Archiv der Kategorie: Feierabend! #11

Wer ist hier der Dumme?

Man mag dem rot-roten Senat in Berlin, ob seiner asozialen Kürzungspolitik, allerhand vorwerfen. Zugute halten muss man ihm (bzw. dem verantwortlichen Senator), dass er die Intendanz des Berliner Ensembles dem neuen Eigner verweigerte. Das Theater am Schiffbauer Damm gehört nämlich seit kurzem Rolf Hochhuth. Am 13. Februar 2004 wurde dessen neues Stück „McKinsey kommt“ am Theater Brandenburg/Havel uraufgeführt (Regie: O. Munk). Und es zeugt – zumindest in gedruckter Form (dtv, Dezember 2003) – nicht vom Können Hochhuths, der sich sonst gern als „Dramatiker“ und Vertreter „engagierter Literatur“ bezeichnen läßt.

Dabei ist Hochhuth ebenso langweilig wie borniert. Seine Ansatzpunkte, ob in gesellschaftlicher oder in ökonomischer Hinsicht, sind oberflächlich. Das „Theaterstück“ um das Problem der Arbeitslosigkeit spielt im Zug, in Büros und Umkleidekabinen, Vorstandsetagen und im Gericht. Die Orte sind allerdings so belanglos wie die Figuren. Anders als das, was man gemeinhin Drama nennt, sei es tragisch oder komisch, kennt „McKinsey kommt“ keine Handlung, keinen Spannungsbogen. Die Dialoge der Figuren sind der Monolog Hochhuths – die einzige Verbindung zwischen den fünf Akten und Orten. Nirgends werden die Figuren zu Charakteren, sie sprudeln nur die gesammelten Fakten, Zeitungsschnipsel des Autors hervor … keine Stromschnellen finden sich im Erzählfluß. Hochhuth wiederholt sich unaufhörlich, versucht dies hinter schier endlos aneinander gereihten Fakten zu verstecken, die nur spärlich mit Moral verputzt, aber immer auf Skandal angelegt sind. So findet sich in dem Theaterstück nicht das, was Literatur ausmacht: der besondere Umgang mit dem Alltagsmaterial Sprache.

Nicht nur in dieser Hinsicht entbehrt es jeder Grundlage, Hochhuths Namen mit Dichtern wie Miller, Shakespeare und Goethe, mit Philosophen wie Hegel und Voltaire zu assoziieren wie Verlag und Autor selbst es tun. Wenn über einen Artikel in der Basler Zeitung auch die Forderung nach Demokratie nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft, ins Stück kommt – sie steht allein. Hochhuth konzentriert sich auf den Arbeitsplatz, das „Recht auf Arbeit“. Nur darum dreht es sich in den Wortwechseln der Figuren: Wenn sie denn zwischen den Regieanweisungen zu Wort kommen und von Zeiten schwärmen, als „die Geldsäcke noch Schiß“ hatten, und schlussfolgern, man müsse mal ‘nen „Molli schmeißen“. Wenn der Autor pausiert von seiner nationalen Elendsklage über: die vielen „Musikkonsumenten“ und die wenigen Leser; über das Schweizer Bekenntnis zum „Heimatidiom“, „wie kein Deutscher das wagte“; über den „für uns Deutsche“ leider unmöglichen „Nationalstolz“, seit „die Engländer 1945 die Nazi-Schinderhütte Bergen-Belsen […] fotografiert haben“; und über „feindliche Übernahmen … wenn Ausländer einheimische Arbeitsplätze killen“. „Im Affekt wird jeder Mensch rassistisch,“ meint Hochhuth, und beklagt bitter die moderne „Treulosigkeit des Herrn gegen den Knecht.“

Nach derart national-sozialistischer Weinerlichkeit verwundert es kaum, dass Hochhuth im Interview (mdr, Kulturcafé, 22.2.) betont: „die Dinge müssen geregelt sein, sonst gibt es eine Revolution.“ Der Präsident des Bundes der Deutschen Industrie, Rogowski, zeiht ihn also zu Unrecht des „Klassenkampf[es]“. Was ist es schon im Vergleich, einen der „Geldsäcke … platt[zu]machen“, wenn es gilt sich gegenseitig Hilfe zu leisten und gleich und frei miteinander umzugehen, weder Knecht noch Meister sein! Was bringt es, in „Banken und Konzerne“ einen „Molli [zu] schmeißen“, statt zu streiken: statt was die „Hydra“ braucht, ihr zu verweigern? Aber Hochhuth – der nach eigenem Bekunden „von Haus aus gar nicht sozialrevolutionär“ (1) ist, und es also auch in dem Stück „McKinsey kommt“ nicht wird – ist nicht am Problem interessiert, nicht an dessen Lösung, sondern nur am Thema. So geht er denn, mitsamt Nationalismus und Chauvinismus, Bismarck und 1000 deutschen Jahren und sozial verbrämten Antiamerikanismus im seichten Wasser eines in der Verfassung garantierten „Recht[s] auf Arbeit“ vor Anker. Absurd geradezu, und zynisch, seine Argumentation, wenn der Staat Erwerbslose schon jetzt finanziell aushalte, solle er ihnen doch gleich ‘ne Arbeit verpassen. Da ist sich der Autor mit Schröder, den er als „Jenosse der Bosse“ bloßzustellen sucht, einig: „jede Arbeit ist besser als keine“.

Nochmal Brecht studieren, Herr Hochhuth; „das Volk ist nicht dümmlich“!

A.E.

(1) www.3sat.de/kulturzeit/themen/62389/

Rezension

Utopie oder Zwangsneurose?

Wie realistisch sind wir, können wir, müssen wir sein?

Die Grundlinie der streikenden Studierenden war klar: Nicht nur zeigen, dass die Pläne zur Umstrukturierung und Kürzungen an den Hochschulen auf Missfallen stoßen, sondern sie verhindern. Am Anfang standen ganz persönliche Bedürfnisse der aktiven Studierenden, die sich in einem sogenannten Streikkomitee organisiert hatten. Inhaltlich beschränkte sich die Zielsetzung der Mehrheit auf Hochschulpolitisches. Wer mit der Analyse der Verhältnisse etwas weiter ging, merkte jedoch, dass es einen grundlegenden Zusammenhang mit anderen Politikfeldern gibt. Fraglich bleibt, ob das bei allen angekommen ist. Bei dem Einen oder der Anderen scheint die Reflektion über den „konstruktiven“ Streik allerdings den Anstoß zu radikalerer Kritik gegeben zu haben.

Zu Beginn beschränkten sich die Inhalte des Protestes auf Slogans wie: „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut!“ Trotz relativ wenigen aktiven Leuten verlief er aber durchaus erfolgreich. Die Kreativität der Studierenden dominierte den öffentlichen Raum. Nach einigen Wochen Aktionismus sah das Ganze schon anders aus. Mehr und mehr blieben die Leute aus, die wenigen, die noch versuchten, etwas auf die Beine zu stellen, gingen auf dem Zahnfleisch. Die große Frage war nun: Woran lag‘s? Wenig verwunderlich, dass viele die Schuld nicht bei sich suchen wollten, selbst war man ja schließlich ordentlich dabei gewesen. Die anderen, die nicht mitmachten, waren also schuld und damit hatte es sich. Von inhaltlichen Fehlern war dagegen wenig zu hören, obwohl Unsicherheiten hierbei überall anzutreffen waren. Parallel war im Streikkomitee zu beobachten: Veranstaltungen und Flugblätter wurden als vollkommen ausreichendes Mittel gesehen, um an Nichtstreikende heranzutreten.

Die Verbindung von eigenen inhaltlichen Unsicherheiten und dem Ausbleiben weiterer MitstreiterInnen liegt auf der Hand: Wer nicht in der Lage ist, Ahnungslosen konkrete Hintergründe zu vermitteln, soll sich nicht wundern, wenn sich diese dann nicht interessieren. Woher kamen also diese Unsicherheiten? Möglicherweise war die große Hürde die gebetsmühlenartig zu vernehmende Vorgabe, „realistisch“ oder „konstruktiv“ bleiben zu müssen. Verbaute man sich dadurch doch den Weg zu jeder weitergehenden Kritik an den Verhältnissen, gegen die man sich doch zur Wehr setzen wollte.

„Realistisch“ hieß hier, sich von „Utopien“ fernzuhalten, sich allem zu verweigern, was die herrschende Politik radikal hinterfragen könnte. „Konstruktiv“ bedeutete, mit seinen Forderungen im Rahmen des „Machbaren“ zu bleiben, auf die Politik zuzugehen. Vielleicht sollte mensch sich klarmachen, dass das politisch Mögliche im Wesentlichen von Parteiprogrammen bestimmt wird: Von der PDS über Rot/Grün bis zur NPD, alles ist wählbar. Forderungen, die über Vorstellungen einzelner Parteien hinaus- oder an ihnen vorbeigehen, sind schlichtweg unmöglich. Für die aktuelle Kürzungsorgie ist aber keine bestimmte Regierung verantwortlich, sie findet überall statt – ob Rot/Rot in Berlin regiert oder Schwarz in Sachsen. Ist es nicht gerade utopisch, mit „realistischen“ Forderungen an die Regierenden heranzutreten? Ist es nicht vielmehr realistisch, den Zusammenhang zum um sich greifenden Sozialabbau herzustellen und solidarisch mit den anderen Betroffenen dagegen zu kämpfen?

Bleibt die Frage, warum diese Politik betrieben wird. Offizielle Begründung: Die desolate wirtschaftliche Lage sei schuld. Jetzt müsse überall gekürzt werden, nicht nur an den Unis, sondern an allen sozialen Leistungen und Einrichtungen. Die längst laufende Sparpolitik betrifft also alle, nicht nur die Studierenden. Auch Teile des Streikkomitees waren sich der offensichtlichen Verbindung zwischen Bildungs- und Sozialabbau nach drei Wochen Streik bewusst: so wurde von der Vollversammlung am 29.1. etwa der Stopp der neoliberalen Entwicklung von Bildungs- und Sozialpolitik gefordert und die Agenda 2010 abgelehnt. Spätestens jetzt ist mit „konstruktiv“ nichts mehr anzufangen.

Wenn von offizieller Seite die schlechte Wirtschaftslage als Rechtfertigung für politische Entscheidungen genannt wird, ist das gar nicht mal so falsch. Politik ist Ausdruck der gesellschaftlichen Zustände. Besser wird sie dadurch nicht, im Gegenteil – stimmt etwas in einer Gesellschaft nicht, kann es auch mit der von ihr abhängigen Politik nicht weit her sein. Zu kritisieren ist gerade das, was das Streikkomitee inhaltlich derart in die Ecke treibt: diese Verhältnisse! Es sollte eigentlich nicht schwer sein, das zu begreifen, scheint es aber. Zum Ausdruck kam dies in den Protesten selten. Zu sehr zielten Aktionen auf Verständnis hin, zu sehr waren sie vom Wunsch geprägt, von den Verantwortlichen „angehört“ zu werden. Nochmal: die Politik hört nur, was sie hören will – das, was „realistisch“ ist, sich also im von ihr gesteckten Rahmen abspielt.

Und genau deshalb ist es wichtig, eine grundsätzliche Kritik an den herrschenden Verhältnissen und ihrer Politik zu formulieren, um durch öffentlichen Druck eine breite Auseinandersetzung mit den hier aufgeworfenen Fragen zu erzwingen. Wie sonst kann etwas erreicht werden?

fi & freunde

Bildung

Äddi the Torial

Bierdunst und der Rauch dutzender Zigaretten wabert durch die Redaktionsklitsche. Die Uhr tickt.

0 Uhr Francis fängt einen Tag vor Druckschluß seinen letzten Artikel an

1 Uhr wanst durchsucht das Netz fieberhaft nach passenden Bildern

2 Uhr hannah und bäh stürzen sich auf clov, der sich seit drei Stunden an seinem Computer festbeißt

3 Uhr A.E. schiebt das letzte Knobibaguette in den Ofen

4 Uhr der Versuch, das Titelbild zu diskutieren scheitert und wird verschoben

5 Uhr allgemeines Rumdämmern, die ersten schlafen vor ihren Monitoren

6 Uhr nur noch soja und güzel sind am Ball und wundern sich, daß sie für jedes Wort zehn Minuten brauchen

7 Uhr die beiden Härtesten verlassen als letzte stinkend und mit glasigen Augen den Tatort

So oder ähnlich könnte eine Nachtschicht der Feierabend!-Redaktion aussehen. Wieviele es von diesen braucht, um 36 Seiten (und das zum selben Preis!! Wahnsinn!!!) in den Druck zu schieben, bleibt unser Geheimnis. Die Erhöhung der Seitenzahl hat seinen Ursprung in dem Material, daß sich durch unsere Verspätung angesammelt hat. Diverse gesellschaftliche Zwänge und unser Engagement im StudentInnenstreik haben das Erscheinen im Februar verhindert.

Unsere Erfahrungen schlagen sich vor allem auf den sechs Seiten zum Thema „Bildung“ nieder. Dort finden sich auch entsprechend viele subjektive Eindrücke, die zu einem möglichst wirklichkeitsnahen Rückblick mit Perspektive beitragen sollen. Beim Durchblättern wird den Langzeitlesenden aufgefallen sein, dass wir auch diesmal über viele scheinbar unaufgeregte Themen berichten. Beispielweise über so „gewohnte“ Dinge, wie Streß beim Ämtergang, Arbeitsalltag, Selbstzurichtung, Überwachung und Kriege. Etwas, was sich auch im zugegebenermaßen deprimierenden Titelbild niedergeschlagen hat. Als Grundoptimisten setzen wir dem allerdings etwas entgegen: Selbstorganisierung und gemeinsames Lösen von gemeinsamen Problemen, leider noch immer nicht selbstverständlich. Alle, die sich dem im Herzen und Geiste verbunden fühlen, sind erneut aufgerufen, ihren Senf beizutragen, denn Feierabend! ist schließlich keine Ein-Weg-Kommunikation.

Die Verkaufsstelle des Monats ist El Amir, weil dort der FEIERABEND! schon mehrmals ausverkauft war. Verliebte Streik-Pärchen können hier ihren Haloumi kalt werden lassen. Also kann der Frühling ja mit all seinen Nebenwirkungen kommen! Her mit dem schönen Wetter.

Euer FEIERABEND!

Freundliche Helfer

Nach Informationen aus Regierungskreisen besteht kein Grund zur Beunruhigung.

„Es wäre doch schade, wenn das jetzt hier eskalieren würde. Bisher waren eure Proteste doch so schön friedlich.“ * – Eine banale Beschreibung dessen, worauf es der herrschenden Politik im Umgang mit der Studibewegung ankommt. Alles soll möglichst schön konstruktiv ablaufen. Symbolischer Protest ist okay, solange nichts „eskaliert“. Misstrauisch beäugt die Polizei die vielschichtige und spontane Streikbewegung bei der jede Kriminalisierung durch die überwiegend positive Berichterstattung der Medien erschwert wird. Studierende genießen durch ihre Vorzeigefunktion als zukünftige Elite anscheinend mehr Narrenfreiheit als andere protestierende Gruppen, wie beispielsweise AntifaschistInnen, die oft von vornherein zu „Chaoten“ gestempelt werden.

Mehr und mehr studentische Aktionen machen aber deutlich, dass der zugestandene Rahmen symbolischer Proteste zu eng ist, für Leute, die etwas bewegen wollen. Gleich zum Streikauftakt wird das Rektorat besetzt und anlässlich des Schröder-Besuchs Polizeisperren durchbrochen. Auf den ersten Blick wirken die Bewahrer der öffentlichen Sicherheit und Ordnung konzeptlos. Wie ist mit so einer heterogenen Masse jung-dynamischer Leute bloß umzugehen? Mit den laufenden Aktionen offenbart sich von Seite der Obrigkeit allerdings ein interessantes zweigleisiges Konzept.

Während auf der einen Seite dem symbolisch-konstruktiven Protest öffentlicher Raum gegeben wird, sollen ihm aber ganz klar Grenzen gesetzt werden. Schließlich erkennt man bei den Studis auch durchaus Potential, das sich radikalisieren könnte – spätestens seit `68 ist bekannt, wie sich Bewegungen, die mit vergleichsweise harmlosen Forderungen anfangen, zu einem Generalangriff aufs Herrschaftsgefüge ausweiten können. Eine solche Entwicklung muss auf jeden Fall vermieden werden und so ganz ohne Repression soll es jedenfalls nicht abgehen: Leute, die etwas länger das Megafon in Händen halten, werden (möglichst) diskret zur Seite geführt: Personalienfeststellung. Andere, die sich in kleiner Gruppe vorwagen, um über den 08-15-Protest hinauszugehen, werden festgehalten – es gibt Platzverweise mit dem Hinweis, sich „nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen“, man „kenne Sie ja schon“. Während im Allgemeinen ein kollegial-kumpelhafter Ton gegenüber den Protestierenden gepflegt wird, versucht die Polizei mit umfassender Überwachung der Proteste, „Rädelsführer“ und „Extremisten“ ausfindig zu machen, gegen die mit Einschüchterung oder Anzeigen vorgegangen werden kann, wie neuerdings gegen die StörerInnen des Dresdner Landtags.

Einer sozialen Bewegung klare Grenzen zu setzen, ohne den Polizeistaat zu offensichtlich werden zu lassen, ist theoretisch nicht möglich, praktisch aber anscheinend schon. So „eskaliert“ nichts und alles bleibt „schön friedlich“. Natürlich nach der Definition der grundfriedlichen Polizei.

soja

* „Einsatzleiter“ der Polizei bei der angedrohten Räumung des Regierungspräsidiums, 28.1.

Bildung

Prekärer Weihnachtsmarkt

Anja lebt von Sozialhilfe. Wegen ihres Kindes bekommt sie Kindergeld, das aber mit in der Sozialhilfe verrechnet wird – umso höher das Kindergeld steigt, desto niedriger wird also der Sozialhilfesatz. Letztes Jahr zog sie nach Sachsen, genauer gesagt nach Leipzig. Ummelden durfte sie sich allerdings nicht, denn das Sozialamt verbot ihr den Wegzug aus dem Kreis. Sie würde angeblich in ihrem Heimatkreis die gleichen (Berufs-)Chancen haben, wie in Leipzig. In Leipzig fand Anja dann auch eine befristete Stelle als Verkäuferin auf dem Weihnachtsmarkt. Sie verbrachte allerdings nicht die gesamten vier Wochen dort, sondern nur drei, als Ersatz für ihre erkrankte Vorgängerin in diesem Job. Krank machen ist verboten. Diese schleppte sich demzufolge jeden Tag zum Stand, bis sie schließlich umkippte und vom Krankenwagen abgeholt werden musste. So etwas kommt übrigens nicht selten vor. Aber nicht nur krank sein ist verboten. Ebenso durfte Anja während ihrer täglichen zehnstündigen Arbeitszeit, am Freitag und Samstag sogar elf, keine Mittagspause machen, nicht auf Toilette gehen und auch sonst keine Pausen machen. Von Urlaub ganz zu schweigen. Wenn sie einen Tag ausgefallen wäre, hätte sie 150 Euro Strafe zahlen müssen.

Um das zu verhindern, ließ sich Anja daher einmal von ihrer Schwester vertreten. Von dem Verdienst von etwa 4 Euro pro Stunde BRUTTO (!) hat sie monatelang keinen Cent gesehen. Am Verkauf der angeblichen in Deutschland, aber in Wirklichkeit in Osteuropa (1) produzierten Ware bekam sie Provision. Aufgrund ihrer Sieben-Tage-Arbeitswoche sah Anja ihr Kind kaum noch und konnte nur wegen der längeren Öffnungszeiten im Hauptbahnhof ihre wöchentlichen Einkäufe erledigen. Und weil sie im Dezember gearbeitet hat, wird ihr vom Sozialamt der Sozialhilfesatz für Dezember einschließlich Weihnachtsgeld und anderer Zulagen entzogen. Im Grunde wäre es egal, ob Anja ihre Arbeitskraft verkauft hätte oder nicht. Das Einkommen hätte in etwa die selbe Höhe gehabt.

Das ist kapitalistischer Alltag für eine immer größere Anzahl Menschen in den „reichen“ Industrieländern. Das ist Alltag für die meisten Menschen im größten Teil dieser Welt. Und mit den verschärften Drohungen gegen Schwarzarbeit wird es auch hier in der „Ersten Welt“ in Zukunft für sozial schwache Menschen noch schwieriger sein, ein menschenwürdiges Einkommen zu haben. „Damit es allen besser geht, müssen wir unsere Freiheit noch mehr einschränken“ könnte der Slogan der neoliberalen Weltordnung lauten.

(Dawn, mit Unterstützung von Anja, bei der ich mich nochmals bedanke. Name geändert.)

(1) Dies soll nicht so verstanden werden, dass ich den „Standort Deutschland“ bevorzuge. Standortdenken ist immer und überall problematisch.

Lokales

Bildung selbst organisieren!

Seit zwei Jahren gibt es bereits die selbstorganisierten Seminare. Sie entstanden als AG seminare aus den Studierendenprotesten 2001, die sich gegen die Kürzungen der Landesregierung und die Hochschulumbaupläne richteten. Nach dem Abflauen der studentischen Protestbewegung wollten sich manche nicht einfach wieder dem Unialltag ergeben, sondern haben nach Möglichkeiten gesucht, sich selbst zu bilden, aber anders als an der Universität: keine Massenvorlesungen, kein Druck Scheine oder Prüfungen machen zu müssen und ohne das hierarchische Lehrer-Schüler- Verhältnis. Sie wollten und wollen Bildung selbst organisieren. Diese Bildung soll für alle offen sein. Es geht nicht darum, die Menschen nach Funktionen einzuteilen oder gar sich die Selektion anzumaßen, Menschen wegen des Schulabschlusses bei den Seminaren nicht mitmachen zu lassen. Dies macht bereits das jetzige Bildungssystem, das deswegen auch so ungeheuer unsympathisch ist. Derzeit entwickelt es sich von einer staatlichen Steuerung zu einer Marktsteuerung. Beides stellt keine wirkliche Lösung dar. Besser wäre es, Bildung einfach von den Menschen bestimmen zu lassen, die sich bilden. Deshalb gibt es auch nächstes Semester eine neue Runde selbstorganisierter Seminare (es können auch alternative Einzelveranstaltungen oder Wochenendseminare eingebracht werden) und alle sind aufgerufen eigene Ideen zu entwickeln und Themen vorzuschlagen. Bisher reichten die Seminare von der Transformation der Demokratie, Arbeit und Kapitalismus über Camus und das Absurde bis hin zu Spanisch- und Französisch- Sprachgruppen. Eure Themen könnt ihr mitsamt einem Vorstellungstext, erstem Treffen (wo die nächsten Treffen vereinbart werden) und Kontaktmöglichkeit an die AG seminare schicken…

Kontakt und Internet:
ag-seminare@bildungskritik.de
www.ag-seminare.bildungskritik.de

Bildung

Besitzen und Kontrollieren

Eine neue Kampagne gegen Videoüberwachung in Leipzig gestartet

Gern sonnt sich die Stadt Leipzig im Ruhm, Ausgangsort der „friedlichen Revolution“ gegen einen Unterdrückungs- und Überwachungsapparat zu sein. Unter ÜberwachungskritikerInnen ist sie jedoch, scheinbar ganz gegensätzlich, als eine der führenden Städte in Sachen Videoüberwachung – neben Mannheim, Stuttgart, Heilbronn – bekannt. Dieser zweifelhafte Ruhm gründet im Pilotprojekt der polizeilichen Videokontrolle des öffentlichen Raums, dessen Ausgangsort 1996 die Richard-Wagner-Straße am Leipziger Innenstadtring wurde. Dieses Projekt hat mit der erneuten Installation einer Kamera am Connewitzer Kreuz im Frühjahr 2003 eine Erweiterung und Aktualisierung gefunden. Diese Entwicklung wird flankiert von einem immer weiter um sich greifenden Kameraboom in Läden, in öffentlichen Einrichtungen, an Klingeln und Geldautomaten. Im Gegensatz dazu sind kritische Stimmen gegenüber Video- und anderer Überwachung seit der Kampagne der AG Öffentliche Räume (2000) in Leipzig ziemlich verstummt. Diesen Mißstand nahmen wir zum Anlaß, überwachungsablehnende und -kritische Stimmen wieder öffentlich zu machen.

„Ich habe ja nichts zu verbergen“

Kritik an Videoüberwachung gibt es aus vielen Richtungen. Zum einen gibt es keine Erkenntnisse, dass Kameras ihr vorgebliches Ziel, nämlich Verbrechen zu vermeiden, erfüllen. Sie verdrängen es lediglich in nicht überwachte Bereiche. Diese Analyse bietet zwei Auswege an: entweder lückenlose Überwachung oder die Lösung der Probleme, die hinter den „Verbrechen“ stehen. Meist handelt es sich bei diesen um Armut, Migration, Drogenkonsum oder einfach anderes Aussehen. Entscheiden Sie selbst…

Ein weiteres Argument gegen Videoüberwachung ist die Gefährdung der Grundrechte, die den Bürgern ein gewisses Maß an Freiheit gegenüber dem Staat gewähren sollen. Zu diesen gehört beispielsweise das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die generelle Unschuldsvermutung. Doch so etwas kennt die Videotechnik nicht. Im Blickfeld einer ständig installierten Kamera ist prinzipiell jedeR verdächtig. Mit ihrer Hilfe werden nicht nur straffällig Gewordene verfolgt, sondern ein Klima der Kontrolle erzeugt, dass zur Normierung des Verhaltens führt. Zum Verbotenen zählen für gewöhnlich langes Herumsitzen ohne zu konsumieren (Herumlungern, „nichtbestimmungsgemäßes Verweilen“), Betteln, Rollschuhfahren, fliegender Handel, Alkoholkonsum, Verteilen von Handzetteln (Ausübung von Meinungsfreiheit!) u.v.m.

Mag sich heute noch jemand trösten, dass den Datenberg, den Kameras anhäufen, niemand überblicken kann, die Überwachung also ihre Schlupflöcher hat, dann sei er/sie gewarnt vor der nächsten Generation. Sind die meisten Kameras heute schon 360° schwenkbar, farbig und hoch auflösend, teilweise mit Restlichtverstärkern und Bewegungsmeldern ausgestattet, gehört die Zukunft „Thinking Cameras“ und „Algorythmic Surveillance“. Hier erlaubt es die Kombination aus Software, Biometrik und Videotechnik, aus großen Menschenmengen bestimmte Personen bzw. verdächtiges Verhalten herauszufiltern und aufzuzeichnen. Schon heute können in britischen Städten Menschen lückenlos durch das ganze Stadtgebiet verfolgt werden. Der Urgrund der Überwachung und die Legitimierung für die weitaus meisten Kameras ist die gesellschaftliche Verteilung des Eigentums. Wer über Eigentum verfügt, hat das Bedürfnis dieses vor dem Zugriff durch dritte zu schützen und den Gebrauch zu regulieren. Eigentum an und Kontrolle von Raum bedeutet Kontrolle über das gesellschaftliche Leben, Kontrolle der Menschen, die diese Räume nutzen. Videoüberwachung ist ein Symptom für die Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft – wer nichts hat oder sich nicht genehm verhält, wird kontrolliert und normiert.

Der Videokamera-Stadtplan

Die Grundlage unserer Arbeit sollte ein möglichst genaues Bild der Videoüberwachung vor Ort sein, weshalb wir uns entschlossen – in guter alter Tradition der NYC Surveillance Camera Players – einen Kamerastadtplan der Leipziger Innenstadt zu erstellen. Die so erhaltenen Zahlen übertreffen selbst unsere schlimmen Erwartungen: 194 Kameras überwachen allein Straßen, Passagen u.a. öffentliche oder halböffentliche Plätze. Exzessive Ausmaße nimmt die Videoüberwachung in Innenbereichen an, die eine quasi-öffentliche Nutzung erfahren. So kommen allein im Bahnhof nochmals 106 Kameras in den verschieden Verkaufsräumen dazu. Insgesamt zählten wir 408 Kameras in Innenbereichen von Kaufhäusern, Supermärkten, Läden und Banken. Mit ziemlich großer Sicherheit gehen wir davon aus, dass das nicht die vollständigen Zahlen sind. Mensch denke z.B. an die vielen verspiegelten Flächen in den Konsumzonen oder an die immer öfter als Bewegungsmelder und Lampe verkleideten Kameras. Einen Überblick über die Kameras in den Straßenbahnen der LVB konnten wir uns noch nicht verschaffen. Die Kameras, die an Bankautomaten jedeN NutzerIn registrieren, wurden gar nicht erst gezählt.

In unserem Ansatz unterscheiden wir uns von manchen anderen Initiativen gegen Videoüberwachung. Aus gewichtigen Gründen thematisieren wir nicht nur Kameras, die den öffentlichen Raum scannen, denn: Alle Kameras haben normierenden Einfluss auf das Verhalten der Personen im überwachten Raum. Alle Kameras können personenbezogene Daten sammeln, die der Kontrolle der überwachten Person entzogen sind – was der informationelle Selbstbestimmung zuwider läuft. Die Polizei kann bei Ermittlungen auf Daten privater Überwachungssysteme zurückgreifen. Die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum sind diffus. Der Hauptbahnhof bspw. ist Privatgelände mit öffentlicher Bestimmung, die Peterhofspassage ist privat. Die Privatisierung öffentlicher Räume erweist sich geradezu als Strategie, immer schärfere Kontrollmaßnahmen durchzusetzen. Die relativ kostengünstige Kameratechnik ermöglicht auch exzessive Überwachung von Orten für die Wachpersonal z.B. zu teuer oder überflüssig wäre – und damit eine immense Zunahme an Kontrolle. Nicht zuletzt, das zeigen unsere Zahlen, ist private Videoüberwachung gerade ein Bereich, der sich der öffentlichen Kontrolle (Datenschutz) auf besondere Weise entzieht. Das alles heißt jedoch nicht, das es keine immensen Unterschiede zwischen den verschiedenen Kameras gibt, etwa zwischen einer Kamera, die den Zugang zu einem Mietshaus kontrolliert, und einer Polizeikamera, mittels derer ganze Plätze kontrolliert werden. Aus diesem Grund achteten wir auf eine hohe Differenzierung bei der Kartographie der Kameras.

Gesellschaft für eine lustigere Gegenwart und Bündnis gegen Krieg

leipziger-kamera.cjb.net

Lokales

Vom Amt zur Agentur

Vermittlung ist alles. Will heißen: nicht auf den Inhalt, auf die Verpackung kommt’s an (das hat die rotierende Führungsriege der SPD Anfang Februar oft genug betont). Müntefering könne die Politik besser an die Basis verkaufen, ändern werde sich daran nichts. Bei soviel Wertschätzung, die man der Propaganda angedeihen läßt, nimmt es nicht Wunder, dass deren Mutationen auch in anderen Bereichen zu spüren ist. Seit Anfang des Jahres heißt die „Bundesanstalt“ nun „Bundesagentur für Arbeit“. Zum Hauch der Veränderung gehört natürlich auch ein neuer Internet-Auftritt! Dazu gehört auch die Kampagne des „TeamArbeit für Deutschland“ des Bundeswirtschaftsministeriums. Zur Plakatwerbung für das Projekt gaben sich in der Vergangenheit zahlreiche „Promis“ her, die um der Beseitigung der Arbeitslosigkeit willen an die Initiative und Kreativität der StaatsbürgerInnen appellieren. Nun, wir kennen das bereits im seit 1996 jährlich ausgeschriebenen „Innovationspreis“ der Stadt Leipzig. Innovation ist Trumpf beim Aufschwung.

Unberührt von diesem „ehrenamtlichen Engagement“ für Deutschland und für den Verwertungskreislauf, bleiben indes die Maßnahmen, auf die sich Regierung und Opposition Ende Dezember verständigten: sie sind/werden Gesetz. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (ALG II) wurde vom 1. Juli 2004 auf 1. Januar 2005 verschoben. Damit wurde auch die neue Zumutbarkeit um ein Jahr verschoben. Es gelten also noch die alten Zumutbarkeitsregelungen des § 121 SGB III: die Sperrfrist bei der ersten Arbeitsablehnung beträgt drei Wochen (§ 144). Die Sperrfrist für die Ablehnung einer zweiten angebotenen Arbeit liegt ab dem 1.1.2004 bei sechs Wochen, bei „unzureichenden Eigenbemühungen“ bei 2 Wochen und bei einem Meldeversäumnis bei 1 Woche. Nach 21 Wochen Sperre entfällt der Anspruch auf Stütze ganz. Ab Januar nächsten Jahres sollen die anderthalb Millionen „Langzeitarbeitslosen“ (jene, die länger als ein Jahr erwerbslos sind) jede Arbeit zu jeder Entlohnung annehmen, die ihnen das Amt, ’tschuldigung: die Agentur natürlich, anträgt. Die totale Streichung des ALG II kann für drei Monate verordnet werden; bei einer Kürzung um mehr als 30 Prozent der Regelleistung können „in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen“ – also Lebensmittelgutscheine – ausgegeben werden (§ 31, SGB II) (1). Und zwar eindeutig nur während einer Kürzung, nicht bei der Streichung! Beim dreimonatigen Wegfall des ALG II besteht „kein Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt“ (§ 31, SGB II). Sogar SPD-Abgeordnete fürchten nun einen „staatlich subventionierten Niedriglohnsektor“ (Schmidtbauer), da der Tendenz gegen Null kaum mehr Grenzen gesetzt sind. Unser allerliebster Ministerpräsident Milbradt forderte ja in diesem Zusammenhang: ein Euro pro Stunde! Rainer „Zuckerbrot“ Wend, Vorsitzender des Bundestagswirtschaftsausschusses, will sich nicht so weit aus dem Fenster lehnen, weil durch „unerwünschte Reformhärten“ die Agenda 2010 selbst gefährdet werden könnte: „Wenn man Leute dazu zwingt, jede Arbeit aufzunehmen, dann muss man ihnen auch einen Lohn zahlen, der über der Sozialhilfe liegt.“ Tatsächlich ist die BRD einer der wenigen Staaten, der keinen Mindestlohn festschreibt – in den Niederlanden erhält man, laut Gesetzestext, mindestens 7,80 Euro die Stunde.

Die Grünen versuchen indessen abzuwiegeln: man erwarte, dass sich das Lohnniveau zwischen fünf und zehn Prozent unter Tarif einpendele. Schließlich würden auch die Gerichte darüber wachen, dass es nicht zu „sittenwidrigem“ Lohnwucher komme. Leicht läßt sich ermessen, wie viel es bringt, sich an die bürokratischen, chronisch überlasteten Strukturen der Gerichtsbarkeit zu wenden. Die Realität im Reinigungssektor, zum Beispiel, spricht eine andere Sprache: Gerichte sahen, laut DGB, kein Problem darin, den Tarif von 7,94 um 30 Prozent zu unterschreiten. Schon in diesen Tagen greift allerdings die Zusammenlegung von Strukturanpassungs- (SAM) und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM). Auch hier verschiebt sich das Augenmerk von der vorgeblich menschenfreundlichen „Verbesserung der Eingliederungsaussichten der Arbeitnehmer“ ganz offen zur Zwangsarbeit: alle Arbeiten sind nun als ABM förderungswürdig, die sonst „nicht in diesem Umfang“ durchgeführt würden. Außerdem kann die „Agentur“ dem Chef bis zu 300 Euro pro Zwangsverpflichteten zuschießen, als Entschädigung für die entstehenden Kosten. Gleichzeitig sind ABM nicht mehr beitragspflichtig zur Arbeitslosenversicherung und können somit keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld begründen (2).

Immerhin begründet sich nach aktueller Regelung für die derzeit 28.405 ZwangsleiharbeiterInnen in den 968 Personal-Service-Agenturen (PSA) Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das ist bitter nötig, denn von den knapp 40.000 in PSA „beschäftigten“ Arbeitslosen – mit dieser Zahl verfehlt die BA übrigens ihr Ziel um 20 Prozent (FA! #9, Arbeitende Arme) – wurden nur 4.135 durch einen sagenumwobenen „Klebeeffekt“ „in Arbeit vermittelt“; 4.859 Menschen hingegen wurden noch während der Probezeit entlassen.

Der Renner scheinen die PSA also nicht zu sein, obwohl die BA pro „eingestelltem“ Erwerbslosen 1000 Euro Kopfgeld überweist, und nochmal 2000 Euro, wenn der/die nun ehemals Erwerbslose von einem Betrieb übernommen wird – dafür werden bundesweit 600 Millionen Euro bereitgestellt. Die Bundesregierung scheint mit 200.000 PSA-vermittelten „Langzeitarbeitslosen“ zu rechnen. Da tut sich einiges an Einsparpotential!

Vor diesem Hintergrund wird Schröder Ende März eine Regierungserklärung abgeben, in der er das Programm bis 2006 umreißt. Begründet hatte der Kanzler diese junge Tradition mit der Rede vom 14.3.2003, als er die Agenda 2010 vorstellte. Gestützt wird er dabei vom designierten SPD-Parteivorsitzenden Müntefering, der am 15.2. eisern, doch unter Applaus erklärte: „Ich werde die Partei nicht gegen die Regierung führen.“ Da kann man ihm schlecht reinreden. Wenn Müntefering allerdings behauptet, nichts vom Beschlossenen könne zurückgenommen werden, haben wir doch ein Wörtchen mitzureden … da es uns betrifft. Zu diesem Zwecke rufen Initiativen aus dem Rhein-Main-Gebiet, InitiatorInnen der Demonstration vom 1. November, für Freitag, den 2. April 2004, zu Aktionen in Betrieben („bis hin zu Streiks“) und auf der Straße, und für Samstag, den 3.4., zu Demonstrationen in Berlin, Köln und Stuttgart auf. Auf drei „Aktionskonferenzen“ nach dem 1.November wurde dieses Vorhaben am 13.12., 17./18.1. und 1.2. bestätigt. Nur die erste allerdings war auf Initiative der Basis zusammengekommen, die anderen hatte der DGB einberufen – ein „Bündnis auf gleicher Augenhöhe“. Denn nachdem die politische Unterstützung seitens der SPD weggebrochen sei, müssten die Betriebe – mit Hilfe von Basisinitiativen – repolitisiert werden, so IGMetall-Funktionär Schmitthenner. Einsamer Rufer in der Wüste … der DGB-Bundesvorstand beansprucht in seinem Aufruf zur Demo (3) den Führungsanspruch, und untermauert ihn mit 3,5 Millionen Euro (4). Davon werden nicht nur „Teilnehmertransfers“ mit Autoland-Deutschland-Bussen und „zentrale Materialien“ finanziert; besonders wichtig ist, dass die Bühnen „ein mediengerechtes Aussehen haben und einheitlich gestaltet“ sind. Die Rolle der Medien für den DGB (wie für die übrige Politik) ist eminent, will man sich doch an die Spitze einer aufkeimenden Bewegung setzen, damit sie keinen tatsächlichen, sondern nur diskursiven Druck ausübt. Daher findet der potentiell extra-legale Aktionstag am Freitag, zum dem sich die Radikalen sogar „Streiks“ wünschen, beim DGB keinerlei Erwähnung.

A.E.

(1) Vielleicht sollten sich Betroffene mit MigrantInnen in Verbindung setzen, die haben Erfahrung! Das „Asylbewerberleistungsgesetz“ schreibt in §3 fest, dass es abgesehen von 40 Euro Taschengeld nur „Sachleistungen … Wertgutscheine … unbare Abrechnungen“ gibt – das Modell macht Schule.
(2) Interessantes auch unter www.chefduzen.de
(3) Aufruf im Netz unter: www.dgb.de/themen/europa/aktionstag/dgb_aufruf.pdf – auch die FAU mobilisiert: www.fau.org
(4) Protokoll der Telefonkonferenz von Bundes- und Bezirksvorständen des DGB und seiner Einzelgewerkschaften am 12.2.2004, liegt dem Autor vor.

Sozialreformen

Atomare Altlasten

[Sachsen, Rossendorf]: Im Atomforschungszentrum Rossendorf, ca. 12 km vom Dresdner Stadtzentrum entfernt, wurde 1957 der Kernreaktor RFR in Betrieb genommen; ein Entsorgungskonzept für den anfallenden Atommüll gab es nicht. Neben der Nutzung zu Forschungszwecken (u.a. Forschungen für Atomkraftwerke) diente der Reaktor der radioaktiven Bestrahlung von Ausgangsstoffen für die Produktion von radioaktiven Isotopen. 1991 wurden die industriemäßige Isotopenproduktion und der Reaktorbetrieb eingestellt; 1993 mußte die Sächsische Staatsregierung die endgültige Stillegung des Reaktors beschließen: der Reaktor war nach westdeutschem Recht nicht genehmigungsfähig. Sämtliche genutzten Brennelemente („abgebrannte“) der 34-jährigen Betriebszeit des Reaktors lagern noch in Rossendorf (951 Stück) in einem Naßlager, dass seit 1996/97 durch eine CASTOR-Halle (40 Millionen Euro) ergänzt ist.

Das hochradioaktive Material soll nun nach den Wünschen der sächsischen Landesregierung und des betreibenden Vereins für Kernverfahrenstechnik und Analytik e.V. (VKTA) erst in CASTOREN des Typs MTR-2 umgelagert und dann über die Straße in die CASTOR-Halle in Ahaus (NRW) transportiert werden. Die Genehmigungen des Bonner Umweltministeriums zum Transport und zur Einlagerung in Ahaus stehen noch aus. Verschiedene kritische Bündnisse und Gruppen in NRW und Sachsen glauben jedoch, dass dieses Verfahren schon im Frühjahr positiv beschieden werden könnte und bereiten deshalb gegenwärtig den Widerstand gegen den Straßentransport vor. Das Hauptargument der sächsischen Landesregierung liegt im Kostenfaktor, wobei sich das NRW-Parlament zu fragen beginnt, was denn NRW von solch einer Verschiebeaktion hätte, außer den Hauptkosten des Transportes. Immerhin aber hat Ahaus eine Lizenz zur Zwischenlagerung, Rossdorf nicht…

Das Hickhack um Lizenzen und Genehmigungen, die enormen Kosten, die allgemeine Willen- und Konzeptlosigkeit der Landesregierungen, der Plan schließlich, einen CASTOREN-Konvoi auf der Straße mitten durch Deutschland zu dem immerhin 600 km entfernten Ahaus zu führen, ohne sichtlichen Sicherheitsgewinn – all dies zeigt: die atomare Technik ist nicht zukunftstauglich und das Problem viel zu gefährlich, um es im politischen Alltag vor sich her zu schieben. Verlasst die laufenden atomaren Anlagen! Geht auf die Straßen! Blockiert die Atomindustrie und ihre Interessen! Wehrt Euch gegen das Anwachsen des Atommüllberges und gegen die kurzsichtigen Lösungen zu dessen Lagerung! Macht Druck auf die entscheidungstragenden PolitikerInnen! Und seid solidarisch.

clov

Weitere Informationen u. a.: www.uwg-ahaus.de +++ www.x1000malquer.de +++ www.castorstopp-dresden.de

Lokales

Revolutionäre ILO?

Am 25.2. erklärte die „Weltkommission zur Sozialen Dimension der Globalisierung“ in der UN-Organisation ILO (International Labor Organisation), dass trotz eines enormen „Potential[s] an Wohlstand“ soziale Ungleichheiten bestehen, die „ethisch nicht akzeptabel und politisch nicht haltbar“ sind. Ist die ILO also anarchistisch geworden und empört sich darüber, dass es Herren und Knechte gibt? Rät sie der Staatsmacht in aller Welt, Politik und Gewaltbereitschaft einzustellen? Verteidigt sie die Ethik der sozialen, einander bedingenden Freiheit und Gleichheit und gegenseitigen Hilfe? Mitnichten. Beteiligt sind an der 2001 gegründeten Kommission nämlich auch Staatspräsidenten, Halonen (Finnland) und Mkapa (Tansania). So fordert die ILO-Kommission letztlich ein Mehr an Ausbeutung: die Schaffung von Arbeitsplätzen, eine bessere zwischenstaatliche Abstimmung makroökonomischer Politik, die auf Wachstum zielt, und eine größere „Verantwortung“ der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO). Damit wird sich am brutalen Charakter der Globalisierung nichts ändern.

A.E.

Nachbarn