? Für Bildung, wahrscheinlich genauso wenig wie Staat und Markt.

kater

Bildung

„Für Zahnersatz, Lenin und wider den Krieg“

Ignorant – aber auch interessiert: Wie die Presse auf die Demonstration der 100.000 in Berlin reagierte

Der unerwartete Erfolg der Großdemonstration unter dem Motto „Gemeinsam gegen Sozialkahlschlag“ erwischte die bürgerlichen Medien im Land ähnlich indisponiert wie Mitte der siebziger Jahre das plötzliche Entstehen der Anti-Atom-Bewegung. Deshalb sind die Sprachregelungen noch nicht standardisiert, und der Leser kann sich vorübergehend eines gewissen Pluralismus erfreuen. Ein Zeichen für die Konfusion auch in der kapitalfreundlichen Presse ist, daß in keinem einzigen Blatt der ansonsten gängige Trick versucht wurde, die Teilnehmerzahl der linken Demonstration herunterzuschwindeln. Der Berliner Tagesspiegel versuchte allerdings nachzutreten: Die Hunderttausend seien „erheblich weniger, als sich die Veranstalter erhofft hatten“, wurde wahrheitswidrig behauptet.

Mit Wegducken versuchte es die Frankfurter Allgemeine, die sowohl in ihrer Sonntagszeitung wie in der Montagsausgabe nur in wenigen Zeilen über die demonstrierende „Randgruppe“ berichtete. Nicht viel besser die Süddeutsche Zeitung, die neben einem Foto auf der Titelseite gerade 30 Zeilen auf Seite fünf zustande brachte. Chefkommentator Heribert Prantl belehrte im weiteren die Demonstranten: „Wenn Sozialetats schrumpfen, nimmt die Gerechtigkeit nicht automatisch ab.“ Auch die Berliner Zeitung mag den Unzufriedenen gerade mal „Gefühlte Gerechtigkeit“ zubilligen – so der Titel ihres Kommentars. Der Bericht vom Sonnabend wurde in den Lokalteil verbannt, wo auch ein ATTAC-Sprecher im Interview einen Gegenakzent setzen durfte. Auf der Titelseite dominierte dagegen Boris Becker mit seiner neuen Autobiographie und die Schlagzeile „Experten loben Merz“.

Ganz anders dagegen die Frankfurter Rundschau, die dem Geschehen den großformatigen Aufmacher und zwei weitere freundliche Beiträge widmete. Auch die Springer-Zeitung Die Welt war positiv verunsichert: „Wieso schafft ein bunter Haufen von diffus linken Sozialinitiativen und Globalisierungsgegnern, was ganz anderen im Frühsommer noch kläglich mißriet – nämlich die gutbürgerliche Mitte gegen Schröder in Bewegung zu setzen?“ Das Blatt verweist auf die gebrochenen Versprechen von SPD und Grünen, gibt aber zu, daß die Unionsparteien bei den Demonstranten auch nicht beliebter sind. „So wächst – an den als ewigen Bremsern diskreditierten Gewerkschaften vorbei – die Bereitschaft, außerparlamentarischen Kräften zu folgen. Das dürfte noch spannend werden.“

Wie stark die traditionellen politischen Lager in Auflösung sind, beweist der Vergleich zwischen der in den achtziger Jahren noch gewerkschaftsfreundlichen taz und der Financial Times Deutschland (FTD). „Überraschend viele zeigen ihre Empörung über die geplanten Sozialkürzungen, aber auch ihre Ratlosigkeit“, beschied das Zentralorgan der grünen Besserverdiener. Und weiter: „Wohin der politische Weg geht, scheint nicht ganz klar. Zu viele Gruppen, zu viele unterschiedliche Menschen haben sich hier getroffen.“ Die Tazisten trösten sich immerhin damit, daß „die Stalinisten“ bei der Demonstrationen keine Chance gehabt hätten. So hätten Gruppen wie Linksruck und MLPD „die Idee der Anti-Kahlschlag-Demonstration vom Samstag propagiert. Bei einem Vorbereitungstreffen in Hannover versuchte die MLPD, alles unter ihrer roten Fahne ablaufen zu lassen. Vergebens: ATTAC und die Berliner Bezirke der Gewerkschaften ver.di und BAU machten eine eigene Organisationsgruppe auf, in der Marx und Lenin keine Rolle mehr spielen.“ Die FTD hingegen sah die Klassiker im Kommen: „Für Zahnersatz, Lenin und wider den Krieg“ – so fasste sie ihren Eindruck in der Überschrift zusammen.

Sozialreformen

Navinki lebt im Untergrund!

Navinki, die anarchistische Satirezeitung aus Weißrußland, ist nun offiziell verboten. Seit Anfang des Jahres unterlag das unabhängige Blatt verstärkter Repression durch die Regierung Lukaschenko. Bereits im Mai wurde der Herausgeber wegen Präsidentenbeleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. In kurzer Abfolge erhielt das Magazin daraufhin zwei Verwarnungen. Die eine wegen Verstoßes gegen das Presserecht. Die andere aufgrund der Beeinträchtigung der „Moral des Volkes…”. Zwei solche Verwarnungen sind in Weißrußland ausreichend für das Verbot einer Zeitung.

Aber nach dem Verbot ist Navinki in den Untergrund gegangen und arbeitet nun an der ersten neuen Ausgabe. Die Illegalität macht den Druck und Vertrieb zwar wesentlich schwieriger. Aber Nichtsdestotrotz. Der Kampf geht weiter!

wanst

Nachbarn

Fünf Flaschen sind genug!

Protest gegen Burschenschaften in der Universität

Mittwoch, 29.10.2003. Es ist früher Nachmittag als ein Trupp von 20-30 PolizistInnen in Kampfmontur auf den Innenhof der Universität Leipzig stürmt. Es kommt zu einer Rangelei, in deren Zuge die PolizistInnen tat- und schlagkräftig zwei Personen abführen. Gerechtfertigt wird dieser Einsatz mit der Verpflichtung, jede angezeigte Straftat verfolgen zu müssen. Aber was ist da eigentlich passiert?

Wie jedes Semester präsentierten sich auch an diesem Tag wieder studentische Gruppen und Initiativen auf der vom StudentInnenrat (gewählte Vertretung der Studierenden in Ostdeutschland) initiierten „Vorstellungsstraße“. Darunter sind seit einigen Jahren auch korporierte Studentenverbindungen.

Hintergrund

So warb z.B. die Leipziger Burschenschaft Arminia, die zum rechtsextremen Dachverband „Deutsche Burschenschaft“ (DB) gehört, für neue Mitglieder. Die Gedanken, die vor allem von einigen Verbindungen der DB propagiert werden, sind u.a. ein „volkstumsbezogener Vaterlandsbegriff“ (1), der die Volkszugehörigkeit biologisch begründet. Nach diesem völkisch-nationalistischen Politikverständnis „betrachtet die DB die deutschen Bewohner Österreichs und Südtirols als Teil des deutschen Volkes“ (2) und die ehemalige DDR wird meist als „Mitteldeutschland“ bezeichnet. Die großdeutsche Idee verdeutlicht ein Geschichtsbewusstsein, bei dem es nicht verwundert, dass die Aachener Burschenschaft Libertas Brünn fordert, „der wiederholt in der Öffentlichkeit aufgestellten These von der Alleinschuld Deutschlands am 2. Weltkrieg entgegenzutreten.“. Die großdeutsche Variante verwirklichte der DB organisationsintern schon Anfang der siebziger Jahre, indem österreichische Burschenschaften integriert wurden. So konnte auch Jörg Haider (östereichischer Rechtspopulist, ehemaliger Ministerpräsident von Kärnten), seines Zeichens Mitglied der Silvania Wien, gleichzeitig Mitglied der DB werden.

Außerdem beziehen sich die Burschen positiv auf den starken Staat, der die „nationale Einheit“ nach Innen, gegen Andersdenkende, und nach Außen, gegen „Unterwanderung seines Volkskörpers durch Ausländer“ (3 ) zu schützen hat. Immanent ist diesem Weltbild die Sympathie für Militärisches und Soldatisches. So ist der ideale Mann wehrhaft, mutig, kameradschaftlich und patriotisch im Gegensatz zur schwachen und friedfertigen Frau. Die Aufnahme von Kriegsdienstverweigerern war daher auch Grund genug, die „Arminia Marburg“ aus dem DB auszuschließen. In den „Burschenschaftlichen Blättern“ (57/1980) findet sich zudem die Behauptung, „die menschliche Weltordnung ist auf das Männliche ausgerichtet“. Die Burschen sehen sich als die „Elite der Nation“, die allein befähigt ist, „eine Ordnung in Freiheit und Recht zu gewährleisten“. Nach ihrer Argumentation ist die „Masse nicht besonders klug…Gewöhnlichkeit oder Geringwertigkeit ist [ihr] wahrscheinlicher Zustand“. (4) Nicht alle Burschenschaften vertreten derart extreme Standpunkte. Die gemäßigteren Verbindungen traten 1996 wegen des anhaltenden ‚Rechtsrucks’ aus dem DB aus, und gründeten die „Neue Deutsche Burschenschaft“ (NDB).

Außer der Burschenschaft Arminia, präsentierten sich auf der Vorstellungsstraße des StuRa Leipzig noch das „Corps Thuringia“, das „Jagdcorps Hubertio“, die „Katholische Deutsche Studentenverbindung Germania Leipzig“ und „Wingolf“. Letztere bezeichnen sich als unpolitisch, sind aber doch einem nationalkonservativen Weltbild verhaftet. Die Ausgrenzung oder Herabwürdigung von Frauen ist ebenso Programm, wie eine straffe Hierarchie, in der nur vorankommen kann, wer sich unterordnet. Die Gefahr aber, die von allen Verbindungen, im Besonderen von den Burschenschaften des DB, ausgeht darf nicht unterschätzt werden. Sie tragen unter der Mütze des rechtschaffenen, deutschen Akademikers, stolz die Gedanken weiter, die Vernetzungen mit der NPD (Nationaldemokratischee Partei Deutschland) und der rechtsradikalen Szene sehr wahrscheinlich machen. Der elitäre Drang, überall Spitzenpositionen zu besetzen, ist nicht nur eine verklärte Theorie. Vielmehr zeigen Namen wie Franz Josef Strauß (Tuskonia München) und Jörg Haider (Silvania Wien), dass der politische Einfluss der Burschen real ist und daher auch real bekämpft werden muss.

Aktion

Das war auch der Ansatz einiger Leute, die einen kreativen Protest auf der Vorstellungstraße veranstalteten. Sie wollten die Anwesenheit rechter Gedanken an der Universität nicht einfach hinnehmen. Mit einer Tanz- und Theateraktion vor den betreffenden Ständen sollten die Männerbünde thematisiert und offener Protest bekundet werden. Etwa fünfzehn AktivistInnen, deutlich an ihrer pinken Kleidung und den silbernen Puscheln zu erkennen, sprangen, hüpften und sangen gegen Hierarchie und für die Anarchie. Die verwendete Aktionsform „Pink & Silver“ stammt aus dem globalisierungskritischen Kontext und wurde zum Beispiel in Prag beim WTO-Gipfel 2000 angewandt. Die Ursprünge liegen jedoch schon in den 1960er Jahren beim „Radical Cheerleading“. Anders als der „schwarze Block“, setzt „Pink & Silver“ auf positive Außenwirkung und Deeskalation. Nach diesem Prinzip wurde auch mit der Aktion vor den Ständen das Ziel verfolgt, die korporierten Männer lächerlich zu machen. Trotz der einheitlichen Taktik blieb noch genug Raum für die Beteiligten, dem ein oder anderen individuellen Reflex nachzugehen.

Die Stimmung auf dem Innenhof der Universität zur Mittagszeit war ausgelassen. Es gab bunte Tische mit Kaffee, Kuchen und mehr. Vor den Ständen der kooperierten Verbindungen protestierten bereits einige Leute mit Transparenten und gelegentlich wurden ein paar Knallfrösche ihrer Bestimmung zugeführt. Zu den Transparentträgern gesellte sich bald auch der pinke Haufen, der mit silbernen Puscheln choreographierte Anti-Burschenschaftstexte zu Gehör brachte. Es waren Liedzeilen wie: „Lieber ein Geschwür am After, als ein doitscher Burschenschafter“ zur Melodie von „99 Luftballons“ und anderes zu vernehmen. Zahlreiche SympathisantInnen und Umstehende applaudierten der Darbietung und fingen gar selbst mit an zu puscheln. Inmitten dieses lauten, bunten Treibens begannen einzelne Protestierende etwas übermütig zu werden und es wurden Stände von Propagandamaterial abgeräumt. Von Seite der Männerbünde wurde daraufhin eine Anzeige wegen Diebstahl, Sachbeschädigung und tätlichem Angriff bei der Polizei erstattet, die einige Streifenpolizisten zur Personalienfeststellung auf den Innenhof der Universität schickte. Der Fokus der Gesetzeshüter richtete sich sofort und ausschließlich auf die pinken Tänzer- Innen, die größtenteils versuchten sich dem Zugriff zu entziehen. Das verursachte hitzige Debatten und auch kleinere Schubsereien zwischen Grün und Pink. Die „Pink & Silver“ Aktion war damit jedoch beendet und die Beteiligten verließen auf Umwegen die Vorstellungsstraße.

Eine zweite Anzeige wurde von einem der Verbindungsstände aus erstattet, nachdem fünf Flaschen Alkoholika von unbekannt entwendet worden waren. Weitere Vorwürfe waren ein Kerzenwachsattentat auf eine wehrlose Hose und die Entführung eines Tisches vom RCDS Stand (Ring Christlich Demokratischer Studenten), der später unversehrt auf der Herrentoilette aufgefunden wurde. Die Reihenfolge und Vollständigkeit der 7-8 laufenden Anzeigen war bei der Polizei bis zum Redaktionsschluss nicht in Erfahrung zu bringen, da mittlerweile der Staatsschutz ermittelt, der keine Auskünfte erteilt.

Es war bereits wieder Ruhe auf dem Hof eingekehrt, als ein Verbindungsstudent vermeintliche Täter wiedererkannt zu haben glaubte. Damit war der Manöverübungsplatz ausreichend abgesteckt und die „Straßenkämpfe“ konnten beginnen. Vier PolizistInnen scheiterten zunächst beim Versuch die Personalien der Verdächtigten zu ermitteln und wurden von einem Menschenauflauf umringt, der lauthals bekundete, dass die Polizei nichts auf dem Gelände der Universität zu suchen habe. Von der Situation überfordert wurde Verstärkung gerufen, die sich in Form von 20-30 behelmten BereitschaftspolizistInnen im Laufschritt dem Geschehen näherte. Nach dem Austausch verbaler und physischer Tätlichkeiten wurden zwei Menschen unter Anwendung von Gewalt abgeführt.

Das Fazit des Einsatzes waren, zwei Ingewahrsamnahmen, inklusive aufgeschrammten Händen und einer zerrissenen Hose. Außerdem die Anzeigen durch die Verbindungen und einer Anzeige der Polizei wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Und zu guter Letzt eine Aufsichtsbeschwerde gegen einen Polizisten und eine Feststellungsklage durch den StudentInnenrat zur Klärung der Frage, was die Universität für ein Raum ist und wieweit dort die Befugnisse der Polizei reichen. Nicht unerwähnt bleiben sollte, daß das bedauerliche Verschwinden einer Burschenschaftsmütze, dem einen kalte Ohren und dem anderen eine rote Nase beschert haben dürfte.

wanst

(1) Begriff vom DB 1971 eingeführt
(2) Antrag der Aachener Burschenschaft Libertas Brünn auf dem Berliner Burschentag 1965
(3) Wiener Burschenschaft Olympia, Burschentage 1991
(4) Hettlage. in: Academia, Zeitschrift des Cartell-Verbandes, 1966

Lokales

Arbeit und Gesundheit als Privatsache

Zum Hintergrund der Reform der Sozialsysteme – einige Fakten

Die PROBLEMATIK

Die BRD wird laut SPD-Vorsitzenden Schröder von vier hartnäckigen Problemen gebeutelt:

Erstens: Unsere Gesellschaft wird immer älter. Die Lebenserwartung der Menschen steigt – erfreulicherweise. Gleichzeitig sind wir ein Land mit sehr niedrigen Geburtenraten. Zweitens: Die deutsche Wirtschaft muss sich auf hart umkämpften internationalen Märkten behaupten. Der internationale Wettbewerb hat durch die Globalisierung enorm zugenommen. Wir leben nicht auf einer Insel der Seligen. […]. Drittens: Die internationalen Wettbewerbsbedingungen sind nicht zuletzt aufgrund des 11. September gehörig unter Druck geraten. Das ging besonders zu Lasten der starken, exportorientierten Volkswirtschaften wie der deutschen. Und viertens befinden wir uns wegen der weltwirtschaftlichen Probleme inzwischen im dritten Jahr wirtschaftlicher Stagnation.“ (1)

Drei von diesen vier Problemen betreffen die Wirtschaft. Genauer die Arbeitslosen, die in der Wirtschaft nicht mehr als ArbeiterInnen benötigt werden und deshalb die Sozialkassen belasten. Da immer mehr Menschen älter statt jünger werden und immer Wenigeren danach ist, Kinder in diese Welt zu setzen; wodurch die Sozialkassen noch mehr belastet und noch weniger gefüttert werden, brauchen wir in dieser Logik mehr Jobs. Denn mehr Beschäftigung bringt mehr Abgaben und vollere Kassen.

Neue Jobs entstehen durch mehr Wachstum, durch Innovation und Wettbewerbsvorteile auf den Märkten. Das Problem dabei ist gerade nicht, dass die Löhne in qualifizierten Berufen bei uns zu hoch wären – sonst wäre Deutschland nicht Exportweltmeister. Die Anteile, die deutsche Produkte auf den Weltmärkten halten, sind Spitze.“

Allerdings rühren die wirtschaftlichen Erfolge hauptsächlich von Rationalisierungen her und schaffen damit Jobs eher ab als umgekehrt. Deshalb möchte Schröder und die SPD, wie auch die anderen Parteien die Lohnarbeit, im Preis drücken. Die sogenannten Lohnnebenkosten würden Beschäftigung verhindern.

Heißt also im Klartext: Wir sollen uns daran gewöhnen, zu Niedrigstlöhnen zu arbeiten, damit wir Arbeitende den Arbeitgeber weniger kosten. Nicht vergessen werden sollte, dass die Lohnnebenkosten die Teile des Lohns sind, die dem Staat einst zäh abgerungen wurden und nun widerspruchslos aufgegeben werden sollen.

Das ist ein bisschen so, als würden die Menschen jahrhundertelang forschen, um sich Natur und Technik zunutze zu machen. Wenn es dann nicht mehr nötig ist, dass alle arbeiten müssen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, bezahlen die Menschen indirekt dafür, dass sie weiter ihre Arbeitskraft verkaufen dürfen, indem die „Arbeitgeber“ von den Zuschüssen in das Sozialsystem entlastet werden.

Die Kosten trägt allein der Arbeitnehmer. Damit sich das auch auf lange Sicht nicht ändert, gibt Schröder die Parole heraus: „Wir müssen uns darauf einstellen, dass Zuwächse nicht mehr verteilt werden können.“

Anstatt sich Gedanken darum zu machen, wie man die Lohnarbeit weiter reduzieren könnte, werden nur die leeren Sozialkassen gesehen, die unter diesen Bedingungen versagen müssen. Denn es ist logisch, dass bei weniger Beschäftigung auch die Einzahlungen in das Sozialsystem sinken. Um aber ohne ein grundlegendes Überdenken des Wirtschafts- und Sozialsystems die Kassen wieder zu füllen, soll der Weg des (vermeintlich) kleinsten Widerstandes gegangen werden. Ohne die Pharmalobby und das Monopol der kassenärztlichen Vereinigungen anzutasten, sollen die Patienten wieder mehr bezahlen. Diese Art von „Reformen“ wird seit den 50er Jahren und damit von allen Parteien praktiziert.

Die LÖSUNG?

Was die PolitikerInnen zur Reform der Sozialsysteme vorschlagen ist ein Deal, der nur scheinbar entlastet: Der Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung soll in einigen Jahren auf durchschnittlich 13 Prozent sinken (angepeilt sind 12,15 Prozent für 2006). Heute liegt er bei 14,3 Prozent. Würde das Versprechen eingelöst, entspräche das einer Entlastung von 1,3 Prozentpunkten. Davon entfällt auf den Arbeitnehmer aber nur die Hälfte (die andere Hälfte der Versicherung zahlt ja der Arbeitgeber), also 0,65 Prozentpunkte. Bei einem Einkommen von 2500 Euro brutto sind das z.B. 16,25 Euro im Monat, die „gespart“ werden können.

Bei den Forderungen, die die PolitikerInnen dafür von den Regierten erheben, entwickeln sie wesentlich mehr Phantasie: Ein bisschen wird ein Arztbesuch ab dem nächsten Jahr wohl an den Versuch erinnern, die EU-Außengrenze zu überqueren. An jeder möglichen Stelle wird abkassiert. Das erste Mal, wenn man mit einem Arzt reden will (10 Euro je Besuch und Quartal – entfällt nur bei Behandlung auf Überweisung), das zweite Mal, wenn man tatsächlich krank ist und Medikamente benötigt (10 Euro). Wer dann immer noch nicht gesund ist, der zahlt auch die Kosten für eine langwierige Erkrankung. Das bisher von der siebten Krankheitswoche an vom Arbeitgeber zu zahlende Krankengeld soll von 2006 an allein von den Arbeitnehmern und ohne Arbeitgeberzuschuss zu versichern sein. Schließlich ist jeder seines Glückes Schmied. Die gute Nachricht dabei ist: Im Krankenhaus beträgt die Zuzahlung täglich zehn Euro und wird für höchstens 28 Tage pro Jahr erhoben.

Wer häusliche Krankenpflege und Heilmittel benötigt, wird mit den zehn Euro Praxisgebühr plus zehn Prozent der Kosten bedacht. Ab 2006 müssen Arbeitende, um Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu erhalten 0,5% des Bruttoeinkommens zusätzlich investieren. Um diesen Betrag sinken die Zuschüsse des Arbeitgebers zur Krankenversicherung.

BEITRÄGE

Grundsätzlich ungeschickt ist es, krank zu werden, obwohl man schon über 18 Jahre alt ist. Denn nur Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr sind von allen Zuzahlungen befreit. Für den Rest gilt: ein Sonderbeitrag von 0,6 Prozent des Bruttoeinkommens muss zusätzlich zur Krankenversicherung abgedrückt werden. (Diese ist dafür aber frei wählbar.)

ZUZAHLUNGEN

Bei allen erfolgten Leistungen fallen nochmals zehn Prozent der Kosten an. Die Zuzahlung bei Arzneimitteln liegt zukünftig zwischen fünf bis zehn Euro; fünf Euro aber mindestens. Für alle Zuzahlungen zusammen gilt die Höchstgrenze von zwei Prozent des Jahresbruttoeinkommens, bei chronisch Kranken liegt die Grenze bei ein Prozent.

STREICHUNGEN

Auf was können wir sonst noch verzichten? Auf die Beteiligung der Kassen an den meisten Taxifahrten zur ambulanten Behandlung. Auf das Sterbe- und Entbindungsgeld, denn das sind ja private Probleme. Und da bekannt ist, dass es zu wenig deutsche Kinder gibt, können wir uns Sterilisation nur noch aus medizinischen Gründen erlauben. Auch Zuschüsse für Sehhilfen brauchen nach Ansicht der Kassen nur noch Jugendliche bis 18 und schwer Sehbehinderte. Zahnersatz wird ab 2005 nicht mehr im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse enthalten sein. Es wird eine Zusatzversicherung geben, die für alle Pflicht ist.

EINSPARUNGEN DER KASSEN

Wofür das alles ? Für die Krankenkassen! Wo der Versicherte ein paar Euro spart, um sie sofort wieder los zu sein, werden die Kassen durch die Reform 2004 um rund 10 Milliarden Euro entlastet. 3 Milliarden können sie zum Abbau ihrer Schulden verwenden, der Rest muss zur Senkung des Beitragssatzes genutzt werden. Innerhalb von vier Jahren soll das Defizit abgebaut sein. Von 2004 an sollen die Kassen die Rücklagen wieder um jährlich zwei Milliarden Euro auffüllen.

GÜLTIGKEIT

Zum Schluß noch ein Wort zur Gültigkeit der Reform, falls da noch jemand im Zweifel sein sollte: Regierung und Opposition haben sich im Sommer 2003 auf eine Gesundheitsreform geeinigt. Diese ist mit der Verabschiedung im Bundestag am 26.09.2003 und der Zustimmung des Bundesrates am 17.10.2003 Gesetz und heißt: „Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKVModernisierungsgesetz)“. Gesundheit!

hannah b.

(1) alle Zitate von G. Schröder im Interview mit Lars Haferkamp, Susanne Dohrn im „Vorwärts“ am 25.10.03 und: Rede des SPD-Parteivorsitzenden, Bundeskanzler Gerhard Schröder, auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Bochum am 17. November 2003 „Mut zur Wahrheit – Wille zum Wandel“

Sozialreformen

Die Träume unserer Eltern im Herzen …

Die Zeit des Großen und Ganzen scheint gekommen, zumindest wenn man Schröders Rede lauscht, mit der er sich anlehnt an das „Fesseln sprengen“-Pathos des Bundes der Deutschen Industrie (BDI). Um die gegenwärtige Regierungspolitik zu rechtfertigen, scheut Schröder nicht vor tumben Nationalismus und grober Geschichtsfälschung: „Wer in dieser Situation nicht mitzieht, der stellt Parteitaktik über das Wohl des Landes, ja der versündigt sich an unserem Land“. Und: „Die deutschen Sozialdemokraten, brauchen […] keine Patriotismusdebatte, weil wir schon seit 140 Jahren Patrioten sind.“ (1) Noch so manchem Parteigenossen Bebels wäre schlecht geworden bei einer derartigen Äußerung.

Heute braucht die Sozialdemokratie und „wir alle“ nur eins: „Wirtschaftswachstum“. „Die Kosten der Arbeit zu reduzieren, darum geht es“ – nicht um die Interessen der Arbeit[-erInnen], oder gar um sozialistische Revolution. Schnee von gestern, eines ganzen Jahrhunderts gar! Deshalb gibt es auch keine Alternative zur Hartz-Reform. Deshalb ist es richtig, dass sechs Millionen Menschen für nicht mehr als 400 Euro im Monat malochen … als SaisonarbeiterInnen und Aushilfen, Putzkräfte und Wachleute. Und es ist nur „sozial gerecht“, wenn viele dieser Mini-Jobber als solche ihr Ersteinkommen aufbessern. Völlig korrekt ist es, wenn man mit einem Lohn nicht auskommt – und also an zwei Orten zur Ausbeutung zur Verfügung steht. Niemand soll durch überzogene Ansprüche „denen zur Last fallen, die in den Betrieben und Büros arbeiten“ (2).

Weil aber noch der Hauch einer Erinnerung an die Arbeiterpartei, an einen Konflikt zwischen Arbeit und Kapital besteht, bringt die Fraktion am 11. November eine „Ausbildungsabgabe“ auf den Tisch. Die Gesetzesinitiative sieht vor, ab Herbst 2004 einen Fonds für zusätzliche Lehrstellen einzurichten – im Februar soll das Thema im Bundestag behandelt werden. Allein in Sachsen kamen im Oktober auf eine offene Lehrstelle (insgesamt 174) gut elf Jugendliche (insgesamt 1.922). Die neue Abgabe, die auch mit der DGB-Kampagne einen sozialen Anstrich erhielt – zumal sie essentielle Interessen berührt – wird mit einer beispielhaft autoritären Argumentation begründet, die jeglichen wirtschaftlichen Zusammenhang verdunkelt: die mangelnde Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen müsse bestraft werden. Schließlich müsste ansonsten durch die Kommunen ein Arbeitsplatz für Jugendliche geschaffen werden, um jene auszusondern, die sich der Ausbeutung verweigern. Denen soll dann nämlich für drei Monate die Stütze, nicht nur gekürzt, sondern komplett gestrichen werden – anders lässt sich ein Konsens bezüglich der Arbeit wohl nicht mal mehr oberflächlich aufrecht erhalten.

In Verbindung zu sehen ist all das mit der Rhetorik gegen Abweichler und Kritiker der Regierungspolitik in den eigenen Reihen: überflüssige „Kronzeugen gegen die eigene Politik“ (Ute Vogt), die man „ausfindig machen“ (und ausschalten?) werde (Müntefering). Aber der autoritäre Geist hat in der Partei ja Tradition. Schade nur, dass man’s sich damit so gemütlich machen kann in unserer Gesellschaft. Das neue Leitbild zeichnet sich ab als „Partner Staat“, akzeptiert, geachtet, verteidigt – wie einstmals „Vater Staat“.

Dumm nur, dass dieser „Partner“ so ungleich mächtiger ist. Und er wird es bleiben, solange er von den Allermeisten anerkannt wird. Die Legitimation ist unabdingbar für die Stabilität jeder Gesellschaftsordnung. Als, zum Beispiel, „Louis XIV. starb, trauerten sogar die Leibeigenen; als aber der Tod Louis XV. hinwegraffte, mußte man seine Leiche im Galopp zur Gruft fahren, und die Bauern warfen dem Sarg Steine nach. Der Glaube im Volke war verschwunden; nun herrschte bloß noch die nackte Gewalt. Aber dieser Zustand leitete auch die Periode der Revolution ein.“ (3) Nun kann von solchen Verhältnissen heute noch gar nicht gesprochen werden … das offensichtliche Versagen der etablierten politischen Parteien aber untergräbt das Vertrauen in die parlamentarische Ordnung.

Um die Misere der Lohnarbeit und der Ohnmacht also zu überdecken und die Legitimation zu stützen, versucht „unser aller“ Kanzler, das Nationalgefühl zu heben: Exportweltmeister sind „wir“ und können „uns“ behaupten gegen die USA und in der EU. Dies aber erfordert gemeinsame Anstrengungen, allgemeinen Verzicht auf jegliche Ansprüche: ob in der Krise oder im Konjunkturhoch, niemals dürfen Forderungen erhoben werden. Um „den Aufschwung“ nicht zu gefährden. Ob wir nun am Abgrund oder am Berg stehen, das zu bewerten kommt „Experten“ zu. Dabei gibt es einigen Spielraum hinsichtlich der Perspektive und der Bewertung. Nach Bautzen hat Leipzig mit 17,8 Prozent die höchste Arbeitslosenrate in Sachsen (Durchschnitt: 16,5%). Aber (mit der Olympia-Bewerbung, könnte man sagen): es geht voran … von September zu Oktober 2003 konnte die Zahl der Arbeitslosen um 0,8 Prozent (711) gesenkt werden. Das macht Mut. Erst der Vergleich mit Oktober 2002 offenbart einen Anstieg um 4,3 Prozent (3.640). Das heißt allerdings nicht unbedingt, dass es der Wirtschaft schlecht ginge; sie kann lediglich begrenzt expandieren. Zentral für die soziale Stabilität aber ist ein Zuwachs an Arbeitsplätzen – sonst werden bald noch Güterzüge überfallen, wie es Arbeitslose in Polen tun. So ist die Rede vom Aufschwung nicht nur Bauchpinselei der Regierenden, sondern vor allem die Chimäre des Weihnachtsmanns für die abhängige Bevölkerung: nur brave Kinder bekommen gewiss (lies: vielleicht) Geschenke. Dass mit einem Wirtschaftsboom nicht automatisch die soziale Krise der Arbeitslosigkeit beendet ist, demonstrierte vor ein paar Jahren die new economy.

Wie der betrachtete Sachverhalt nun bewertet wird, hat viel mit Ideologie und Legitimation, mit Durchhalteparolen zu tun. Etwa der „Exportweltmeister Deutschland“, der so sportlich und dynamisch dahergetragen wird. Weniger glorreich und erhebend mag man dies als Schwäche des bundesdeutschen Binnenmarktes, als unsere leeren Taschen beschreiben.

Beide Alternativen, die rechte wie die linke, die Verelendung um der Nation willen wie die Almosen des Binnenmarkts wegen – keines der Menüs schmeckt wirklich! Es ist eine karge Vorstellung vom Leben, die nichts zu bieten hat als höhere Lohnschecks und mehr Konsumfreiheiten. Denn die stille Verzweiflung des Alltags und die Einsamkeit vor der Glotze, patriarchale und rassistische Machtambitionen bedrängen uns, entmenschlichen die Gesellschaft auch in der schönsten Wirtschaftswunderzeit.

Anzusetzen gilt es also nicht nur bei den direkten wirtschaftlichen Interessen. Solange nicht auch dem Autoritarismus samt den Auswüchsen der Ohnmacht die Stirn geboten wird, kann von einer Verbesserung der Situation nicht gesprochen werden; höchstens von neuer Privilegierung. Und, wer will sich schon im Kreise drehen…? Also, auf zum politischen, zum sozialen Streik!

A.E.

(1) Schröderzitate, falls nicht anders gekennzeichnet aus der Rede auf dem SPD-Parteitag in Bochum am 17. November 2003.
(2) Schröder im Interview mit vorwärts, 25.10.03
(3) R. Rocker: Organisation und Freiheit. Aus: Aufsatzsammlung, Bd. 1 (1919-33).

Sozialreformen

Krieg der Klassen

Am 11. September 2003 waren nahezu 10.000 Bergleute aus Schlesien in die Hauptstadt Polens gekommen, um gegen die Stillegung zahlreicher Minen zu protestieren.

Die Regierungsmaßnahme, seit Ende 2002 publik, würde 30.000 ArbeiterInnen betreffen. Daraufhin hatten 92 Prozent der Kumpel für einen branchenweiten Generalstreik gestimmt, woraufhin die Regierung den Rückzug antrat – strategisch. Im Herbst 2003 nun kamen die Betroffenen der (EU-konformen) Politik nach Warschau. Sie griffen zuerst das Gebäude der regierenden sozialdemokratischen Partei SLD an, danach das Wirtschaftsministerium. Es ist nicht so, dass auf den Transparenten der ArbeiterInnen anarchistische Losungen stehen würden. Aber blind, wer nicht die neue Dynamik in dieser Bewegung sieht, die Impulse der Basis und die wachsende Solidarität sowie die Radikalisierung der Forderungen und der Aktionsformen.

Die Ereignisse zeigen, dass die ArbeiterInnen zunehmend besser organisiert sind und sich nicht einschüchtern lassen.

A.E.

Nachbarn

Bescheidene Bürokratie

Für Mitte Dezember sind erste Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie zu erwarten, von denen 3,5 Millionen Menschen betroffen sind. Der Vorstand der IG-Metall empfiehlt, sich auf eine Lohnerhöhung von vier Prozent zu beschränken. Der Regionalverband der IGM in Thüringen hat sich dieser Position bereits angeschlossen. Endgültig festgelegt aber werden die Forderungen Ende November vom Vorstand selbst. Recht bescheiden nimmt sich das aus, hatte man doch selbst während der Rezession von 1982 (-0,8% Wachstum) noch 4,2% erwirkt, und 2002 6,5%.

Der Unternehmerverband Gesamtmetall aber schreit auf. Schließlich wären wegen des Tarifvertrags von 2002 mehr als 100.000 Arbeitsplätze (2,7%) vernichtet worden. Dass damit auch eine Produktivitätssteigerung (etwa 2%) in Verbindung stehen könnte, fällt unter den Tisch.