Archiv der Kategorie: Feierabend! #21

Den Anarchismus verstehen lernen…

Wie kann mensch den Anarchismus verstehen? Muß mensch dazu herausragende Theoretiker wie Proudhon, Bakunin oder Kropotkin gelesen haben? Kann sich jedeR selbst was zusammenbasteln, wie das oftmals lapidar erklärt wird: den Anarchismus gäbe es gar nicht, jedeR hat seinen eigenen. Beides stimmt und stimmt nicht.

Anarchismus versus Marxismus?

Zum einen beruft sich der Anarchismus nicht auf die geschriebene Wahrheit bestimmter Schreiberlinge, Revolutionäre und Diktatoren, wie es viele sogenannte „Marxisten“ tun, die ihre Glaubenssätze aus den Werken Marx-Engels oder Adornos ziehen, orthodoxere Semester Lenin oder Trotzki vor sich hertragen und die ganz Reaktionären sich Mao oder Stalin auf ihre Fahnen schreiben. Nein, der Anarchismus braucht eine solche Ikonographie und/oder Wahr(heits)sagerei nicht, mit deren Zitaten man dann die Objektivität seiner eigenen Weltanschauung belegen kann, und deren Autorität die eigenen Unzulänglichkeiten und alle möglichen menschenfeindlichen Handlungen und Haltungen rechtfertigen kann und dies in der Vergangenheit auch nicht zu knapp getan hat. Doch auch ohne diese Zitate hat marxistische und universitäre Schulung bei dem Einen oder Anderen einen Objektivismus hervorgebracht, einen Wahrheitsdünkel, der sich über den Menschen wähnt oder gar abschätzig herabblickt – eine Haltung, die sicher nicht unwesentlich zur Entfremdung der Linken vom Alltag der ArbeiterInnen, der so genannten „normalen Menschen“ beigetragen hat. Allein diese Terminologie sagt schon alles über die eigene Verortung und die Mauer zwischen der so genannten „radikalen Linken“ (die stark marxistisch beeinflusst ist) und dem „normalen Menschen“ aus. Dann verwundert es nicht, dass sich Anarchisten und Anarchosyndikalisten oft nur ungern in die erste Kategorie einordnen lassen, weil man dann ja auch diese Mauer mit einkauft. Aber bevor hier ein falscher Eindruck entsteht: der Anarchismus ist der marx’schen Analyse und dem adorno’schen Denken gegenüber nicht feindselig eingestellt (auch wenn manche oft meinen das Kind mit dem Bade ausschütten zu müssen), er widersetzt sich aber durchaus elitären Tendenzen und diesem Wahrheitsdünkel. Der aktuelle Anarchismus, und von nichts anderem soll hier die Rede sein, weiß auch, dass man von Marx oder Adorno durchaus lernen kann.

Anarchismus als soziale Idee

Zum anderen ist Anarchismus auch nicht – nach jedermann/fraus Gusto modellierbar. Ansichten, es gäbe gar keine Wahrheit und man könne sich nicht mehr klar positionieren, werden durch die Realität von Hunger, Kriegen, Lohnarbeit und psychische Zerstörung der Menschen ad absurdum geführt. Und es stellt sich auch die Frage, ob Egoismus, Zerstörungstrieb und asoziales Verhalten sich durch den Anarchismus fassen lassen. Ich würde darauf beharren, dass im Gegenteil der Anarchismus äußerst sozial ist. So lässt sich das Credo des kommunistischen Anarchismus mit der Forderung „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ verbinden. Dieses Credo ist einer der Grundpfeiler des aktuellen Anarchismus – und es belegt die Menschenorientiertheit, denn es stellt ihn und nicht den Staat, sie und nicht die Partei oder die Kirche ins Zentrum. Sie, die Menschen sind Dreh- und Angelpunkt und damit auch die Sozialität, denn Menschen sind soziale Wesen, die allein jämmerlich zu Grunde gehen würden. Nichts vom Chaos, dem alten Vorurteil über die „Anarchie“ ist darin enthalten. Im Gegenteil wird oft von der „Anarchie als die Mutter aller Ordnung“ gesprochen, eben weil sie keine Umwege geht und natürlich auch um dem alten Vorurteil entgegenzutreten.

Anarchismus als Verbindung von Weg und Ziel

So direkt wie das Ziel, soll auch der Weg sein, er soll das Ziel so weit als möglich bereits vorwegnehmen. So wie sich in anarchistisch inspirierten sozialen Gemeinwesen die jeweils Betroffenen (ihren Fertigkeiten, Bedürfnissen und Betroffenheiten gemäß) selbst um ihre Angelegenheiten kümmern ohne einen Befehlshaber über sich zu haben, so kann die Befreiung nur von den Menschen selbst erkämpft werden, niemand kann das für einen erledigen. In diesem Sinne stellte 1936 der Kongress der spanischen anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT in Tradition der ersten Arbeiterinternationale fest: „Die Emanzipation der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein.“ Die Geschichte hat diese Sichtweise bestätigt, sie hat gezeigt was passiert, wenn man die eigene Befreiung in die Hände von Parteien oder des Staates legt. Aktuell heißt das, es bringt nichts eine Partei zu wählen in der illusionären Hoffnung, sie würden über den Staat Lohnarbeit und Kapitalismus abschaffen oder auch nur den Sozialstaat erhalten, geschweige denn eine Assoziation freier Menschen schaffen.

Emanzipation per Gesetz?

Eine absurde Vorstellung und doch scheinen nicht wenige dieser Illusion zu erliegen. Dies liegt auch darin, dass diese Aktivisten immer nur die Anderen befreien wollen und ihnen ihre eigene Emanzipation gar nicht in den Sinn kommt. Sie machen Stellvertreterpolitik indem sie versuchen mit Politikern der Parteien, Funktionären der Einheitsgewerkschaft und anderer Verbände zu kungeln und zu paktieren, um einzelne Forderungen durchzusetzen und für andere Verbesserungen zu erreichen. Wenn das eigene Leben im negativen wie im positiven in die Hände Anderer gelegt wird, stärkt das unsere Abhängigkeit und Ohnmächtigkeit. Mensch muß kein großer Revolutionär sein, ein wenig Selbstbewusstsein reicht meistens schon, sich nicht abhängig und formbar zu machen. Formbar, weil die Alternativen die uns gegeben werden in Wahrheit nur scheinbar sind (mensch nehme nur die „Wahl“ zwischen den Parteien) und dass diese „freie Wahl“ wenn wir diese Wahl annehmen, unsere Ohnmacht bedeutet, in der wir Kompromiss für Kompromiss geformt werden, dahingehend unsere Abhängigkeit und unsere Rolle als „Opfer-Täter“ zu akzeptieren. Ein System, dass keinen Ausweg kennt, uns müde macht, und dazu bringt einfach zu funktionieren, allein schon um am Leben zu bleiben.

Allein, zu zweit, zu vielen!

Weil wir allein ausgeliefert sind, können wir nur durch gemeinsames Agieren und Diskutieren und den Zusammenhalt derer die weniger zu verlieren haben bzw. ihres Funktionierens überdrüssig geworden sind, dieser Ohnmacht entgegenwirken.

Weg und Ziel orientieren sich am Menschen, an dir und mir, nicht an der hohen Politik, nicht an den Wichtigtuern und Gauklern. Wir wollen uns nicht mit Mitleid begnügen oder jahrelang über Dinge jammern, auf die wir keinen Einfluß haben, wir reden uns nicht ein, dass wir stillhalten müssen, weil es anderen noch schlechter geht, wir betreiben kein Stellvertretertum als Aufopferung und Selbstverleugnung. Wie können wir anderen helfen, wenn wir nicht in der Lage sind uns selbst zu helfen? Es geht um uns! Insofern ist der Anarchismus schon selbstbezogen. Er unterscheidet sich vom Bereicherungsegoismus dadurch, dass mir meine Befreiung ohne die anderen 1. keinen Spaß machen würde und 2. gar nicht oder nur stark eingeschränkt möglich wäre. Anarchismus ist also Liebe zum Menschen oder noch besser Liebe zum Menschsein.

Dem Anarchismus ging es immer viel eher um Verständnis und die Haltung der Menschen, als um die eigene ideologische Systematisierung. Es gibt Menschen die anarchistisch denken oder handeln und nie auf die Idee kommen, das mit dem Begriff Anarchismus zu verbinden und es gibt Menschen die sich Anarchisten nennen oder genannt werden, und die nicht den Hauch damit zu tun haben. Die Grenzen sind unscharf, ähnlich dem Versuch festzustellen, wann etwas ein Haufen ist und wann ein Häufchen, oder wann etwas orange ist und ab wann rot wird.

Anarchisten sind normale Menschen, keine Berufspolitiker. Um Anarchist zu sein, muss man das eigene Leben nicht opfern, sondern kann und soll es besser leben. Du brauchst keinen Marx und keinen Bakunin gelesen zu haben. Was aber wichtig ist: eine gewisse Portion Selbstbewusstsein, Konsequenz und Liebe. Sich nicht mehr beugen, nicht mehr zu Boden schauen, nicht mehr klein beigeben, sondern einfordern sich auf gleicher Augenhöhe zu verständigen und zusammenzuleben.

kfm

Portale zum Thema:
• www.anarchismus.at
• www.free.de/schwarze-katze
• www.anarchismus.de
• www.fau.org • www.graswurzel.net
• www.hierarchnie.de.vu

Utopie & Praxis

JUKss – Experimente der Selbstorganisation

Der Jugendumweltkongreß ist, nach dem großen Jugendumweltfestival ‚Auftakt‘ im Sommer 1993 in Magdeburg, aus den Bundeskongressen von der Naturschutzjugend und der BUNDjugend hervorgegangen. Dabei hat er sich im Laufe der Jahre einiger institutioneller Fesseln entledigt, die ihm von den großen Umweltverbänden auferlegt wurden und wird seit dem 6. JUKss 1999 in Göttingen von einer offenen und ehrenamtlichen Vorbereitungsgruppe organisiert. Auch der Umweltbegriff hat sich verschoben. Denn Umwelt ist im derzeitigen Verständnis die Welt um Dich herum, also nicht nur Natur, sondern auch Soziales, Ökonomisches, etc. Eine folgenschwere Verschiebung, öffnet sich doch so der Fokus auf eine gesamtgesellschaftliche Misere, die sich in verschiedenen Problemfeldern ausdrückt. So gerieten, neben der Umwelt im engeren Sinne, dieses Jahr vor allem Bildung und Selbstorganisation in den Blickpunkt.

Diesmal wurde der JUKss von einer auf zwei Wochen verlängert und fand vom 25.12. bis 7.1. im Oberstufenkolleg in Bielefeld statt, einer Experimentalschule aus den 70ern. Deren Aktionsfläche besteht aus verschiedenen Ebenen, die über „Wälle“ von einander abgegrenzt und mittels Treppen miteinander verbunden sind. Eine der Ebenen besteht aus fünf Glasräumen in denen viele Workshops stattfanden und auch die „ökologische Plattform“ beheimatet war. Auf einem Plateau wurde ein Chill-Out- und Sorgencafe eingerichtet, sowie ein Basteltisch und die „bildungskritische Plattform“, auf der Ausstellungen und Materialien zu Schule und Erziehung und beständig Arbeitskreise zu selbstorganisiertem Lernen, Schulkritik, oder auch ein Workshop zu Anarchosyndikalismus und Bildung stattfanden. Auf einem anderen Plateau fand sich die „antispeziesistische Plattform“, Infostände und ein Postkartenbasteltisch. Auf der dritten Plattform konnten Jonglierbälle gebaut und eigene Buttons hergestellt werden. Daneben gab es die große Cafeteria, in der das Kochkollektiv „Rampenplan“ dreimal täglich veganes Essen ausgab und auch Kaffeepausen eingelegt werden konnten. Zudem gab es ein Areal für Infostellwände, einen Computerpool im Flur, einen Hör- und Kinosaal und last but not least vier Turnhallen zum Übernachten und Duschräume mit „Duschampeln“, wo der/die BenutzerIn einstellen konnte, ob allein geduscht werden wollte, oder nur „männliche“, nur „weibliche“ Personen oder ganz egal wer reinkommen durfte. Es ist naheliegend, dass Menschen da in den Konflikt mit eingeschliffenen Normen kommen. Aber es bietet zumindest die Möglichkeit Verhaltensformen zu ändern und Kategorisierungen ganz praktisch zu überdenken.

Das Spannende am Jukss sind neben der Selbstorganisation und der Inhalte, die kulturrevolutionären Keime, die dort Raum haben zu wachsen. was bedeutet, daß auch die Art des Zusammenlebens ins Zentrum rückt und öfter auch Beziehungen und tieferliegende persönliche Verwerfungen und Funktionsweisen der Beziehungsökonomie in unserer sozialen Umwelt thematisiert werden. Nicht die zehntausendste Kampagne oder das „Militanz-Checkertum“ führt zu Emanzipation, sondern Solidarität in der Lohnarbeit, Erfahrung in Selbstorganisation und die Befreiung vom Beziehungsängstekorsett dieser Gesellschaft, wobei mit Beziehungen nicht nur traditionelle Zweierbeziehungen gemeint sind, sondern die unterschiedlichen und mannigfaltigen Formen sich aufeinander zu beziehen, die Menschen eingehen und die durch die Dominanz der „Komplettpakete“* ihrer Spannung beraubt werden.

Der JUKss bzw. auch die anderen Projekte und Initiativen, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen, sind für mich sehr spannende mit anarchistischen Ansätzen erfüllte Organisierungsversuche, auch wenn der Anarchismusbegriff in der Eigendefinition nicht vorkommt. Das macht aber nix. So hat sich der Anspruch ein Offener Raum, ein Freiraum zu sein, erfüllt, jede und jeder hatte die Möglichkeit das JUKss zu gestalten. Wie hoch der Selbstorganisationsgrad war, darüber dürften die Meinungen auseinandergehen. Zwar löste sich die Orgagruppe zu Beginn auf, dafür übernahmen dann die bekannteren Jukssis die (unfreiwillige) Orga-Funktion, indem sie als AnsprechpartnerInnen hergenommen wurden. Nach der Abschaffung des Plenums auf dem letzten JUKss in Magdeburg, wurde dann von manchen das Fehlen von Möglichkeiten bemängelt, mal alle ansprechen zu können. Hier kommt zum Tragen, daß, wenn das Plenum abgeschafft wird, nicht nur die zentrale Entscheidungsfindung wegfällt, sondern auch der Inforundlauf. Dafür gab es dann die vielen Info-Stellwände und Interessentreffen, die das zentrale Plenum ersetzen sollten. Diese wurden nicht in dem Maße ins Zentrum gerückt, wie das für einen stärkeren Selbstorganisationsgrad wünschenswert gewesen wäre, sind sie doch wichtig um das Jukss als Rahmen aufrecht zu erhalten und allgemeine Interessen zu artikulieren, Grenzüberschreitungen anzusprechen, die Reinigung oder das Kochen zu organisieren, finanzielle Engpässe zu diskutieren. Ist natürlich immer die Frage was bleibt: Beziehungen, die Menschen eingegangen sind, manche Lösungsansätze für Probleme, die Erfahrungen, die es weiterzutragen gilt.

Es lohnt sich die Ergebnisse und die Auswertung zu Gemüte zu führen und andere Sichtweisen zum gelaufenen JUKss kennenzulernen, schließlich waren insgesamt um die 400 Leute vor Ort, die die sozialen Dynamiken und Selbstorganisationsprozesse unterschiedlich wahrgenommen haben.

kater francis murr

www.jukss.de
* festgezurrte„Komplettpakete“ aus Reden, Kuscheln, Sex – Drei Dinge in einem, das geht nun wirklich nicht, wobei bei der Abkehr von solchen Normierung die Kommunikation darüber sehr wichtig ist; mehr dazu u.A. auf www.beziehungsweise-frei.de.vu

Utopie & Praxis

Krieg Um Welt

Welcome all Refugees from capitalist War

Fluchtursachen und ihre „Bekämpfung“

Weltweit sind ganze Regionen zu Kriegsgebieten verkommen. Hier wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen ZivilistInnen und KombattantInnen. Massaker an eben Unbeteiligten dienen der ethnischen Mobilmachung und so der Verlängerung der für die (staatlichen und privaten) Warlords einträglichen Konflikte. Es gibt Zwangsrekrutierungen selbst von Kindern und durch die gewaltsame Zerstörung ziviler Lebensgrundlagen und die allgemeine Unsicherheit und Militarisierung bleibt vielen nichts anderes übrig, als zur Waffe zu greifen und sich einer Miliz anzuschließen. Oder eben die Flucht. In diesen Regionen leben Millionen Menschen in gewaltigen Flüchtlingslagern, die aber zugleich Ziel und Operationsbasis der Milizen sind. Eine weitergehende Flucht wird von den potentiellen, reicheren Zielländern militärisch und durch Zusammenarbeit mit humanitären Organisationen und dem UNHCR (UN-Flüchtlingshilfswerk) unterbunden.

Andere Gebiete und Schichten sind auch ohne blutige Konflikte durch eine anhaltende und wachsende Armut geprägt. Durch die Privatisierung der Grundversorgung und des Landes wird den Menschen die Möglichkeit selbst zur eigenständigen Grundversorgung genommen, sie werden proletarisiert und vertrieben, ohne dass ihnen die Möglichkeit auf ein einträgliches Einkommen gegeben würde. Viele versuchen es dennoch und siedeln in die Vorstädte der nächstgelegenen Großstädte, aus denen gewaltige Slums werden, die teils durch unerträgliche Lebensumstände geprägt sind. Dort fristen sie ihr Dasein oder machen sich auf die Weiterreise dorthin, wo sie bessere Lebensperspektiven sehen. Entweder sie passieren illegal die Grenzen in die Wohlfahrtszonen und führen dort ein Schattendasein das sie sich mit illegaler Arbeit zu Niedrigstlöhnen finanzieren, oder sie treiben irgendwo genug Geld auf, um sich ein Visum zu erkaufen und probieren dann, über Eheschließung, Arbeitsverträge oder ähnliches einen längerfristigen Aufenthaltsstatus zu erlangen.

Zudem gibt es überall auf der Welt bedrohte und diskriminierte Minderheiten oder Bevölkerungsgruppen. Frauen ist in religiös-fundamentalistisch geprägten Gesellschaften ein selbstbestimmtes Leben verwehrt und ihnen drohen drakonische Strafen wie die Steinigung. Wer nicht für seine Rechte kämpfen will oder kann, dem bleibt nur ein Ausweg: die Flucht.

Zahlreiche dieser Fluchtursachen werden mittlerweile als Grund für militärische Interventionen der Großmächte genannt, die aber stets eigene Interessen verfolgen und die Lage der Bevölkerung durch weitere Militarisierung und die Provokation militärischen Widerstands meist noch weiter verschlechtern. Die gute Schwester der militärischen Intervention, die staatliche Entwicklungshilfe, gibt vor, sich mit zivilen Mitteln dieser Probleme annehmen zu wollen. Dies geschieht immer häufiger durch die Finanzierung und den Aufbau neuer Polizeieinheiten, kann die Unterstützung eines Gewaltregimes bedeuten (z.B. EUPOL KINSHASA (1) in der Demokratischen Republik Congo). Oft geht es bei Entwicklungshilfe auch nur darum, Länder und Regionen für die Anbindung an den Weltmarkt vorzubereiten oder internationalen Unternehmen den Aufkauf der zivilen Infrastruktur und der profitträchtigsten Wirtschaftsbereiche zu ermöglichen (So haben BMZ und die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) gemeinsam mit USAID im Windschatten des Afghanistankrieges die Agentur AISA gegründet, die mit Werbung für profitträchtige Anlagen und der Privatisierung von Wasser- und Stromversorgung deutschen und internationalen Konzernen den Ausverkauf Afghanistans ermöglichen soll, siehe aisa.org.af ). Im besten Falle sind Entwicklungshelfer meist kleinerer Organisationen damit beschäftigt, die sozialen Härten der kapitalistischen Globalisierung abzufedern und den Menschen in neu kolonialisierten Gebieten Tipps für das Überleben im globalen Markt zu geben – meist, das soll hier gar nicht geleugnet werden, in bester Absicht und manchmal mit ansehnlichem Erfolg.

Migration ist Entwicklungshilfe – von Unten

Dennoch ist Entwicklungshilfe als Bekämpfung der Fluchtursachen, wie sie gerade v.a. mit Blick auf Afrika propagiert wird – sofern dies ernst gemeint ist – in mehrfacher Hinsicht Paradox. Wenn das Ziel lauten sollte, die globale Ungleichheit an Wohlstand, Sicherheit und Rechten abzumildern, dann müsste zunächst das wesentliche Instrument angegangen werden, welches diese Ungleichheit territorial festschreibt, nämlich die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Menschen aus Armuts- und Konfliktgebieten. Denn wenn Menschen aus unerträglichen Lebensumständen fliehen und wo anders tatsächlich ein besseres Leben finden, dann hilft das nicht nur konkret all diesen Menschen, sondern auch den Regionen, aus denen sie stammen. Nicht nur, dass Migration aus kargen oder überbevölkerten Regionen das Überleben dort schon deshalb erleichtert, weil vom selben Boden weniger Menschen zu ernähren sind und damit auch das Konfliktpotential wesentlich sinkt. Die meisten Migrant- Innen bleiben den Gesellschaften, aus denen sie stammen, die ihnen oft auch die Wegreise ermöglicht haben, weiterhin verbunden. Allein die registrierten Rücküberweisungen von MigrantInnen, sog. Rimessen, an Familien und Freunde im Herkunftsland, übersteigen weltweit die Summe der offiziellen Entwicklungshilfe aller Staaten zusammen – und kommen meist direkter an. Zusätzlich besuchen die MigrantInnen, soweit es ihnen möglich ist, ihre Herkunftsgesellschaften, was dort eine touristische Infrastruktur und den Aufbau von Verkehrswesen begünstigt. Andererseits wollen Viele auch im Land, in dem sie sich gegenwärtig aufhalten, nicht auf traditionelle Lebensmittel und kulturelle Güter verzichten, was dazu führt, dass es in jeder großen Stadt mittlerweile Spezialläden für Produkte aus diesem und jenem Land gibt und dies den Export kultureller Güter (mit enormen Profiten) aus ärmeren Regionen fördert.

Diese „Entwicklungshilfe von Unten“ (2) funktioniert allerdings auch jenseits rein kapitalistischer Dynamiken. So schließen sich in größeren Städten die MigrantInnen aus denselben Gemeinden oder Regionen zusammen und organisieren beispielsweise Kulturveranstaltungen, deren Erlös sie für Infrastrukturprojekte in ihre Herkunftsgemeinden schicken (3). Diese Gelder können bspw. in Projekte wie eine kommunalen Krankenversicherung fließen, die sonst nicht denkbar wären. Vor allem Menschen, die vor Unterdrückung und Krieg geflohen sind, verfolgen hier meist weiter die Lage in ihrem Herkunftsland. Viele übersetzen Artikel und machen so auf die dortige Unterdrückung aufmerksam. Manche organisieren sich in Exil- oder Menschenrechtsgruppen und engagieren sich von hier aus für die Rechte ihrer GenossInnen im Ausland. Das ist die Voraussetzung für internationale Aufmerksamkeit und Solidarität und hat schon so manche Freilassung politischer Gefangener erwirkt, wie es Folter und Steinigungen verhindert hat. Auch weniger politisch engagierte MigrantInnen werden in ihrem Zielland mit anderen Werten konfrontiert sein, als sie es aus ihrer Kindheit und Jugend kennen. Sie werden von diesen das übernehmen, was ihnen sinnvoll erscheint und sie auch in ihre Herkunftsgesellschaften kommunizieren, wo sie dann erörtert, angenommen oder abgelehnt werden. Dies ist eher die Überzeugung beim Familienfest, als die aus dem Gewehrlauf. Wenn nicht nur Europäern zugestanden wird, dass Menschen ihre Werte auf der Grundlage von Vernunft aushandeln, dann müsste diese Form globaler Zivilgesellschaft langfristig zu einer vielfältigen, sich gegenseitig argumentativ herausfordernden Wertelandschaft führen.

MigrantInnen als Arbeitskräfte

Solche Entwicklungen sind jedoch nur Nebeneffekte einer kapitalistischen Dynamik, die seit der Entstehung der Nationalstaaten deren Drang nach Ab- und Ausgrenzung immer wieder aufbricht. Für den globalisierten Kapitalismus ist nicht nur die freie Zirkulation von Kapital und Waren, sondern auch von Dienstleistungen und Arbeitskräften notwendig. Der Nachkriegsboom in den 50er und 60er Jahren hing ebenso vom Zustrom von Arbeitskräften ab, wie zuvor der Aufstieg der USA zur Weltmacht nur durch beständigen Zuzug aus aller Welt möglich war. Auch heute beruht der Wohlstand der „entwickelten“ Staaten (auch der reichen Öl-Staaten) wesentlich darauf, dass Arbeitsprozesse, die nur bei enorm niedrigen Löhnen profitabel sind, sich aber nicht ins Ausland verlagern lassen – namentlich Dienstleistungen wie Gebäudereinigung, Billig-Gastronomie, zunehmend auch Alten- und Krankenversorgung – von migrantischen Arbeitskräften erledigt werden, die niedrigere Löhne in Kauf nehmen. Da vor allem die Macht europäisch geprägter Staaten vom Nationalismus abhängt, der dementsprechend andauernd geschürt werden muss, und es zu ihrem Verständnis von Souveränität gehört, die Grenzen aufrecht zu erhalten und zu kontrollieren, befinden sie sich hier in einem Interessenskonflikt mit ihrer mächtigsten Lobbygruppe, dem Kapital, das generell zur Öffnung der Grenzen, auch für Arbeitskräfte, drängt. Der Kompromiss, von dem beide profitieren, ist die weitgehende Öffnung der Grenzen bei gleichzeitiger rassistischer Diskriminierung der MigrantInnen. Dadurch entsteht ein für die Industrie sehr nützliches entrechtetes Subproletariat, das bei Belieben zu niedrigsten Löhnen angeheuert und wieder gefeuert bzw. deportiert werden kann und, spekulierend auch auf nationalistisch-rassistische Tendenzen innerhalb der Arbeitnehmerschaft, diese spaltet, in die relativ privilegierten einheimischen Arbeiter und eben dieses Subproletariat.

Machtdemonstrationen

Genau dies geschah beispielsweise in Deutschland mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts, der Illegalisierung weiter Teile der MigrantInnen und durch die vielfältige rechtliche Diskriminierung von „Ausländern“: Essenspakete und Residenzpflicht bei Asylbewerbern, biometrische Erfassung, Rasterfahndung, Sicherheitsverwahrung und Gesinnungsprüfung und Kettenduldung, d.h. Die immer nur kurzfristige Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigungen, die die MigrantInnen dauerhaft in einem prekären Schwebezustand hält und langfristige Perspektiven verhindert. Dass die Grenzen gleichzeitig geöffnet würden, mag der alltäglichen Wahrnehmung widersprechen. Werden die Zäune in Melilla und Ceuta nicht eben verstärkt, nachdem dort auf Flüchtlinge geschossen wurde, die versuchten, sie zu überwinden? Finden nicht gegenwärtig völlig sinnlose Abschiebungen von hier geborenen Kindern und ihren Familien in (Bürger-)Kriegsgebiete wie den Kosovo und Afghanistan statt? Entstehen nicht überall in der EU und jenseits ihrer Grenzen Auffang- und Abschiebelager? Wird nicht gar in den Kriegsgebieten selbst Militär eingesetzt, um die Flüchtlinge an der Weiterreise Richtung EU und Deutschland zu hindern?

Doch! Aber zugleich werden die Möglichkeiten für Arbeitgeber beständig erweitert, Arbeitskräfte ins Land zu holen. Die Visabestimmungen für Mittel- und Osteuropäer werden gelockert, und in den Zäunen werden bewusst Löcher gelassen, abgefangene Boat people aus Nordafrika oder dem Mittleren Osten werden freigelassen, während die „Schwarzen“ aus Südafrika deportiert werden. Die Abschottung ist gar nicht möglich, zu vielfältig sind die Möglichkeiten und Wege, in die EU zu gelangen. Die repressive Grenzpolitik ist lediglich der Versuch, diese Migration biopolitisch zu steuern: Lieber Osteuropäer als Afrikaner, lieber Studenten als Flüchtlinge. Dieser offen von den Staaten ausgeübte Rassismus soll nach Innen das Privileg der Staatsbürgerschaft deutlich zum Vorschein bringen. Die offene und symbolkräftige Diskriminierung derer, die nicht zur Nation gehören soll diejenigen, die dazugehören, noch enger an den Staat binden, damit sie immer weitere Einschnitte akzeptieren. Abschiebungen lohnen sich finanziell überhaupt nicht, geben den Bürgen des Staates aber das Gefühl, dass es anderen noch dreckiger geht, dass ihnen das nicht passieren kann. Im übrigen ein Fehlschluss: Denn die Herrschaftstechniken, die zunächst gegenüber MigrantInnen angewandt werden, werden immer schneller auch auf unterprivilegierte Schichten der nationalen Bevölkerung angewandt, freilich bei gleichzeitiger Verschärfung der Schikanen gegenüber den MigrantInnen. So folgte die biometrische Erfassung der gesamten Bevölkerung in Deutschland durch die Einführung neuer Pässe einer Art Probelauf, in dem alle Einreisenden und Asylbewerber erfasst werden sollten. Die Techniken, mit denen seit Hartz IV die Arbeitslosen durch die Bundesagentur verwaltet werden, erinnern stark an die Praktiken, mit denen zuvor Asylbewerber konfrontiert waren.

NO LAGER

Es gibt also keinen Interessengegensatz zwischen „einheimischen“ und migrantischen Lohnabhängigen, sondern gemeinsame Kämpfe. Was heute an Diskriminierung von „Ausländern“ verhindert werden kann, wird langfristig für die gesamte Gesellschaft abgewehrt. In diesem Zusammenhang ist die weltweite Ausdehnung von Lagern zu sehen, die von staatlichen Akteuren als Reaktion auf unkontrollierte Bewegung und nicht-verwertbares Leben vorangetrieben wird. In Krisen- und Kriegsgebieten leben Millionen von Menschen in Lagern, hunderttausende in den Lagern an den Rändern der EU und ebenso viele innerhalb der EU. Lager erlauben die ideale Kontrolle der Insassen und isolieren sie vom Rest der Gesellschaft so wie von den Insassen anderer Lager. Die Menschen werden hier am nackten Leben erhalten, von privaten oder staatlichen Sicherheitsagenturen kontrolliert und gepeinigt, bis sich eine kurz- oder langfristige Verwertungsmöglichkeit ergibt. Eine Vision mit Zukunft. Dass sich diese Herrschaftspraktik auf immer weitere Teile der Weltbevölkerung ausdehnen lässt, zeigt sich daran, wie leicht es den Nationalstaaten stets gefallen ist, per Gesetz Gesellschaften, die alle auf Migration beruhen, in Bürger und Entrechtete zu trennen.

maria

(1) Diese EU-Mission besteht darin, mit Geldern aus dem Europäischen Entwicklungs-Fond neue Polizeieinheiten in Kongo-Kinshasa aufzubauen, welche die „Regierung des Übergangs“ schützen sollen. Diese besteht ausnahmslos aus Warlords und Kriegsverbrechern und sollte im Juni 2005 durch erste freie Wahlen abgesetzt werden. Die Wahlen wurden verschoben, die Proteste niedergeschossen. Die EU dürfte davon nicht überrascht gewesen sein, denn die Mission begann Anfang 2005 und war für mindestens ein Jahr geplant…
(2) Siehe hierzu: APUZ (Aus Politik und Zeitgeschichte) 27/2005: Entwicklung durch Migration
(3) exemplarisch am Fall El Salvador: Helen Rupp: Migration als Wirtschaftsmodell: Die remittances in El Salvador, in Prokla (Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft) Nr. 140

Migration

GENUA 2001 – Geschichte einer Revolte

Ende Juli 2001 demonstrierten rund 300.000 Menschen in Genua gegen die unmenschliche Politik der G8 und artikulierten im Rahmen des Genua Sozial Forums alternative Entwürfe einer gerechteren Welt. Die Repression gegen die Proteste war von einer barbarischen Brutalität, wie es wohl keiner, auch nach den Schüssen von Göteborg, jemals für möglich gehalten hätte. Die Höhepunkte der Gewalt waren die Ermordung von Carlo Guiliani, die Massaker in der Diaz-Schule und die Verschleppung hunderter Menschen in die Bolzaneto-Kaserne. Die Bilder und Berichte über diese Verbrechen haben sich vielen eingebrannt. Doch was bedeutet „Genua“ heute? Schon im Vorfeld des G8-Gipfels im Juli 2001 in Genua, formierten sich einige AnwältInnen zum Genoa Legal Forum (GLF) um den Beschneidungen der Grundrechte, die im Rahmen der Proteste gegen den Gipfel zu erwarten waren, entgegenzustehen.

Nachdem der Nebel von tausenden von CS-Gasgranaten sich aus Genua verzogen hatte, die stählerne Trennmauer, die die Stadt über Wochen teilte abgebaut und die meisten der – häufig illegal – inhaftierten Menschen wieder auf freien Fuß waren, begann die juristische „Aufarbeitung“ der Revolte von Genua. Für Empörung, Verzweiflung und ein Gefühl der Ohnmacht sorgte 2003 der Freispruch für den jungen Carabinieri, der Carlo Guiliani während der Proteste am 20. Juli 2001 auf der Piazza Alimonda in den Kopf schoss. Der Carabinieri Placanica hat bis heute keine Aussage gemacht und plant bei den nächsten Kommunalwahlen für die rechtsextreme Alleanza Nazionale zu kandidieren. Der zweite Prozess, der schon abgeschlossen wurde, ist der gegen die Opfer des Überfalls auf die Diaz-Schule. Er endete mit Freisprüchen.

Im Moment ist die Arbeit des GLF durch drei große Prozesse bestimmt. Zum einen ist dies die bestmögliche Verteidigung von 25 Angeklagten aus ganz Italien, zum anderen die Nebenklage in den Prozessen gegen die Polizisten, die am Angriff auf die Diaz-Schule und die Verschleppung hunderter Demonstranten in die Bolzaneto-Kaserne beteiligt waren.

Die Verteidigung der 25 Menschen, die der „Verwüstung und Plünderung“ angeklagt sind, ist dabei sicherlich eine Hauptaufgabe. Diese Protestteilnehmer sind von massiven Haftstrafen bedroht. Der Strafrahmen beträgt bei einer Verurteilung unter diesem Paragraphen zwischen acht und fünfzehn Jahren. Zum letzten Mal angewandt wurde dieser Paragraph 1945 nach Ende der deutschen Besatzung gegen Plünderer! Jetzt soll er zum ersten Mal gegen Demonstranten angewendet werden. Die italienische Justiz versucht mit diesem abwegig hohen Strafmaß an den 25 Angeklagten ein Exempel zu statuieren, um so die gesamte Linke in Italien zu verunsichern und die Protestbewegung gegen die kapitalistische Globalisierung von weiterem Widerstand abzuhalten. Die Verfahren gegen die 25 scheinen indes nur die Spitze der juristischen Repression nach Genua zu sein. Es gilt als sicher, dass um die 50 weitere Ermittlungsverfahren gegen Protestteilnehmer abgeschlossen in der Schublade der italienischen Justiz liegen und es nur eine Frage der Zeit ist, dass Anklage mit ähnlich schweren Vorwürfen erhoben wird. Die Verjährungsfrist für den Vorwurf der „Verwüstung und Plünderung“ beträgt dabei 50 Jahre! Weitere 200 Prozesse gegen Personen aus Italien und auch dem Ausland, die am Rande der Proteste verhaftet wurden und teilweise monatelang in italienischer U-Haft saßen, werden in nächster Zukunft eröffnet werden. Diesen Personen gilt es in Zukunft solidarisch beizustehen! Die Repression richtet sich nicht nur allein gegen diese Personen sondern gegen uns alle!

Es geht bei der Verteidigung der vielen Angeklagten vor allem auch darum, den Kontext zu betonen, aus dem heraus es zur Revolte des 20. und 21. Julis kam. Anhand der zum Prozess zugelassenen Beweismaterialien wird versucht zu rekonstruieren was zu der Revolte des 20. Juli führte. Das GLF war in der Lage dabei eine Reihe von Erfolgen zu erzielen. Neben die bekannten Thesen des „black bloc“, faschistischer Provokateure seien in der Demo gewesen etc., rückte zum ersten Mal als Erklärungsmöglichkeit für die eskalierten Gewalt auch der massive Angriff verschiedener Polizeieinheiten auf die genehmigte und bis zu diesem Zeitpunkt absolut friedliche Demonstration der Tute bianche. Unter anderem gelang es dem GLF eindeutig zu dokumentieren, dass von Teilen der Polizei bei diesen Angriffen Stahlrohre oder „frisierte“ Schlagstöcke eingesetzt wurden. Die den Angeklagten vorgeworfenen Taten müssen in diesem Kontext bewertet werden. Sie sind als Teil einer Revolte gegen massive Einschränkungen der Menschenrechte bis hin zur versuchten gewaltsamen Unterbindung einer genehmigten Demonstration zu verstehen und zu beurteilen.

In den beiden Verfahren, die gegen Polizisten geführt werden, kämpft das GLF für die Rechte der Nebenklage. Dies ist zum einen der Diaz-Prozess, in dem 29 Personen angeklagt sind. Darunter einige ranghohe Polizisten und Carabinieri so z.B. der Polizeipräsident, der Chef der Antiterrorpolizei und der Vize des Staatsschutzes Digos, die allerdings bis heute in ihren Ämtern sind oder erst nach den Ereignissen von Genua in diese befördert wurden. Ihnen wird vorgeworfen, am Überfall auf die Diaz-Schule in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 2001 beteiligt gewesen zu sein oder diesen befehligt zu haben und Beweise gefälscht zu haben. In dieser Nacht stürmten rund 300 Polizisten die Schule, in der u.a. das Indymedia-Zentrum und eine erste Hilfe Station untergebracht waren und 93 Menschen schliefen. 81 Personen wurden bei dem stattfindenden Massaker verletzt. Drei von ihnen schwebten über Tage in Lebensgefahr, viele wurden ohne medizinische Hilfe in die Kaserne Bolzaneto verbracht. Im Verfahren um die Ereignisse dort, sind insgesamt 47 Angehörige von Polizia und Carabinieri sowie Ärzte angeklagt. Sie müssen sich für die dort stattgefundene Folter, die Misshandlungen und Demütigungen sowie wegen unterlassener Hilfeleistung verantworten.

In den beiden Verfahren scheint die italienische Justiz auf Verschleppung zu setzen. Allerdings gibt es hier ein wenig Hoffnung, dass es zumindest zum Abschluss der Verfahren kommen wird, was bisher durchaus nicht so schien. So waren die Verfahren wegen der Angriffe auf die Diaz-Schule und das Bolzaneto-Verfahren bisher vom so genannten „Lex Previti“ betroffen. Dabei handelt es sich um ein Gesetz, das Silvio Berlusconi auf seine Interessen zuschneidern ließ, und das die Zeitspanne für Strafverfahren nahezu halbierte. Somit könnten lang andauernde Strafverfahren ohne Urteil beendet werden. (1) Trotzdem sieht es so aus, als wolle die italienische Justiz die Prozesse wenn möglich mit Freisprüchen enden lassen. Nicht zuletzt von der Regierung würde dies sehr begrüßt werden. Silvio Berlusconi (FI) und Gianfranco Fini (AN) bezeichneten die angeklagten Polizisten schon mal als Helden.

Das Genoa Legal Forum und seine UnterstützerInnen leisten dabei Arbeit unter schwersten Bedingungen, denn die Verteidigung der vom Staat ausgewählten Delinquenten und vor allem die Berichterstattung aus den Prozessen ist nicht gern gesehen. Seit 2004 wird das GLF unterstützt durch die Arbeit von Supportolegale, einem Zusammenschluss von Menschen, die international für die Gerechtigkeit und die Freiheit aller Protestteilnehmer von Genua kämpfen. Ein wichtiger Punkt dabei ist vor allem die Finanzierung. Die Kosten für die Verfahren der Diaz- und Bolzaneto-Opfer und die Verteidigung der 25, belaufen sich monatlich auf ungefähr 10.000 Euro.

Schon während der Proteste in Genua und direkt danach, zog ein Sturm der Empörung durch alle „links-alternativen“ Zusammenhänge, bei manchen folgte die Wut, spätestens als klar wurde, welches Ausmaß die staatliche Gewalt hatte. In ganz Europa gab es in unzähligen Städten und wahrscheinlich vor den meisten italienischen Botschaften und Konsulaten Demonstrationen und Kundgebungen. Es folgte eine Welle der Solidarität mit den Inhaftierten und von staatlicher Repression Betroffenen. Heute ist das Interesse an den Prozessen innerhalb der Linken in Italien und erst recht außerhalb der italienischen Staatsgrenzen doch sehr gering. Der Unterstützerkreis ist eine personell gleich bleibende Gruppe. Wie konnte es passieren, dass die Erinnerung so schnell verblasste? Eine Erklärung ist sicher die betriebene Spaltungspolitik, der nicht klar genug entgegengetreten wurde! Solidarität nur für „unsere guten“ Demonstranten, die unschuldig misshandelt wurden?

Auf den Straßen Genuas wurde nicht unterschieden zwischen den unterschiedlichen politischen Spektren bevor draufgeschlagen wurde. Es war egal ob Mensch schwarz, weiß oder pinkandsilver trug. Es war ein Angriff auf unser Recht unsereMeinung zu äußern, auf unsere Rechte als Menschen, für den allein die italienische Regierung, Polizia und Carabinieri, als Handlanger der zutiefst undemokratischen Politik der G8 verantwortlich sind. Wir sollten uns nicht fragen, was genau die 25 getan haben, sondern warum sie es getan haben! Wir sind das Gedächtnis an die Ereignisse von Genua. Wir werden es schaffen, dass die Revolte von Genua nicht, wie sich das viele wünschen, die für die Verbrechen verantwortlich sind, in der Geschichtslosigkeit des Kapitalismus versinkt. Sorgen wir dafür, dass es als das was es war, einer Revolte gegen das Aufheben von Menschenrechten, in unsere Geschichte eingeht.

La memoria e` un ingranaggio colletivo! Freiheit für die 25 Menschen vor italienischen Gerichten! Solidarität mit allen Opfern der Repression!

Rote Hilfe Leipzig

(1) “Lex Previti”: www.tagesspiegel.de/politik/index.asp?ran=on&url=http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/09.10.2005/2105805.asp
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BLZ: 100 200 00
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Rote Hilfe Leipzig:
c/o Braustr.15, 04107 Leipzig,
Sprechstunde jeden 1.Do im Monat 19-20Uhr
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