Archiv der Kategorie: Feierabend! #14

Die GroßstadtIndianer (Folge 12)

Kein Krieg, Kein Gott, kein Vaterland III

Das Plenum hatte es so beschlossen! Eine große Demo gegen Sozialabbau und Reform, da konnte nicht einfach zugesehen werden. So hatten sich am Morgen Kalle, Moni, Finn, Schlumpf und Boris etwas mißgelaunt aufgemacht

„Haut ab mit Eurem Scheiß!!!“ das überdrehte Kreischen von Kalles Stimme versetzt mich sofort in höchste Alarmbereitschaft. ‚Das kommt von da vorn!’ Meine Hände graben sich einen schmalen Weg durch die Klumpenmenge Menschen. ‚Was hat er bloß?’ Ein breiter Rücken schiebt sich zur Seite und gibt den Blick auf die Szenerie frei. Kalle steht mit erhobenen Fäusten und einem puderrot aufgeschwollenen Kopf gegenüber von drei jungen Typen. Überall auf der Erde sind Flugblätter verteilt. Einige von uns. Viele andere. Ich hebe eins auf. ‚Nationale Front bilden!’, ‚Der Bonze rafft, was das deutsche Volk schafft!’, ‚Deutsches Geld fürs deutsche Volk!’ … „Der kriegt gleich eine rein, der Bolschewistenmolch!“ … ‚Nazis, verdammt!’, ich werfe das aufgehobene Papier weg und versuche zu Kalle zu kommen. Dessen Lage hat sich erheblich verschlechtert. Es sind noch zwei aufgetaucht. Ein Pärchen, nur ihr Verhalten verrät sie. Kalle hat in seinem Eifer die Brenzlichkeit der Situation unterschätzt. Er wütet immer noch. „Keine Ahnung habt ihr! Fangt erst mal an zu denken!!!“ Der eine ist ihm jetzt schon ziemlich nah. Bin noch zu weit weg … zum Eingreifen. Doch welch Glück, wie aus dem Nichts tauchen plötzlich Locke und Puschel auf und schieben sich zwischen die Kampfhähne; hinter den fünf Nationalisten noch einige vom Wohnprojekt. Auch Finn, Moni und Schlumpf sind dabei. Ich atme erleichtert durch. Während Locke den Nazis klar macht, dass sie sich verdrücken sollen (O-Ton: Ihr habt die Wahl, entweder ihr sucht das Weite oder wir verarbeiten Euch zu Deutschländer-Würstchen), versuchen Schlumpf und Finn, Kalle zu beruhigen. Ich trete hinzu. „Das kann doch nicht war sein, dass die sich hier blicken lassen, und keiner tut was, die stehen alle rum, manche findens sogar richtig, diese Landratten, die trauen sich hierher, mit einem Riesenstapel Propaganda, das gibt’s doch nicht, das… „Kalle Mann, halt doch mal die Luft an!“, „Das hätte auch ins Auge gehen können.“ Schlumpf nickt. „Das waren nicht alle. Es sind noch viel mehr hier. Zwei Dutzend mindestens. Und die kommen ganz gut an. Noch was. Hinterm Rathaus. Drei Wasserwerfer, zwei Räumpanzer und die ganze Gasausrüstung. Ich glaub, die bewerten das mit den Montagsdemonstrationen und `89 etwas über.“ Schlumpf grient zu Kalle. „Ein mutig Herz in deinem Hühnerbrüstchen schlägt, Jenosse.“ Lachen. Moni kommt mit Puschel. „Danke.“, Kalle ist wieder bei Bewusstsein. „Keen Ding, aber paßt off, aus der Demo kriegen wir die nich, die haben zuviel Rückhalt. Vielleicht greift die Polente och zu, aber die sind vorsichtig und auf Grün-Weeß is keen Verlaß!“ „Daß die meisten auf der Kundgebung hier nicht weiter als bis zur Staatsgrenze denken, ist schlimm genug. Aber daß die aktive Kameraden hier Flugblätter verteilen und rekrutieren können, verdammt!“ Puschel kratzt sich an der Stirn. „Wie auch immer Kalle, zuviel Aufregung ist nicht gut fürs Herz. Wir werden noch jeden brauchen.“ „ Ja…“

Irgendwer zupft mir schon wieder an der Jacke. Ich drehe mich jäh um und sehe auf eine altes Mütterchen hinunter. Am Stock. Fettig-weißes Haar, hastig hochgesteckt. In ihren Fingern hält sie eins der Flugblätter. „Sind die von Ihnen?!“ Noch ehe ich erklären kann, wie die Sache liegt, bricht die Freundlichkeit aus ihrem Gesicht und verzieht sich zu einer grimmigen Falte. „Früher hat man es euch wenigstens noch angesehen. Halunkenpack! Wir haben doch nicht all das durchgemacht, damit ihr den Wahnsinn wiederholt.“ Ich stammle: „Verzeihung, aber …“ Vergebens. „Widersprich mir nicht, auch noch Höflichkeit heucheln. Ich werd nachholen, was deine Mutter versäumt hat.“ Sie schwingt den Stock über ihren wutentbrannten Kopf und ehe ich die Gefahr begreifen kann, trifft mich ein gezielter Hieb oberhalb der Schläfe. Volltreffer! Weiche Knie. Alles dreht sich. Stimmfetzen. Nichts. … das Blut schlägt gegen die Innenwände der Adern. Togg. Togg. Betäubung. Verschwommene Bilder.

Schlumpf grinst mir häßlich verzerrt entgegen. Unterhalb des Rauschens höre ich seine Stimme – fremd, aufgeregt. Togg. Togg. „Boris, Boris! Du musst aufwachen. Boris. Du weißt nicht was hier los ist!“ Er bleibt mir fern. „Die Gewerkschaftler haben eine Barrikade errichtet! Boooriiis!!! Du musst auf die Beine.“ Ich blicke mich um. Überall stehen schwere Schwaden zwischen den Häusern. Toggtogg. Brummen. Stimmgewirr. Gas!!! Es schießt mir plötzlich in den Kopf. Völlig benommen taumle ich auf. „Looss! Boooorriiis! Schnnnelll…“ Stille. Lichtschatten. Finsternis. „Boooriss!!!“ Grausamer Traum tobender Kräfte – Strahlendes Eiswasser fegt über die in wilder Flucht wimmelnde Flut. Steine prasseln auf harten Plasteschutz. Togg. Der stechende Geruch von Gas. Togg. Etwas zieht mich fort. Eine mechanische Stimme hackt in monotonen Silben über das versprengte Menschengetümmel. Unter brummendem Motorengeräusch bebt die Straße, schwingt die Luft. Ketten zermalmen Kieselsteine, fressen sich über sandigen Untergrund. Zwischen Hüben und Drüben klafft eine verwaiste Lücke. Togg. Togg. Der abflachende Kampf hat seine Spuren in das aufgerissene Pflaster gesät. Flugblätter wälzen sich träge am Boden. Verhalten rauchende Hülsen gefährlicher Geschosse mischen sich verstohlen unter den vielerorts harmlosen Schlachtenmüll. Kalle, von stundenlanger Anspannung ausgezerrt, tritt aus einem dicht kauernden Pulk, entblößt die mutige Brust. Sein ächtender Blick schweift über die gleichförmig anonyme Mauer, die hinter der plastegrünen Wand mürbe Leben atmet. Blitzartiger Lichtkegel nimmt ihn ins Visier. Tosender Aufschrei taucht die Szene erneut in chaotisches Licht. Werfen. Schlagen. Menschengedränge. Togg. Angst. Aus der übergewaltigen Mauer reckten sich zwei Arme sehnend nach dem Ende. Fiebertraum. Hitze. Der Schlaf.

(Fortsetzung folgt.)

clov

…eine Geschichte

Gesellschaft für eine lustigere Gegenwart

Ich traf mich mit den drei jungen Männern von der „Gesellschaft für eine lustigere Gegenwart“ im Freisitz vom Conne Island. Hinter uns wurde geskatet, nebenan Sportzigaretten geraucht. Nur hatte ich leider vergessen, mir selbst was zu trinken mitzunehmen und musste entsprechend tief in die Tasche greifen.

?: Ihr wart zuvor im Bündnis gegen den Krieg aktiv und habt nun euren Schwerpunkt auf Überwachung und Repression verlagert. Wie kam es dazu und was für einen Zusammenhang seht ihr zwischen diesen Themen?

A: Es gibt da eigentlich mehrere Linien, die uns dazu gebracht haben. Eine davon war das Dilemma des Bündnis gegen den Krieg, sich gegen Politiken zu wenden, die nicht im Einflussgebiet sind, sprich wenn man was gegen einen Krieg machen will, der in erster Linie von den USA und dem Irak geführt wird, dann hat man natürlich wenige Angriffsmöglichkeiten von Leipzig aus. Daraus sind Überlegungen entstanden, sich vor Ort „Sparring-Partners“ also Ansprechpartner für seine politischen Forderungen zu suchen. Zum anderen ging es auch darum zu zeigen, dass Gewalt und Militarisierung nicht nur Probleme der US-amerikanischen Außenpolitik sind, sondern auch im Alltag greifen. Und Leipzig ist bekannt für seine repressive Stadtpolitik durch das Pilotprojekt der Videoüberwachung. Deshalb wollten wir dort ansetzen. Aber wir beschäftigen uns aber auch noch mit anderen Phänomenen der Militarisierung der Gesellschaft, beispielsweise haben Mitstreiter des Bündnisses gegen Krieg zur 13. Panzerdivision recherchiert, wo in Leipzig, vor Ort, Auslandseinsätze vorbereitet werden.

B: Wir haben damals im Bündnis überlegt, auf welchen verschiedenen Ebenen es wichtig ist, sich mit dem Irak-Krieg oder eben den neuen Weltordnungskriegen auseinander zu setzen und wir haben unseren Schwerpunkt auf die spezifischen Veränderungen der Weltpolitik nach dem 11. September gesetzt und dazu gehört eben auch, dass dieses Datum eine Markierung für eine Welle von anti-freiheitlichen Gesetzen, Verschärfungen und Repression darstellt. Da besteht ein direkter Zusammenhang zwischen diesen Kriegen und der Verschärfung der Gesetzgebung zur inneren Sicherheit. Aber natürlich hat das auch mit persönlichem Interesse am Thema Überwachung zu tun.

?: Ist Kameraüberwachung eine Form von Gewalt?

A: Jein. Kameraüberwachung soll soziale Probleme nicht lösen, sondern unterdrücken und verdrängen. Das würde ich schon als Form von Gewalt bezeichnen, wenn auch nicht in erster Linie als „schmerzliche“ Gewalt…

B: Das kann schon schmerzlich sein, im Winter frieren zu müssen, wenn man sich sonst im Bahnhof aufgewärmt hat. Aber es ist schon eine andere Gewalt als beispielsweise Repression gegen Globalisierungskritiker.

C: Es ist auf jeden Fall strukturelle Gewalt und diese wird durch Kameraüberwachung insgesamt gefestigt.

A: Jedenfalls ist es eine repressive Ordnungsmaßnahme, die zeigt, wie eine Gesellschaft ihre BürgerInnen behandelt und ordnet.

?: Wollt ihr euch weiterhin auf Videoüberwachung konzentrieren?

B: Das war ein Einstieg, der in Leipzig Sinn macht wegen der Pionierrolle, die hier polizeilicher Videoüberwachung einnimmt. Außerdem sind das noch sichtbare, – nicht wirklich offene – aber sichtbare Veränderungen, die stattfinden. Deshalb haben wir damit angefangen und diesen Videoüberwachungs-Stadtplan erstellt. Jetzt geht es uns aber darum, dieses Phänomen in die Gesamtheit der Überwachungstechnologien und -praktiken einzubetten.

A: Videoüberwachung fällt den Leuten noch auf und sie sind sensibilisierbar, während Fragen der Rasterfahndung und der biometrischen Erfassung noch ziemlich unbekannt sind. Es ist viel schwieriger, diese abstrakten Phänomene zu vermitteln, und schließlich mit seiner Kritik gehört zu werden. Insofern war Videoüberwachung ein guter Aufhänger für eine Kritik an der Überwachungsgesellschaft.

B: Ich würde nicht den Begriff „Überwachungsgesellschaft“ verwenden, ich bin immer skeptisch, wenn irgendwelche „Gesellschaften“ ausgerufen werden. Überwachung ist eine Art, wie soziale Probleme und Krisen gedeckelt werden, aber sie ist nicht der Kern des Ganzen.

A: Jein. Ein weiteres Problem ist immerhin, dass ständig neue Technologien entstehen, wo noch keine Diskussion geführt wird, inwieweit diese einen Eingriff in das, was wir als Persönlichkeitsrechte wahrnehmen, mit sich bringen. Diese Technologien werden unser Leben und unser Verständnis von Privatheit auf jeden Fall verändern.

?: Womit wollt ihr dieses Thema Verbindung bringen?

A: Wir werden versuchen sichtbar zu machen, was in der Ordnung des Stadtraumes sonst noch wirkt, also Kontrollen von Polizei, privaten Sicherheitsdiensten, Bahnschutz und Ordnungsamt. Über Leipzig hinaus sind die neuen Pass- und Visabestimmungen von Bedeutung

B: Ich würde sagen, es gibt eine globale Entwicklung durch neue Bedrohungsszenarien, politische Konzepte und technische Möglichkeiten, die sich lokal aber dennoch unterschiedlich auswirken. Man muss die Rahmenbedingungen im Auge behalten aber trotzdem an konkreten Punkten ansetzen, wo man Widerstandsperspektiven hat.

?: Angesetzt habt ihr beispielsweise mit diesem Stadtrundgang zur Videoüberwachung. Was war da eure Intention und wie bewertet ihr ihn im Nachhinein?

B: Wir wollten verschiedene Mechanismen der Überwachung hautnah erlebbar machen, wie man gefilmt wird, überwacht wird und Datenspuren hinterlässt, Potentiale für Ausgrenzung und Repression aufzuzeigen aufzeigen. Da kann man auch legalistisch argumentieren, dass in die Grundrechte eingegriffen wird.

A: Diese Potentiale zur rassistischen und sozialen Ausgrenzung werden im Moment zwar wenig wahrgenommen, können aber in Zeiten ökonomischer und sonstiger Krisen schnell ausgeschöpft werden.

B: Zur Einschätzung: Ich bin im Großen und Ganzen zufrieden, weil es eine Menge positiver Reaktionen gab und erstaunlich viel Medienpräsenz. Das merkt man an diesem Interview, aber auch im ND, der jungen Welt und der LVZ kamen Berichte, wobei wir bei der LVZ gar nicht zufrieden damit sind, was sie geschrieben haben. Aber wir haben es geschafft wahrgenommen zu werden und auch den vielen Lesern der LVZ klarzumachen: „Wir finden das total Scheiße, was da läuft“, das ist schon mal etwas. Wo ich gespalten bin, ist die Tatsache, dass wir bei vielen, die nicht von vornherein kritisch eingestellt waren, es nicht geschafft haben zu überzeugen. Da kam dann immer wieder das Argument: „Aber ich hab doch nichts zu verbergen, dann kann mir das doch egal sein.“ Da ist so ein Grundvertrauen, dass die gesammelten Daten schon nicht gegen einen verwendet werden.

A: Es ist auch viel erwartet, alle in zwei Stunden zu überzeugen. Aber die Stimme der Kritik wurde wahrgenommen und das kann auch einen Prozess des Nachdenkens in Gang bringen. Es lief jedenfalls besser als unsere Veranstaltungen im Vortrags-Format, wo kaum jemand kam. Diese Form scheint mir ein bisschen eingeschlafen zu sein. Es war gut, mal wieder die Kritik in die Stadt zu tragen.

C: Die Vorankündigungen in der LVZ und so waren ja auch offen gehalten, es war nicht klar, dass wir dagegen sind. Es war ein Stadtrundgang mit Information und dadurch konnten wir auch über die Szene hinaus Leute erreichen.

?: Ich habe mich gewundert, dass ihr euch eher positiv auf den Datenschutzbeauftragten bezogen habt, so mit: „Diese Polizeikamera ist nicht genehmigt, wir werfen hier jetzt einen Brief an den Datenschutzbeauftragten ein, und der bringt das dann in Ordnung“.

B: Nie!

A: Ich dementiere. Ich denke, dass der Datenschutz in Deutschland den Weg bereitet hat für Videoüberwachung, eben durch dieses Pilotprojekt, das der damalige, von uns nicht geliebte, sächsische Datenschutzbeauftragte Thomas Gießen genehmigt hat. Er hat später für einen Datenschützer noch eine seltsame Berühmtheit erlangt, als er nach dem Kofferfund im Dresdener Bahnhof mehr Videoüberwachung gefordert hat und kritisierte, das die Kameras nicht 24 Stunden am Tag aufzeichnen.

B: Zu dieser Eingabe, die wir gemacht haben: Ich denke, dass es wichtig ist, auf allen möglichen Ebenen, wo man was machen kann, das auch zu tun. Eine prinzipielle, radikale Kritik zu formulieren und trotzdem eine Eingabe an den Datenschutzbeauftragten zu machen ist für mich überhaupt kein Widerspruch. Außerdem dachten wir, das wäre eine Handlung, die von den Medien gut transportiert werden kann und Leuten den Einstieg ins „Kritisch-Sein“ leichter macht.

?: Was habt ihr jetzt an weiteren Aktivitäten vor?

C: Also zunächst ist ein sechsteiliges Radioprojekt angedacht, wo wir mit Interviews und so verschiedene Aspekte dieses Themas näher beleuchten wollen.

B: Wir wollen am Beispiel einer Stadt mit unterschiedlichen Schwerpunkten zeigen, wer ausgegrenzt wird und was für Institutionen dabei welche Rolle spielen. Dann gibt es noch ein zweites Konzept, ein Workshop oder eine Podiumsdiskussion, die sich eher auf einer theoretischen Ebene mit den gegenwärtigen Entwicklungen auseinandersetzt. Was gibt es für neue Techniken, was für Anlässe und Vorwände für Repression auch gegen Linke und Globalisierungskritiker. Es soll um die Rahmenbedingungen gehen und um Perspektiven des Widerstandes. Aber beides, Radioprojekt und Workshop klappen nur, wenn sich noch Leute finden die sich beteiligen wollen.

?: Wie kann man euch unterstützen?

B: Man kann natürlich einfach bei uns mitmachen, am besten ist aber, wenn sich jemand für eins unserer Projekte interessiert. Es gibt da ganz konkrete Möglichkeiten: Man kann unsere Kamerakarten aufhängen, man kann für das Radioprojekt recherchieren oder auch selbstverantwortlich oder mit uns zusammen einen Beitrag machen.

A: Wir sind eigentlich für jede Form von Zusammenarbeit offen.

?: Ja, schön. Vielen Dank. Dann stoppen wir mal die Überwachung und ich mach das Tonband aus.

B: Oh, so haben wir das noch gar nicht gesehen…

maria

Kontakt: gflg@gmx.de
www.leipziger-kamera.cjb.net

Interview

Wie wollen wir leben?

Stellen wir uns diese Frage noch? Wer ist dieses Wir? Sind wir es, die betäubt durch Konsumwelten schweifen, erstickt von Regelwerken, sprachlos gegen die körperliche und psychische Gewalt? Sind wir es, die uns in der Masse ohnmächtig und isoliert fühlen? So nur dabei statt mittendrin. Hat dieses Wir den Jugendträumen abgeschworen, dem Schicksal sich anheim gestellt? Ist es durch Unterwerfung, Angst, Verzweiflung ausgeprägt? Spätestens im tristen Arbeitsleben wird dieses Wir real, der Zwangscharakter der Gesellschaft deutlich.

Wo sind nur Visionen? Wo die echten Utopien? Was bietet uns die Zukunft, mir und dir? Was verbirgt sich schließlich hinter jenem Wörtchen: Politik?

Das Fragen allein bleibt müßig, wenn nicht auch Taten folgen. Das ist trotz aller negativen Aspekte deutscher Wendezeit – trotz Volksgeheul und Bananenrausch – herhorzuheben: Daß nur Gemecker und Wählengehen zu wenig ist; daß Organisierung, Solidarität, Protest und Widerstand hingegen wichtig sind. Diese Erkenntnis pflanzt sich fort. Nicht nur auf Demos, aber auch … montags und dienstags, ‘89 und auch heute. Zuletzt: Der Widerspruch ist offensichtlich. Die einen Menschen auf der Straße, die anderen weit, weit weg und abgeschirmt. Das alles auch noch demokratisch nennen, da biegen sich die Balken des Begriffs von Politik. Wir schließlich müssen wissen, wie wir leben wollen. Darüber streiten, diskutieren und verhandeln. Die Frage nach dem Wir wird über jede gesellschaftliche Alternative entscheiden!

rezi

Kommentar

KommilitonInnen oder KollegInnen?

Billig-Lohn-ArbeiterInnen aller Herkunft vernetzt Euch

Den ganzen Tag schlafen, sich des Nachts auf Partys rumtreiben und über Geld nicht nachdenken müssen? Entgegen dem gängigen Vorurteil trifft dies auf StudentInnen leider oft genau so wenig zu, wie auf die meisten anderen Menschen auch. Immerhin zwei Drittel der Studierenden in der BRD müssen gelegentlich oder dauerhaft zusätzlich zum Studium arbeiten. Klassischerweise im Niedrig- und Billiglohnsektor, wo man Studierende besonders gern einstellt, da diese ihre Krankenversicherung schon mitbringen. Den Niedriglohnsektor findet man eigentlich überall, man muss sich nur etwas umschauen: Die junge Bedienung von der Tankstelle, der Bratwurststand auf zwei Beinen, der Rikschafahrer, die Kurierfahrerin, der Regaleinräumer, die Kassiererin oder auch die Bedienung in der Kneipe. So gesehen trifft man tatsächlich viele Studierende im Nachtleben, die einen hinter dem Tresen, die anderen davor.

Dass sich der Mythos vom entspannten Studentenleben dennoch hält, liegt nicht zuletzt daran, dass so wenig zu seiner Abschaffung getan wird. Dieser Mythos steht dem gemeinsamen Eintreten aller Betroffenen für Verbesserungen entgegen und dient dazu, Unterschiede zu betonen und Gemeinsamkeiten zu verdecken. An beiden Arbeitsplätzen, sowohl im Seminar als auch beim Lohnarbeiten wird der Zusammenhang zwischen diesen selten wahrgenommen. Weder von den arbeitenden StudentInnen, noch von deren KollegInnen.

Die studierenden ArbeiterInnen wechseln ihre Rolle je nach Tageszeit; morgens im Seminar ist man KonsumentIn von vorgefertigtem Wissen, mittags konsumiert man im Supermarkt oder der Mensa vorgefertigtes Essen und abends ist man DienstleisterIn oder ProduzentIn. Dazwischen liegen scheinbar Welten. Mehr noch als bei Festangestellten oder JobberInnen (1) haftet studentischen ArbeiterInnen die Annahme an, sie arbeiteten für ihre Sonderwünsche.

Weit davon entfernt sich diesen Luxus leisten zu können, beweist die Realität das Gegenteil. Strom- und Telefonabstellungen wegen unbezahlten Rechnungen werden häufiger, in den Supermärkten werden zunehmend Grundnahrungsmittel geklaut, die Leipziger Gefängnisse sind mit Leuten gefüllt, die keine Fahrkarte hatten und sich die 40 Euro Strafgebühr nicht leisten können und mit Taxifahren Geld zu verdienen wird auch immer härter.

Es gibt mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen den Angestellten. Zwar bleibt der Unterschied bezüglich der Krankenkasse, dafür sind JobberInnen und studentische JobberInnen aber in der selben Lohnsteuerklasse, bewegen sich auf dem selben Arbeitsmarkt, haben kaum unbefristete Verträge, malochen für einen Niedriglohn (3-8 Euro pro Stunde), sind leicht zu feuern und werden immer mehr.

Um auf diese Umstände zu reagieren, ist es mehr als angebracht, sich zusammen zu finden und auszutauschen. Es ist irrig, davon auszugehen, man würde nur kurz (während des Studiums) jobben und anschließend in eine Festanstellung oder gut bezahlte Arbeitslosigkeit geraten.

Eine Möglichkeit, aus der Vereinzelung auszubrechen und sich nicht immer nur allein durchzubeißen, ist das Projekt „Jobalarm“ der FAU Leipzig und des Bildungssyndikats. „Jobalarm“ ist eine Email-Liste, in die alle eingeladen sind sich einzutragen, die sich austauschen und im Problemfall gegenseitig unterstützen wollen. Solidarität organisieren und wissen wo sie gefragt ist!

Die FAU Leipzig (Freie ArbeiterInnen-Union) ist eine Basisgewerkschafts-Initative, die nach föderalistischen und nicht-hierarchischen Prinzipien funktioniert und international vernetzt ist. Das Bildungssyndikat wird von denen gebildet, die sich basisgewerkschaftlich im Bildungsbereich organisieren.

Siehe auch www.fau.org, www.fau.org/ortsgruppen/leipzig, www.fau.org/bildungssyndikate
(1) JobberInnen – diejenigen, die sich entweder noch während ihrer Schulzeit oder gleich nach dem Schulabschluss oder Zivildienst, oder nach einer Zeit der (Jugend)Arbeitslosigkeit in unregelmäßigen meist befristeten oder ungeschützten Arbeitsverhältnissen verdingen, sowie diejenigen, die das Studium aus finanziellen Gründen aufgegeben haben.

Lokales

Ausgang ungewiss…

Und sie bewegt sich doch, die Gesellschaft. Und zwar chaotisch. Wenn Hartz IV der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, dann wusste zuvor jedenfalls niemand, wie tief das Fass ist. Seit über einem Jahr mobilisieren politische Gruppen gegen den Sozialabbau, informieren über die Hartz-Gesetze und versuchen „die ArbeiterInnen“, „das Volk“ oder „die Menschen“ von der Notwendigkeit des Widerstandes zu überzeugen. Es gab Montagsdemos, eine große Demo in Berlin ohne DGB, einen europaweiten Aktionstag mit DGB, mutlos organisierte Arbeitskämpfe von Metallern (1) und Journalisten und Studentenstreiks in einigen Städten. Aber nichts zündete. Am Morgen jeden Tages war wieder in den Zeitungen zu lesen, die Arbeitszeiten müssten erhöht werden, um Arbeitsplätze zu schaffen. Diese unverschämten Lügen und die dreiste Art und Weise, wie die politische Klasse diese Protestansätze aussaß, steigerten das Gefühl der Ohnmacht bei Aktivisten und Betroffenen. Eine Weile sah es so aus, als hätten die „Eliten“ des Widerstandes jede Hoffnung aufgegeben, die Menschen auf die Barrikaden zu bringen, während die politische Klasse selbst darüber staunte, was ihre Untertanen sich gefallen lassen.

Im Grunde genommen ist wenig passiert in den letzten Monaten und die Veränderungen, die mit Hartz IV im Januar auf uns zukommen, waren seit langem für alle absehbar. Scheinbar gleichgültig passieren Passanten Plakate die sagen „Agenda 2010 sichert den Wohlstand“. Niemand glaubt das wirklich, niemand weiß was tun.

Doch plötzlich passiert etwas. Irgendjemand meldet in Magdeburg am 26.7. eine Demo an. Es ist kein Politiker und auch kein Berufslinker. Zwei Wochen später beginnen bundesweit Montagsdemonstrationen, eine Woche später am 16.8. gehen Medienberichten zufolge bundesweit 90.000 Menschen auf die Straße und machen von sich Reden. Plötzlich können die Proteste nicht mehr ignoriert werden, weiten sich aus. Keiner weiß genau, was da los ist, wer da demonstriert. In einigen Städten rufen eher rechte Gruppierungen zu den Demos auf, in anderen Sozialforen, Sozialbündnisse, PDS, Gewerkschaften und linksradikale Gruppierungen. Alles in Allem sind es einfach nur Leute, die auf die Straße gehen. Es ist derzeit schwer, sie näher zu bestimmen und es gibt keine Gruppe, die sie kontrolliert. Nazis und rechte Sekten, die versuchen Flyer zu verteilen, konnten bisher zumindest in Leipzig erfolgreich marginalisiert bzw. abgewiesen werden. Neben diversen „Politsekten“, Parteien und DGB-Gewerkschaften, mischen sich auch libertäre Zusammenhänge und die FAU (2) ein. In Leipzig liegt das Durchschnittsalter ziemlich hoch. Die Leute nehmen interessiert die diversen Flugblätter entgegen, schauen nicht erst auf die Abkürzung der veröffentlichenden Gruppe. Die etablierten Parteien können hier aber sicherlich nicht punkten. Wenn von der Bühne gegen das Parteiensystem oder den Kapitalismus gewettert wird, ist der Applaus groß. Offensichtlich braucht mensch keine drei linken Szenezeitschriften abonniert zu haben, um irgendwann festzustellen, dass der Fehler im System liegt.

Trotzdem ist es offen, wie sich die Proteste weiterentwickeln. Radikal sind sie derzeit sicherlich nicht. Die Forderungen richten sich an das demokratische System und es erschallen „Wir sind das Volk“-Rufe. Dieser Ausruf macht deutlich, dass sich auf die ideologische Grundlage der bürgerlichen Demokratie (3) bezogen wird, zeugt aber gleichzeitig auch von einem immensen Vertrauensverlust gegenüber der Praxis der Herrschenden. Nicht nur gegenüber der Regierung ist Misstrauen eingekehrt, sondern auch gegenüber den anderen, die Politik gestalten: den Gewerkschaften, den Medien und den etablierten Widerstandsgruppen. Sie zeugen davon, dass sich die Menschen doch nicht so einfach kontrollieren und die gesellschaftliche Dynamik sich nicht so einfach verstehen lässt. Die Gewerkschaften versuchen nun, den Entwicklungen hinterher zu rennen, ihr Terrain wieder zu erobern und die Proteste unter Kontrolle zu bekommen. Die politische Klasse versteht überhaupt nichts, will die Sache weiter arrogant aussitzen, redet von einem „Vermittlungsproblem“ und startet eine Propaganda-Kampagne. Die bürgerlichen Medien käuen reflexartig Politikerzitate wieder. Doch plötzlich wirkt das alles etwas hilflos, denn da gehen Leute auf die Straße, mit dem Gefühl, die Macht zu haben. Wie die Proteste ausgehen werden, ist immer noch offen. Ob es der „Linken“ gelingt, Einfluss zu nehmen oder gar einen „Linksruck“ zu induzieren, ist zweifelhaft.

Denn einerseits zeigen diese Proteste, wie tief der Glaube an die bürgerliche Demokratie doch in beiden Teilen Deutschlands verwurzelt ist. Andererseits zeigen sie auch, dass die Menschen trotz dieser Ideologie selbst denken und sich nicht einfach vom ersten Flugblatt überzeugen lassen. Und zuletzt liegt noch der Notfallplan in der Schublade, mit dem sich das politische System über diese Krise retten kann: Die Abspaltung einer Partei „links“ von der SPD, die dann alle wieder glücklich wählen können. Ob Linkspopulisten aus der Bildzeitung wie Lafontaine und Gysi das kleinere Übel sind, ist jedoch stark zu bezweifeln.

Maria Rock, Stand 18.8.

(1) Der Metaller-Streik an sich war zwar kämpferisch, das Verhandlungsergebnis jedoch enttäuschend (siehe www.labournet.de)
(2) FAU = Freie ArbeiterInnen-Union
(3) „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (GG, Art. 20 (2) )

Lokales

STÖRfaktor Milbradt

Zum Pressegespräch „Campus-Neubau“ an der Universität Leipzig

[Montag, 09. August 2004, 15 Uhr. Pressegespräch im Hörsaalgebäude] Geschlossene Veranstaltung. Unileitung und Landesregierung haben eingeladen. Eine Pappmaché-Wüste ist aufgebaut. Ein kleines Buffet. Drei, vier Reihen Stühle. Nervöse Verwaltungangestellte laufen auf und ab. Dann der Auftritt. Grotesk! Milbradt und Rektor Häuser kommen über den Campus. Umringt von einem Schwarm Journalisten und einigen Personenschützern. Dahinter erschallt ein junger Stimmenchor und trällert eine Volkswaise. Der Uni-Chor? Welch Wahn! Aber nein! Es sind Handzettel verteilende BüSos (Bürgerrechtsbewegung Solidarität). Ich kann mir den Zusammenhang der Szene nur mit der Fliegen-Scheiße-Theorie erklären.

Aber was will ein CDU-Ministerpräsident in einer SPD-dominierten Stadt mitten im heißen August? Was an einer Universität, an der die aktive Studierendenschaft seit Jahren gegen seine Bildungspolitik und insbesondere auch gegen die Person des ‚Landesvaters‘ selbst opponiert? Mitten in der prüfungsintensivsten Zeit? Milbradt will sich profilieren! Kurz vor den Landtagswahlen am 19. September. Er weiß, die Volksparteien haben Legitimationsprobleme. Auch in Sachsen.

Das Kalkül ist dabei ganz einfach. Der von langer Hand geplante Neubau des Campus an der Universität Leipzig ist eines dieser typischen Bauprojekte, die man so ziemlich jedem als positive Eigenleistung verkaufen kann. Als Bildungsinvestitionen in die Zukunft, als Subvention in die örtliche Bauwirtschaft, direkt in Arbeitsplätze sozusagen, zudem die Eigenwirkung von solch‘ repräsentativen Bauten, sowas zieht quasi direkt Investitionen nach sich. Bei soviel persönlichem Einsatz sollte die Unileitung noch einmal überlegen, ob man nicht die Mensa Georg-Milbradt Mensa nennt oder die Kirche: Milbradt-Kirche.

Es geht alles ganz schnell. Die Aktion ist gut vorbereitet. Durch ein Hintertürchen hinein. Das Transparent ausgerollt. Warten. Milbradt redet. Und los! Mehr als ein Dutzend StudentInnen stürmen das Podium und unterbrechen die Rede. „Inhalte statt Fassaden!“ so die Forderung. Der Landesvater ist pikiert, versteht nichts: Das sei kein guter Stil, man tue doch soviel und hätte gar keine Pläne bezüglich der Studiengebührenproblematik, sei gesprächsbereit. Die StudentInnen wissen es besser. Da nützt auch die gebetsmühlenartige Wiederholung Milbradts nichts. Hier ist derzeit kein Reden möglich.

Die Störung der politischen Routinearbeit ist gelungen, die Presse für kurze Zeit aus ihrem sanften Schlummer aufgeweckt. Der Abzug läuft auch reibungslos. Zum Abschied gibts noch richtig auf die Ohren. Es ist eine Soundanlage vorbereitet, auf der ein Sample aus Baulärm und Phrasen Milbradts über den ganzen Campus schallt. Die StudentInnen sagen laut „Adieu“ und ahnen schon: Der wird wohl wiederkommen!

clov

Lokales

Leit(di)vision

Deutschland führt wieder Krieg…

…und in der „Friedenshauptstadt“ Leipzig sitzt die Einsatz-Zentrale für den Sommer 2004 (1).Um in der neuen Weltordnung mitmischen zu können, baut Deutschland seine Armee radikal um. Seit Jahren wird das Kernstück der neuen deutschen Großmachtambitionen geschaffen: eine mit modernsten Waffensystemen ausgerüstete, global einsatzfähige Interventionstruppe. Wichtiger Bestandteil der Umstrukturierung ist der Aufbau so genannter Leitdivisionen. Eine dieser Divisionen ist die 13. Panzergrenadierdivision mit Sitz in der Leipziger Olbricht-Kaserne. Dort, im Stadtteil Gohlis, werden die Kriege mit deutscher Beteiligung im Sommer und Herbst 2004 vorbereitet und angeleitet. Doch weder die radikale Linke, noch die Friedensbewegung scheren sich bisher sonderlich darum.

Am 15. Mai starteten die ersten 700 SoldatInnen von Leipzig nach Kabul – von der Stadt mit feierlichem Zeremoniell verabschiedet und von keinen KriegsgegnerInnen gestört. Dies wird sich in Zukunft öfter wiederholen, denn hier entstand im letzten Jahr für geschätzte 40 Millionen Euro eines von bundesweit fünf Schulungs- und Koordinierungszentren für Besatzungstruppen, ohne das deutsche Auslandseinsätze über längere Zeit nicht organisiert werden könnten. Da sich bei vergangenen Einsätzen gezeigt hat, dass die auf Blockkonfrontation geschulten deutschen Truppen Schwierigkeiten haben, mit den unübersichtlichen Gemengelagen in Bürgerkriegen umzugehen, werden den Leitdivisionen umfangreiche Schulungsaufgaben auferlegt. In Leipzig bzw. auf dem Truppenübungsplatz Altmark in Sachsen-Anhalt lernen Soldaten, wie man Hausdurchsuchungen durchführt, Demonstrationen auflöst und auch bei tropischer Hitze einen kühlen Kopf behält. Doch die Hauptaufgabe der Leitdivision besteht darin, die Truppe zu koordinieren und mit Personal zu bestücken.

Auslandseinsätze sind mit enormen Stress und Verschleiß der beteiligten SoldatInnen verbunden, weswegen diese halbjährlich ausgewechselt werden. Damit die Dauerrotation von Truppenteilen nicht zum Chaos führt, wurden die beteiligten Einheiten an zentralen Standorten zu Leitdivisionen zusammengefasst, die reihum das notwendige Besatzungspersonal stellen. Im Einzelnen sind das die Panzerdivisionen in Hannover, Düsseldorf und Sigmaringen sowie die Panzergrenadierdivisionen in Leipzig und Neubrandenburg. Von Leipzig aus werden SoldatInnen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Bayern nach Afghanistan und auf den Balkan geschickt. Nach dem „humanitären“ Dienst wird die Truppe die nächsten zwei Jahre für kommende Einsätze geschult, bis die Funktion der Leitdivision wieder an die Pleiße wechselt.

Heute am Hindukusch und morgen in der ganzen Welt

Den Hintergrund dieser Einrichtungen bildet die Bundeswehrreform, die die internationalen Einsatzmöglichkeiten der bis dato noch auf Landesverteidigung ausgerichteten Bundeswehr effektivieren und ausweiten soll. Unter dem Motto „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt“ erfolgt deshalb seit Dezember 2002 die tiefgreifendste Umstrukturierung der Bundeswehr seit ihrer Gründung. Seit Mai 2003 ist dies in neuen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ (VPR) verbindlich festgeschrieben: „Um seine Interessen und seinen internationalen Einfluss zu wahren (…) stellt Deutschland (…) Streitkräfte bereit.“

Deutschland wird in den VPR v. a. als Opfer von Bedrohungen dargestellt, ebenso deutlich wird aber auch, dass es um Wirtschaftsinteressen geht, die militärisch durchgesetzt werden, denn: „die deutsche Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen (…) Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen (…) zusätzlich verwundbar.“ Aus der Schlussfassung der VPR wurde zwar das im Entwurf enthaltene Präventivkriegskonzept gestrichen, die gewählte Formulierung lässt aber alle Interpretationen zu: „Die sicherheitspolitische Lage erfordert eine auf Vorbeugung und Eindämmung von Krisen und Konflikten zielende Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die das gesamte Spektrum sicherheitspolitisch relevanter Instrumente und Handlungsoptionen umfasst.“

Die Bundeswehr ist diesen Anforderungen schon nachgekommen, die Reform ist in vollem Gange. 130.000 SoldatInnen sind insgesamt für Auslandseinsätze vorgesehen. Derzeit ist Deutschland mit 7.640 SoldatInnen der zweitgrößte Truppensteller nach den USA. Den Großteil stellt das Heer. Als Eingreifkräfte stehen eine Division für Luftbewegliche Operationen und die Division Spezielle Operationen bereit. Teil der letzten ist auch das Kommando Spezialkräfte, welches in Afghanistan erstmals ins Blickfeld der Öffentlichkeit geriet. Die Leitdivisionen, z.Z. also Leipzig, dienen als so genannte Stabilisierungskräfte für längerfristige Einsätze.

Maulhelden? Nicht mal das!

Wie verhält man sich in Leipzig dazu? In der Stadt, die während des Irakkrieges zur Hauptstadt der Friedensbewegung gemacht wurde, herrscht beim Thema „Ausbau Leipzigs zur internationalen Interventionszentrale“ Desinteresse und Schweigen. Ein Großteil der „KriegsgegnerInnen“ sieht in den Stadtoberen die größten Friedensengel. So durfte OBM Tiefensee schon zu Beginn des Irakkriegs auf den Montagsdemos gegen die USA wettern und gleichzeitig das friedliebende Wesen der Stadt preisen. Währenddessen treibt Parteifreund Struck die Aufrüstung der Bundeswehr zur global einsatzfähigen Armee weiter voran. Tiefensee hat auch kein Problem damit, zur Olympiabewerbung und demnächst bei den anstehenden 15-Jahr-Feiern das Phantom der „friedlichen Revolution“ zu beschwören, während sich SoldatInnen in der Olbricht-Kaserne auf die nächsten Auslandseinsätze vorbereiten. In Leipzig stehen Militär und Stadtobere Seite an Seite. ‚Die Olbricht-Kaserne liegt nicht nur im Herzen der Stadt, sie liegt den Bürgern auch am Herzen“, chirurgt der OBM in der Leipziger Volkszeitung.

Doch auch linke Gruppen haben sich bisher kaum mit den Kriegsstrukturen vor ihrer Haustür auseinandergesetzt. Die Zusammenarbeit während des Irakkrieges überstand die inhaltlichen Differenzen nicht lange. Insbesondere über das strategische Verhältnis zur Friedensbewegung, zerbrach das recht breite Bündnis, welches linksradikale Anti-Kriegs-Arbeit leisten wollte. Die beiden Hauptorganisatoren waren das Bündnis gegen Krieg und das Bündnis gegen Rechts. Ersteres fiel unter anderem wegen der enttäuschten Hoffnung auf linke Intervention in die Friedensbewegung in Lethargie und scheiterte jüngst bei dem Versuch, eine Handvoll Leute zur Störung des ersten Truppenauszugs aus Leipzig zu mobilisieren, letzteres macht derzeit in Ideologiekritik und will „Die neue Heimat Europa verraten“. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird also die Bundeswehr in Leipzig beim Kriegführen auch weiter nicht gestört werden.

Matthias Bernt, Andreas March, Torsten Schleip und Peter Ullrich

(1) Dieser Artikel ist eine überarbeitete Variante von „Kriegerische Leitkultur“, jungle world Nr.31, 21.7.2004

Lokales

Wer nicht kämpft, hat auch nichts zu lachen!

Als ich ein kleiner Junge war, glaubte ich an die parlamentarische Demokratie, so unerschütterlich wie ich an die Allwissenheit meiner Eltern glaubte. Ich wuchs. Und mit jedem Zentimeter sammelten sich Zweifel. Skepsis gegenüber den Konventionen, den Normen, Regeln und gegenüber den Gesetzen. Ich traute meinen Augen nicht. Der Widerspruch zwischen dem Idealismus meiner Jugend und den Erfahrungen, die ich zwischen Gesellschaft und Staat lebte, schwoll langsam und grub eine erste Falte in meine Stirn. Mißtrauen geriet mit zwischen Selbsteinschätzung und elterliches Wissen. Ich emanzipierte mich von ihrer Autorität.

Kein Verdruss, denn ich konnte ja bald wählen gehen. Ja was? Was eigentlich? Meine Lebensform in ihrem Verlauf? Die Rahmenbedingungen meiner Projekte und Taten, meines Handelns? Nein. Die Möglichkeiten meiner Wünsche, Träume und Bedürfnisse? Nein. Spielräume und ihre Sanktionen? Territorien und ihre Verfassung? Zeiten und ihre Gesetze? Nein. Nein. Nein. Nicht mal Staat und Status konnte ich wählen. Sondern lediglich eine der dutzend konkurrierenden Parteien und ihre ListenkandidatInnen. Von denen lediglich zwei überhaupt in der Lage (also mit der Macht ausgestattet) schienen, die Durchsetzungsgeschichte meiner Ideen zu schreiben. Die Autorität dieser Gegenüber wirkte wie ein Anachronismus, ein Überbleibsel einstiger Frontlinien, wie ein zahnloser Dinosaurier. Eher lächerlich denn ernst zu nehmen. Mein junges Blut stürzte sich in das Getümmel und kochte dann sehr schnell über. Jedes Kreuz stimmte verdrießlicher. Die Tatenlosigkeit bewirkte schlechtes Gewissen. Die Pandemie* des Parlamentarismus.

Der Traum war aus. Keine dieser Parteien und Koalitionen war willens und mächtig, meine Vorstellungen ins Werk zu setzen. Im Gegenteil! Ein neuer Widerspruch erwachte. Der zwischen den Versprechen der parlamentarischen Politik und der Wirklichkeit derselben. Ich rieb mir einen zweiten Faltenberg auf die Stirn und überlegte lange, bis ich mich entschloss, dieses Spiel nicht mehr weiter mitzumachen – mitzuwählen, als ginge es darum, den neuen Superstar des allerneusten Hollywood-Streifens zu bestimmen. Nein Schluß! Ich war reif genug, für mich selbst zu stehen. Der Weimarer Putsch wär wohl auch gelungen, hätten noch mehr gewählt. Das war einfach nicht das Problem. StammwählerInnen und Überzeugungstäter hielten den Status quo.

Doch konnte ich denn allein Rahmenbedingungen setzen, Möglichkeiten ausschöpfen – Territorium und Spielraum, Verfassung und Verlauf meiner Lebensform bestimmen? War ich überhaupt allein? Ich schaute mich um, in Geschichte und Gegenwart und musste nicht lange suchen. Überall lebten Menschen, die so dachten und fühlten wie ich. Mein Vertrauen wuchs mit dem Tatendrang. Wir machten gemeinsame Sache, direkt und gegenseitig. Wir verzichteten auf Päpste und Könige, Politiker, Bürokraten und Polizisten. Wir setzten Rahmen, griffen nach Möglichkeiten und bestimmten deren Verlauf. Insoweit es gelang, fühlte ich mich frei und mir war wohl. Doch ich musste auch feststellen, dass der Parlamentarismus mit all seinen Organen viel viel mächtiger war als wir, die WählerInnen weit in der Überzahl. Die süße Verführung der parlamentarischen Versprechen umspielte immer wieder meine Sinne und Gedanken, benebelte sie. Ich blieb standhaft gegen diese Altersschwäche, auch wenn meine ganze Generation zu kippen schien. Meine Freunde gaben mir Kraft. Auf meiner Stirn indes entstand eine dritte Hautverwerfung, die von dem Widerspruch rührte, nicht mit der größten verfügbaren Macht zu kooperieren (und deren Versprechen zu glauben), um meine Ideen durchzusetzen, sondern mit der sehr kleinen (der nicht institutionalisierten). Daß zudem sich beide Mächte nicht nebeneinander durchsetzen ließen, ohne alle Vorstellungen besserer Verhältnisse aufzugeben. Und trotzdem! Die Hoffnung wurde stets durch die kleinen Erfolge der Selbstbestimmung genährt. Durch symbolische Siege und handfeste Feiern, durch gelungene Aktionen und erreichte Ziele. Durch ernsthafte Kritik, Ironie, Sarkasmus und auch heilsamen Zynismus.

So fahre ich im hohen Alter selbstbewusst über meine dritte Falte auf der Stirn, streiche sie liebevoll in Richtung der Grübchen über meinen Mundwinkeln und beginne in glücklicher Erinnerung still zu lächeln. Kämpfe!

clov

* Pandemie – weitreichende Epidemie

Politik & Prosa