Archiv der Kategorie: Feierabend! #35

übelst schlecht versteckt

the upsetter im Interview

Ein Abend in der Stadt. Im Auftrag der Neugier finden sich Frau Sch. und Frau Sch. im herbstlich-kalten Schleußig wieder. Die Mis­sion: Aufklärung des Leipziger Blätterwaldes. Der Interview­ter­min mit Matti vom „Society-Magazine“ the upsetter hat kurzfristig noch ge­klappt. Es ist mollig gemütlich im Hin­ter­zimmer des Schlechten Ver­stecks, der „Hauptzentrale“ des upsetters wie sich herausstellt. Die Ver­hörlampe wabert in der Ecke. Die Stunden verfliegen, während das generalstabsmäßig geplante Interview immer mehr ins freie Gespräch driftet. Mit je­dem Zug neigt sich das Bier. Abschweifend wer­den die Frager zu Befragten. Langsam aber zielstrebig füllt sich der Aschenbecher von drei Seiten. Sie sprechen über das Schreiben an der Front des künstlerischen Journalismus, über das Leben im All­ge­mei­nen und die Zukunft kleiner Druckerzeugnisse im Speziellen.

Die Nacht ist nicht allein zum schlafen da und das gesprochene will in das geschriebene Wort übersetzt werden. Doch auf zwei Seiten Feierabend! muss ein Inhalt passen, der auch 10 Seiten einnehmen könnte. Was muss rein, was kann raus? Sollen wir die zeitliche Abfolge beibehalten? Wo liegen thematische Schwerpunkte? Wie übersetzt man Worte, die ihre Bedeutung nicht aus dem Inhalt, sondern aus dem Hauch ihrer Äußerung beziehen? Wir wissen es auch nicht so genau. Aber eins ist sicher: Zeitung wird gemacht! Es geht voran!

Wie bist du auf den Namen the upsetter gekommen?

In Granada – immer noch meine Lieb­lings­stadt – da gibt es einen Club, der heißt the upsetter. Das ist ein Flamenco-Club, wo sonst nicht viel los ist, außer dass Spanier Bier und Wein trinken. Aber manchmal gibt es halt Flamenco-Konzerte und ich war auf einem dabei, wo El Nino, der Godfather of Flamenco gesungen hat. Ein ganz alter Mann, so 70 Jahre, der saß da mit einem Stock auf seinem Stuhl und hat übelst Flamenco gesungen total leidenschaftlich. Irgendwie war das ein Erlebnis, das mich berührt hat und dann hab ich gedacht, meine Zeitung soll der upsetter heißen. Weil, wenn man jemanden upsettet, dann regt man ihn auf oder berührt ihn. Dann hab ich aber herausgefunden, dass ich das niemals schützen kann, weil es den upsetter schon gibt – als Zeitung sogar. Das ist ein Reggae Magazine. Kennt ihr Lee „Scratch“ Perry? Der hat dieses Wort „the upsetter“ eigentlich geprägt. Es gibt sogar einen Song und auch einen Film die so heißen. Furchtbar!

Im aktuellen upsetter stellen unterschiedliche Autoren diverse Kneipen in Linde­nau vor und erzählen dabei recht gruselige Geschichten. Meinst du, dass diese Bilder allgemein dem von Lindenau entsprechen oder dass du damit einigen Menschen aus dem Herzen sprichst?

Ich denke schon. Viele Leute tragen mir sogar noch mehr Geschichten zu. Naja, es ist schon sehr klischeehaft aber ich hab einfach nur wiedergegeben, was mir die Leute erzählt haben. Ich habe in der letzten Ausgabe auch versucht, einen neutralen Beobachtungspunkt einzunehmen, obwohl ich natürlich die Ironie nicht verheimlichen kann. Aber was da drin steht über diese Kneipen in Lin­denau, das wurde mir genau so erzählt. Ich hab mich kurz als jemand geoutet, der interessiert ist am kulturellen Lindenauer Leben und die ganzen Klischees und Vorurteile und Geschichten wurden mir so unglaublich bestätigt. Ich habe nichts dazu erfunden und ich glaube schon, dass ich vielen Leuten aus dem Herzen spreche.

Aber praktisch gehen die Autoren schon direkt in die Kneipen?

Ja natürlich. Aber langsam wird es auch langweilig Kneipenrecherchen zu machen. Man geht halt nur hin, um irgendwelche Anekdoten aufzusaugen und wartet nur darauf, dass irgendein Scheiß passiert. In manchen Kneipen passiert dann aber genau das Gegenteil, wie zum Beispiel in „Die 20“ auf der Industriestraße. Ich hab auch gedacht nur Säufer anzutreffen aber letztlich waren es sehr nette und angenehme Leute. Die haben mich rumgeführt durch die Kneipe und die ganze Geschichte erzählt. Und auch im „Lady Luck“ bin ich mit der Kneiperin sehr gut ins Gespräch gekommen. Seitdem grüßt sie sich mich immer.

Die Nr. 9 wird mit einem Zitat von Hunter S. Thompson eingeführt: „Wenn die Verhältnisse irre werden, werden Irre zu Profis“…

Ja, er war schon eine große Inspirationsquelle für mich. Man kann diesen Gonzo-Journalismus nicht nachahmen und eigentlich war er auch ein ziemliches Arschloch. Ich habe mal seine Biografie gelesen, den immer verehrt. Weil er einfach so wild war und sich nichts von niemanden sagen lassen hat. Dann hab ich darüber gelesen, dass er seine Frau geschlagen hat und da war es vorbei. Er hat mich aber sehr zu diesem Stil hingeführt. Meine eigentliche Inspiration war aber die „Vice“. Das ist so `nen kostenloses Hoch­glanz­magazin, finanziert sich nur über Werbung und ist in Klamottenläden zu finden. Und die schreiben so richtig derbe Scheiße. Die sind politisch dermaßen inkorrekt, dass es zum Himmel stinkt. Das ist aber irgend­wie lustig. Es hat mich so gefläscht, dass ich gedacht habe, das muss ich auch machen. In den ersten Ausgaben wollte ich so vulgär wie möglich schreiben, um die Leute so richtig zu schockieren und aufzuregen, auch wenn sie mich mit Scheiße be­schmeißen, dann ist das genau, was ich will.

Was wir in the upsetter gelesen haben, hat uns eher erheitert und unseren Sinn für Ironie und Sarkasmus völlig getroffen, gar nicht so vulgär.

Ja, ich bin von dem Credo irgendwie abgekommen, weil meine größte Kritikerin mich vor die Frage gestellt hat, was es mir bringt, jemandem sinnlos ins Maul zu hauen. Und es bringt dir überhaupt nichts. Es gab irgendwann so eine Zeit, als der upsetter populär war. Die Leute haben mich bedrängt, „Wann kommt denn der Neue raus?“ Die haben sich nur darüber amüsiert, wenn ich andere Leute beleidigt habe. Sie wollten möglichst schlimme Geschichten über schlimme Leute, die scheiße sind. Ja und davon bin ich halt abgekommen, denn das hat dann nichts mehr mit Kunst zu tun.

Welchen Anspruch hast du?

Der Raum der Kunst wird weiter. Es war irgendwie zu wenig, nur den Ansprüchen gerecht zu werden, die die Leute, denen es gefällt, so haben. Ich möchte mehr Texte drin haben, die literarisch sind. Auch Freunde von mir haben aufgrund des upsetters eine Zeitung angefangen. „Frau Kristel“ heißt die. Die haben wirklich nur Texte geschrieben, die künstlerischen Anspruch haben, die deine Seele berühren und Gedichte usw. Das war ein totaler Erfolg und hatte übelst Resonanz. Da hab ich mir gedacht: Ich schreibe gerne und ich schreibe für mein Herz. Ich will nicht sagen das und das, wo, wann, wer, was – das wäre halt Journalismus und nicht Kunst – sondern, dass man sich an den Worten erfreuen kann, dass es einen berührt … dass man sagt: Das ist wunderschön geschrieben, das gefällt mir. Ich will dass der Journalismus künstlerisch ist.

Im upsetter ist die Ich-Perspektive sehr stark. Das wäre eine literarische Komponente an den Texten. Der Gegenstand, die Recherche ist dann vielleicht das journalistische? Könnte man das so sagen?

Ja, z.B. der Günter Wallraff. Das ist auch so einer. Ist das jetzt Journalismus? Oder ist das jetzt Kunst? Was ist das? Ist das Prosa? Es ist halt in der Wirklichkeit verankert, also es ist passiert aber trotzdem ist es künstlerisch abgebildet. So was in der Art will ich machen.

Aber vielleicht stehe ich gar nicht so einsam da? Was es jetzt gibt, das sind so blogs, twitter, facebook und myface und was weiß ich. Was ich mich aller­dings frage, vielleicht muss man ja jetzt wieder konservativ werden, damit das überhaupt noch cool ist, weil ja jeder Wichser seine Meinung irgendwo hinschmiert.

Apropos Internet. Haben so kleine Papiermagazine wie Feierabend!, the upsetter oder Frau Kristel denn noch eine Chance auf eine aktive Leserschaft?

Doch, doch, auf jeden Fall! Es ist immer so, wenn Dinge populär werden, werden sie langweilig. Also wenn irgendwas vom Mainstream ausgebeutet wird, dann gibt es immer diese reaktionäre Bewegung, die sich dann auf was anderes besinnt und was anderes will. Z.B. dein Kommilitone, wo hinten auf´m Pullover Abi 2008 steht, der erzählt dir dann was von facebook und diesem ganzen Mist. Und wenn das dann alle machen und alle machen bei twitter mit und alle haben eine myspace-Seite und alle haben so eine digitale Selbstbeweihräucherung, dann willst du was anderes haben, was dich da raus holt. Es ist auch noch nicht soweit, dass jeder seinen Minilaptop in der Straßenbahn auf´m Schoß hat.

Und vielleicht ist es auch genau dieses Format. Man kann es in der Hand halten, kann es riechen, man kann es anfassen und das ist was völlig anderes. Ich könnte natürlich, wenn ich so drauf wäre, wenn ich mal gerade Zeit habe von meine world-of-warcraft abzulassen und dann schreibe ich in meinen Blog, was ich so erlebt habe und wo ich war und das ich da mit dem gesoffen habe. Aber so ne Zeitung zu machen ist was völlig anderes, weil es halt materiell-physisch da steht. So ´ne kleinen Dinger sind total wichtig. Die Leute freuen sich darüber. Es ist wie so ein Kleinod.

Wie geht ihr mit Texten um? Gibt es Stationen, die ein Text durchlaufen muss, bis er im Heft landet?

Ich geb ja die Zeitung raus und entscheide, ob ich den Text gut finde oder er ästhetisch und inhaltlich zum Himmel stinkt. Ich bin ja im Gegensatz zu euch relativ unpolitisch. Deswegen muss ich da nicht irgendwelche Zensurmaßnahmen ergreifen. Ich muss eigentlich nur drauf gucken, schreibt er es so, dass der Leser das kapiert. Vielleicht ändere ich ein Wort und rufe an, ob das okay ist, aber dann geht der Text so raus. Bei den Texten über die Kneipen gibt es schon eine übelste Arbeitsphase, wo die dann 30 Mal unter die Lupe genommen werden. Dann wird daran rumgefeilt aber das ist es dann eigentlich auch.

Wie finanzierst du the upsetter eigentlich und wie hoch ist die Auflage?

Ich verkaufe ihn mittlerweile für 1,50, was ich sehr schade finde, denn eigentlich müsste er kostenlos sein.

Mittlerweile produziere ich mindestens 80 Stück und bei Nachfrage halt mehr. Es funktioniert auf Vertrauensbasis. Ich drucke das aus, stell das da hin, schreib 1,50 dran und wer es gibt, der gibt´s und wer nicht, der halt nicht. Aber mittlerweile ist es so, dass ich bei Null rauskomme. Ich finanziere das auf jeden Fall selber und durch die Werbung für das Schlechte Versteck und den Waldfrieden. Und Werbung mach ich nur für Leute, wo ich persönlich dahinter stehe. Ich werde z.B. niemals eine Sparkassenwerbung machen, nur weil ich dafür Geld kriege. Ich mache Werbung aber nur so un­ka­pi­ta­lis­tische Sachen. Also wenn jetzt Coca-Cola käme und sagt, ich gebe dir tausend Euro und tausend Euro und ein Tomatenfisch, würde ich sagen, fick dich.

In der aktuellen Ausgabe gibt es einen Text, wo der Situationist Guy Debord zitiert wird. Gibt es innerhalb der Redaktion direkte Bezüge oder ist das eher zufällig?

Das ist total beabsichtigt und total wichtig, speziell für diese Ausgabe, weil es um Lindenau geht und den Platz den man sucht zum Leben.

Die Zollschuppenstraße etwa ist ein sehr hoffnungsvolles Hausprojekt. Die Autorin dieses Textes hat das Projekt Zollschuppenstraße maßgeblich mit aufgebaut, und Guy sagt: „Das Leben geht auf die Architektur über“, also: Das schöne Leben hat auch schöne Schauplätze. Die Zollschuppenstraße war ein Projekt für Jugendliche, die in diesem heruntergekommenem Haus ihre Träume verwirklichen konnten. Sie haben sich das gebaut, was sie halt haben wollten. Das finde ich total wichtig, weil es auch für mich immer wichtiger wird, wo ich wohne. Ich möchte nicht mein ganzes leben in Lindenau wohnen, wo an jeder Ecke Drogen verkauft werden. Es ist leider so.

Wieviel Zigaretten oder Promille brauchst du, um ‘nen upsetter zu produzieren?

(lacht) Geile Frage. Ähm? Warte mal. Das ist jetzt wichtig, weil es wird ja gedruckt. Also wenn ich einen Text schreibe, so einen Kneipentext, dann rauch ich mindes­tens ne Schachtel Zigaretten und trinke mindestens 3 Bier. Nein, nicht wirklich. Es ist nicht so, dass ich Rauschmittel brauche, um zu schreiben. Aber ich könnte mir nicht vorstellen, im Nichtraucherbereich auf meiner Schreibmaschine rumzuhacken

Du schreibst auf Schreibmaschine? Was für ‘ne Marke?

Erika. Meine liebste Erika, die liebe ich über alles…Wisst ihr eigentlich, dass ich mit der 10. Ausgabe aufhören wollte? Ich wollte noch eine machen und dann eigentlich was anderes machen. Ich wollte schon immer einen Roman schreiben.

Du wolltest also von Anfang an nur 10 Ausgaben rausbringen?

Nein, nein, jetzt erst. Es ist halt jedes Mal so ein Stress. Das alles selber zu layouten. Und dann hast du gesagt, das kommt dann und dann raus und dann kommt es doch nicht raus. Dann vertraust du auf jemanden der einen Text abliefern wollte und der liefert den nicht ab. Und dann fehlen die Seiten. Das war so furchtbar. Dann hab ich gedacht, ich mach noch die eine und dann reicht´s.

Wie sieht also die Zukunft aus?

Also, wenn ich euch das jetzt sage, muss das auch klappen. Am 5. Dezember hat das Schlechtes Versteck 5 Jahre Jubiläum. Wir wollten eigentlich zumachen und saufen gehen. Aber nun wird es eine riesige Party geben mit gleichzeitigem Release des 10. upsetters.

Es gibt auch Auslandsrecherchen, z.B. Hamburger oder Berliner Kneipen, aber konkrete Pläne gibt´s noch nicht. Der künstlerische Aspekt wird auf alle Fälle mehr Raum einnehmen. Ich will ironisch und zynisch bleiben aber auch Leute erreichen, die was wollen von der Literatur. Aber ich will the upsetter nicht aufgeben. Da hängt doch mein Herz dran!

Danke für das Interview.

Kein Ding und so.

p.s. Wir grüßen David und Phil, die dieses Interview erst ermöglicht haben und danken unvergesslich Matti für seine Offenheit.

p.p.s. Auch drei Jahre alter polnischer Wodka schmeckt leichter als gedacht.

Ziviler Ungehorsam als politische Praxis

Im Zusammenhang mit Neonaziaufmärschen, Gipfelprotesten oder Atommülltransporten kommen immer wieder Praxen zivilen Ungehorsams zum Zuge. Auch in Leipzig wurde der Aufmarsch von „Nationalen Sozialisten“ am 17.10. auf diese Weise verhindert (siehe S. 5). Damit wurde an die erfolgreiche Praxis der Vergangenheit angeknüpft. Immer wieder kam es in Leipzig zu breiten Sitzblockaden, einer beliebten Form zivilen Ungehorsams, gegen die regelmäßigen Aufmärsche des Neonazis Christian Worch. Nachdem die Polizei anfangs rabiat gegen diese spontanen und gewaltfreien Aktionsformen vorging, veränderte sich die Einsatzstrategie der staatlichen Repressionsorgane aufgrund von Interventionen auf politischer Ebene und der Entschlossenheit einer wachsenden Zahl von Protestierenden. Die Blockade einiger weniger Aufmärsche konnte so gelingen.

Basisdemokratie versus Systemüberwindung

Ziviler Ungehorsam meint bewusste Regelverstöße zur Beseitigung einer gefühlten Unrechtssituation. Wenn bei­spielsweise das Versammlungsrecht im Umfeld von geschlossenen Tagungen von führenden PolitikerInnen ausgehöhlt wird oder Nazis das Versammlungsrecht in Anspruch nehmen, dann müssen die Grenzen der Legalität überschritten werden, um die eigene Meinung wirkungsvoll kundzutun.

Ziviler Ungehorsam gilt als legitimes Mittel, weil er im Kern auf den Schutz der Menschenwürde zielt, den Recht und Gesetz qua Neutralität nicht gewährleisten können bzw. wollen – im Falle von Neonazidemos eben die Wahrung des Versammlungsrechtes für legale politische Gruppen/Parteien. Die bewusste Störung von angemeldeten Demonstrationen wird damit zur Gesetzesverletzung. Nichts desto trotz verfolgt die Praxis des zivilen Ungehorsams die Durchsetzung von Bürger- und Menschenrechten innerhalb der bestehenden Ordnung und explizit nicht die Ablösung einer bestehenden Herr­schaftsstruktur. Dies gilt auch für offensiven zivilen Ungehorsam, wie die Weigerung sich erniedrigenden Gesetzen zu unterwerfen (z.B. das kollektive Widersetzen gegen US-amerikanische Rassengesetze in den 1950er Jahren, der Boykott der Volkszählung in den 1980er Jahren oder das kollektive Schwarz-Fahren in Bus und Bahn). Systemimmanent Veränderungen anzustreben, ohne das System im Kern anzutasten, markiert die Differenz zwischen zivilem Ungehorsam und Widerstand. Widerstand befindet sich in der Regel außerhalb der gesetzten Ordnung und beschreibt aktive Bestrebungen und Verweigerung gegen Herrschaftsakteure oder -strukturen. Die Gewaltfrage ist zudem eine Demarkationslinie zwischen zivilem Ungehorsam, der eher zum Repertoire von sich als gewaltfrei verstehenden Bewegungen gehört, und Widerstand.

Die fein-säuberliche Trennung erodiert nicht nur durch die Definitionshoheit des Staates (so kann eine entschlossene Blockade, die auch nach Räumungsaufforderungen der Polizei nicht aufgelöst wird, mit dem Vorwurf des Landfriedensbruchs belegt werden). Das Widerstandsrecht im Grundgesetz (Artikel 20 Absatz 4) garantiert zudem jedem und jeder StaatsbürgerIn das Recht gegen jedermann Widerstand zu leisten, der die im Grundgesetz verankerte freiheitliche demokratische Grundordnung außer Kraft setzt. Dieses Recht ließe sich durchaus auch gegen Nazis und deren demokratiefeind­liche, menschenverachtende Ideologien und Aktionen in Anspruch nehmen.

Auch in politischen Zusammenhängen wird konstatiert, dass die Trennlinien verwirren. So geht mit der Praxis zivilen Ungehorsams nicht selten eine grundsätzliche Kritik des kapitalistischen oder rassistischen Normalzustandes einher. Ist das Plündern von Supermärkten zum Zwecke der Vergesellschaftung von Lebensmitteln ziviler Ungehorsam oder ein fundamentaler Angriff gegen das Privateigentum? Setzen sich Ärzte, die Illegalisierte unentgeltlich behandeln, nicht bewusst und gezielt Gesetzen entgegen?

Ziviler Ungehorsam in der Praxis

Blockaden, wie sie in Leipzig schon öfter zum Zuge kamen, sind die wohl geläufigste Form zivilen Ungehorsams. Sie gehören zur Praxis von friedenspolitischen Bewegungen (Blockaden von Militärstützpunkten, militärisch genutzten Flughäfen etc), antifaschistischen Akteuren oder UmweltaktivistInnen (Blockade von Kohlekraftwerken, Atommülltrans­por­ten). Sitzblockaden bieten – schon wegen ihres wahrgenommen passiven Charakters – eine breit anschlussfähige Form des zivilen Ungehorsams. Sitzblockaden können dabei durchaus auch auf Ordnungs­hüterInnen eine hemmende Wirkung haben. Wer räumt schon gerne friedlich dasitzende Menschen?

Verfassungsrechtlich gilt eine Blockade als Versammlung nach Artikel 8 des Grundgesetzes. Natürlich können solche Versammlungen im Vorhinein oder während ihres Stattfindens verboten werden. Wer sich nichts desto trotz beteiligt, praktiziert zivilen Ungehorsam und begeht eine Ordnungswidrigkeit (Nichtentfernen von einer verbotenen Versammlung, § 29 Versammlungsgesetz).

Bis 1995 galten Sitzblockaden strafrechtlich als Nötigung nach § 240 StGb (d.h. einem anderen durch die Anwendung von Gewalt oder durch Drohung ein diesem widerstrebendes Verhalten aufzuzwingen), also als psychische Gewaltausübung. Das so genannte Sitzblockade-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 1995 beendete diese Auslegung. Demnach können Sitzblockaden zwar psychisch gewaltvoll wirken, die Gewaltwirkung muss allerdings nicht im Kalkül der Blockierenden liegen. Die Ausweitung des Gewaltbegriffes auf psychische Wirkungsweisen sei ausufernd und nicht zulässig. Die reine physische Anwesenheit, beispielsweise das Sitzen vor einem Kasernentor, stellt in diesem Sinne noch keine Gewalt dar. Viele Verfahren wurden infolge des Urteils wieder aufgenommen und die Strafkosten zurückerstattet.

Der Bundesgerichtshof höhlte die Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes im selben Jahr allerdings wieder aus. Wenn eine Sitzblockade zum Anhalten von Fahrzeugen führt, wäre demnach zwar nicht der oder die Fahrer des ersten Fahrzeugs Nötigungsopfer, allerdings die der nachfolgenden Fahrzeuge. Während auf den oder die FahrerIn des ersten Fahrzeuges nur psychische Gewalt wirke, seien die der folgenden körperlichem Zwang ausgesetzt.

Auch im Jahr 2001 beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht mit Blockaden. Laut Beschluss könnten Blockaden als Nötigung geahndet werden, wenn sie „über die durch ihre körperliche Anwesenheit verursachte psychische Einwirkung hinaus eine physische Barriere errichten“. Das bedeutet, dass eine Sitzblockade verbunden mit Anketten, Einhaken oder aktivem Widerstand gegen das Wegtragen als Nötigung entsprechend § 240 StGb betrachtet werden kann.

Das Blockieren von Naziaufmärschen hat nicht selten zum Erfolg geführt. Mal mit politischer Schirmherrschaft, mal durch die Wirkungsmacht vieler aktivierter Menschen konnten ganz konkrete Aufmärsche von Nazis auf diese Art und Weise verhindert werden. Auch die Gipfel politischer Eliten oder Atommülltransporte wurden schon des Öfteren wirksam gestört, wenn auch nicht verhindert. Blockaden können den kapitalistischen Normalbetrieb temporär beeinträchtigen. Sie sind darüber hinaus symbolische Demonstrationen von Gegenmacht. Durch ihre öffentliche Propagierung und flankierende Debatten um die Notwendigkeit von Regelver­letzungen, um zu einem bestimmten Ziel zu kommen, unterscheiden sie sich grundlegend von den typischen klandestinen Aktionen linker Kleinst­gruppen. Das ist ihre Stärke. Ihr subversiver Charakter kann allerdings durch die Nähe zur Staatsmacht unterhöhlt werden. Sowohl am 17.10. in Leipzig als auch bei entsprechenden Blockade-Aktionen gegen das Fest der Völker in Thüringen verhandelten die jeweiligen Bündnisse mit der Polizei. Hier müssen die Trennlinien scharf bleiben und der Charakter des Ungehorsams gewahrt werden.

Rote Hilfe Leipzig

angeführte Paragraphen:

Grundgesetz Artikel 8:

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Strafgesetzbuch 240. Nötigung

(1) Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe, in besonders schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, bestraft.

Versammlungsgesetz 29

(1) Ordnungswidrig handelt, wer

1. an einer Versammlung oder einem Aufzug teilnimmt, deren Durchführung durch vollziehbares Verbot untersagt ist,

2. sich trotz Auflösung einer öffentlichen Versammlung oder eines Aufzuges durch die zuständige Behörde nicht unverzüglich entfernt,…

(2) Die Ordnungswidrigkeit kann in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 bis 5 mit einer Geldbuße bis tausend Deutsche Mark … geahndet werden.

Wissenswerte rechtliche Infos für Blockierende:

Wie erwähnt sind Blockaden grundsätzlich durch das Grundgesetz – Artikel 5 Meinungsfreiheit und Artikel 8 Versammlungsfreiheit – gedeckt. Im Falle des Verbots kann die Polizei die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Beendigung der Versammlung androhen. Rechtsfolgen bei Nichtbeachtung polizeilicher Anordnungen sowie die möglicherweise zum Einsatz kommenden Zwangsmittel müssen von der Polizei genannt werden. Dies geschieht in der Regel durch Räumungsaufforderungen, die wie am 17.10.2009 in Leipzig geschehen, auch lautstärkebedingt überhört werden können.

Kommt es zur Räumung von Blockaden nimmt die Polizei erfahrungsgemäß keine Rücksicht auf Alter und Zustand der Sitz-Blockierenden. Jede und jeder, der/ die sich für die Blockade-Form entscheidet, sollte mit sich und der eigenen Bezugsgruppe abwägen, wie weit er/sie gehen möchte, ein Ausstieg aus der Blockade muss immer möglich sein. Der körperliche Zugriff durch die Polizei bedeutet eine nicht zu unterschätzende psychische Belastung. Der Räumung einer Blockade können Platzverweise und im äußersten Fall auch Ingewahrsamnahmen folgen.

TeilnehmerInnen einer Sitzblockade müssen mit einem Bußgeld von 25 bis 50 Euro rechnen. Es handelt sich, wie erwähnt, um eine Ordnungswidrigkeit, nicht aber um eine Straftat. Grundsätzlich sollten alle, die in irgendeiner Weise nach einer Aktion zivilen Ungehorsams mit Geldbußen wegen Ordnungswidrigkeit oder mit Strafbefehlen wegen Nötigung überzogen werden, Widerspruch gegen jede dieser Maßnahmen einlegen. Unmittelbar nach der Aktion sollte unbedingt ein Gedächtnisprotokoll angefertigt werden, das Angaben über Zeit, Verlauf, ggf. Informationen zur Polizeieinheit (Dienstnummer, KFZ-Kennzeichen) und Zeugen enthält.

Empfehlenswert ist in jedem Fall, sich gemeinsam mit Bezugsgruppe oder anderen vertrauten Zusammenhängen über Eindrücke, Ängste und Erlebnisse auszutauschen, zum Einen zur Verarbeitung, zum Anderen, um Fehler oder auch Positives herauszuarbeiten und diese Erkenntnisse in die Vorbereitung kommender Aktionen einfließen zu lassen.

Für Rechtshilfe oder Unterstützung bei der Deckung von Kosten sollten Bündnisse oder Soli-Gruppen angesprochen werden. (Rote Hilfe: leipzig@rote-hilfe.de oder Ermittlungsausschuss: ea-leipzig@gmx.de)

www.leipzig-nimmt-platz.de

www.aktionsnetzwerk.de

kreativerstrassenprotest.twoday.net

Jugendkultur? Aber bitte mit Sahne!

Vom Kampf um ein Alternatives Jugenzentrum in Wittenberg

Echte Probleme erkennt mensch oft daran, daß (vermeintlich) Ungewöhnliches geschieht. Hausbesetzungen von Jugendlichen, die so ihren Bedarf nach kulturellem, sozialem und politischem Wirkungs- und Selbstverwirklichungsraum hinausschreien, gehören „hier­zulande“ definitiv dazu. Nach dem Niedergang eines dieser Räume, des Topf Squat in Erfurt (FA! #32, #33), und der kurzen Geschichte zum Magdeburger besetzten Haus (FA! #34) widmen wir uns heute einer Luther­stadt und ihrem Problem mit der (fehlenden) Jugendarbeit.

Wie viele Städte in Ost­deutschland ist Wit­ten­berg dabei zu überal­tern und bietet seinen Ein­wohner_innen kaum mehr als eine Tourismusindustrie rund um Martin Luther, Philipp Me­lanch­thon und Lucas Cranach; mit vielen Sehenswürdigkeiten vor allem für Reformationstouristen, die täglich von 9 bis 6 durch die Stadt gejagt werden, bevor die Bordsteine wieder hochgeklappt werden können. So ist für Engagement und Investitionen in Kultur und bitter notwendige Jugendarbeit in der knapp 50.000-Ein­wohner_innen-Stadt im östlichen Zipfel Sachsen-Anhalts eher wenig Platz. Die wenigen übriggebliebenen Einrichtungen Wittenbergs, in denen noch Jugendarbeit stattfindet, bangen regelmäßig um ihre Existenz. Doch trotz ihrer Dienste haben viele junge Menschen keine Räume um kulturellen und sozialen Aktivitäten nachzugehen bzw. welche zu entfalten. Kein Wunder also, daß es Leute gibt, die diese Arbeit in die eigenen Hände nehmen, Orte des Miteinanders und der politischen Betätigung etwas abseits staatlicher und städtischer Strukturen schaffen wollen.

So hatte sich der Verein Kultur mit Sahne (KumS) schon 2004 die Aufgabe gestellt, Wittenbergs Jugendlichen ein alternatives Jugendzentrum zu besorgen und trat im letzten Jahr verstärkt in Verhandlungen mit dem Stadtrat, dem Jugend­hilfe­aus­schuß und dem Bürgermeister Wit­tenbergs. Es handelt sich bei dem Verein um eine „alternative Jugendgruppe, in der sich Menschen im Alter von 16 bis 30 Jahren bewegen“, die sich „für mehr Toleranz und Aufklärung jeglicher Art im Landkreis Wittenberg“ einsetzen. Um solch hehre Ziele verwirklichen zu können, bedarf es allerdings einer geeigneten Immobilie mit genügend Platz für Konzerte, Kreativwerkstätten, einen Infoladen und was es eben sonst noch so alles braucht für ein selbstverwaltetes soziokulturelles Zentrum.

Um dies zu verwirklichen, ging der Verein den Weg durch die Instanzen – wurde nach Selbstauskunft von der Stadt letztlich aber nur „verarscht“. Die Jugendlichen, für welche Kultur mit Sahne mühselig den Amtsschimmel ritt, nahmen die Sache schließlich in die eigenen Hände und besetzten am 14. August kurzerhand das ehemalige Gesundheitsamt in der Wallstraße, eine schöne, seit drei Jahren leerstehende Immobilie in Stadteigentum, nicht mal 5 Minuten vom Marktplatz entfernt. Die Besetzer_innen bezeichneten sich als solidarisch zu KumS und wollten diesem so ein Objekt beschaffen bzw. die Mitwirkung der Stadt und des Kreises ein wenig vitalisieren. Oberbürgermeister Naumann (SPD) signalisierte auch sofort Verhandlungsbereitschaft und hielt die Polizei im Zaum; stellte allerdings von Anfang an klar, daß es Regeln gäbe, an die sich auch die ja illegal handelnden Jugendlichen zu halten hätten. So war auch diese Besetzung nur eine auf Zeit, die Räumung von Vorherein absehbar. Es galt nur Aufmerksamkeit zu schaffen und mit dieser illegalen Aktionsform auf die Dringlichkeit des lobenswerten Anliegens in möglichst breiter Öffentlichkeit hinzuweisen. Und so wurde sich von Seiten der Besetzer_innen auch redlich um ein medientaugliches Bild ihres kulturellen und politischen Engagements bemüht. Von Beginn an gewaltfrei und auf Dialog bedacht, präsentierten sie schon vom Abend der Inbesitznahme an aufgeräumte Gemeinschafts- und Partyräume, einen Infoladen mit kleiner Bibliothek sowie eine provisorisch eingerichtete Küche für den „Mampf zum Kampf“.

Am 18. August kam es im Neuen Rathaus der Lutherstadt zu Verhandlungen zwischen Vertreter_innen der Besetz­er_in­nenfraktion, des Vereins Kultur mit Sahne und der Stadt Wittenberg. An diesen seitens der Stadt von Ausreden und Lavieren geprägten Gespräche war das einzig Greifbare die Aussage, daß das Haus so schnell wie möglich geräumt werden müsse, um „eine verfassungskonforme Situation“ zu erhalten. Und natürlich der Clou: Die Stadt schloß mit dem Verein einen „‘moralischen’ Vertrag“ ab, in der eine intensive Suche nach Räumlichkeiten seitens der Stadt Wittenberg zugesichert wurde. Weiterer Inhalt war aller­dings, daß sowohl die Stadt als auch KumS die Besetzung missbilligten. Mit dieser Klausel machten die Vertreter_innen der Stadt wiederum deutlich, wer in den Verhandlungen das Sagen hat. Zusätzlich setzten sie den Hausbesetzer_innen ein Ultimatum zum „freiwilligen“ Verlassen bis zum 25. August (also eine ganze Woche) und drohten KumS mit der Einstellung aller sonstigen Verhandlungen, sollte es zu einer gewaltvollen Räumung kommen müssen. In den Augen mancher Besetz­er_innen vielleicht eine Art Verrat am Kampf um das Squat in der Wallstraße, sahen die Vertreter_innen von Kultur mit Sahne jedoch nur durch die abgepresste Distanzierung die Möglichkeit, sich langfristig einen Weg zu einem alternativen Zentrum in der Lutherstadt offen zu halten.

Die anfängliche Zusage Naumanns am Besetzungstag („Wir veranlassen hier keine Räumung, solange alles normgerecht läuft.“) löste sich so nur vier Tage später in Luft auf, als er direkt nach den Verhandlungen die Räumungsaufforderung verschickte. Freilich wie immer mit der Zusicherung der Gesprächsbereitschaft.

Am Abend des 25. dann verließen die Besetzer_innen „heimlich“ das Haus, um sich der drohenden Räumung sicher zu entziehen. Das alte Gesundheitsamt wurde nur Stunden später von der Polizei wieder in den Stadtbesitz zurückgeführt, dezente Hinweise auf Besetzungsaufgabe bekamen sie dabei durch ein paar um­ge­stoßene Mülltonnen und einen an­gezündeteten Papierkorb rund um den geschichtsträchtigen Marktplatz.

Genau dort zog einige Wochen später, am 19. September, eine Freiraumdemon­stration an den Denkmälern Luthers und Melanchthons vorüber. Allerdings völlig ohne den Verein Kultur mit Sahne, der sich weder als Veranstalter, Teilnehmer noch Supporter dieser Demo die „gute Ver­handlungsbasis mit der Stadt“ verderben wollte. Worüber mensch nun denken kann wie mensch will.

Was blieb übrig von einer kurzen, aber ereignis- und hoffnungsreichen Zeit im ersten offiziell besetzten Haus Wittenbergs des neuen Jahrtausends? Sieben Anzeigen wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung zum Beispiel, entgegen dem Versprechen OB Naumanns, bei Aufgabe der Besetzung auf diese zu verzichten. Oder unzumutbare Ersatzobjekte, die die Vereinsmitglieder besichtigen durften. Die Krönung jedoch waren wohl die Erfahrungen vor’m Jugendhilfeausschuß im Landratsamt am 8. Oktober. Dort mussten sich die Vereinsmitglieder sagen lassen, daß finanzielle Unterstützung für ein Zentrum gerade sowieso nicht drin sei, die Stadt im Jugendbereich eher einsparen muss als neue Mittel freizumachen für „Dilletanten“, die eh keine Jugendarbeit machen und nur ihre Szene ansprechen würden. Freilich wie immer mit der Zusicherung von Bürgermeister Zugehör, daß sich schon irgendwie eine Möglichkeit finden werde.

Eine Lösung für ein alternatives Jugendzentrum in Wittenberg fanden die engagierten jungen Menschen aber wahrscheinlich in Eigenregie. Die Zeichen stehen allerdings gut, daß die Verhandlungen um das alte Kreiswehrersatzamt mit seiner den Anforderungen mehr als entsprechenden Lage* von Erfolg gekrönt sein wird. Als „Traumobjekt“ bezeichneten sie das Haus und das dazugehörige Grundstück schon, erschwingliche 99.000 Euro (plus Maklercourtage) soll es kosten und so hat Kultur mit Sahne die Kampagne „Zwölf + Zwei = Wir ziehen in unser Haus“ gestartet. Zwölf Bürgen werden noch gesucht, um die vom Eigentümer geforderte Kaution von 25.000 Euro aufzubringen, und – vorrangig um die monatlichen Kosten zu decken – zusätzlich zu den schon vier Mieter_innen noch zwei Personen, die gerne einziehen möchten in’s neue alternative Zentrum.

Bleibt KumS und allen Mitstreiter_innen noch zu wünschen, daß diese Bedingungen bald erfüllt sind und der Unterzeichnung des Kaufvertrages auch sonst nichts im Wege steht. Nicht zu wünschen ist ihnen nach all den Erfahrungen allerdings jegliche Abhängigkeit von Stadt oder Land, denn nur so werden sie es noch weit schaffen, die sympathischen Akti­vist_in­nen rund um den Verein Kultur mit Sahne.

shy

 

* Fast direkt gegenüber befindet der ehemalige berüchtigte „Schweizer Garten“, das besetzte Haus und Autonome Zentrum Wittenbergs in den 90ern. Weichen musste es schlussendlich u.a. wegen dem Neubau der Hauptsparkasse und anderen Aufwertungsprozessen im unmittelbaren Umfeld des rauhen „Zeckenhauses“. Auch wenn sich die Menschen um das neue Alternative Zentrum um einiges moderater darstellen, birgt diese „exponierte“ Lage evtl. doch Zündpotenzial …

Keine Zukunft für Nazis

Ein „Recht auf Zukunft“ forderten die etwa 1.300 Neonazis, die am 17. Oktober durch den Leipziger Osten marschieren wollten. Natürlich keine Zukunft für sich persönlich, sondern „eine Zukunft für unser Volk (…) eine Zukunft für Deutschland“ (1). Weit kamen sie damit nicht. Genauer gesagt kam die in Koproduktion von „Freien Kräften“ und Jungen Nationaldemokraten organisierte Demonstration keinen Meter vom Fleck. Dies lag nicht nur an den rund 2500 Gegen­de­mons­trant_innen, die den Nazis kein „Recht auf Dummheit“ zugestehen wollten. Auch die Stadt und die Polizei hatten diesmal kein gesteigertes Interesse daran, den Kameraden den Weg freizuprügeln. So gab es erst mal Verzögerungen, weil nicht genügend Ordner für die Nazidemo bereitstanden. Nach vierstündigem Warten riss einigen „Autonomen Nationalisten“ der Geduldsfaden, mit Böllern und Steinen werfend versuchten sie aus dem Polizeikessel auszubrechen. Die Beamten schienen insgeheim darauf gewartet zu haben. Der Polizeibericht meldet: „Durch diese Handlungsweise entzogen die Werfenden die dem Aufzug verfassungsrechtlich gebotene Friedlichkeit, weshalb kurzzeitig der Einsatz der Wasserwerfer notwendig wurde. Letztlich musste der Aufzug durch den Polizeiführer gegen 16.00 Uhr aufgelöst werden.“ Die Gegen­demons­trant_in­nen, die die Marschroute blockierten, brachen in lauten Jubel aus. Ein voller Erfolg also? Nun ja…

Bitte Platz nehmen…

Es liegt nahe, hier den Vergleich zu den Erfahrungen der „Worch-Demos“ (2) zu ziehen, die 2007 unrühmlich endeten. Die Leipziger Neonazis ließen Worch sitzen, so dass dieser mit gerade mal 37 Leuten durch Stötteritz stiefelte. In den folgenden Jahren setzten die örtlichen „Frei­en Kräfte“ vor allem auf kurzfristig an­gemeldete Demonstration in abgelegenen Stadtteilen. Diese Taktik ließ die Zahl der Gegende­monstrant_innen sin­ken und sorgte so für Erfolgserlebnisse. Es ist also schon etwas her, dass es eine ähnlich langfristig angekündigte und groß aufgezogene Nazidemo in Leipzig gab. Bei der Mobilisierung zogen die Kamerad­­_innen alle Register, von Werbevideos auf YouTube bis zu T-Shirts mit dem Demo-Motto „Recht auf Zukunft“. Schon im Juli war der Aufmarsch angemeldet worden, seitdem wurde die Zahl der erwarteten Teil­neh­mer_innen stetig nach oben korrigiert.

Auch die Gegendemonstrant_innen griffen auf Strategien zurück, die sich schon bei den Worch-Aufmärschen bewährt hatten. So rief das Bündnis 17. Oktober, an dem sich Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und Kulturinitiativen beteiligten, zu Sitzblockaden auf. Sogar OBM Burk­hard Jung stellte sich hinter den Aufruf des Bündnisses. Auch bei der Blockade selbst wurde er kurzzeitig gesichtet, als er demonstrativ zum Sound einer Trom­mel­gruppe tanzte.

Der Protest gestaltete sich der breiten Mobilisierung entsprechend, mit gleich drei Sambatrommelgruppen, Riesenpuppen usw. – „bunt“, „kreativ“ und „lautstark“ sind die passenden Schlagworte. Und laut war es wirklich: Die Aufforderung der Polizei, den Platz zu räumen, ging im Gejohle und Pfeifen der Menge unter. Der Platzverweis wurde dreimal wiederholt. Zum Glück waren es die Neonazis, die als Erste die Nerven verloren – mit den bereits erwähnten Folgen.

Kein Schulterklopfen

Auf Seiten der Neonazis zog das Debakel in Leipzig heftige verbale Schlammschlachten u.a. auf Altermedia (3) nach sich. „Die ANs [Autonomen Nationalisten] haben unserer Bewegung mal wieder mas­siven Schaden zugefügt (…) Weg mit dem Abschaum!!!“, forderten da die einen, wäh­rend ein Vertreter der „Freien Kräfte“ grammatisch fehlerhaft dagegenhielt: „Wir sind die Elite des Nationalen Wi­der­­standes und weder die Polizei, noch ir­gendwelche selbsternannten Gutmen­schen-Nationalisten-Veranstalter können uns sagen was wir tun und lassen haben.“ Die Debatte zeigt auch die inneren Widersprüche der NPD. Zwar bemüht die­se sich seit Jahren um ein seriöses, bürgerliches Image, zugleich kann sie nicht auf die „Autonomen Na­tionalisten“ verzichten, die gerade durch ihre Militanz für viele junge Neona­zis attraktiv sind und so den Nachwuchs an sich binden, den die NPD dringend braucht.

Demo-Anmelder Tommy Naumann vollzieht diesen Spagat in Personalunion. Als langjähriger Aktivist der „Freien Kräfte Leipzig“ (siehe FA!#29) wurde er im November 2008 Landesvorsitzender der Jungen Nationaldemokraten und trat als NPD-Kandidat bei den letzten Stadtratswahlen an. Gerade in Leipzig ist die NPD auf die „Freien Kräfte“ angewiesen und suchte darum den Schulterschluss, z.B. indem sie das Parteibüro in der Odermannstraße (siehe FA!#31) als „nationales Jugendzentrum“ zu Verfügung stellte. Es wird sich zeigen, welche Auswirkungen die Ereignisse des 17. Oktober dabei haben.

Und wie sieht´s auf der Gegenseite aus? Die Medienberichte reproduzierten die räumliche Trennlinie, welche die Polizei mit Absperrzäunen und Vorkontrollen zwischen „guten Bür­ger_in­nen“ und bösen Autonomen zu ziehen ver­suchte. So schrieb z.B. die LVZ (4), „zwischen 2500 und 3000 friedliche Gegendemonstran­ten sowie mehrere hundert Linksradikale“ hätten den Aufmarsch verhindert. Als ob Links­radikale per se gewalttätig wären… Auch Oberbürgermeister Jung lobte den fried­lichen Protest. Die Leipzi­gerinnen und Leipziger hätten ein starkes Zeichen ge­gen Rechts gesetzt. Anders gesagt: Das gu­te bürgerliche Leipzig hat gesiegt, nur ein paar unbelehrbare linke Chaoten machten am Rand Randale (wobei u.a. ein Bus entglast wurde, mit dem Dortmunder Neonazis angereist waren).

Der Erfolg hat also einen faden Nachgeschmack, auch weil er weniger den Blockaden als vielmehr dem Vorgehen der Polizei geschuldet war. Und diese agierte ziemlich repressiv. So meldet der Polizeibericht: „Aufgrund der vorangegangen Straftaten erfolgte eine Feststellung der Personalien aller Teilnehmer, weshalb sich der Abgang bis 21.30 Uhr hinzog.“ Gegen alle 1349 Teilneh­mer_innen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Polizeipräsident Horst Wawr­zynski erklärte im Anschluss: „Das Verhalten der rechten Szene während der Demonstration wird die Gewaltprogno­sen, die wir im Vorlauf angemeldeter Demonstrationsereignisse erstellen, beeinflussen“ (5). Der sächsische Innenminister Ulbig setzte noch einen drauf und kündigte eine Null-Toleranz-Politik gegen rechte und linke Extremisten an. In einer Pressemitteilung (6) kritisierte das Bündnis 17. Oktober den Ablauf der Debatte: Durch ordnungspolitische Maß­nahmen wie Verbote und Verschärfungen des Versamm­lungs­rechts würde letztlich die inhaltliche Auseinandersetzung mit neonazistischen Ideologien verhindert. Dem ist nur zuzustimmen. Man muss die Kameraden nicht bemitleiden, um das Vorgehen der Polizei bedenklich zu finden. Denn solche Methoden könnten sich leicht auch gegen linke Demonstrationen richten.

justus

 

(1) www.npd-leipzig.net/demonstrationen/1667-recht-auf-zukunft

(2) Der Hamburger Neonazi Christian Worch meldete zwischen 2004 und 2007 insgesamt sechs in halbjährlichem Abstand stattfindende Demonstrationen an (siehe FA!#15 u. 17).

(3) de.altermedia.info/general/polizei-verhindert-bislang-nationale-leipzig-demo-17-10-09_36464.html

(4) www.lvz-online.de/aktuell/content/114389.html

(5) www.leipzig-nimmt-platz.de/

(6) leipzignimmtplatz.blogsport.de/2009/10/22/pressemitteilung-2210-nach-dem-naziaufmarsch/

Editorial FA! #35

„Heißt es jetzt am oder im Zipfel?“ Das sind so die Fragen, die der anarchistischen Szene in Leipzig (oder zumindest der FA!-Redaktion) auf der Seele brennen (die Antwort findet ihr im Artikel zur Hausbesetzung in Wittenberg). Aber manche Streitpunkte müssen einfach ausdiskutiert werden. So ist es auch kein Wunder, dass wir unserem geplanten Erscheinungstermin mal wieder um einen Monat hinterherhinken, wie ihr, werte Leser_in­nen, natürlich längst gemerkt habt. Mit Augenringen groß wie Suppenteller hocken wir in unseren verqualmten Redak­tions­räumen, um euch rechtzeitig für die kommenden kalten Winterabende viele schöne Texte ins Haus zu liefern, warm wie Glühwein oder die Stimmen der Moderator_innen von Radio Blau. Im­mer­hin, trotz aller Verzögerungen kommen wir noch um einiges periodischer heraus als unsere neue Lieblings-Klolektüre the upsetter. An der knallharten Recherche, die dort in Lindenauer Kneipen betrieben wird, haben wir uns diesmal ein Beispiel genommen. Der thematische Schwerpunkt dieser Ausgabe liegt also deutlich im Lokalen. So findet ihr in diesem Heft den Auftakt unserer groß geplanten Reihe zur Geschichte der Leip­ziger linken Szene. Um da ein wenig für Ausgleich zu sorgen, hat unsere „Wächterhaus-AG“ den Sprung über die Stadtgrenzen hinaus gewagt und berichtet über das Objekt in der Triftstraße 19A in Halle. Aber wir wollen euch nicht unnötig aufhalten. Bevor ihr endlich weiterlesen könnt, lasst uns nur noch schnell dem Leserbriefschreiber für seine Kritik und unserer Verkaufsstelle des Monats, Bistro Shahia, danken.

Eure Feierabend!-Redax

Free the Radio

Den Freien Radios in Sachsen – Radio Blau aus Leipzig, Radio T aus Chemnitz und coloRadio aus Dresden – droht zum Ende des Jahres die Abschaltung: Es fehlen 40.000 Euro jährlich oder der „politische Wille“.

Am Montag, dem 26. Oktober kam es deshalb zu einer ersten gemeinsamen Protestaktion in Leipzig. 100-150 Freie-Radio-Fans trafen sich von 12-14 Uhr zu einer Kundgebung vor der Sächsischen Landesmedienanstalt (SLM), um den Medienräten einen offenen Brief mit Hunderten von Unterschriften aus Politik, Medien und Kultur zu überreichen. Bei Kaffee und Keksen wiesen diese dann aber jede Verantwortung von sich und feierten sich gleichzeitig selbst für die Gönnerhaftigkeit, je einen Vertreter der drei Freien sowie eine Vertreterin des Bundesverbandes der Freien Radios überhaupt zur Ratssitzung zugelassen zu haben.

Konstruktiver ging es dagegen vor dem Gebäude zu. Ca. 70 Menschen nahmen am Radioballett zum Thema Körperkult teil – und suchten wohl eine Antwort auf die Frage: Wie kann die SLM als Behörde zur Entwicklung des Privatrundfunks den Freien Radios überhaupt helfen, wenn gleichzeitig krampfhaft am Sächsischen Mediengesetz festgehalten wird, welches das eigentliche Problem ist?!

Anders als übertrieben gut gelaunte Radio­sprecher­_innen, Promi-Klatsch, konsum­­an­regende Glücks­ver­sprech­en, immer­gleiche Sende­formate, usw. bereiten freie, nicht­kommer­zielle Rund­funk­­sen­der den Weg für mehr Selbst­orga­nisation, kritisches Hinterfragen, musikalische Experimente sowie mehr Partizipation an öffentlicher Kommunikation und Diskussion v.a. auf lokaler Ebene. Warum also wird ernsthaft erwogen, diesem Medium die Basis zu entziehen, indem Sendefrequenzen aufgegeben und Sendekosten erhoben werden, die vom Million­en­budget der SLM eigentlich problemlos gedeckt werden könnten?

Hintergründe

Der private, kommerzielle Radiosender Apollo teilt sich mit den Freien Radios ihre drei Frequenzen. Apollo ging im November 2004 auf Sendung und hat die Geschäftsführer aller privaten Radios in Sachsen (1) erstmals gemeinsam an einen Tisch gebracht. Zusammen wurde Apollo Radio als Sächsische Gemeinschafts­pro­gramm GmbH & Co KG gegründet, mit dem ursprünglichen Ziel, den lokalen Markt für „fremde“ Konkurrenz zu blockieren. Einnahmen und Arbeitsplätze in Sachsen sollten gefälligst auch in Sachsen bleiben. Die SLM war damals gesetzlich gezwungen, die Lizenzen für frei werdende Radiofrequenzen bundesweit auszuschreiben, doch mit der Gründung eines neuen privaten Hörfunksenders konnte die gefürchtete „Marktübernahme“ verhindert werden. Der Medienrat der SLM entschied, dass die auf 8 Jahre begrenzte Lizenz an Apollo und nicht an ein Klassik-Radio aus Hamburg ging.

Seitdem wird den drei nicht­kommer­ziellen Lokalradios (NKL) wöchentlich 49h Sendezeit zugestanden und die dafür jährlich anfallenden 40.000 Euro Sende- und Betriebskosten von den Apollo-Betreibern mitgetragen. Doch Apollo entwickelte sich nicht zu einem gewinnbringenden Geschäft und so wurde am 13. Oktober 2009 die „Kooperationsverein­barung“ mit den Freien Radios gekündigt. Das Schicksal der NKL scheint somit besiegelt und die Zukunft von Apollo hängt nun von neuen Ver­handlungs­gesprächen mit dem Sende­anlagen­betreiber Media Broadcast GmbH (2) ab. Es geht darum, Kosten zu sparen, Umsätze zu steigern und somit mal wieder nur um’s Geld.

Diesmal hält die SLM sich jedoch raus. Wurde damals noch politisch Druck ausgeübt, verweisen die Medienräte heute auf fehlen­de recht­liche Kompe­ten­zen. Me­dien­­­gesetz ist Ländersache und in Sachsen (im Unterschied zu Sachsen-Anhalt) ist die finanzielle Förderung Freier Radios nicht gesetzlich festgeschrieben.

Viele Unterstützer_innen der NKL sprechen vom „Fehlen des politischen Willens“ und fordern eine Gesetzesänderung. Das „Sächsische Privatrundfunkgesetz“ aus dem Jahre 2008 weist jedoch in eine andere Richtung. Zukünftig werden nämlich keine Lizenzen mehr für freie Radio­fre­quenzen ausgeschrieben, mit der Begründung der Digitali­sierung des Hörfunks bis 2015 (und nicht wie geplant bereits zum 1. Januar 2010). Somit darf die SLM auch keine weiteren Lizenzen für analoge Frequenzen mehr vergeben, da diese immer eine Mindestlaufzeit von 8 Jahren haben. Ob nun in den nächsten fünf Jahren eventuell frei werdende Frequenzen genutzt werden oder nicht, ist politisch und anscheinend auch wirtschaftlich nicht relevant, da zumindest der Standort Sachsen gegenüber auswärtiger Radio­kon­kurrenz abgesichert ist.

Aussichten

Die Zeit rennt davon und Ungewissheit bleibt. Welche Optionen gibt es also? Apollo und Broadcast könnten sich über eine Kostensenkung einigen oder die SLM hält sich an ihr politisches Bekenntnis, die Medienvielfalt in Sachsen zu fördern. Im Dresdner Landtag wird das Privatrundfunkgesetz geändert und den NKL eine eigene 24h Frequenz zugestanden. Alternative Rundfunkgebühren könnten erhoben werden oder die NKL ziehen sich aus dem UKW-Betrieb zurück, Apollo wird abgeschaltet und die frei werdenden Frequenzen bleiben in Zukunft ungenutzt oder bereits für Testläufe digitalen Hörfunks besetzt.

Eine populäre Forderung an die SLM ist die Sicherung des bisherigen Modells der Kostenübernahme. Der Medienrat, Apollo oder ein anderer kommerzieller Radioveranstalter sollen die Kosten der Freien Radios übernehmen. Begründet wird diese Argumentation durch eine oberflächliche Rhetorik: „Bürgerradios“ seien „ein wichtiger Teil des demokratischen Me­dien­systems“ und würden zur „Meinungs- und Medienvielfalt“ beitragen. Es sei die „Pflicht“ der SLM, die NKL zu fördern. Macht sie aber nicht, und wen wundert’s? Die Medienräte zeigen lieber mit dem Finger auf andere und halten schützend das Gesetzbuch wie die Bibel vor sich. Es hat System, wenn der Gesetzgeber sich einmal in die Wirtschaft einmischt und ein anderes Mal den Markt sich selbst regulieren lässt. Auch dem Freien-Radio-Fan muss klar sein, dass mit Geschwafel von „Verantwortung den Bürgern gegenüber“ oder „Pflicht und Anstand“ vom Rechtsstaat oder profitorientierten Unternehmertum nichts zu erwarten ist.

Die Freien Radios kämpfen indes weiter um’s nackte Überleben. Die drei NKL sind eine Kooperation eingegangen, verhandeln weiter mit Apollo, üben Druck auf die SLM aus, organisieren Proteste und führen medienwirksam direkte Aktionen durch. Wenn alle Schnüre reißen, würde es ein Zurück auf Los bedeuten und somit ein Neuanfang als Piratenradio. Doch soweit ist es noch nicht und sollte es auch nicht kommen. Unabhängiges Hörfunken muss weiter gehen – fern vom Mainstream wie z.B. der Einflussnahme durch Werbung, Zugangsbeschränkungen für zukünftige Radioproduzent_innen oder die ständig gleiche Hitmusik – und die Freien Radios bie­ten da­für eine Alternative: ob Themen­­sen­dung­en zu Gentri­fizierung oder Heavy Metal und Gender, Informa­tionen zur Subkultur in Leipzig, Live-Berichterstattung von antifaschistischen Gegendemonstrationen, nie gehörten Klanginstallationen und vieles mehr. Freie Radios können noch den eigenen Regeln folgen. Die Stimmen, die nicht im Konsumrausch oder Parteilinienzwang verstummen, gilt es zu unterstützen. Du kannst dich im Internet informieren (3), finde die Bald Funkstille?-Postkarte und schreibe der SLM deine Meinung, gehe Dienstags 19 Uhr zum offenen Aktionstreffen von Radio Blau, sei bei Protestaktionen dabei oder werde selbst Freie_r Radioproduzent_in! Es ist einfacher als du denkst. In diesem Sinne: free the radios – für eine kritische und aktive Gegenöffentlichkeit.

droff

 

(1) Die privaten Radios in Sachsen werden von den Rundfunkketten Regiocast, BCS und Energy Sachsen betrieben.

(2) Media Broadcast GmbH ist der größte deutsche Dienstleister für Bild- und Tonüber­tragungen. 2006: 500 Mio. Umsatz. Im Januar 2008 von der Deutschen Telekom an die französische TDF-Gruppe verkauft.

(3) u.a. siehe radio.fueralle.org

the (konter)revolution will not be motorized

Der Beifahrer des weiß-grünen Autos neben mir leierte die Scheibe herunter und bat mich höflich anzuhalten. Ich betätigte vorsichtig den Rücktritt und kam langsam hinter ihnen zum Stehen. Die beiden Uniformträger stiegen aus und ich hörte den Fahrer schon von weitem irgendwas gegen Radfahrer brabbeln. Ich rollte innerlich die Augen in böser Vorahnung. Zum Glück wollte… äh, konnte ich mich nicht aus­­weisen und so bekam ich nur den beliebten „Schuß vor’n Bug“: „Ein Autofahrer wäre bei ‘ner roten Ampel gleich mal einen Monat seinen Führerschein los!“ meinte er sichtlich parteiisch. Ich nickte brav und erklärte auf Nachfrage des anderen Polizisten, daß meine empirischen Beobachtungen mich zu der Annahme brachten, die Ampel würde eine halbe Sekunde später auf grün schalten. „Letzte Woche auf der Fahrraddemo ham se gesagt, daß Radfahrer ja die seien, die sich an die Regeln halten … „ sagte er sichtlich stolz über den soeben erbrachten Beweis, daß eben doch die Radfahrer das Übel sind. Ich ließ ihn lieber im Unklaren darüber, daß ich einer der Teilnehmer_innen der Demo war und die dor­tige Distanzierung von den schwarzen Schafen (zu denen ich mich gerne zähle) schon vernommen habe. Doch langsam, welche Fahrraddemo überhaupt?

 

Am Mittwoch, dem 28.Oktober 2009, fand eine vom StudentInnenRat Leipzig organisierte Fahrraddemonstration statt, die auf die fahrradunfreundlichen Bedingungen des hiesigen Straßenverkehrs aufmerksam machen sollte. Etwa 350 Fahrräder rollten gemächlich und unter dauerndem Klingeln vom Connewitzer Kreuz die Karl-Liebknecht-Straße entlang zum Petersteinweg, auf dem sie eine etwas andere Zwischenkundgebung abhielten und mit bunter Straßenmalkreide ihren Forderungen auf dem grauen Asphalt Ausdruck verliehen. Anschließend ging es kurz über den Ring und ab dem Augustus­platz wurde durch die radverkehrfreien Zonen bis zum Neuen Rathaus geschoben, vor dem die Abschlußkundgebung stattfand. Dort echauffierte sich dann vor allem der ehemalige StuRa-Sprecher Sven Deichfuß hauptsächlich über die Fahrradverbote in der Innenstadt, welche angeblich in keines Menschen Interesse wären und nur der Idiotie der Stadtoberen entsprängen. Idiotie und Irrsinn waren überhaupt seine vorherrschenden Argumente – auf die Idee, daß hinter Fahrradverboten im Speziellen und der Verkehrspolitik im Allgemeinen auch schlichte ökonomische Interessen (bspw. der Innenstadt-Geschäfts­be­trei­ber_innen) stecken können, kam er wohl nicht. Wie auch, wenn Radfahren in der Argumentation von vornherein immer nur als rein positiv besetzte Prämisse vorkommt, welches geradezu alles Gute auf Erden vereint und – wenn wir nur alle radfahren würden – auch das Hungerproblem in Afrika lösen und endlich den Weltfrieden bringen würde?! Zudem skandalisierte er neben der Innenstadtpolitik noch die polizeiliche Repression gegenüber den Rad­ak­ti­vist_innen der Critical Mass (CM), auf die im zweiten Teil dieses Artikels eingegangen werden soll. Dieser Repression dichtete er gleich mehrere gegen Fahrrad­fahrer_innen gerichtete Maschinenpistolen an und rief es mehrfach in die Menge hinaus, die sich allerdings nicht dadurch aufheizen ließ.

Im Anschluß kam glücklicherweise noch Katharina Krefft von Bündnis 90/Die Grünen zu Wort, die sachlich auf die insgesamt beklagenswerten rechtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen des nicht motorisierten Verkehrs hinwies und ein grundsätzliches Umdenken forderte. Trotz ihrer Parteizugehörigkeit hatte sie einige vertretbare (wenn auch realpolitische) Sachen zu sagen und zeigte neben dem Hinweis auf das gravierende Problem fehlender Radwege bzw. Radfahrstreifen stellvertretend politische Handlungsmög­lich­keiten auf, wie etwa Haus­besit­zer_innen gesetzlich zur Bereitstellung von Abstellmöglichkeiten zu verpflichten; als eine Maßnahme um Radverkehr allgemein zu fördern und die Bedingungen für einen Ver­­kehrswandel grundlegend zu verbessern.

Nach diesen zwei doch sehr unterschiedlichen Redebeiträgen wurden noch einmal die zentralen Forderungen des offenen Briefes (1) verlesen, den mehr als 1.000 Menschen unterzeichnet hatten und sogleich einem Vertreter der Stadt im Rathaus überreicht. Was der sich wohl beim Lesen der Forderungen u.a. nach einer Karl-Liebknecht-Fahrradstraße und einem Tempo-30-Gebot im gesamten Stadtgebiet gedacht hat?! Stellenweise vielleicht sogar dasselbe wie ich – nämlich daß durch Verdrängen von PKW und LKW von einer Hauptverkehrsader in die noch ruhigen, lebenswerten und radfahrsicheren Seitenstraßen ohne ein verkehrsveränderndes Gesamtkonzept rein gar nichts gewonnen ist, eher im Gegenteil. Ebenso mit Tempo-30 – wer will schon noch langsamere Autos und somit noch mehr Abgas, noch mehr Stau, noch mehr Frust im Verkehr?! Und wahrscheinlich kam er sich vor wie in Tarifverhandlungen – Utopisches fordern, um ein Minimum zu erreichen. Dieses Minimum allerdings ist teilweise doch noch sehr vernünftige und beinhaltet sicher für jede_n Leipziger Radfahrer_in nachvollziehbare Forderungen nach ganz konkreten Radfahrstreifen, Ampelanlagen und anderen Maßnahmen in besonders befahrenen und berüchtigten Straßen der Stadt.

Daß sich gar nichts tut von städtischer Seite, der Eindruck sollte indes nicht aufkommen! Rühmt sich die Stadt doch mit innovativen Errungenschaften wie dem Aufstellen von 500 „Leipziger Bügeln“ allein in der Innenstadt (2). Ja, vor allem dort, wo mensch das Rad zum Anschließen erst einmal hinschieben muß.

Die Demonstration gegen diese Zustände war alles in allem eine gelungene Aktion, die aber mehr Potenzial gehabt hätte. Die auch etwas mehr Publicity schon im Vorfeld hätte gebrauchen können, erfuhren viele radaffine Menschen doch erst hinterher von dem Protest. Viel Raum auch in der Analyse und Bewertung ökonomischer und ökologischer Fragen, denn dort gibt es noch einiges zu tun. Das Herunterbeten von Vorteilen des Radfahrens (bspw. für das Klima) nutzt am Ende genausowenig etwas wie die Forderung nach einer Problemverdrängungspolitik. Denn solange Standortlogik und Ver­wertungsdenken die (Verkehrs)Politik der Stadt bestimmen, solange lässt sich weder mit angemeldeten Demonstrationen wie dieser als auch mit trendigeren, alternativen Aktionen wie der Critical Mass viel ausrichten.

Critical Mass – Eine kritische Masse?

Mehr als 15 Radfahrer_innen können in der Bundesrepublik laut § 27 StVO einen geschlossenen Verband bilden. Sie dürfen dann paarweise eine gesamte Fahrspur benutzen, bei roter Ampel dem_der noch bei Grün gefahreren Verbandsführer_in folgen und sind nicht mehr auf Radwege gezwungen. Nutzen tun diese Sonderregelung im Verkehrsrecht nicht nur Schulklassen auf Landerkundungstour, der Sonntagsausflug des Kleintierzüchterverbandes oder eine Anti-AKW-Fahrradkarawane, sondern rechtlich abgesichert auch Rad­fahr­er_innen der Critical Mass:

„Es handelt sich um eine friedliche Protestform, bei der sich scheinbar zufällig und unorganisiert Fahrradfahrer an einem bestimmten Ort treffen um gemeinsam eine Strecke durch ihre Stadt zu fahren. Mit ihrem Auftreten als Masse wollen sie auf ihre Rechte im Straßenverkehr aufmerksam machen.“ (3)

Erste Massenradfahrten mit Protestcharakter fanden schon in den frühen 70er Jahren in Stockholm und ab 1990 mehr als 10 Jahre lang wöchentlich in Wien unter dem Namen „Radfahren am Freitag“ (RaF) statt. Ziele des Protestes waren auch damals schon eine Verbesserung der Bedingungen für den Fahrradverkehr, Förderung ökologischer Politik, sowie überhaupt ein Bewußtmachen der Existenz und Interessen von Radfahrer_innen im kraft­fahr­zeugdominierten Verkehr, nach dem Motto: „Wie blockieren nicht den Verkehr, wir sind der Verkehr!“

Trotz dieser gleichen Ziele und strukturellen Merkmale wie das Fehlen einer Anmeldung und eines Verantwortlichen oder einem Ziel wird der Ursprung der heutigen Critical Mass in San Francisco verortet. Dort fand im September 1992 unter dem Namen „Commute Clot“ (4) durch 48 Teilnehmer_innen eine vorher durch Flugblätter beworbene Fahrt in einen nahen Fahrradladen statt, in dem die Dokumentation „Return of the Scorcher“ von gezeigt wurde. In dem Film erzählte der Fahrraddesigner George Bliss, daß sich in China Auto- und Rad­fahrer_innen an Kreuzungen ganz ohne Signale verständigen. Der Radverkehr staut sich solange auf, bis eine „kritische Masse“ erreicht wird und diese dann quasi automatisch und gefahrlos die Kreuzung passiert. Der Begriff „Critical Mass“ ersetzte bei der zweiten Fahrt das „Commute Clot“ und seitdem bezeichnen sich regelmäßige Massenfahrten in über 300 Städten quer über den Erdball so. In den meisten dieser Städte fahren monatlich (traditionell am jeweils letzten Freitag) zwischen 20 und (mehreren) hundert Menschen gemeinsam Rad. Höhepunkte sind die zweimal im Jahr stattfindenden Fahr­rad­umzüge in Bu­dapest, wo zuletzt 80.000 Menschen zeitgleich in die Pedalen traten.

Aber es gibt auch andere Höhepunkte der Critical Mass. Ein solcher war zweifelsohne die Critical Mass zur Republican National Convention 2004 in New York. Bei den rollenden Protesten gegen die alle vier Jahre stattfindende Parteiversammlung der Republikaner sperrte die New Yorker Polizei ganze Straßenzüge für Radfahrer_innen und ging mit einiger Härte gegen sie vor. 264 Personen wurden festgenommen und hunderte Räder beschlagnahmt. Es war eine in diesem Ausmaß noch nicht dage­wesene Repression gegen fast 5.000 Menschen, die nur friedlich gegen die damalige Politik George W. Bushs und dessen erneute Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten radeln wollten. Aber auch bei kleineren und unbedrohlichen CMs reagieren die Gesetz­es­hüter – meist durch Unwissen – nicht gerade rechtskonform und angemessen auf das monatliche Radfahren.

So geschehen auch diesen Sommer in Leipzig. Die Critical Mass wachte gerade wieder aus dem Winterschlaf auf, fuhr im April mit etwa 60 Leuten eine angenehme Runde und wollte dies am 29. Mai wiederholen. Die abermals relativ große Gruppe wurde nach einiger Verfolgung durch die Polizei rüde gestoppt, ein Teilnehmer brutal vom Rad gezogen. Personalien wurden aufgenommen und knapp 3 Monate später Bußgeldbescheide an mind. 25 Teil­nehmer_innen wegen Überfahrens einer roten Ampel verschickt. Es folgten CMs im Juni und Juli (5), an denen die Polizei filmte und durch ihre massive Präsenz weiter Druck machte. Im August war sogar ein Kamerateam des MDR vor Ort und filmte die Schikanen, die neben übermäßigen Kontrollen der Verkehrstüch­tigkeit der Räder auch noch dazu führten, daß sich ein Mensch bereiterklärte, der unrechtmäßigen Forderung nach einem Verantwortlichen nachzugehen und seine Personalien hergab. Der erste Schritt war also gemacht. Den zweiten setzte der Leipziger Polizeipräsident Wawrzynski schon vorher an, indem er die Rad­fahrer_innen zu Gesprächen bat, welche nach der CM im August stattfanden. Man einigte sich auf eine „Zusammenarbeit“ mit der Staatsgewalt, indem man der haltlosen Forderung, immer einen Verantwortlichen für’s Radfahren zu benennen, nachkam. Im Gegenzug begleitet die Polizei die Critical Mass nur noch mit minimalem Aufgebot, hat aber immer schön ein Auge auf und so letztlich die Kontrolle über sie.

Eine „legale Critical Mass“ – ein Widerspruch in sich, möchte man meinen. Doch scheinbar geht es den aktuellen Leipziger CMler_innen nicht um den oben erwähnten Protest oder den subversiven Charakter ihrer Aktion, auch wenn sie sich durch den Pakt mit dem Teufel den Status einer politischen Versammlung zugestehen. Ein Schlag in’s Gesicht derjenigen jedenfalls, die die Critical Mass wegen ihres politischen Anspruchs, der anarchistischen Organisationsform und der damit verbundenen Hoffnung auf Veränderung wegen kennen und lieben lernten. Und sei es nur die Hoffnung auf die Solidarität und Verbundenheit der radfahrenden Klasse, deren Befreiung vom Joch des motorisierten Verkehrs nur ihr Werk selbst sein kann. In diesem Sinne halten wir’s doch mit einem Kreidezitat von der Leipziger Raddemo:

„Radfahrer aller Länder vereinigt euch! Ihr habt nichts zu verlieren außer eure Ketten!!“

 

shy

 

(1) Zu finden und noch online zu unterzeichnen unter www.stura.uni-leipzig.de/stura-cms/1467.html

(2) Siehe: www.leipzig.de/de/buerger/stadtentw/verkehr/rad/

(3) cmleipzig.blogspot.com/

(4) Frei übersetzt in etwa „Pendelgerinnsel“ – da die Pedalritter_innen den zähesten Verkehr in der Pendelzeit (Rush Hour) benutzten, um dann einem Gerinnsel gleich Verkehrsadern zu verstopfen.

(5) Hier hatte einer der Beamten die mitt­lerweile berühmt-berüchtigte Maschinenpistole umhängen, während er neben seinem Fahrzeug der Bereitschaftspolizei stand. Die Polizei erklärt das Bild damit, daß dieser zur Nachtschicht eingeteilt war und diese insb. des Diskokriegs wegen stärker bewaffnet ist, diese Waffen aber nicht einfach abgelegen dürfen.

„Tod den Feinden der Revolution“

Eine Kritik am Wendehype

Und wieder ein Jahrestag, ein Gedenkjahr, ein Augenblick, um in der Geschichte inne zu halten und ihrer Helden zu gedenken. Es ist 2009. 20 Jahre nach der „friedlichen Revolution“, die den sozialistisch unterdrückten DDR-Bürger­Innen eine Welt grenzenlosen Konsums eröffnete. Vor 20 Jahren verpesteten die ersten Trab­bis auch westdeutsche Luft. Vor 20 Jahren fiel die Mauer oder korrekter, sie wur­de aus­ein­an­der genommen und als Sou­venir in die Welt verkauft, um ewig und überall an vergangenes Unrecht zu gemahnen.

So zelebrierte die Stadt Leipzig den 9. Oktober mit einem Hochglanzevent namens „Lichterfest“, um traditionsbewusst Kerzen zu entzünden und auf dem Innenstadtring dem Weg der 1989er „Revolutionäre“ zu folgen, flankiert von diversen Lichteffekten seriöser Künstler­Innen. Massen verstopften die Einkaufspassagen, lauschten den Tondokumenten vergangener Zeiten, zelebrierten sich selbst und das Image der Stadt Leipzig.

Die Begrifflichkeiten, die für die Deutung der Ereignisse von 1989 bemüht werden, konstruieren eine Vergangenheit, die man sich nur aus dem Heute heraus so schön malen kann. Die Beteiligten werden zu Helden glorifiziert und der heutige gesellschaftliche Zustand als das damalige Ziel definiert, das auf friedlichem Wege erreicht wurde. Die demonstrierenden Massen von damals werden so zu „Revolutionären“, zu Akteuren einer „Revolution“, obwohl die Masse weder homogen war noch einhellig die Abschaffung der DDR forderte. Viele wollten lediglich eine Re­for­mierung des Systems Sozialismus oder auch dessen tatsächliche Realisierung ohne Bonzen, Stasi und Mauerschützen.

Nun soll hier nicht gesagt werden, dass die DDR wieder her soll oder dass Erinnerung nicht wichtig ist. Vergangene Er­eig­­nisse haben eine große Bedeutung, etwa für die subjektive Verortung des Menschen im Hier und Jetzt. Sie können den Glauben an eine wie auch immer geartete Zukunft bestärken und die idealistische Hoffnung unterfüttern, dass die Gegenwart nur ein vorübergehender Moment der Stagna­tion ist…der auch wieder vorbei geht. Immerhin sind die Menschen damals über­haupt noch auf die Straße gegangen, um gegen gewisse Regeln des Systems zu pro­testieren. Dass heute nur noch in Erin­nerung an die hehre Ver­gangenheit so viel Mo­bilisierungspo­ten­tial zu existieren scheint, ist bedauerlich. Trotz wachsender so­zialer Ungleichheit oder zweifelhaften Mi­­li­täreinsätzen in der ganzen Welt lässt sich auf der Straße kaum noch jemand blicken, um dagegen aufzubegehren. Es scheint als wäre mit der „friedlichen Revo­lu­tion“ alles erreicht, die BürgerInnen in den aktuellen Zuständen am Ende der Geschichte an­gekommen. Das zumindest ver­mittelt der Hype um das 20jährige Ju­bi­­läum in Form des „Licher­festes“ in Leipzig.

Dem Werbespektakel mit historischen Bezügen fehlte also komplett der Moment kritischer Reflexion. An dieser Stelle hakte sich das Projekt „Licht-Spiel-Feld-2009“ ein, mit einer etwas praktischeren Idee zum Umgang mit 1989. Die drei Freitage vor dem Großereignis luden der Helden Wider Willen e.V., AFAEA (Aktionskreis für aktive Erinnerungsarbeit), ProMemoria und die Gruppe Schwarze Zahlen zum aktiven Erinnern auf die Karl-Heine-Str. zwischen Garage und Jahrtausendfeld ein. Hier sollten Fragen aufgeworfen werden: „Wie lange gibt es eigentlich schon Revolution in Deutschland? Wie wird man friedlicher Revolutionär? Was heißt es plötzlich einer Masse anzugehören? Wie skandiert man die entscheidenden Sätze richtig: WIR sind das VOLK? Wir sind das VOLK? Wir SIND das Volk? Wir sind DAS Volk?“ (1). In so genannten Kaderschmieden sollte die „Generation, die über keine aktive Erinnerung mehr an die Ereignisse des Herbstes ’89“ (1) verfügt, im friedlichen Demonstrieren trainiert werden. Dabei wurde versucht das Ambiente möglichst dem Zeitgeist vor 20 Jahren anzupassen. So gab es ein Grenzhäuschen mit Wechselstube, wo sich der Euro endlich mal direkt in Gewaltlosigkeit, Freiheit oder Demokratie umtauschen ließ. Außerdem wurde freudiges Wiedersehen nach dem Mauerfall geübt, indem sich zwei Gruppen jubelnd in der Mitte des Jahrtausendfeldes trafen.

Einen zeremoniellen Rahmen fand die künstlerische Revolutionsübung mit der Weihung der Friedensglucke durch Tho­mas Müntzer (2). Das offizielle Pendant zur Glucke, die Glocke der Demokratie, wurde auf dem Augustplatz enthüllt. Es handelt sich dabei um ein übergroßes hohles goldenes Ei, mit dem Motto: „Demokratie ist in unendlicher Nähe längst sichtbar als Kunst“, das aber von den Passant­Innen höchstens noch mit Colum­bus in Verbindung gebracht wurde.

Die Proben auf dem Jahrtausendfeld wurden am 9. Oktober praktisch. Der Plan war die Friedensglucke mit Gesang („Ich geh mit meiner Laterne“) in die Innenstadt zu treiben und die blinden Massen zu singenden Massen zu machen. Die Ak­tions­methode lässt sich unter subversiver Affirmation fassen, womit versucht wird, die herrschende Deutung des 9. Oktober 1989 aufzubrechen. Dabei geben sich die Initiatoren einen offiziellen Anschein, durch seriös wirkende Logos oder eine offizielle Wortwahl wie „aktive Er­in­nerungs­arbeit“, die die unterschwellige Kritik am offiziellen Umgang mit der Geschichte verschleiern. Die Ent­wen­dung und Umdeutung der Symbole – hier wird aus der Glocke eine Glucke und aus Pfarrer Führer gar Thomas Müntzer – macht die Position dann schon klarer.

Das große Ziel der Aktion, die singenden Massen, wurde leider nicht realisiert, da nur wenige mit bunten Hütchen, Tröten und Flüstertüte von Plagwitz in die Stadt aufbrachen. Außer einer Kleinfamilie mit Lampion schloss sich auch niemand an. Die Leute schmunzelten oder rümpften die Nase, weil die beschwingten Friedens­gluckenanhängerInnen keinen andächtigen Ernst an den Tag legten. So wurde zwar teilweise irritiert, aber keine kritische Masse erreicht, um das Imagespektakel aus den Angeln zu heben.

wanst

 

(1) aus: Aufruf von AFAEA

(2) Thomas Müntzer wurde in der DDR als Anführer der Bauernaufstände in Thüringen 1524/25 geehrt, der ersten „proletarischen Erhebungen“.

Desorientiert gegen Deutschland

„Still not loving Germany“-Demonstration in Leipzig

Die Veranstalter_innen hatten wohl mit mehr Zuspruch gerechnet. Aber obwohl vom Lautsprecherwagen aus stolz verkündet wurde, man hätte im Vorfeld euro­paweit mobilisiert, waren es doch nur knapp 500 Leute, die sich am 10. Oktober zusammenfanden, um unter dem Motto „Still not loving Germany“ durch die Leipziger Innenstadt zu marschieren. Weder griechische Anarchos noch britische Kommunist_innen waren in der Menge auszumachen, und auch die Berliner Autonomen waren an diesem Tag mit der Verhinderung eines zeitgleich in der Hauptstadt stattfindenden Naziaufmarsches genug beschäftigt. Sogar viele Ortsansässige schienen angesichts der ungemütlich nasskalten Witterung lieber zu Hause geblieben zu sein.

Zahlreich vor Ort war hingegen die Polizei, die sich allerdings zurückhielt. Für die direkte Betreuung der Demo waren relativ zivil in Lederjacken gekleidete Beamte zuständig, während die hochgerüsteten Sondereinheiten sich auf die umliegenden Seitenstraßen verteilten. So verlief die Demonstration erwartungsgemäß ruhig. Die Passant_innen verfolgten das Geschehen mit Kopfschütteln, manch eine(r) reagierte sichtlich erbost („Geht mal arbeiten!“), während für viele wohl gänzlich unklar blieb, was ihnen da vermittelt werden sollte. Kein Wunder, gingen von dem Demonstrationszug doch für unbedarfte Beobachter_innen reichlich widersprüchlich erscheinende Signale aus. Auch die Demonstrant_innen selbst schienen nicht genau zu wissen, wogegen es denn gerade ging: Gegen Nationalismus oder doch nur gegen deutschen Nationalismus?

Eine gewisse Inkonsistenz war da vorprogrammiert. Auf die obli­ga­torischen Israelfah­nen war mensch schon vor­­bereitet, aber auch ameri­ka­nische, britische und sowjetische Nationalflaggen wur­­den stolz geschwenkt. Sonst könnte ja noch wer auf die Idee kommen, man hätte was gegen Nationalstaaten im allgemeinen… Um den Flag­gen­wald noch ein wenig dichter zu machen, wurden vor Beginn der Demo zusätzlich kleine Papierfähnchen in der Menge verteilt. Niedlich war auch das mit „No border, no nation“ beschriftete Plakat, welches ein etwas übereifriger Demonstrant zusätzlich mit je einer kleinen USA- und Israelfahne aus Papier dekoriert hatte. Auf inhaltliche Widersprüche muss man eh keine Rücksicht nehmen, wenn es nicht um Inhalt, sondern nur um Style geht.

Passend dazu übten sich auch die Redebeiträge (z.B. der Initiative gegen jeden Extremismusbegriff) eifrig im Differenzieren: Natürlich seien Nationalstaaten und Nationalismus generell ein Ausdruck der falschen Verhältnisse, aber in Deutschland seien die Verhältnisse eben ganz besonders falsch. Die praktische Schlussfolgerung lautet dann: „Nationen abschaffen, fangen wir mit Deutschland an!“ (1) Als ob die Weltrevolution ausgerechnet hier anfangen würde! Da hätte mensch noch mal bei Lenin nachlesen sollen. Der wusste schon vor 100 Jahren: Die Deutschen können keine Revolution machen, weil in Deutschland das Betreten des Rasens verboten ist.

Ohnehin herrschte bei den meisten Redebeiträgen ein an Adorno geschulter Sozio­logenslang vor, was auf Dauer etwas ermüdend wirkte. Eine Rede z.B. mit dem Hinweis zu beenden, dass bei aller Kritik am Nationalismus im allgemeinen die deutschen Spezifika nicht vernachlässigt werden dürften (wie es die Sprecher der ehemaligen Antinationalen Gruppe taten), ist gut gemeint, aber etwas mehr Mut zum Populismus wäre insgesamt doch wünschenswert gewesen.

Derlei theoretische Trockenübungen dürften aber auch ein Indiz dafür sein, dass manchen An­­ti­­deutschen die alten Parolen nicht mehr so flott über die Lippen kommen. Denn auch szeneintern gab es Kritik. So verteilten z.B. Leute von der Hallenser Gruppe No Tears For Krauts Flugblätter (2), in denen sie hart mit den Organi­sator_innen der Demonstration in´s Gericht gingen. Die seien irgendwo in den 90er Jahren hängengeblieben, das Deutsch­land, gegen das sie ihre Kritik richteten, sei „schon seit gestern nicht mehr existent. Immerhin seien z.B. die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen auch schon fast 20 Jahre her, der oft beschworene „rechte Konsens“ sei ein Hirngespinst, vielmehr hätte sich mittlerweile eher ein „antirassistischer Konsens“ durchgesetzt. Kurz: Die Demo­veranstalter_innen wüssten „offensichtlich nicht so richtig, warum sie Deutschland nicht lieben sollen.“

In eine ähnliche Kerbe haute auch Hannes Gießler in einem Cee-Ieh-Artikel (3), dessen Inhalt sich grob mit den Worten „So schlimm ist es doch gar nicht“ zusammenfassen lässt. Dabei schien Gießler in den letzten drei Jahren mit seiner Theoriebildung nicht wesentlich weiter gekommen zu sein: Schon anlässlich der Fußball-WM 2006 erschöpfte sich sein Vorbehalt gegen den neuen deutschen Party-Nationalismus (4) darin, dass dieser doch irgendwie „borniert“ sei. Wer am Nationalismus nur das zu kritisieren hat, der hat im Grunde gar keine Kritik, sondern reduziert politische Meinung zur bloßen Geschmackssache. Das ist die Kehrseite des antideutschen Rumreitens auf dem deutschen Sonderstatus: Wenn man doch mal bemerkt, dass der deutsche Nationalismus gar nicht so besonders ist, kann man schon mal die Orientierung verlieren. So wird die „Du-bist-Deutschland“-Werbung für Gießler zur antirassistischen Kampagne, und auch an der gängigen Abschiebepraxis hat er wenig auszusetzen: Die sei schließlich nicht rassistisch, sondern rein pragmatisch motiviert. Als ob für die Beurteilung einer bestimmten Praxis der Geisteszustand der Verantwortlichen entscheidend wäre und nicht vielmehr das, was hinten rauskommt…

Für so viel „ideelles Deutschlandfahnenschwenken“ wird Gießler wiederum von den No-Tears-For-Krauts-Schreiber_innen gedisst. Aber auch die haben Probleme mit der Suche nach einem Feind, der den Dauerzustand moralischer Empörung rechtfertigen könnte. Viel fällt ihnen dabei nicht ein. Nur im multikulturalistischen „Antirassismus“ meinen sie, noch den alten völkischen Nationalismus weiterleben zu sehen. Dort würde „die antiimperia­listische Liebe zum Volk“ konserviert. Im Zentrum stünde dabei „längst nicht mehr das Individuum, das für seine Handlungen verantwortlich gemacht und kritisiert werden kann. Die Menschen in der Dritten Welt, die hiesigen Migranten und die von Abschiebung Bedrohten werden – und das zeigt nicht zuletzt die Narrenfreiheit, die Sexis­ten mit Mi­gra­tions­hintergrund in so man­chem besetzten Haus genießen – in­zwi­schen in Blut-und-Boden-Manier als Exemplar ihrer Kultur begriffen: Sie kommen halt aus einem anderen Kulturkreis.“

Das kann natürlich mit Recht kritisiert werden, in erster Linie, weil solches Denken gerade nicht antirassistisch ist. Was aber an einem linksalternativen Multikul­tura­lismus, der Antirassismus auf die Forderung reduziert, alle sollten sich doch bitteschön liebhaben, so neu oder gefährlich sein soll, können die Autor_innen nicht erklären. Dieser Mangel an ernsthaften Gegnern wirkt auf Dauer natürlich frustrierend. So erklärt sich wohl der vorwurfsvolle Tonfall, den die No-Tears-For-Krauts-Autor_innen zum Ende ihres vierseitigen Pamphlets gegen die Demo­orga­nisator_innen anschlagen: „Ihnen geht es nicht um Wahrheit; ihnen geht es nicht darum, die Frage ´was deutsch ist´ kritisch – und vor allem: auf der Höhe der Zeit – auf den Begriff zu bringen.“

Mag sein, aber ist das nicht ein wenig viel verlangt? Auf die Frage „was deutsch ist“ haben schließlich auch die völkischen Nationalist_innen in den letzten 200 Jahren keine befriedigende Antwort geben können – die konnten höchs­tens sagen, „was nicht deutsch ist“ (nämlich z.B. die Franzosen, Polen, Engländer usw.). Es dürfte sinnvoller sein, die Denkkategorien des Gegners kritisch auseinanderzunehmen, anstatt sie „kritisch auf den Begriff zu bringen“. Dann würde man eventuell auch merken, wie hohl diese Kategorien sind. Es gibt kein „deutsches Wesen“, das „deutsche Volk“ ist eine Fiktion, die nur den Zweck hat, das gemeinsame Unterworfensein unter eine Staatsräson ideologisch zu überhöhen. Die Bundesrepublik Deutschland ist nichts Besonderes, sondern ein stinknormaler Nationalstaat. Dass dieser Staat noch immer existiert und dass man selber darin leben muss, ist Grund genug, um dagegen zu sein.

(justus)

 

(1) antide2009.blogsport.de/contributions/

(2) nokrauts.antifa.net/

(3) www.conne-island.de/nf/169/29.html

(4) www.conne-island.de/nf/133/3.html

Plaque e.V. kauft Industriestraße 101

27. Oktober, 11 Uhr, Amtsgericht Leipzig, Raum 101:

Die zweite Zwangsversteigerung (1) von Haus und Hof in der Industriestraße 101 beginnt und im Laufe der Verhandlung wird sich der Gerichtssaal noch mit ca. 30 Bewohner- und Unter­stützer_innen des linken Hausprojektes Plaque füllen. Der junge Herr Vorsitzende betet die Formalitäten im teilweise kryptischen Amtsdeutsch runter, Rechtsanwalt und Gläubigervertreter Günter von der Florian Vermögensgesellschaft lächelt immer wieder verschmitzt in die Zuschauerrunde und Zwangsverwalter Helmut kommt 10 Minuten zu spät.

Es ist sehr still im Raum als um 11:12 Uhr die auf eine halbe Stunde angesetzte Versteigerung ihren Anfang nimmt. Das große Warten beginnt und es wird unruhig im Saal. Ein Vertreter des Vereinsvorstandes muss vortreten und Unterlagen wie Bürgschaft und Auszug aus dem Vereinsregister etc. vorlegen. Um 11:30 Uhr wird dann das Gebot des Vereins bekannt gegeben: 100.000 Euro. Die Nervosität wächst und die Frage, ob nun noch andere Mitbieter zu dieser Versteigerung erscheinen werden, hängt schwer und unausgesprochen in der Luft. Um 11:43 fällt endlich der (imaginäre) Hammer – verkauft! Herzlichen Glückwunsch lieber Plaque e.V., Ihr seid neuer Hausbesitzer und Eigentümer.

RM943

Eigentlich wäre das Plaque im Oktober diesen Jahres bereits mutige 15 Jahre alt geworden. Von Frühjahr bis Herbst 1994 kam es zu einer Besetzung der Häuser in der Aurelienstr. 56-58, gleich hinterm heutigen Jahr­tau­send­feld und so im Grenzbereich Plagwitz/Lindenau im Leipziger Westen. Die neuen Bewohner­innen der zuvor leer stehenden Altbauten wollen zusammen leben und gründen den Verein RM943 e.V. Sie richten Werkstätten, Kneipe und Lesecafé ein, veranstalten Konzerte und suchen jenseits der starken Naziaktivitäten in Grünau, bürgerlichen Einzimmerwohnungen sowie Conne Island in Connewitz sich selbst zu finden.

Was fehlte und auch nicht vermisst wurde, machte den ca. 14 Be­wohn­er_innen letztlich doch den Strich durch die Rechnung. Unerwartet und unvorbereitet wurden sie am frühen Morgen des 20. Oktober 1994 mit gezogener Waffe aus dem Bett gezerrt, eingefahren, ED-be­handelt und erst am Abend wieder frei ge­lassen. Ganz in jämmerlicher Manier der Leip­ziger Linie fand diese Hausbe­setzung so ein abruptes Ende. Anklagen auf Haus­friedensbruch, illegalen Gast­stätten­betrieb, Ruhestörung usw. folgten.

Was blieb, war die Verhandlungsbereit­schaft der Stadt, die dem Verein Ausweichobjekte anbot. Einige Ex-Besetzer_innen entschieden sich nach Connewitz zu ziehen, andere wollten in Plagwitz bleiben und auch den Verein nicht aufgeben und zogen so im April 1995 in das LWB-verwaltete Haus in der Industriestraße 97 ein. Aus RM943 wurde das Plaque.

1995 – 2010

Der erste Cafébetrieb fand im Keller des Hauses statt und erst ab Mitte 1996 im Erdgeschoss. Es war der Ort, wo über die Zeit die legendären Halloweenparties und Bingonächte, der Suppendienstag und Punkertresen ihren Anfang nahmen. Ansonsten waren die ersten Jahre mehr braun als rosig. Mindestens drei Mal schafften es Nazis sogar bis in’s Haus hinein. Das Café und auch die Wohnungen wurden verwüstet und nicht nur nagelneue Springerstiefel geklaut. Die Stahltür im unteren Hausflur, Fensterläden und Plexiglas im Erdgeschoß waren daraufhin nur eine Konsequenz. Heldenhaft wurde sich weiter – und nicht nur vor dem Plaque – den Nazis in den Weg gestellt.

Weniger Stress gab es mit der LWB, die all die Jahre keine wirkliche Rolle spielten, außer dass sie wahrscheinlich froh war, die eine oder andere Miete der 6-11 Bewohner_innen zu verzeichnen. Diese versuchten aber schon damals von der LWB weg zu kommen. Das Thema Hauskauf kam immer wieder zur Sprache. Es gab Optionen wie Erbpacht und Zusammenarbeit mit der Connewitzer Genossenschaft, doch konnten diese nie umgesetzt werden.

Haus und Hof in der Industriestr. 97 schien auch nicht so optimal zu sein. Der Riss in der Wand des Hausflures wurde stetig breiter und war nur eine Baustelle im Haus, die durch Reparaturmaß­nahmen vom Vermieter hätte behoben werden müssen. Ende des Jahres 2005 war es dann soweit, dass aufgrund maroder Bausubstanz und akuter Einsturzge­fährdung die LWB das Mietverhältnis auflöste. Auch wenn diese Ausweichobjekte anbot, wurde das neue Plaque eher aus Eigeninitiative zwei Häuser weiter in der Industriestr. 101 gefunden.

Bereits seit dem Jahr 2000 stand dieses Haus leer. Der ehemalige Eigentümer hatte sich damals (wohl nicht nur im Immo­bilienhandel) verspekuliert und ist heute mit 1,5 Millionen Euro bei der Bank verschuldet. Im Laufe der Zeit soll es zwar andere Kaufinteressenten gegeben haben, die jedoch in den laufenden Zwangs­versteigerungsverfahren nie mitgeboten haben. Der Verkehrswert lag bei 250.000 Euro, doch letztlich und glücklicherweise erhielt der Plaque e.V. mit einem 100.000-Euro-Gebot (2) den Zuschlag.

Wie geht’s also weiter? Die 100.000 müssen bis Anfang Dezember überwiesen sein. Damit nicht genug, kommen noch Zinsen, Gerichtskosten, Versicherungsgebühren sowie allgemeine Erwerbskosten wie für Notar und Grundbucheintrag hinzu. Vielleicht müssen ja die Mieten erhöht oder mehr Konzerte, Voküs, Bingonächte oder politische Veranstaltungen organisiert oder einfach mehr Bier getrunken werden. Wichtig ist erst mal, dass es auch weiterhin „Willkommen im Plaque“ heißt – ob nun zum Sonntagsfrühstück von 12-16 Uhr oder abends zur Vokü, zum Suppendienstag, Punkertresen am Mittwoch, Edelvokü jeden Donnerstag jeweils ab 20 Uhr oder zu den nun auch zukünftig stattfindenden Tanzflächen, Bühnen­shows, Zockerfreuden und Trinklaunen.

(droff)

(1) Dies war bereits der 3. Termin im letzten Zwangsversteigerungsverfahren. Die ersten Verfahren liefen ohne Beteiligung des Plaques und wohl ohne jegliche Kaufinteressent_innen.

(2) Ein erster Ersteigerungsversuch scheiterte Anfang April 2009, da der einzige Bieter Plaque mit 95.000 Euro unter dem Min­dest­ge­bot lag und so das Angebot ab­ge­lehnt wurde. Der nächste Termin am 10. August wurde vom Gericht verschoben, weil ein Brief an den Eigentümer nicht zugestellt werden konnte.