Archiv der Kategorie: Feierabend! #12

Alles MÜLLER oder wie?

Mo(nu)mente der Ratlosigkeit“ zur Eröffnung des III. Sächsischen Theatertreffens in Chemnitz am 22.04.2004 – Vorpremiere „LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS TRAUM SCHLAF SCHREI“ von Heiner Müller (Staatsschauspiel Dresden, Regie: Stephan Suschke)

„Alles Müller? Alles Müller!“ – unter diesem Motto steht das diesjährige  III. Sächsische Theatertreffen. Das nach Leipzig (2000) und Bautzen/Görlitz/Zittau (2002) vom 22.04. – 25.04. 2004  in diesem Jahr in Chemnitz tagt. Das Treffen ist ausschließlich dem Leben und Werk Heiner Müllers gewidmet. Mit Inszenierungen von Stücken wie „DIE UMSIEDLERIN“ (Theater Chemnitz-Schauspiel) oder „ZEMENT“ (Theater Junge Generation Dresden), „QUARTETT“ (Schauspiel Leipzig), „WEIBERKOMÖDIE“ (Theater Jugendclub Chemnitz), „WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE III-V“ (Theater Görlitz) oder „HAMLETMASCHINE“(Theater Chemnitz-Figurentheater) und anderen, mit Diskussionen und Gesprächen rund um Müller selbst. Die Organisatoren haben ein buntes Potpourri zusammengestellt, eine Revue der sächsischen Bühnen. Doch warum Müller? Warum heute? Warum in Chemnitz?

Während ich mich in den vollen Zuschauerraum der kleinen Bühne im Industriemuseum Chemnitz dränge, ahne ich noch nichts. Alle sind etwas förmlich steif, außer den Garderobieren. Aber das ist verständlich, zur Eröffnungsveranstaltung. Freunde, Anverwandte, Involvierte. Ich rutsche im Halbdunkel ungeduldig auf meinem Stuhl hin und her. Dann ein Lichtspot. Vorn steht jemand aus dem Publikum auf, dreht sich um, entfaltet einen Zettel. „Rössler“ zischt meine Nachbarin. Ich erstarre angesichts des grotesken Prologs, der nun folgt. Der sächsische Minister für Bildung und Kultur grinst etwas hilflos, während er nach den Stichpunkten auf seinem Zettel sucht. Floskeln ziehen an meinen Ohren vorbei. Warum Müller? Rösslers Antwort wabert irgendwo zwischen ‚Sohn Sachsens’ und ‚seiner großen Berühmtheit’, zwischen diffusen nationalen Phrasen und Standortlogik bedeutungslos hin und her. Das Publikum um mich herum schweigt eisern, erträgt die lächerliche Szene. Und es sind nicht nur geladene ParlamentarierInnen da, nicht nur Häppchenjäger, sondern auch Teile des sächsischen Kulturadels, Theaterleute von den städtischen Bühnen, TheatermacherInnen und Theatermenschen. Erleichterte Stille, als der Minister sich wieder setzt. Ein Monument der Ratlosigkeit. Während der kurzen Pause ziehen Bilder der Grabenkämpfe sächsischer Kultur- und Bildungspolitik an meinem geistigen Auge vorüber. Fletschende Intendanten. Hässlich grienende Ministerialbeamte. Tabellen im Rotstiftregen. Kulturstätten, barbarisch verwüstet. Dankbar für die Ablenkung, konzentriere ich mich auf die erste Szene: LEBEN GUNDLINGS. Der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm und seine Junker quälen den Akademiepräsidenten Jakob Paul Freiherr von Gundling. Preussisch korrekt. Eine Erziehungsmaßnahme für alle. Besonders jedoch für den jungen Friedrich. Die Szene wird breit ausgespielt. Nah an Müllers Anweisungen. Das Publikum soll ja auch Zeit haben, im Stück anzukommen. Ich verstehe den Dramaturgen und betrachte derweil den Bühnenapparat. Heißes Equipment. Seitenlicht gegeneinander, 2×12 kleine Kraftpakete werfen dialektische Schatten auf die Bühne, teilen sie in drei Zonen. Die Lichtkulisse transportiert mit der trist kalten Stimmung ihre eigene Wirkung und beherrscht dabei die Szenen, die im wesentlichen ohne Umbau aneinanderfolgen. Auch der Bühnenraum ist imposant aufgebaut. Eine riesige Wand aus reflektierendem Metall, die für einen effektvollen Auftritt wie ein verkehrt herum aufgehangenes Rollo geöffnet werden kann, mit einem Fenster weit oben, für die Szenen der entfernten Macht. Davor zwei alte Mercedes’, die nicht zufällig an die Siebziger der BRD erinnern. Der ganze Bühnenboden ist mit groben Glassand aufgefüllt, so daß kein Schritt unbemerkt bleibt. Zwischen Bühne und Zuschauerraum spannt sich ein modernes Gazenetz auf, wie man es vom Stadion kennt. Man kann hindurchsehen und hat es schnell vergessen. Die Irritation gelingt nur kurz. Ich frage mich, ob von der Seite der SchauspielerInnen auch Werbung zu sehen ist, oder im Filmmitschnitt der Aufführung, und wette mit mir selbst, daß der Gazeschleier in der letzten Szene „LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI“ fällt.

Die PREUSSISCHEN SPIELE ziehen an mir vorbei. Eindrucksvolle Bilder, mit Ton- und Videoprojektionen, die das Spiel der Akteure an mancher Stelle etwas klein werden lassen. Alle Szenen werden mit ihren Titeln eingeleitet. Die Erinnerung an die alten Schautafeln von Piscator oder Brecht wird noch durch ihre Videoprojektion gebrochen, die das Licht zwiefach, grob auf die Metallwand und scharf auf die Gaze wirft. Friedrich hockt in sich versunken am Bühnenrand, drei brennende Soldatenhelme vor ihm, während ein Kameraauge über die zerbombten Städte Deutschlands eilt. Die riesige Projektion auf der Metallwand droht Friedrich mit-, fortzureißen.

Die Crew des Staatsschaupielhauses aus Dresden vermochte es, dem schwer zugänglichen Stück von Müller einiges an beeindruckenden Bildern abzuringen. Seine schwierigen Zeichenkomplexe aufzuschlüsseln und abzubilden. Doch die Räume, die Orte des Möglichwerdens, die Müllers Texte in einer ihm eigentümlichen Art öffnen, blieben ungenutzt. Die Inszenierung hielt Abstand von jeder Gegenwärtigkeit, wirkte geradezu historisierend. Selbst mit Projektionen von der toten Ulrike Meinhof oder von Arnold Schwarzenegger in „Terminator“ gelang es nicht, den Text zu aktualisieren. Dabei unterdrückte gerade der massive Einsatz von Technik und Effekt den Ausdruck, die Präsenz des Textes auf der Bühne. Wer im Zuschauerraum hoffte, in der Eröffnungsveranstaltung des III. sächsischen Theatertreffens den Beweis exerziert zu bekommen, warum Heiner Müller auch heute noch aktuell ist, warum es sich lohnt, sich heute mit seinen Stücken auseinanderzusetzen, eine Hypothese nur, was schließlich den politischen Kern seiner Theaterarbeit ausmachen könnte, hier und jetzt, wer sich mit solcherlei Hoffnungen trug, der wurde bitter enttäuscht. Die allgemeine Rat- und Hoffnungslosigkeit im Angesicht der Verhältnisse, im privilegierten Nischendasein als Theatermann, die der Regisseur Stephan Suschke hinterher im Gespräch bekundete, spiegelte sich sowohl in der kühlen Melancholie der gesamten Inszenierung als auch in den Aktionen des Ensembles, das an mancher Stelle hilflos wirke, alleingelassen mit Rolle und Text. Nur eine Frage konnte Suschke glaubhaft beantworten: Müller in Chemnitz – in Karl-Marx-Stadt – eben weil diese Stadt ein Sinnbild für verbaute Utopien ist.

Bleibt zu hoffen, daß die ein oder andere Inszenierung während des Theatertreffens, sich mehr dem politischen als dem ästhetischen Gehalt von Heiner Müllers Werken widmet. Eine bessere Antwort auf die Frage: Warum Müller? findet. Besser (weil optimistischer) als die, der Dichter wäre in diesem Frühjahr 75 Jahre alt geworden, würde er noch leben. Bleibt zu hoffen, dass es eine Inszenierung gibt, die nicht mit den Schultern zuckt, wenn man sie nach dem Heute befragt, nach der Aktualität von Müller. Eine Inszenierung schließlich, die auch Ihren Ort zum Sprechen bringt. Es gibt insbesondere in Chemnitz ja bessere Spielplätze, als eine virtueller Raum inmitten des zur Vorher-Nachher-Deko degradierten Industriemuseums.*

Ich jedenfalls hoffe fest auf den Sturz gewisser Staatsminister und mein Idealismus fegt das Amt mitsamt dem Apparat hinweg, getreu der letzten Regieanweisung Müllers im „LEBEN GUNDLINGS …“: „Nach dem Irrenhaus-Bild können Schauspieler in einem improvisierten Schäferspiel eine bessere Welt entwerfen.“

clov

„Der Kapitalismus langweil(t) über alle Maßen.“

…so Müller nach der „Wende“. Wie sehr sich die Trennung von der Kulturpolitik der DDR auf Heiner Müllers dramatisches Schaffen – auf das Spannungsfeld zwischen der Idee des Sozialismus, der Realpolitik im Osten nach 1949 und seinen indi­viduellen Vorstellungen und Ansprüchen – auswirken würde; die Zeit, die er selbst nie anerkennen wollte, machte einen Strich durch diese Rechnung. Müller starb 1995. Damals noch Intendant am Berliner Ensemble, dem alten Brecht-Theater. Gerade von der Kontinuität seiner Arbei­ten wäre zu erwarten gewesen, was sonst kaum ein deutschsprachiger Intellektueller insbesondere nach 1989 vollbrachte: Eine künstlerische, eine dramatische, eine theatrale Auseinandersetzung mit der Entstehung der deutschen Nation in all ihren Brüchigkeiten, durch die Geschichte ihrer Entwicklung hindurch. Sein Zynis­mus, der entgegen jedes Vorurteils, bei ihm fruchtbar wurde, gründete auf dem eigenen politischen Anspruch, der nicht mit der politischen Verfassung der gesell­schaftlichen Zustände zu vermitteln war. Genia Schulz über Heiner Müller 1980: „Mit ihm war kein Staat zu machen.“

Der allgemeinen Perspektivlosigkeit den Spiegel vorzuhalten, jene Ratlosigkeit bis aufs Mark zu entlarven – Müller hätte sicher auch im kapitalistischen Staat genug Material zur kurzweiligen Beschäftigung gefunden. Sein Erbe anzutreten, würde schließlich Müllers Tod verzögern. Denn, wie er selbst sagt: „Der Mensch ist etwas, in das man hineinschießt, bis der Mensch aufsteht aus den Trümmern des Men­schen.“

clov

Zur Lektüre empfohlen:
Autobiographie „Krieg ohne Schlacht“, Heiner Müller, Kiepenheuer&Witsch, Köln, 1992

Rezension

Ein Lichtblick im Dunkel des Kriegs

Das Frauenzentrum in Grosny

Der Krieg in Tschetschenien dauert an und das seit nunmehr zehn Jahren. Nachdem im Feierabend! N° 11 die Hintergründe dieses Konfliktes nachgezeichnet wurden, soll es hier um die Frauen gehen, die inmitten des Krieges leben.

Die wohl markanteste Auswirkung, die die Besetzung durch die russische Armee und die ständigen Kampfhandlungen haben, ist eine völlige Umstellung des gesellschaftlichen Lebens. Die Bürde des Alltags lastet allein auf den Frauen, die nicht flüchten konnten oder wollten. Die meisten von ihnen sind Witwen und müssen trotz des totalen Ausnahmezustandes, der im Verlauf der Jahre zum Normalzustand geworden ist, irgendwie für die Kinder und ältere Verwandte sorgen.

Männer sind aus dem Alltag so gut wie verschwunden. Entweder sind sie Kämpfer, verschollen oder tot, oder sie verstecken sich in den Häusern vor den Soldaten. Für die russische Armee gilt jeder Mann zwischen 15 und 65 Jahren als Terrorist. So befinden sich alle wehrfähigen Männer in der ständigen Gefahr, z.B. beim Wasserholen, unterwegs an einem der zahlreichen Kontrollposten aufgehalten zu werden und damit für immer zu verschwinden. Die Männer kommen, wenn sie der russischen Armee in die Hände fallen in sogenannte Filtrationslager, wo sie gefoltert und/oder in Erdlöchern gefangen gehalten werden. So mancher zieht es da vor, sich gleich den Kämpfern anzuschließen und so wenigstens nicht in Feindeshand zu sterben…

Es bleibt den Frauen überlassen, das Überleben zu organisieren und ständig zu improvisieren. Hinzu kommt, dass die Frauen, die noch in Tschetschenien leben, dadurch, dass die Männer weit weg sind, für die plündernden Soldaten leichte Ziele sind. Sogenannte „Säuberungen“ sind in Tschetschenien an der Tagesordnung. Dabei dringen bewaffnete Soldaten in die Häuser der Zivilbevölkerung ein, rauben alles, was sie mitnehmen können (vor allem Geld und Waffen), zerstören den Rest. Dabei werden tagtäglich Menschen geschlagen, vergewaltigt, entführt, gefoltert und getötet. Je weniger Wertgegenstände die Überfallkommandos finden, umso schlechter ergeht es den Heimgesuchten. Die Familie des Opfers kann, wenn sie großes Glück hat, herausfinden, wohin die Verschwundenen gebracht wurden und denjenigen eventuell tot oder lebendig freikaufen.

Für die Ängste und Traumata der Frauen und Mädchen gibt es in der traditionellen tschetschenischen Gesellschaft kein Ventil. Ihnen wird beigebracht für die Familie zu sorgen, duldsam zu sein und sich nicht zu beklagen. Über Gefühle wird so gut wie nicht gesprochen, sondern Stolz und Widerständigkeit nach außen gezeigt.

Doch diese Rollenverteilung gerät ins Wanken, da die Frauen nun die Hauptverantwortung für das Leben tragen, hat sich auch ihr Selbstbild geändert. Sie wissen, das auf ihnen die ganze Last liegt, wenigstens das Überleben im Land irgendwie zu organisieren.

Allerdings ist diese Last, ohne auch einmal selbst Hilfe und ein offenes Ohr für die eigenen Ängste und Nöte zu haben, nicht zu tragen. Um hier wenigstens etwas Abhilfe zu schaffen, gibt es seit 2002 in Grosny ein Frauenzentrum, eingerichtet von der Gesellschaft für bedrohte Völker und der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. Es trägt den pro-grammatischen Namen „Frauenwürde“ (Zenskoje Dostoinstvo) und liegt zentral in der Innenstadt. Aufgebaut wurde es innerhalb von drei Monaten von ca. 35 Leuten. Allein der Fakt, dass mitten im Krieg etwas entsteht, ein Haus mit Leben gefüllt wird, ist für die Menschen von größter psychologischer Bedeutung.

Das Haus ist eine Begegnungsstätte. Frauen können dort gratis ärztliche und psychologische Hilfe erhalten und sich ein Stück weit vom Krieg erholen.

Die Stammbelegschaft besteht aus der Psychologin Zulai, der Frauenärztin Medina, der Leiterin Laila und der Juristin Malika. Allerdings ist davon auszugehen, dass sie sich in den meisten Fällen wohl darauf beschränken müssen, Ratschläge zu geben, denn Medikamente sind, wie viele andere Hilfsmittel eine Seltenheit.

In der bisherigen Zeit seines Bestehens hat sich „Frauenwürde“ zum Ausgangspunkt zahlreicher Aktivitäten entwickelt. Es gibt eine kleine Bibliothek, Näh- und Handarbeitskurse und Computer- und Sprachkurse sind geplant. Außerdem gibt es fünf Kühe, deren Milch für die Kinder, die im Untergeschoß untergebracht sind eine wichtige Calciumspritze ist. Inzwischen haben über tausend Frauen das Zentrum besucht und es ist in ganz Tschetschenien bekannt.

Auch wenn durch dieses Haus noch nicht den Krieg, der die Ursache für soviel Leid ist, beendet ist, ermöglicht das Projekt einigen Frauen wieder Hoffnung und Zuversicht zu gewinnen.

Das Frauenzentrum finanziert sich nur über Spenden und ist auf jede kleine Hilfe angewiesen, da es ansonsten keine Unterstützung von außen gibt. Tschetschenien ist ein blinder Fleck auf der Landkarte der humanitären Organisationen. Diese haben sich aus Sicherheitsgründen zurückziehen müssen, da Ausländer oft als Geiseln genommen werden, um Lösegeld zu erpressen.

Spenden an das Frauenzentrum in Grosny bitte an das Interkulturelle Forum e.V., Kontonummer 88 57 700 bei der Bank für Sozialwirtschaft, BLZ 700 20 500.

volja

Nachbarn

HipHop Partisan

ein interview mit chaoze one über hiphop und partisanen

HipHop ist ein Lebensgefühl. Sprache der Wut. Ausdruck einer Identität. Eine Kultur, die Rap, DJ-ing, Breakdance und Graffiti mit ein­schließt. Mit Bildern an den Wänden der Städte erobern die einen den visuellen Raum, mit Worten und Tönen die anderen die Ohren der Menschen. Entstanden ist HipHop auf den Block Parties der Jugendlichen aus den Armenvierteln New Yorks Mitte der 70er Jahre und wurde in Erster Generation in Europa vor allem von Jugendlichen immigrierter Eltern weiter getragen. Die globale Community mit HipHoppern verschiedenster kultureller Hinter­gründe verband oftmals das Gefühl der Diskriminierung. Häufige Themen sind daher Rassismus, Rechts­extremismus, Arbeits­losigkeit, Chancenlosigkeit, Ungerechtigkeit, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, sowie die Rolle der Medien und ihre Manipulationstechniken. Da sich heute immer mehr „sexistische, homophobe, faschistoide und nationalistische Tendenzen im kommer­ziel­l­en HipHop verbreiten, versuchen Netzwerke, wie HipHop-Partisan“ eine kritische Kraft aufzubauen, um eine neue, subversive Bewegung zu schaffen, die dem entgegenwirkt. (1) „Sobald du ein Mikro in der Hand hast und jemand dir zuhört, ist es ein politischer Akt“ meint Sat aus Marseille.

Das folgende Interview wurde von Turn It Down per e-mail mit Chaoze One, einem Aktivisten von HipHop-Partisan, Anfang diesen Jahres geführt. Es erschien bereits im Polit/Musik Magazin „Massenmörder Züchten Blumen“ #2, aus McPom (Mecklenburg Vorpommern) und auf www.turnitdown.de.

wanst

TID: Stell dich bitte kurz vor!

chaoze: Das ist immer so eine wunderbar offene Frage. Also gut – ich bin Chaoze One und mache seit ca. 2000 rapähnliche Music – meist mit per­sön­lichen oder politischen Tex­ten. Ich hab die klassische Laufbahn durchlaufen. Ver­suchte erst Punk zu sein, hörte „Deutsch­­punk“ und Hard­core, dann kam meine Zeit als (Möchtegern-) Sharp-Skin mit viel Ska und Reg­gae (den ich heute noch mag) und dann irgendwann wechselte der Musikge­schmack durch einen Antifa Soli-Sampler ziemlich abrupt rüber zu HipHop. ‚Schuld‘ daran waren Anarchist Academy, Kinderzimmer Pro­duc­tions und KRS-One die waren mit jeweils einem Track auf dem Tape vertreten. Ich hab dann viel Rap gehört und irgendwann ange­fangen zu schreiben – so entstand 2001 dann die Demo-CD ‚Neue Kreise‘ (u.a. mit ‚der Panther‘), die relativ viel Anklang fand und inzwischen mehrere hundertmal selbst­gebrannt verkauft wurde. Dann hab ich angefangen live zu spielen und die Sachen live auszuprobieren und mit der Erfahrung ist dann jetzt die zweite CD kurz vor der Veröffentlichung. ‚Rapression‘ ist mehr politisch als persönlich geworden und wird auf Twisted Chords – einem Indie Hard­core Punk Label aus Karlsruhe er­scheinen. Mit dabei sind Leute, die mich und meine Musik nachhaltig beeinflusst haben, sei es textlich oder musikalisch, z.B. Anarchist Academy, Microphone Mafia oder Irie Revoltes.

TID: Deine Texte sind politisch, warum?

chaoze: Schwer zu sagen. Ich hab nicht angefangen zu schreiben und mir dabei gesagt, „Ey Alter du schreibst aber nur politisch“. Ich habe über Themen ge­schrieben, die mich be­schäftigt haben – und da ich als Person linksradikal-politisch interessiert bin, haben mich eben Themen beschäftigt, die in diese Richtung gingen. Ich hab tat­säch­lich auch ver­sucht an­spruchs­volle Songs zu schreiben, die nicht so ernst sind. Aber das ist einfach nicht mein Ding. Hannes von Anarchist Academy hat mal kritisiert dass die „Neue Kreise“ mehr oder wenig­er zwanghaft versucht, alle Themen abzudecken (Sex­ismus, Rassismus, Gesell­schaftskritik, etc) – auf Konzerten höre ich manchmal aus dem Publikum „Der zieht ja alle Register“. Aber ich hab damals einfach geschrieben und danach geschaut was auf dem Blatt stand. Der Anti-Vergewaltigungstrack (‚Wir kriegen euch‘) resultiert aus drei Ge­schichten, die mir damals Freundinnen erzählt haben. Mir fällt es schwer so was un­kommentiert mit mir herum­zutragen. Ich hab dann den Text geschrieben und ihn von den Frauen lesen lassen – sie fanden ihn gut, fühlten sich repräsentiert bzw. fanden den Zustand gut verbalisiert, also hab ich den Track ge­macht. So wurde die Demo-CD ein ziemliches Aus­­kotz­album, struktur­los aber für mich wichtig. Noch was zu diesem „deine Texte sind politisch“ ding: unpolitisch gibt es nicht – auch ein Kool Savas ist politisch und viele seiner Texte traurige Realität. Sie sind Spiegel des sexistischen, homo­phoben Gesellschaftszustandes, auch wenn ich zugeben muss, dass gerade die HipHop Szene in weiten Teilen diese Formen von Diskriminierung verstärkt propagiert.

Jeder Text ist subjektiv geschrieben und zeigt ein Bild der Sozialisation des Verfassers oder der Verfasserin – somit ist es politisch.

TID: Wie kommt Politik in der Hip-Hop-Szene an? Bist du für die Leute der PC-Heini, oder werden dadurch Dis­kussions- und Denkprozesse angestoßen, wie z.B. HipHop-Partisan.net?

chaoze: Du sprichst da zwei Dinge an, einmal mein persönliches Projekt Chaoze One und dann den Zusammenschluss HipHop-Partisan. Es kommt auf den Blickwinkel an. Die Hip­Hop Heads sind schock­iert, wenn jemand solch radikale Texte kickt und dabei auf die üblichen Normen wie „Skills“ und „Flow“ scheißt – manchmal minutenlang nur die Musik laufen lässt ohne zu rappen und dabei die Gesichter im Publikum beobachtet. Mit Sicherheit krieg ich oft schiefe Blicke ab; der frisst kein Fleisch, trinkt keinen oder kaum Alk, und kifft nicht mit uns. Für die Hiphops bin ich schätzungsweise der Punk mit Baggys für die „linksradikalen“ bin ich erstmal der „Hiphopper“ und dadurch schon mal obligatorisch mit Kritik behaftet. Letzten Endes habe ich von beiden Seiten Kritik und Respekt einge­steckt. HipHop-Partisan ist ent­standen aus einer Diskussion im ‚Fear of a Kanak Planet‘ Forum (kanakplanet.de), der Homepage zum Buch von Hannes Loh und Murat Gün­­gör. Viele Leute, die auf den Vor­lesungen von den Zweien waren, trafen sich nachher dort und ir­gen­d­wann stellte sich die Frage „Was machen wir mit den neuen Eindrücken und der Notwen­dig­keit an nachhaltiger Kritik“. Dann entstand die Idee eines Netzwerks – um subversive Kräfte zu bündeln und eine Gegenseite zu den faschistoiden oder homphoben Tendenzen in der Szene aber auch in der Gesellschaft zu bilden. Die Aktiven aus diesem Netzwerk – inzwischen annähernd 200 Leute, beschränken sich weder im Background, noch im Wir­kungs­feld auf die Hiphopszene. Das Kind ist noch sehr jung und brab­belt grade mal die ersten Einwortsätze – bin gespannt was daraus wird, wenn es seinen ersten Text schreibt.

TID: Gibt es so etwas wie patriotische Tendenzen in der HipHop-Szene? Ich bin mir ziemlich sicher, das es keine Stiefelnazis gibt, aber wie sieht es mit rechten Ten­denzen aus?

chaoze: Bekannt sind mir die Tendenzen insofern als dass es in der rechts­radi­kalen Szene Dis­kussionen über die Über­nahme des Musik und Kleid­ungs­stils von Hip­Hop statt­finden – ins Rollen ge­bracht haben das Rap Crews, die faschistoide Rap-Me­taphern be­nutzten: „Affen wie Afrob in den Zoo“ oder „Skills en Masse ins Gas“ o. Ä.. Ich hab ein Snippet zugesendet be­kommen von einer extrem schlechten ‚Rap‘ Crew, die Freestyles kickt, die so tönen: „Ich hätt so gerne wieder 36 / mit nem eigenen KZ ich wär so fleißig“. Patriotische Tendenzen gab’s ja aber im Grunde genommen seid der Erfindung der Fanta 4, als die Boulevard Blätter die neue deutsche Reimkultur feierten, während Migranten-Rap-Crews, die seit Jahren Blut und Schweiß in ihre Vision steckten, eben nicht ins „deutsche Format passten“ – wie es die MC’s der Microphone Mafia ausdrücken. Mehr zu dem Thema Nazirap etc. findet ihr in ‚Fear of a Kanak Planet‘, einem Buch von Hannes Loh und Murat Güngör.

TID: Ist dieser gern gepflegte Lokal­patriotismus nicht auch eine Art von Patriotismus?

chaoze: Das ist schwierig zu beantworten, weil ich denke, dass Mensch hier die Posi­tion ­der Gruppe be­achten müsste. Rap als Möglichkeit der Über­­mittlung von Infor­­ma­tionen muss klar ma­chen aus wel­chem Um­feld diese Infor­ma­tio­nen stam­men. Denn das ist eine wichtige Infor­mation zum Ver­ständ­­nis eines Textes. Ob Mensch seine Reg­ion als die Beste propa­gieren soll­te, weiß ich nicht. Aller­­dings stößt sich auch nie­mand an dem neuen Be­ginner Track in dem sie – zu recht – Hamburg huldigen. Ich denke es ist wichtig, differenziert zu bleiben. Ich bin in einem kleinen Vorderpfälzer Provinz­städtchen aufgewachsen und natürlich liegt mir dieses am Herzen. Ich habe an jedem Eck, an dem mal ein Hund sein Revier markiert hat, irgendetwas erlebt. Trotzdem bleibt die Politik und eine Mehrheit der Bevölkerung in diesem Städtchen für mich kritikwürdig. Und zwar radikal.

(1) aus dem Manifest der HipHop-Partisanen
Versuch einer Legende:
Hannes Loh…Rapper und Texter von Anarchist
Academy
Murat Güngör…ehemaliger Rapper und Mitglied von Kanak Attak
Track…Lied
Tape…Kassette
Rap…reimender Sprech­gesang durch den MC (Master of Ceremony) vermittelt, von amerik. Slangausdruck to rap=quasseln
Homophobie…krankhafte Angst vor und Ab­neigung gegen Homosexualität
PC-Heini…politisch korrekter Heini
Baggys…weite Hosen
Rap Crews…Bands
Freestyles…improvisierte Einlagen
weitere Infos unter:
www.hiphop-partisan.net, www.kanakplanet.de

Soziale Bewegung

Demokratie im deutschen Wahljahr 2004

Hurra, hurra, das Superwahljahr ist da – ein Fest der Politik, welcher Bürger möchte nicht in solch antiken Träumen schwelgen. Aber denkste. Pessimismus aller Orten. Keine Programm-Marathons in Partei­geschichte. Nicht einmal ein ordentliches Lämmerschlachten. Keine Tragik, keine Euphorie. Die Medien halten sich zurück. Die parla­mentarische Debatte wiegt in Lethargie. Da hilft auch kein außen­/euro-politischer Abführtee. Kaum Grüne auf den Friedensmärschen. Kaum Rote am 03.04. (1) in Berlin. Die Schwarzen in die eignen Hierarchien verstrickt, die Gelben kopflos, die Brau­nen dumm wie immer, die Röterroten immer nur dabei statt mittendrin. Selbst dem EU-Parlament fehlen noch Helfer für die eignen Wahlen. Ehrenamtlich versteht sich. Die Reste von politischer Kultur, die die Parteien versam­meln, reichen kaum noch aus, die Lücken zuzuschließen. Hamburg war ein erster Gradmesser. Die Wahlbeteiligung ging um 2,3% auf 68,7% zurück. 10528 Stimmen wurden ungültig abgegeben. Das sind immerhin schon 1,3% von allen (s. Tabelle 2). Die ungültige Stimmabgabe ist eine Option geworden, weil sie ein aktives Moment enthält: Klar seine Stimme zu verweigern, nicht zu delegieren, sondern sie auch selber einzusetzen. (2) Auch wenn kein Erdrutsch zu erwarten steht: 2004 – das Super­wahljahr Deutschlands – könnte zu einem Fiasko der Legitimation parlamen­tarischer Initiative werden. Die Bereitschaft des Bürgers, seine Stimme abzugeben, sinkt ständig. Manch einer sieht es als Strafe für die schlechten Inszenierungen der Par­teien­­politik, manche zieht die Konsequenz aus jahre­langem Hin und Her. Fest steht, die meisten haben begriffen, daß jenseits der dunklen Regierungspolitik, nur düstere Aussichten zu finden sind. Die allgemeine Hilflosigkeit der Parlamente ist auf Landes- und auch Bundesebene erwiesen. Doch was bleibt noch, wenn der Bürger nichts mehr von der Wahl erwartet, politisches Engagement sich weder an der Basis der Parteien noch in Parteien-Neugründungen generiert? Ist das liberale Staatsprojekt an seinem Ende? Und damit auch die demo­kratische Idee? Wo läßt sich Optimis­mus aus politischen Aktionen überhaupt noch schöpfen? Ein Vorschlag sei gegeben.

Die Demokratie in ihrer Gegenwart ist die parlamentarische Lösung im nationalen Mehrparteienstaat. In ihrer Idee ist sie die Teilhabe aller, mithin von jedem und jeder Einzelnen, an der Macht – freiheitlich, brüderlich, gleich. Die Macht und ihre Territorien jedoch, die die Parlamente der nachfeudalen Aristo­kratie im 19. Jahr­hundert listenreich und unter vielen Op­fern abgerungen haben – wie wichtig dabei die Ideen des Sozialismus waren, wie wichtig der gewerkschaftliche Druck der organisierten Arbeiterschaft, wird oft ver­gessen – ging über an die skrupellosen Führer der nationalen Bewegungen, die nicht nur in Europa aufmarschierten. Wie­viel Leid mußte ertragen werden bis mit der „Wende“ und dem Ende des Kalten Krieges endlich die Hoffnung wieder aufkeimte, nun mit dieser alten Macht zum ewigen Frieden fortzu­schrei­ten. Heute fällt es schwer, noch jene Euphorie zu teilen, die damals beide Erdenteile erfaßte, als der staatliche Kriegs­ter­rorismus sich vielerorts zu befrieden begann. Es war ein großer Sieg der parlamentarischen Debatte. So wurde es zumindest hingestellt. Ein Beweis für die politische Wirksamkeit des Parlamen­tarismus. Großen Worten folgten große Pläne und allzu große Erwartungen. Gerade in den Ländereien deutscher Nation. Riesige Verteilungspro­gram­me gebaren gigantische Subventions­kataloge mit sichtbaren Effekten: Wirt­schaftsboom dort, Warenvielfalt hier. Das Rheinische Modell der sozialen Marktwirtschaft stand scheinbar in Blüte. Der Aufstieg der Grünen Partei und das Überleben der links­sozialistischen Kräfte in der PDS jedoch – beide ideologischen Strömungen stießen als Parteien schnell an ihre real­politischen Grenzen – gaukelten eine Ver­änderung des politischen Alltags­geschäfts im deutschen Mehrparteien­staat nur vor, ebenso wie die Staatssubvention auf Pump. Heute, ein neues Jahrtausend hat kaum begonnen, halten Resignation und Trauer wieder Einzug in die Häuser­meere der Städte und Hofzeilen der Dörfer, kehrt an die Herde der Familien, Kollektive und Individuen wie ein Déjà-vu zurück, was man in den Neunzigern noch zu bannen glaubte: die Angst vor dem Morgen. Und wie zum Hohne ist die Überbringerin der Schrecken hierzulande die Rot-Grüne-Re­gierungs­koalition. Der Pessimis­mus wächst. Das zeigen die steigenden Zahlen der Nichtwählenden und Ver­wei­gerungen jeder Art.

Ist der Staat, was seine liberale Idee ver­heißt, der Garant des Friedens durch Zentra­lisierung der Gewalten und damit Wächter jeden Eigentums, kann er bei seinem Bürger und seiner Bürgerin auch Vertrauen erwecken, ihn und sie zur Ab­kehr von der individuell-willkürlichen Gewalt bewegen, gar zur Abgabe seiner Freiheitsrechte. Doch muß der Staat auch andersherum seinem Bürger Vertrauen schenken, will er nicht die durch ihn im Vertrauen zugesicherte Freiheit des Indivi­duums restlos durch staatlichen Zugriff untergraben. Die gegenseitige Vertrauens­basis von Staat und Bürger ist das Herz­stück jedes liberalen Ideals. Aber schon der Blick in die Geschichte zeigt, der Parla­men­tarismus konnte von Anbe­ginn keines seiner noch so liberalen Versprechen ein­lösen. Die Balancen des sozialen Friedens im Innern der national verfaßten Terri­torien, zwischen Arbeits­kampf und Kapitalinteresse, zwischen den Jungen und den Alten, zwischen Mann und Frau, Schwarz und Weiß, Nationalis­ten und den Kommunisten, sie alle blieben von der parlamentarischen Initiative beinahe un­berührt. Den Ausbruch von Krieg und Revolte konnte sie weder verhindern noch ernsthaft begrenzen, im Gegenteil oftmals reichte die Rhetorik der nationalen In­teressen aus den Parlamenten der kriegs­fördernden Maßnahme die Hand. Erinnert sei nur an den Kriegs­zuspruch der deut­schen SPD 1914. Unfriede, Widerstand und Krieg unter­minierten unent­wegt das bürgerliche Vertrauen und zwangen zur bürokratischen Spezialisierung der Parla­mente. Die Parteien mußten sich ständig profilieren, um verlorenes Vertrauen zu aktualisieren. Gewählte Volksvertreter und -vertre­terinnen ja, aber von den Parteien aus der eigenen Elite rekrutiert und auf die Liste gesetzt. Strategisch geplant und aus­ge­­klüngelt, um dem politischen Gegner kein Stück weit Luft zu lassen. Schon hier wird fraglich, inwieweit die oder der Delegierte jenes Vertrauen in die Wähler­schaft unterminiert. Und von da an geht der Riß über eine lange Kette von Amts­miß­bräuchen, nicht gehaltenen Ver­sprechen bis hin zur Korruption. Spä­tes­­tens jedoch seit der Terrorismus im parla­men­tarischen Staate zum Unwesen geriet, bedroht die Eskalation der Inneren Sicher­heit als gesteigertes Miß­trauen der Parla­men­tarier und Parlamen­tarie­rinnen in die Freiheit jedes und jeder Einzelnen den Frieden mit und damit auch das Vertrauen in den Staat. Eine Geschichte der an diesem Punkt ansetzenden staat­lichen, sprich par­la­­men­­­tarisch geführten, Re­pres­­sion im um­fas­sen­den Sinne steht noch aus. Die Offen­legung zumin­dest einiger Stasi-Akten ist nicht mehr als ein Indiz für ein dunkles Staats­kapitel in Ost wie West. Die Aus­maße von Datenerfassung und Ter­roris­mus an der Schwelle dieses Jahr­tausends machen sie zur lächerlichen Zettelkastelei.

Ist also der moderne Mehrparteienstaat, dessen Sonderfall die Europäische Union nur ist, heute weit von der Erfüllung jenes liberalen Ideals entfernt? Ich meine ja. Die Kultur der Individualisierung und die pluralistische Erziehung (3) haben das Miß­trauen reifen lassen, trotz und gerade we­gen der medialen Öffentlichkeit. Par­teien und Gewerkschaften gelten als über­holt, wegen ihren bürokratischen Aus­differen­zierungen und institutionellen Ver­engungen, wegen ihren internen dogma­tischen Ansprüchen und Auslesen, wegen der parlamentarischen (tarif­ründlichen) Praxis und deren Folgen. Das Vertrauen in die Solidarität der „großen Sozialkas­sen“ schwindet. Und wer hat schon Aus­sicht auf politische Mitbe­stimmung, wer fühlt sich dazu in der Lage? Aus Ohnmacht kann kein Vertrauen entstehen.

Ist also mit dem gescheiterten Vertrauens­verhältnis, mit dem Scheitern der liberalen Idee vom Bürger und dem Staate auch die Idee der Demokratie an ihrem Ende – nachdem die Geschichte ihrer Entwick­lung unzweifelhaft mit dem Mehrpar­teien­­staat und seinem Parla­men­tarismus verbunden ist? Scheint Demokratie ange­sichts dessen heute als politische Praxis, die den aufklärerischen Idea­len folgt, nicht mehr möglich? Ich meine nein. Um Egoismus und pes­simis­tischer Stim­mung die Stirn zu bieten, gilt es die demokratische Idee in optimistischer Absicht neu zu beleben. Ihre Ideale von der Frei­heit, Brüderlich­keit (Solidarität), und Gleich­heit des Menschen aufzugeben, hieße ja die Träume und Hoffnungen so vieler mit Füßen treten, hieße schließ­lich die moderne Bewegung des Denkens in ihrem politischen Kern in Frage stellen. Der Rückzug ins Private, sofern er von der Not erlaubt, wäre der Auszug aus der Gesellig­keit, das Aufkündigen jeder ver­trau­lichen Basis, das Ende jeder Politik. So scheint am Ende der liberalen Staatsidee das zu stehen, was sie schon am Anfang im eigenen Menschen­bilde unterstellte. Der Mensch sei eigent­lich nur durch Ge­walt zur Abkehr von dem Egoismus und damit zu Gesellschaft fähig.

Wenn es also so schlecht um die liberale Staatsidee bestellt ist. Wenn ihre politische Praxis des Parlamentarismus heute keines ihrer Versprechen einlösen kann, gar das politische Grundverständnis der gesell­schaft­lichen Verhältnisse bedroht. Wenn das grassierende Mißtrauen die Indivi­duali­sierung befördert und die Zersetzung der Solidarität innerhalb der gesellschaft­lichen Gefüge. Wo kann jener Optimis­mus in die Demokratie überhaupt noch Wurzeln schlagen? Wo herrschen denn noch demokratische Verhältnisse? Wo, wenn nicht direkt zwischen den Menschen? Denn wenn Demokratie die Idee der Teilhabe jedes und jeder einzelnen Betrof­fenen an der Macht über die Verhältnisse bedeutet, so ist gar nicht einzusehen, warum sie sich nur auf Staatsform und -geschichte beziehen soll.

Demokratische Verhältnisse sind, wie sie ab jetzt verstanden werden sollen, das Er­geb­nis von politischen Haltungen, die In­di­­viduen zueinander einnehmen. Sie sind di­rekt und gegenseitig. Deshalb keines­wegs abstrakt. Demokratie herrscht dort, wo sich Menschen in einem aus­balan­cier­ten Machtverhältnis vertrauen. Wer kurz überlegt … wird feststellen, es gibt schon Anlaß zu ein wenig mehr Op­ti­mismus. Denn wenn auch nicht in der Re­gel, der Alltag des Menschen ist von demokratischen Verhältnissen durchsetzt. Trotz aller Unkenrufe, die Leute seien apolitisch und zu einem anständigen Wahlkreuz nicht mehr fähig. In der „klei­nen“ Politik des Alltages sind demo­kra­tische Verhältnisse oft häufiger anzu­fin­den, als in der „großen“ der Parlamente. Demo­kratie ist eine Wirklichkeit, die es aus­zuleben gilt! Der parlamentarische Spiel­raum reicht da lange nicht aus. Und wer kann jemandem ernsthaft das Desin­ter­esse am alltäglichen Parteigeschäft verweh­ren? Modernes Leben sieht sich vielen Ansprüchen ausgesetzt. Der Parla­men­tarismus stellt da lange nicht die höchsten.

Man wäre schnell versucht vom Standbild aus zu schließen, die Verhältnisse im liberalen Mehrparteienstaat lägen doch nicht so schlecht, wie eingangs noch behauptet. Doch nicht aufs Potential sondern die Ent­wicklung kommt es schließlich an. Und hier sind die Tendenzen trübe, die Aus­sicht nochmal düsterer. Idee, Form, Ein­richtung und Geschichte des liberalen Staats­modells sind sehr eng geworden, be­häbig, wenig in der Lage jene demokratischen Verhältnisse, wie oben verstanden, in sich abzubilden, sie zu fördern und direkt auch zu bewirken. Um aber das Ideal der Teilhabe jedes Einzelnen in die Tat zu set­zen und sich den neuen Herausfor­derun­­gen zu stellen, bedarf es viel vielmehr Demokratie. Das ist eine Frage der politischen Kultur. Und die muß in ihrem Herzen utopisch sein, will sie Menschen an sich binden.

Demokratie, optimistisch betrachtet, findet also weder neben noch über Menschen statt, sondern zwischen ihnen. Politisch ist nicht ein Verhältnis zwischen Bürger, Recht und Staat, aus historischer Entfernung kühl betrachtet, politisch ist der Mensch, wenn er sich auf andere bezieht, mit Wünschen, Bedürfnissen und auch Ansprüchen. Politisch ist er, insoweit ihn die Probleme seiner Umwelt, seiner Mitmenschen direkt betreffen. Ist man gewillt zu glauben, das Individuum ist nur mit sich selbst beschäf­tigt und nur an seinem Eigentum interes­siert, wäre jede Aussicht auf das Erleben und Bewirken gemeinsamer Geschichte an ihrem Ende.

Daß zwischen Staat und Bürger die Ver­trauens­basis bricht, ist hinreichend beschrieben worden. Daß politische Kultur im Mehrparteienstaat allzuoft zur Partei­kultur degeneriert, ist einsichtig, sonst wären wir ja längst darüber hinaus. Daß kein Fünkchen Utopie beim Glauben an die Steuerung des positiven Wachstums bleibt, sondern nur hastiges Gefummel, daß kein utopischer Gedanke mehr vom herrschenden Politiker zur beherrschten Bürgerin dringt, liegt auch an der Aus­sichtslosigkeit der parlamentarischen De­batte. Es fehlen die Visionen. Und mit einem Seitenblick auf die Geschichte, ist mensch auch heilfroh darüber.

Es zeigte sich also die Notwendigkeit, den Begriff der Demokratie von seinem her­kömm­lichen Gebrauch, von seiner natio­nalen Sittenhaft zu trennen, das Politische von reiner Staatsverwaltung abzuheben, um Utopie und Optimismus für die demokratische Entwicklung des Menschen zu­rückzugewinnen. Beharrte man auf der An­erkennung der politischen Einrich­tungen, wie sie sind, so wären Pessimismus und auch Egoismus Haus und Tor geöff­net, die Ideale der Aufklärung wären schließ­­lich preisgegeben. So sei das „große“ Politikgeschäft von nun allein ge­las­sen, in der frohen Hoffnung auf Zerset­zung. Der Auszug aus den Parla­men­ten wird Demo­kratie und Selbst­be­stimmung weiter vor­wärts bringen. Geh zu den Ur­nen, laß Dich zählen, aber behalt die Stim­me zumindest dieses Mal bei Dir. Zeig Dich solidarisch mit den Anderen, setz ein Zeichen, nutze Deine Stimme (und auch Deine Arme), eine neue poli­tische Kultur demokratisch zu begrün­den. Der Auf­gaben sind genug gewachsen. Der Op­timismus liegt allein daran zu glau­ben, wir Menschen seien auch dazu befähigt, sie gemeinschaftlich zu über­win­den.

clov

(1) DGB-Großdemonstration
(2) Tipp für anspruchsvolle NichtSwähler: Die Briefwahl. Mensch hat den ganzen Kram zwei Wochen vor der Wahl und kann den Stimmzettel in Ruhe analysieren, disku­tieren, verzieren, beschmieren, file­tieren oder toasten, Hauptsache er geht wieder rechtzeitig zurück.
(3) die etwas geraffte Formulierung verweist einmal auf soziologische Arbeiten zu Indivi­dualisierungsprozessen u. a. von Ulrich Beck, vgl. bspw. „Jenseits von Stand und Klasse?“, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.), „Soziale Welt, Sonderband 2. Soziale Ungleichheiten“, Göttingen: Schwartz, 1983; und zum anderen auf den Fakt, das unsere Kinder heute keinen mo­no­­li­thischen Bildungsangeboten mehr gegen­­überstehen.

Theorie & Praxis

Eine Milchmädchenrechnung

Die „Ich-AG“ und ihre Spätfolgen

Als Instrument zum Abbau der Arbeits­losig­keit von der Bundesregierung geprie­sen und von der Bundesagentur für Arbeit an den Mann gebracht, soll die „Ich-AG“ offenbar Wunderwaffenwirkung haben. Wir sind sicher, dass sie in Bezug auf die Arbeitslosenstatistik abbauend wirkt. Wichtig ist nur das Wie.

„Lohnnebenkosten“ sind der allgemeinen Meinung nach die Ursache für die schlechten Arbeitsmarktdaten und die schlechte Konjunktur. Die Grundidee der Förderung der „Ich-AG“ ist, diese Lohnnebenkosten für solche Arbeitslosen zu senken, die ihre wirtschaftliche Selbst­ständigkeit als Minifirma begründen. Diese Entlastung wirkt bis zu zwei Jahre und soll für den nötigen Anschub der Firma sorgen. Bis hierhin ist nur der Name AG des Projektes unklar. Denn was diese Förderregelung mit einer Aktienge­sellschaft, also der Herausgabe von Aktien zum Zwecke der Kapitalbeschaffung, dem damit verbundenen Börsengang und dem Handel mit den Anteilsscheinen zu tun hat, mag nur einem Politiker einleuchten.

Die Anschubfinanzierung einer Selbst­ständigkeit ist eine gute Sache, auch wenn der Name vielleicht aus „Marketing­gründen“ etwas verunglückt sein mag. Aber es gibt einen Haken, das dicke Ende sozusagen. Der AG-Gründer bekommt nämlich kein Startkapital, es wird ihm nur weniger abgenommen, als dem normalen Selbstständigen. Das passiert in den ersten zwei Jahren, nennen wir sie mal der Einfachheit halber Schonfrist. Um abzu­schätzen, ob der Erfolg von Dauer sein kann, ist es unbedingt nötig, sich mit dem Leben danach zu beschäftigen. Und hier greifen alle die Gesetze, Verordnungen und Regelungen, die den Arbeitsmarkt zu dem gemacht haben, was er heute ist.

Zunächst ist da die Krankenversicherung.

Anders als bei abhängig Beschäftigten gilt für Selbstständige eine Bemessungs­grundlage. Dieser nette Begriff drückt aus, dass die Krankenversicherung berechtigt ist, die Beiträge nicht vom tatsächlich erzielten Einkommen, sondern von der genannten Bemessungsgrundlage zu berechnen. Noch mal: Der Staat als Gesetzgeber unterstellt dem Selbst­ständigen ein Mindesteinkommen und erlaubt den Krankenkassen, auf dieses fiktive Einkommen Beiträge zu erheben. Gegen diese Praxis wurde von den Gewerkschaften geklagt, doch von der Vorsitzenden des Bundesverfassungs­gerichtes, Jutta Limbach, als letzter Amtsakt bestätigt.

Für das Jahr 2004 beträgt diese Beitrags­bemessungsgrenze 1811,25 EUR und die damit monatlich fälligen Krankenkassen­beiträge je nach Krankenkassenbeitrags­satz ca. 250,00 EUR. Das ist genau der Betrag, den der ehemalige Bundes­präsident Roman Herzog (ja, der mit dem Ruck!) als Pauschale für alle Krankenver­sicherten vorschlug. Das wäre der ulti­mative Ruck für alle Minijobbesitzer.

Damit ist natürlich nur das Minimum an gesundheitlicher Versorgung gesichert. Krankengeld ist da nicht drin, denn Firmengründer wollen ja nicht krank werden.

Bemerkenswert ist, dass die Bemessungs­grenze der neuen Bundesländer in den letzten Jahren auf das Niveau der Alt­deut­schen Länder angepasst wurde, bei der Vergütung der Ärzte aber ein niedrigeres Ostniveau verrechnet wird. Die daraus resultierenden Praxisschließungen im Osten sind offenbar ein willkommener Kostendämpfungsfaktor für die Kassen. Kostendämpfung ist die Losung dieser Tage. Leistungen werden eingespart, und der eintretende Versorgungsmangel kann durch Zusatzversicherungen abgedeckt werden. Nein, wir schweifen nicht ab, wir sind immer noch bei der „Ich-AG“, denn eine Zusatzversicherung schlägt monatlich mit ca. 70,00 EUR bis 100,00 EUR zu Buche, je nach dem, wie deutlich der Versicherte seine finanzielle Lage zeigen will. Unterprivilegierte werden wir in Zukunft an unsanierten Zähnen erkennen können. Rechnen wir also im Schnitt mit 80,00 EUR Zusatzversicherungskosten, wenn alle eingesparten Leistungen zusatz­versichert werden sollen. Genaueres wird momentan von den Versicherungen erarbeitet.

Der Wechsel zu einer Privaten Kranken­ver­sicherung mit günstigeren Beiträgen hilft auch nur vorübergehend. Generell passen die Privaten die Beiträge dem Lebensalter an. Gute Berater empfehlen daher, die gesparten Beiträge für die Zeiten mit hohen Beiträgen zu sparen. Das Problem wird also nur auf später verschoben. Das ist auch nur logisch, denn eine Private Krankenversicherung ist ein Unternehmen mit dem Ziel, Gewinne zu erwirtschaften. Die Phantasiepreise der Pharmaindustrie für Medikamente gehen letztlich immer zu Lasten der Versicherten. Und noch etwas: Aus der Privaten gibt es keinen Weg zurück in die gesetzliche Krankenversicherung, es sei denn mit der Aufnahme einer Arbeit als normaler Arbeitnehmer oder der Arbeitslosigkeit. Nun, dieses Problem hatten wir ja gerade beseitigen wollen.

Und dann gibt es noch den Rentenbeitrag. Aus dem Merkblatt zur Versicherungs­pflicht der Handwerker, V016 entnehmen wir unter dem Punkt Regelbeitrag:

Nach Ablauf der ersten drei Kalenderjahre … zahlen pflichtversicherte Handwerker grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Höhe ihres Einkommens einen Regel­beitrag. Für das Jahr 2004 beträgt der Regelbeitrag monatlich 395,85 EUR. Dieser Beitrag bezieht sich auf eine Bezugsgrösse von 2030.00 EUR, das Durchschnittsentgelt der gesetzlichen Rentenversicherung.

Hier besteht allerdings die Möglichkeit, einen einkommensgerechten Beitrag nach dem Arbeitseinkommen entsprechend des Einkommenssteuerbescheides zu zahlen.

Aber bleiben wir beim Durchschnitt, beim Regelfall. Bei der Addition der Sozial­abgaben nach der Schonzeit ergeben sich:

250,00 EUR Krankenkassenbeitrag

80,00 EUR Zusatzversicherungen

395,85 EUR Rentenversicherung

725,85 EUR Gesamt

Diese Beiträge beziehen sich auf einen Gewinn von ca. 2000 EUR.

Hier ist der „Ich-AGler“durch die Förderung zunächst im Vorteil, aber um einen solchen Gewinn zu erreichen, muss einer schon eine unge­wöhnlich gute Ausnahmeidee haben. So viele Ideen, um damit den Arbeitsmarkt spürbar zu entlasten, gibt es gar nicht. Der Gewinn von 2000,00 EUR ist das, was übrigbleibt, wenn alle Betriebs­aus­gaben gezahlt sind. Und die Ein­kommens­steuer gibt es auch noch.

Die Sozialabgaben im Regelfall be­tragen also ca. 36%. Damit könnte man leben, vorausgesetzt, dieser Gewinn wird erreicht. Wir schätzen den nötigen Umsatz auf mindestens 4000,00 EURO, um nach der Ab­rechnung aller Auf­wendungen wie der even­­tuel­len Ein­kaufspreise der Ma­terialien, dem Abzug der Ge­schäfts­­mieten und der Fahrzeug­kosten den beschriebenen Gewinn zu er­reichen.

Läuft es aber nicht so gut, ändert sich das Verhältnis dramatisch. Die Renten­versicherungsbeiträge sinken zwar in gewissem Maß proportional, die Krankenversicherungsbeiträge bleiben aber konstant! Bei 1000,00 EUR Gewinn ergibt sich folgende Rechnung:

250,00 EUR Krankenkassenbeitrag

80,00 EUR Zusatzversicherung

197,93 EUR Rentenversicherung

527,93 EUR Gesamt

Das sind 52%! übrig bleiben ca. 470,00 EUR. Der Sozialhilfesatz liegt bei knapp 400,00 EUR.

Die genauen Zahlen ergeben sich erst im Einzelfall und auf den Cent genau können wir das nicht ermitteln, dazu gibt es zu viele verschiedene Einfluss­faktoren. Aber der Trend bleibt: Unter 2000,00 EUR Gewinn ist auf Dauer kein Überleben möglich. Das belegen die vielen leeren kleinen Läden in unseren Straßen. Der Traum von der eigenen kleinen bescheidenen Existenz endet zu oft im Alptraum mit Schulden aus laufenden, vertraglich lang­fristig gebundenen Ausgaben, wie hohen Mieten und fehlenden Ein­nahmen. Ursache ist u.a. die hohe Abgaben­last der Sozial­abgaben, deren Gegenwert in Form von Sozial­leistungen in der Kranken­versorgung und der Rente immer fraglicher wird. Was bedeuten aber 2000.00 EUR Gewinn? Zur Veran­schau­lichung: Im Monat lassen sich ca. 20 Arbeitstage nutzen, denn 4 Wochen mit 5 Arbeitstagen ergeben ungefähr die gesetz­liche Arbeitszeit. Den Rest des Monats kann man im Durchschnitt des Jahres als Urlaub, Krankheit, Feiertage oder andere Ausfälle rechnen. Daraus errechnet sich ein not­wendiger minimaler Tagesgewinn von 100,00 EUR. Darunter wird es echt eng! Gelegenheitstapezieren oder Schnür­senkel­verkaufen bringen es nicht wirklich. Dialer und 0190-er Nummern sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Wie wär’s mit einem Fernsehsender und kosten­pflich­tigem Telefonquiz? – oder gleich Ber­lusconi. Alle haben mal klein angefangen.

In den Anfängen der Langstreckenflüge wur­de ein wichtiger Streckenpunkt errechnet: der Point of no Return. Ab hier ist keine Umkehr mehr möglich, weil die Treibstoffreserve nicht mehr bis zum Ausgangspunkt reicht. Diesen Punkt gibt es auch beim Aufbau der eigenen Selbst­ständigkeit. Es ist wesentlich, ihn recht­zeitig zu erkennen, er kann schon mit einem Bankkredit mit dem eigenen Haus als Sicherheit erreicht sein. Spätestens nach dem Ablauf der Schonfrist, wenn alle Abgaben anfallen, gibt es kein Zurück mehr. Ob mit oder ohne Ich- AG, diesen Punkt richtig zu erkennen ist existenz­entscheidend. Wenn hier die Mindest­einnahmen noch nicht erreicht sind, sollte man die ganze Aktion ernsthaft über­denken. Wozu dann aber überhaupt das Ganze? Die „Ich-AG“-ler sind nicht mehr arbeitslos und das nachhaltig. Bei den oben angeführten Kosten fehlt die Arbeitslosen­ver­sicher­ung. Nach der Schonfrist der „Ich-AG“, in der ganz normalen Selbstständigkeit gibt es keine Arbeitslosenversicherung – nicht einmal freiwillig. Eine gescheiterte Selbst­­ständig­keit endet somit immer beim So­­zial­­amt. Wer im entscheidenden Mo­ment die Gewinn­erwartungen falsch und zu opti­mis­tisch einschätzt, spielt mit seiner wirtschaftlichen Existenz. Aber wenigstens sieht die Arbeits­losenstatistik besser aus.

Fakt ist: Der Teufelskreis aus Arbeits­losigkeit, staatlicher Intervention und freier Marktwirtschaft, wird mit dem Instrument „Ich-AG „ jedenfalls nicht durchbrochen.

ies.

Sozialreformen

Das Ruder im Griff behalten

Mitte März gab es die ersten Mel­dungen, enttäuschte Gewerkschaf­ter wollten eine „neue linke Protestpartei“ gründen. Eine Woche lang war das Thema nicht zu überhören, nicht zu übersehen. Scheinbar waren die Medien aber etwas voreilig. Denn in ihrem 2. Rundbrief vom 7. April betont die „Initiative Arbeit und soziale Gerech­tig­keit“ (IASG) (1), dass es sich bei dem Zusammenschluss um „keine Partei“, sondern um den Versuch handelt, „die SPD auf sozialstaatliche Positionen und ihr Parteiprogramm zu drängen“. In der Tat machen die InitiatorInnen in ihrem Aufruf Alternativvorschläge zur aktuellen Regierungspolitik – so fordern sie „massive Investitionsprogramme“ und einen „sozial gerechten Umbau unserer Sozialsysteme“.

Ver.di-Vorsit­zen­der Bsir­s­­­ke lehnt eine Beteili­gung „sei­ner“ Organisation an der Initiative zwar ab, wie andere DGB-Gewerkschaften auch. Doch eine Alternative haben sie nicht zu bieten: so weiß Herr Kohl­­bacher (IGM Leip­zig) für das Prob­lem der Arbeitslosig­keit auch keine andere Lösung als öffent­liche Investi­tionen auf Pump (deficit spen­ding). Auf der von ver.di mitorgani­sierten Veranstaltung „Sozial­abbau oder Auf­schwung“, die am 24.3. im Volkshaus stattfand, rollt Kohlbacher den klassischen Keynesianismus wieder auf. Das freie Spiel von Angebot und Nach­frage, das auf dem Warenmarkt herrscht, dür­fe nicht auf den Arbeitsmarkt aus­gedehnt werden. Denn damit komme der volkswirtschaft­liche Kreislauf, in dem die Arbeiterin nicht nur Kostenfaktor, sondern auch Kon­sumen­­tin ist, ins Wanken. Nur das müssten die (Chefetagen der) Gewerkschaften be­tonen. Da eben – bei der Binnennachfrage – müsste und könnte der Staat das Wirt­schafts­wachstum ankurbeln. (2) Dass Wachs­tum, auch „künst­liches“, allein noch keine Lösung für das „Problem Arbeitslosigkeit“ garantiert, zeigte das Zusammensacken des IT-Booms zu Beginn dieses Jahr­hunderts. Ziel in der Marktwirtschaft ist aber der betriebs­wirtschaftliche Maximal­profit. Unter diesem Aspekt ist die Ausdehnung des „freien Spiels“ nur konse­quent, wird doch auf „dem Arbeitsmarkt“ die Ware Arbeits­kraft gehandelt – das anerkennen auch die Gewerkschaften, die das Lohn­system akzeptieren. Diese Konse­quenz kann nur durch Streik be- oder ver­hindert werden.

Dazu aber scheinen die ASG-Ini­tiatoren (noch?) nicht bereit. Sie pflegen vielmehr den Glauben an Staat und Partei. Die IASG stand zwar nicht in Verbindung mit einem Treffen Anfang März in der Berliner DGB-Zentrale, die – initiiert von ver.di-Funktionär Ralf Krämer – sich offen an der Schill-Partei orientiert und bei den näch­sten Bundestags­wahlen mehr als 20 Prozent der Stim­men ergat­tern will. So kam es zur medialen Sym­biose zweier Initiativen. Zwar sind die beiden Ansät­ze nicht so verschieden. IASG-Mit­­begründer Wendl (ver.di) jeden­falls befür­wor­tete am ersten Tag der Bericht­­erstattung eine Tendenz, die den Gewerk­schaften „im Parla­ment eine politische Kraft“ an die Seite stellen will. Auch die Option einer Parteineugrün­dung will man sich, so heißt es im 2. Rund­schreiben mit Verweis auf die SPD-Ausschlussverfahren, offen halten. Die bes­seren Sozialdemokraten wollen die Staats­maschine also in Gang halten: eine „wähl­bare“ Partei, sei es in Form der SPD oder einer Neugründung. Sie respektieren das Tabu des 20. Jahr­hunderts: nicht aus­zusprechen, dass wir nicht leben, um zu arbeiten.

Die Welle von mehre­ren hundert Leipzi­ger Unterschriften (unter‘m Aufruf) allein läßt allerdings noch keine Ein­schätzung über die Aussichten der IASG zu. Die Zeit wird‘s zeigen, allzu vielversprechend aber stehen die Zeichen der Zeit nicht.

A.E.

(1) Alle Materialien finden sich im Netz unter www.initiative-asg.de
(2) Schwer, sich vorzustellen, dass Bsirskes „Alter­nativen zum sozialpolitischen Kahlschlag der Regierung“, die er Mitte Mai veröffentlichen will, anders aussehen.

Sozialreformen

Editorial FA! #12

Hier ist er – der Platz im Heft, an dem mensch auch mal der Erleichterung Luft machen kann, dass der Frühling endlich da ist! Leider wurden Initiativen zur Einrichtung einer entsprechenden Rubrik für solche Gefühlsaufwallungen bisher immer erfolgreich abgeschmettert. Wer beim FA! mit Herzzerriss&Emotionalien kommt, muss ein Gedicht draus machen …oder halt das Editorial schreiben.

Ansonsten kann es dann schon mal passieren, daß so ein Text einfach im „Making Of…“ landet. Auf alle Fälle ist es höchste Zeit, die in den letzten Monaten teilweise etwas eingemotteten bzw. aus klimatischen Gründen nur konspirativ als Unterwäsche getragenen FA-Ripphemden wieder an den Start zu bringen. Clov&lydia recherchieren jetzt regelmäßig bei befreundeten Frührentnern in Stötteritzer Schrebergärten, Kater Murr streunt wieder unter­nehmungslustig durch die Südvorstadt und hat wie in jedem Frühjahr einen fetten Grundsatzkastrationsdiskurs am Hals und verdünnisiert sich lieber nach Süden. Redaxtreffen können wieder in un­gezwungener Atmosphäre auf einer IKEA-Decke im Auenwald stattfinden, ohne dass man sich gleich diverse Unterleibskrankheiten, für die auch wir noch viel zu jung sind, einfängt. Kurz – es weht ein angenehm lauer, aber frischer Wind durch die monatelang vermieften Redaktionsflure&-hirne.

Falls ihr dieses Heft nicht wie gewohnt von dem emsigen kao im Handverkauf oder anders aufgedrängt bekommt, so hat das hauptsächlich damit zu tun, dass auch wir uns teilweise aus dem Staub gemacht haben werden, um u.a. am emsigen Treiben im wilden Osten teilzunehmen. Grosse Dinge werfen, anläßlich der EU-Osterweiterung am 1. Mai, ihre was auch immer von dort herüber und voraus. Allerdings wollen wir uns nicht so sehr auf die institutionelle Ebene einlassen, sondern werden wieder meist aus dem Alltag der Leute dort plaudern. Desweiteren haben wir uns auch nicht nur auf die aktuellen Beitrittsländer beschränkt. Aufgrund des völlig unerwartet massenhaft eingegangen Materials zum Thema blieb uns sogar nichts mehr anderes übrig, als einen Teil des aktuellen incipitos anzumieten.

Der im letzten Heft so ausführliche behandelte Studistreik ist Mitte April nicht fortgesetzt worden. Das Streikkomitee macht jedoch weiter – und wir bleiben für Euch und uns dran. Auch gibt es Zuwachs bei den Rubriken. In unregelmäßigen Abständen, wird uns ein gewisser Albrecht Pallutke mit seinen, meist zu nächtlicher Stunde entstandenen, Gedanken zur Lage der Welt bedrücken.

Imbiss… ääh…Verkaufsstelle des 1½monats ist das Bistro-Delal – manchem vielleicht auch noch bekannt als der Imbiss-Irak. So ein neues Wetter macht bekanntlich auch Lust auf manches neue – so auch auf einen neuen Namen. Schon wieder eine Dönerbude, schon wieder ein Glatzkopf wurde im Redaktionskindergarten gemosert. Na und… wir haben jedenfalls keine Angst vorm Dönermann!

Vorfreude auf Olympia?

Am 18. Mai 2004 entscheidet das Internationale Olympische Komitee (IOC) in Lausanne, welche der neun Bewerberstädte sich offiziell um die Ausrichtung der Spiele 2012 bekämpfen dürfen. Es ist zu hoffen, dass die Stadt „der friedlichen Revolution“ das bleibt, was sie ist, ein Dorf, ein Dorf ohne Olympia.

Aus rein wirtschaftlichen Aspekten lässt sich konstatieren, dass es sich bei den Olympischen Spielen um eine sehr riskante Investition handelt. Denn ob sich der Wunsch nach Rentierung erfüllt, ist offen.

Eines der Totschlagargumente ist das der „geilen“ Arbeitsplätze. Doch dieses steht nur auf sehr dünnem Eis. Zwar ist davon auszugehen, dass vor den Spielen z.B. der Sektor der Bauwirtschaft temporären Zulauf bekommt. Jedoch ist dies einer der Bereiche, der für schlechte Arbeitsbedingungen, Dumpinglöhne und unsichere Arbeitsverhältnisse steht. Andere durch die Spiele wachsenden Wirtschaftszweige wie Tourismus und Sicherheitsdienste stehen diesem in nichts nach. Selbst die in Sachen Olympia überaus optimistische LVZ kann nicht mehr als 3500 Dauerarbeitsplätze (2005-2015) ausmachen.

Ähnliche Großereignisse wie frühere Olympische Spiele und die Expo zeigen deutlich die Infernalität (1) solcher Ereignisse. Gerade die Expoplaner und Stadtväter von Hannover können nach der Pleiteparty auf ihren immensen Schuldenberg anstoßen. Prost Birgit!

Durch die Darstellung Leipzigs als „junge, dynamische und aufstrebende Boom-Region“ des Ostens verschwinden die Probleme der Schrumpfung durch den ökonomischen Niedergang und der damit verbundenen Verelendung völlig aus dem Blickfeld.

Die mediale Wahrnehmung ist scheinbar wichtiger als der nachhaltige Erfolg. Nur so lässt sich der massive Realitäts­verlust und Größen­wahn von „Wolle“ & Co erklären. Jahrelange Miss­er­folge und Probleme der Stadt­verwaltung sind somit auf ein­mal nichtig. Bei einer Zustimmung von 104,2 % der Leipziger zu Olympia kann auch kein noch so kleiner Zweifel am Erfolg ent­stehen. Auch die geplante nachhaltige Nutzung der erforderlichen teuren Bauten ist mehr als fragwürdig.

Ob sich Olympische Spiele aus materieller Sicht für eine Stadt lohnen, hängt von vielen verschiedenen Faktoren und deren Zusammenwirken ab.

Eine nicht unerhebliche Rolle spielt das mediale Erscheinungsbild vor und vor allem während der Spiele. Kommen diese gelangweilt und provinziell über die Flimmerkiste, oder ist während der Zeit der Spiele gar eine internationale Krise, so dürften kaum die zu erwartenden Touristenzahlen nach dem Event aufgehen. Dann fällt Leipzig sehr schnell wieder in seinen Dornröschenschlaf. Genauso zweifelhaft ist, ob die erhofften ausländischen Kapitalinvestitionen nach Leipzig fließen.

Bei den ständig ungeklärten Einnahmen durch Fernseh- und Übertragungsrechte lässt sich diese Finanzierung nur schwer kalkulieren. Denn ohne genug Moneten aus dem Medienrummel, rechnet sich der ganze Spaß doppelt nicht.

Zusätzlich zu all den Zuschüssen und Investitionen muss der Steuerzahler für den Olympiatraum tief in die Tasche greifen. Leipzig sammelt außerdem im Umland von 50 Kilometern Olympiageld, ein Euro pro EinwohnerIn.

Zwar könnte die Region Leipzig vorübergehend von Olympia profitieren, doch steht dieses Geld dann nicht mehr für andere Ausgaben zur Verfügung.

Die ersten Unternehmen in Leipzig wittern schon das große Geschäft. So verschickt die LWB derzeit schon einmal Mieterhöhungsbescheide an MieterInnen, die in Gebieten wohnen, in denen die Nachfrage größer wird, als das Angebot.

Durch die Sportspiele werden mit einem umfassenden Sicherheitskonzept die jetzt schon massiven Kontroll- und Überwachungsmechanismen gigantisch ausgebaut. Es ist davon auszugehen, dass einmal installierte und mit der modernsten Software ausgerüstete Kameras auch nach dem Massenevent weiter wachen dürfen. Das Beispiel der Schließung der einzigen legalen Graffitiwand in Leipzig (2) zeigt deutlich, den zu erwartenden Umgang mit nonkonformen Gesellschaftsgruppen.

So genannte „Schandflecke“ und Orte, die nicht in die Welt der sterilen Shoppingmeilenkultur passen, werden dem Image der sauberen, sicheren und Service bietenden Stadt zum Opfer fallen. Ein paar bunte, alternativ anmutende Vorzeigeprojekte zur Selbstdarstellung als Weltmetropole werden daran nichts ändern.

Linke politische Kulturprojekte, die sich auch noch die Frechheit herausnehmen, nicht dem heiligen Orakel Olympia zu huldigen, werden den Druck schon verstärkt im Vorfeld zu spüren bekommen.

Schon heute gibt die aktuelle Austragungsstadt der diesjährigen Spiele, die griechische Hauptstadt Athen, knapp anderthalb Milliarden Euro für Sicherheitsvorkehrungen aus. Dies ist mehr als die Hälfte der veranschlagten Gesamtkosten.

Aber nicht nur Zitate in der LVZ wie „Außerdem sind politische Meinungsäußerungen in der Olympiastadt verboten“ [W. Tröger, Mitglied im IOC und Ehrenpräsident des NOK] weisen in diese Richtung. Auch Kampagnen wie STATTBild, die offiziell zur Denunziation von SprayerInnen aufrufen oder die stark gestiegene Anzahl der Gefängnisinsassen in Leipzig aufgrund von Schwarzfahrern lassen so manches erahnen.

Es gilt zu zeigen, dass Olympia nicht das Allheilmittel ist. Schluss mit den olympischen Träumereien!

Heinz

(1) Inferno: schreckliches, unheilvolles Geschehen von dem viele Menschen gleich-zeitig betroffen sind.
(2) Die „Wall of Fame“ wurde am 20. Oktober 2003 vom Leipziger Bürgermeister Holger Tschense in Zusammenarbeit mit dem Aktionsbündnis“STATTBild“ sowie mit dem OPEL-Autohaus ersatzlos geschlossen.

Lokales

Frag nicht, was Du für Dein Land tun kannst!

Er hat‘s geschafft! Er ist in der Presse! Halleluja! Die Gebete wurden erhört!

Montagsdemonstrationen. Immer wieder einen Besuch wert! Nicht nur um gegen Sozialabbau zu demonstrieren, sondern auch um populistische Propaganda zu hören. Schuldzuwei­sungen nach oben, Neidbe­kundungen und "Wir sind das Volk"-Tiraden sind halt nicht genug für eine soziale Be­wegung. Da fehlt die positive Vision, die sich nicht in den Ketten der Realpolitik verfängt, und eine fundierte Analyse der Gesellschaft!

Den Vogel schießt da der Pfarrer Führer ab. Er hätte gut daran getan, seine Ankün­digung sich zurückzuziehen, wahr­zu­machen, anstatt nationale Platt­heiten zu verkünden. Schon seltsam: die einstige Wende-Ikone Pfarrer Führer rechter Rand der Montagsdemo?

Sein Grundproblem ist die Verwechslung von Nächstenliebe und menschlichen Zusammen­halts mit natio­naler Einheit! Wenn er meint, daß oben und unten gemeinsame Sache machen sollen und dies mit dem Volksbegriff kombiniert, dann kann da nur eine "Volks­gemeinschaft" bei rauskommen. Der mit der Nazisprache (z.B. "Völkischer Beobachter") belastete Volks­begriff ist wohl für den wider­ständigen und emanzipativen Ge­brauch un­­wie­der­bringbar verloren, die ursprüng­liche Bedeutung als Sammel­bezeichnung für untere Schichten nicht wieder­herzu­stellen. Wie einfach es ist, von der einen auf die andere Bedeutung umzu­schwen­ken, zeigten die Montag­demos 1989, wo sich der emanzipative "Wir sind das Volk" mühelos in das nationale "Wir sind ein Volk" trans­formieren ließ. Wen wundert es da noch, daß der Pfarrer versucht mit der abgelatsch­ten Frage "Was kann ich für mein Land tun?" in die bürgerliche Presse zu kommen, die im Namen des Landes, des Standorts und der Nation den Sozialabbau forciert. Nicht nur die Religion auch der Nationalismus ist „Opium des Volks“!

kater francis murr

Kommentar

Mit Zelten gegen Grenzen

Iranische Flüchtlinge protestierten mit Mahnwachen gegen die Asylpolitik

AsylbewerberInnen sind sowohl in den Heimat- als auch in den Fluchtländern Repression, Unterdrückung und Diskriminierung ausgesetzt.

Am 9. März begannen in Leipzig und Frankfurt am Main Mahnwachen gegen die Flüchtlingspolitik der BRD und EU. Mit den zehntägigen Mahnwachen woll­ten wir einerseits erreichen, dass sich die Menschen mit der bedrückenden Situa­tion der Flüchtlinge in Deutschland und der Menschen in der islamischen Republik Iran auseinander setzen. Andererseits wollten wir damit gegen den ständig zunehmenden psychischen, sozialen und finanziellen Druck auf Asylanten und Flüchtlinge protestieren.

Die Anzahl der iranischen Asylsuchenden in den westlichen Ländern hat sich nach der iranischen Revolution im Jahre 1979 bis jetzt permanent vermehrt. Aber die aktuell sinkende Quote der Anerken­nungen von Asylbewerbungen für die iranischen Hilfesuchenden steht im ekla­tan­ten Widerspruch zur Situation im Iran. Außerdem haben die westlichen Regie­run­­gen – wie die deutsche, französische, australische, spanische, britische u.s.w. – in den letzten Jahren die Situation für die Asylanten immer mehr verschlechtert. In manchen Ländern ist nur der Name des Asylrechts geblieben.

Besonders schwierig ist die Lebens­situation der nicht anerkannten AsylbewerberInnen: die obliga­torische Unterbringung in den Asyl­bewerberheimen, die Spannungen zwischen den Menschen verschie­dener Herkunft verursacht, die Ernährung durch Essenspakete („es­sen alles was vom Amt kommt“, manchmal verfaulte Lebensmittel und teurer als in den Supermärkten), die niedrigen Taschengelder (monatlich 40 Euro für Zugelassene, 10 Euro für Gedul­dete, dies sind verschiedene Stufen der Aufenthaltsgenehmigungen), einge­schrän­kter Zugang zu medizinischer Behand­lung, keine Bewegungsfreiheit und Arbeitsberechti­gung etc. Das ist unsere Situation hier.

Die Lage und die rechtliche Situation der AsylbewerberInnen aus dem Iran wird überdies dadurch erschwert, dass der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten gegen die Mehrzahl der Anerkennungen Rechtsmittel einlegt und auch in laufenden Verfahren nicht die Praxis im Umgang mit Menschen im Verfolgerland, sondern die herrschende Meinung über die Möglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland zur Beherbergung von Hilfesuchenden in den Fokus des Verwal­tungs­handelns schiebt.

Während der Mahnwache haben die Protestierenden mit Leipziger Passanten gesprochen und ihnen ihre Situation und ihre Forderungen erläutert. Es wurden mehr als 600 Unterschriften zur Unterstützung gesammelt. Viele der Passanten wussten überhaupt nicht, unter welchen schweren Bedingungen die Flüchtlinge in Deutschland leben. Die Protestierenden haben bei Minusgraden abwechselnd in einem großen Zelt auf dem Leipziger Augustusplatz übernachtet. Es gab außerdem eine Ausstellung mit Fotos und Plakaten, die die bedrückende Situation der Arbeiter, Studenten, Frauen, Minderheiten und Andersdenkenden darstellte.

Eine Petition sowie ein offener Brief wurden an Adressaten wie das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, die Verwaltungsgerichte in Sachsen, verschiedene Parteien und andere zuständige Ämter und Beratungsstellen gesendet. Es gibt aber immer noch keine Antwort.

ein Beteiligter

Inhalte der Forderungen:

1. Eine Anerkennungspraxis, die sich an der massiven Verletzung der Menschen­rechte im Iran orientiert.

(Die Anerkennungsquoten für den Iran sind in den vergangenen Jahren gesunken, ohne dass sich die Situation im Iran verbessert hat.) Abschaffung des Bundes­beauftragten für Asylange­legenheiten, der gegen die Mehrzahl der Anerkennungen Rechtsmittel einlegt.

2. Kostenlose Rechtsvertretung im Asylverfahren.

3. Ein Abschiebestopp für Asylbewerber aus Ländern wie dem Iran, in denen gewaltsame Ausein­andersetzungen an der Tages­ordnung sind.

4. Abschaffung der Regelungen über „sichere Drittstaaten“ im deutschen und europäischen Asylrecht.

5. Unterbringung in Wohnungen, Leistungen in der Regel als Bargeld, Bewegungsfreiheit, freie Arztwahl und medizinisch nötige Behandlung, Arbeitsberechtigung.

6. Eine Stichtagsregelung für alle seit längerer Zeit ohne einen sicheren Aufent­halt lebende Asylbewerberinnen und Asylbewerber, mit dem Ziel der Erteilung eines verfestigten Aufenthaltsstatus.

weitere Informationen beim Flüchtlingsrat: fr@fluechtlingsrat-lpz.org

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