Archiv der Kategorie: Feierabend! #43

Skandal! NPD von Neonazis unterwandert?

Wenn man Wert auf ein gutes Image legt, sollte man sich lieber keinen verurteilten Rechtsterroristen ins Haus laden. Schon gar nicht jetzt, wo die mediale Öffentlichkeit gerade mit Entsetzen bemerkt hat, dass Neonazis gelegentlich zu Rassismus und gewalttätigem Verhalten neigen.

Die Erkenntnis kam spät, aber irgendwann fiel der Groschen doch: Auf Druck der NPD-Führung wurde die für den 26. November geplante Veranstaltung mit Karl-Heinz Hoffmann kurzfristig abgesagt. Hoffmann leitete ab 1973 die „Wehrsportgruppe Hoffmann“, die 1980 verboten wurde, nachdem eines ihrer Mitglieder mit einem Bombenanschlag auf das Münchener Oktoberfest 13 Menschen getötet hatte. Die Leipziger Jungen Natio­naldemokraten hatten Hoffmann in das „nationale Zentrum“ in der Odermannstraße eingeladen.

Trotz der Absage konnte die NPD aber nicht über mangelnde Negativ-Publicity klagen. So gab es am 26.11. nicht nur eine bürgerliche Protestkundgebung, an der auch OBM Burkhard Jung teilnahm. Zudem beteiligten sich etwa 500 Menschen an einer Antifa-Demo, die von der Initiative Fence Off! (siehe FA! 40) organisiert worden war. Bereits am 24. September hatten etwa 2000 Menschen gegen das Zentrum in der Odermannstraße demonstriert.

Dass die NPD-Führung ihren Nachwuchs zurückpfeifen muss, ist nur das letzte Zeichen eines insgesamt zwiespältigen Verhältnisses: Einerseits bemüht sich die NPD seit Jahren um ein solides, „gutbürgerliches“ Image, andererseits kann sie nicht auf die jüngeren militanten Neonazis als Basis verzichten. Die Jungen Nationaldemokraten und das von diesen genutzte Zentrum in der Odermannstraße bilden die Schnittstelle zwischen Partei und „Freien Kräften“.

Näheren Aufschluss über das wechselseitige Verhältnis geben die unlängst von der GAMMA-Recherchegruppe veröffentlichten Daten* aus einem internen Forum des Freien Netzes (einer von den Freien Kräften betriebenen Website). Dieses Forum war nur einem engen Kreis von gerade mal 21 „Kadern“ zugänglich, bekannten Neonazi-Aktivisten u.a. aus Leipzig, Altenburg, Delitzsch und Geithain.

Die in den internen Debatten geäußerten Überzeugungen sind nicht überraschend: Die Aktivisten verstehen sich als Nationalsozialisten, pflegen antisemitische Ressentiments und befürworten gewalttätige Aktionen. Schon eher interessant ist ihre Haltung zur NPD. So schreibt User „Feldgrau“ zum Thema: „Meine Mutterpartei? Also ich glaube nicht das ich die NPD so bezeichnen würde…Sie ist für mich lediglich Werkzeug im politischen Kampf.“ Ein weitgehend instrumentelles Verhältnis also. Hinter dem Pseudonym „Feldgrau“ verbirgt sich übrigens Tommy Naumann, NPD-Kandidat bei den letzten Stadtratswahlen und Vorsitzender der sächsischen JN…

Spannungen zwischen NPD und Freien Kräften gab es schon länger. Nicht nur aus „ideologischen“ Gründen, also weil die NPD den Freien Kameraden nicht radikal genug und diese wiederum der Partei zu undiszipliniert waren. Sondern auch ganz banal des Geldes wegen: Wie der GAMMA Newsflyer schon Mitte 2010 berichtete, mussten die Freien Kräfte für die Nutzung der Odermannstraße monatlich 800 Euro an die NPD zahlen. Aber das Problem hat sich nun wohl erledigt: Für Ende September wurde dem Kulturverein Leipzig-West e.V., der als rechtliches Aushängeschild der Freien Kräfte fungiert, vom Vermieter, Steven Hahn aus Grim­ma, gekündigt. Gerüchten zufolge haben die Freien Kräfte mittlerweile einen neuen Treffpunkt in einer Kneipe in der Wurzner Straße gefunden.

justus

*gamma.noblogs.org/fn-leaks

Lokales

Editorial FA! #43

Alles geht auch mal zu Ende. So z.B. das Jahr 2011 und unsere Layout-Phase. Ja, ja, so eine Zeitschrift, das ist nicht immer nur Halligalli und Rock´n´Roll, sondern was das Technische angeht die meiste Zeit über business as usual: Texte lesen, kritisieren, und dann noch mal lesen, Bilder aus dem Internet klauen und sich Metaphern aus den Fingern saugen, sich mit Layout­fitzeleien rumärgern und zu guter Letzt auch noch ein fluffiges Editorial zusammenschschustern….

Anstrengend wird es vor allem dann, wenn nur Wenige die Köpfe rauchen lassen können, wie bspw. auch in diesem Heft. Denn unser Redaktionskreis ist immer noch auf ein weitgehendes Minimum reduziert. Aber halt – genau­genommen stimmt das gar nicht mehr. Denn es gibt auch zwei (relativ) neue Gesichter hier, die nicht nur frischen Wind, sondern auch neue Themen ins Heft bringen. Welche das sind, müsst Ihr aber schon selbst herausfinden.

Thematisch vielfältig, aber politisch klar verortet ist übrigens auch unsere Verkaufsstelle des Monats: der linke Buchladen Drift.

Viel Spaß beim Schmökern,

Eure Feierabend!

enorm abnorm

Stehst Du auf Mangas, sympathisierst mit Cosplay oder stehst gar im schlimmen Verdacht, homosexuell zu sein? Dann hast Du es dieser Tage leicht, der „bizarre[n] Welt des Jonathan H.“ zugerechnet zu werden. Den Anfang November im Leipziger Elsterbecken zerstückelt aufgefundenen Toten nehmen Bild, Dresdner Morgenpost und LVZ derzeit zum Anlass, wieder einmal ihre Ansichten von Norm und Abnorm zu (re)konstruieren. Mit Lügen und wilden Vermutungen über persönliche Verhältnisse und Eigenschaften Jonathans und der schon obligatorischen Täter-Opfer-Umkehr bei deviant markierten Personen wird Jonathan posthum zum sonderbaren Perversling, der zwangsläufig so enden musste. Also Leute, die Ihr in der „Manga-Szene“ oder der „Homosexuellen-Szene“ zu finden seid – Ihr bewegt Euch auf ganz dünnem Eis! War doch schon immer klar. Nun, was uns da außer der Empörung übrig bleibt, ist wohl nur die rücksichtslose Diffamierung aller Bild-, Mopo– und LVZ-Redakteur_innen und ja, auch der Leser_innen als passive Erfüllungsgehilfen dieser Schweinepresse. Oder um es frei nach Max Goldt zu sagen: „Diese Zeitungen sind Organe der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen. Jemand, der zu einer dieser Zeitungen beiträgt, ist gesellschaftlich absolut inakzeptabel.” Punkt.

(shy)

„Kita-Kürzungen stoppen“

Die Stadt Leipzig hat beschlossen für das Jahr 2012 bei Kindergärten, Krippen und Horten kräftig zu sparen. Davon betroffen sind vor allem Einrichtungen in privater Trägerschaft, die in Leipzig mehr als 70 Prozent der Kitaplätze stellen. Dagegen regte sich bereits im November heftiger Pro­test. Viele Eltern nahmen an der Ju­gend­hil­feaus­schuss­­­sit­zung des Stadtrates am 07. November teil und äußerten ihren Unmut über die Kürzungen. Zur Stadtratssitzung am 17. November kamen sogar mehr als 700 Menschen zu einer bunten und lautstarken Demonstration zusammen. Die Rats­mit­glieder wurden in der Wandelhalle mit Rasseln, Sprech­chören und Trans­­parenten lautstark begrüßt.

Nur geholfen hat das fast nichts. Die Stadt nahm an ihrem Spar­kurs nur marginale Än­derungen vor. Die Initiative „Kita-Kürzungen-stoppen“ startete daher am 15. No­vember das gleichnamige Bür­ger­begehren, welches genau genommen aus vier sepe­raten Bürgerbegehren be­steht. „Wir benötigen 22.000 gültige Un­ter­schriften von LeipzigerInnen über 18 Jahre. Ziel ist daher, bis spätestens 15. Januar 30.000 Unterschriften zusammen zu be­kommen. Jeder kann helfen zu sammeln“, so Rechtsanwalt Dirk Feiertag, einer der Organisatoren des Bürgerbegeh­rens.

Die Bürgerbegehren haben vier wesentliche Ziele: Als Erstes sollen die von der Stadt gekündigten Verträge mit den Freien Trägern der Jugendhilfe über den Betrieb und die Finanzierung der Kitas zu ungeänderten Bedingungen fortgesetzt werden. Die Stadt hatte die Verträge gekündigt, um die Zuschüsse in den nun neu vorliegenden Verträgen drastisch reduzieren zu können.

Als Zweites hat die Stadt beschlossen, 800 bestehende Krippenplätze in Kinder­gartenplätze umzuwandeln. Diese Umwandlung soll gestoppt werden. Denn nach dem Willen der Initiative sollen Kindergartenplätze nicht auf Kosten von Krippenplätzen geschaffen werden. Es müsse vielmehr beides ausgebaut werden. Schon jetzt kommen in Leipzig nur 5.000 Krippen- und Tagespflegeplätze auf 15.000 Kinder im Krip­pen­alter. Die Streichung von 800 Krippenplätzen verschärft den Versor­gungs­notstand in diesem Bereich noch mehr.

Damit erweist sich die Stadt zudem einen Bärendienst. Denn nach der Streichung der Krippenplätze haben Klagen von Eltern, die einen Krippenplatz von der Stadt fordern, schon jetzt sehr gute Erfolgsaussichten. Und das, obwohl die sogenannte Krippenplatzgarantie normalerweise erst ab 2013 gelten würde. Denn die Krippenplatzgarantie greift nach dem Gesetz ( § 24a SGB 8) schon jetzt, wenn die Stadt in Teilbereichen Krippenplätze kürzt. „Ich bereite bereits die ersten Klagen für Krip­penplätze vor und bin zuversichtlich, mit Eilverfahren schnell Plätze für die betroffenen Eltern erstreiten zu können“, so Rechtsanwalt Feiertag.

Als Drittes wird gefordert, die Zuschüsse an die Freien Träger um den Betrag zu erhöhen, die die Eltern für einen normalen Kinder- bzw. Krippenplatz als Elternbeitrag nächstes Jahr mehr zahlen müssen. Andernfalls würde die Erhöhung der Elternbeiträge nur die Stadt entlasten, sagt Florian Teller, ein Mitorganisator des Begehrens.

Die kostenintensivste Forderung dürfte wohl das letzte Anliegen der Initiative darstellen. Es fordert gleiche Löhne für gleiche Arbeit. Denn die ErzieherInnen der Freien Kitas bekommen nicht selten mehrere hundert Euro weniger Lohn pro Monat als ihre KollegInnen in den staatlichen Einrichtungen. Mit den Geldern, die die Stadt für den Kitabetrieb zur Verfügung stellt, ist eine tarifliche Entlohnung auf dem Niveau des öffentlichen Dienstes einfach nicht machbar. „Wir fordern daher, dass die Stadt den Freien Trägern Verträge anbietet, in denen sich die Freien Träger zur tariflichen Entlohnung verpflichten und hierfür im Gegenzug von der Stadt die notwendigen finanziellen Mittel in die Hand bekommen“, so Feiertag weiter.

Ob das Bürgerbegehren die angepeilten 30.000 Unterschriften tatsächlich bis zum Jahresende zusammen bekommen hat, stand bis zum Redaktionsschluss noch nicht fest. Die Initiative kündigte für diesen Fall aber bereits an, bis zum 17. Januar weiter sammeln zu wollen.

(hans)

Aufwerten oder abwerten?

Leipziger Gentrifizierungsdebatte

Die Aufwertung von Stadtvierteln und die folgende Verdrängung ärmerer Einwohner_innen ist nicht nur in Hamburg und Berlin ein Thema. Auch in Leipzig wird gerade eifrig über Gentrifizierung diskutiert.

Um ihren Wohnraum fürchten der­zeit z.B. die Mieter_innen eines Hauses in der Windmühlenstraße, nahe dem Wilhelm-Leuschner-Platz. Dieses gehörte bis vor kurzem noch der LWB, wurde aber im August an einen neuen Eigentümer, Casa Concept, veräußert. Und der will jetzt das Gebäude sanieren, wodurch voraussichtlich die (bislang sehr günstigen) Mieten steigen. Zudem soll im Erdgeschoss ein Supermarkt einziehen, die Grünflächen im Hinterhof müssten dann u.a. für Parkplätze verkleinert werden. Nach Protesten der Mie­ter_in­nen und Debatten im Stadtrat hat der Investor seine Pläne mitt­lerweile geändert: Der Supermarkt wird verkleinert, und auch die Läden im Erdgeschoss sollen erhalten bleiben, heißt es. Wie sich die Sache weiter entwickelt, bleibt abzuwarten.

Das eigentliche Epizentrum der Debatte ist aber Connewitz, wo in den letzten Monaten wiederholt Häuser mit Farb- bzw. Teerbomben beworfen wurden – Zielobjekte waren dabei u.a. das Bürgeramt und der Kindergarten in der Biedermannstraße, aber auch einige der Stadthäuser, die seit 2002 im Viertel gebaut wurden. Im Zentrum des Konflikts steht jedoch ein neu saniertes Haus in der Mathildenstraße, das bis vor kurzem der Immobilienfirma Hildebrand & Jürgens gehörte, die in Leipzig mehrere hundert Wohnungen verwaltet. Neben den üblichen Farbbeutelwürfen gingen hier auch Scheiben zu Bruch, und bei einer Hausbesich­tigung kreuzte gar eine Gruppe von Vermummten auf, um die potentiellen Mieter_innen zu verschrecken.

Der wiederholten Aktionen wegen wurde ein privater Sicherheitsdienst engagiert, was aber nicht zur Beruhigung, sondern nur zur weiteren Eskalation beitrug: So wurden am 22. Oktober einige Security-Männer, die in einem Auto vor dem Gebäude parkten, von einer Gruppe Schwarzgekleideter mit Steinen angegriffen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Am folgenden Abend wurden vier Jugendliche, die die Hausfassade mit einer Schablone besprüht hatten, von der Security aufgegriffen, zusammengeschlagen und dann der Polizei übergeben.

Für den 27. Oktober riefen deswegen „besorgte AnwohnerInnen“ per Flyer zu einer Spontandemo auf, um den Security-Leuten „gewaltlos und unvermummt“ zu zeigen, „dass solche Zustände hier unerwünscht sind“. Der Plan scheiterte aber an der großen Resonanz. Etwa hundert Personen fanden sich am Treffpunkt ein – bei dieser Menge ließ sich natürlich keine Se­curity blicken.

Aber auch an anderer Stelle gab es Knatsch. Schließlich war auch das frisch renovierte Vorderhaus des Conne Island von Farbbeutelwürfen betroffen. Dort reagierte man erwartungsgemäß verärgert. In einem Statement (1) warf das Ladenplenum den „KiezkämpferInnen“ hohlen Aktionismus vor, der radikal daherkomme, aber letztlich unpolitisch sei: „Eine inhaltliche Auseinandersetzung spielt für sie keine Rolle, militantes Auftreten und Radikalität sind wichtiger als politische Ziele.“ Um dann messerscharf zu schließen: „Der Farbbeutelanschlag aufs Conne Island kann nur einen Grund haben: Die AngreiferInnen können sich nicht anders artikulieren. Es wird sich nicht die Mühe gemacht, Kritik beispielsweise im Conne-Island-Plenum zu äußern oder es per Text mit seinen vermeintlichen Fehlern zu konfrontieren.“

Der letzte Vorwurf wurde von den Verantwortlichen schnell widerlegt: Sie konterten mit einem anonymen Flyer (2) und konfrontierten das Conne Island mit seinen vermeintlichen Fehlern. Der Inhalt ist nicht weiter überraschend: „Auch ihr fördert die Gentrifizierung in einem Stadtteil, in dem ihr schon längst mehr als entbehrlich seid […] Niemand hat Lust für eure Schicki-Micki-Yuppie-Partys in euren Lokalitäten 20 Euro oder mehr auszugeben.“ Mit der Renovierung versuche auch das Island sich für eine zahlungskräftige Klientel attraktiv zu machen. Drum trügen „jeder Farbbeutel und jeder Stein gegen solche Objekte […] zur Abwertung bei. Wir wollen unkommerzielle Freiräume für alle und keine hippen, trendigen, teuren und apolitischen Locations für Yuppies, die sich alternativ fühlen!“ Und zum Schluss noch eine Extraportion Pathos: „Stadtteilkampf ist Klassenkampf!“

Okay. Dass die Eintrittspreise im Conne Island eher zu hoch als zu niedrig sind, ist keine neue Erkenntnis. Und natürlich ist das Island nach 20 Jahren seines Bestehens kein Politikum mehr, sondern ein weitgehend „normaler“ Konzertort. Dasselbe ließe sich aber auch, niedrige Eintrittspreise hin oder her, über das Zoro oder die LiWi sagen. Und die Connewitzer Szene hat sich mittlerweile insgesamt weitgehend entpolitisiert. Die ehemals besetzten Häuser mögen eine gemütliche subkulturelle Nische bieten, aber letztlich sind sie eben auch nur das – eine Nische. Die wilden 90er sind unwiderruflich vorbei. Daran werden auch ein paar Farbbeutel nichts ändern.

(justus)

(1) www.conne-island.de/nf/190/3.html

(2) dokumentiert unter einkesselbuntes.blogsport.de/2011/11/03/gentrifidingsda-in-leipzig/

Eine Dosis Blau

Interview mit Radio-Blau-Aktivist_innen

Einen eher trostlosen Anblick boten am 12. November zur Linken Medienakademie Regional die überwiegend verlassenen Räume in der Universität Leipzig. Denn das interessante Workshopangebot, das überwiegend von lokalen (linken) Medienschaffenden vorbereitet wurde, traf – auch aufgrund der Kurzfristigkeit – auf recht wenig interessiertes Publikum. Doch statt Blasen mit Trübsal zu füllen, nutzten wir die Zeit für einen intensiven Austausch mit zwei Aktivist_innen vom freien Radio Blau. Das folgende Interview zur aktuellen Situation und anderem Wissenswerten kam auch dabei rum:

FA!: Hallo, schön euch zu interviewen. Für die Leser_innen, die euch noch nicht kennen: Was ist denn Radio Blau?

Anne: Radio Blau ist euer Freies Radio in Leipzig. Das bedeutet, dass wir zugangsoffen sind für alle, die in Leipzig Radio machen wollen. Wir sind ein nichtkommerzielles Radio, wir machen das also ehrenamtlich, um der Ideen und Inhalte willen, die wir einem größeren Publikum zugänglich machen wollen. Und wir spielen keine Werbung. Wir sind basisdemokratisch organisiert, bei uns gibt es keine Hierarchien und keine Chefredaktion. Bei uns entscheidet die Vollversammlung über Organisatorisches im Radio und auch die Inhalte werden dort diskutiert. Es gibt den Konsens, keine sexistischen, rassistischen, antisemitischen, faschistischen oder chauvinistischen Inhalte zu senden. Aber ansonsten gibt es keine Einschränkungen. In diesem Rahmen kann jeder senden, was er will.

FA!: Welche Sendungen würdet Ihr denn besonders hervorheben?

A: Wichtig ist unser tagesaktuelles Magazin Aktuell. Das läuft immer 19 bis 20 Uhr, Montag bis Freitag. Da geht´s um aktuelle, lokale, überregionale oder globale Themen aus Politik, Kultur, Umwelt, Wirtschaft. Dabei richten wir uns nicht nach herkömmlichen journalistischen Werten, zum Beispiel diesen unbedingten Zwang zu Aktualität oder den Blick auf Nachrichtenwerte. Wir bemühen uns darum, Themen aus den Perspektiven zu bearbeiten, die in den kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Medien nicht vorkommen.

Lutz: Vieles findet sich eben anderswo nicht wieder, weil´s keine spannende Nachricht ist. Uns geht es eher darum, denen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Sich für ein Thema Zeit zu nehmen, auch wenn es gerade nicht topaktuell, aber trotzdem interessant ist.

FA!: Wer entscheidet über die Themen? Es gab ja vor einigen Jahren z.B. eine Debatte über eine Sendung, wo Musik von Muslimgauze gespielt werden sollte – eine Industrialband, die sich u.a. positiv auf den palästinensischen Widerstand bezieht, womit einige Leute bei Radio Blau ein Problem hatten. Wie ist das Verhältnis zwischen der Entscheidungsfreiheit der Redakteur_innen und der Vollversammlung?

A: Neue Sendungsmacher_innen müssen ihre Inhalte erst mal in der Vollversammlung vorstellen. In einer richtigen Redaktion wie Aktuell werden Themenvorschläge und Inhalte intern diskutiert und teilweise abgewiesen. Neulich zum Beispiel ging es um eine politische Veranstaltung, die wir thematisieren wollten. Ein Redakteur meinte dann, ob wir uns mal die Akteure angeschaut haben, wer die Veranstaltung macht, und ob wir so ein Thema wirklich tragen können. Haben wir dann nicht gemacht.

Wenn langjährige Sendungsmacher_innen wissen, dass sie ein umstrittenes Thema behandeln, tragen sie das auch in die VV und diskutieren es dort. Und wenn die VV sagt, „Wir wollen das so nicht senden“, dann wird es nicht gemacht.

L: Bei einer Vollversammlung im Monat lässt sich nicht alles im Detail diskutieren, obwohl das wünschenswert wäre. Das passiert innerhalb der Redaktionen, aber sonst wird eher im Nachhinein Kritik geäußert, oder Lob, wenn eine Sendung besonders gut war.

A: Naja, es wäre schon möglich das in der Vollversammlung zu diskutieren, so viele Wortbeitragssendungen haben wir ja nicht. Mir fällt da die queerfeministische Sendung Tipkin ein, Politsendungen wie Statement, T9, Linksdrehendes Radio, Der dialektische Diwan

L: Und Kultursendungen wie Lesbar und Al Dente… Wobei Musik ja auch einen Inhalt vermittelt, über die Texte, oder wie beim Beispiel Muslimgauze, wo die Cover der Platten recht fragwürdig waren.

A: Das steht auch bei uns im Statut, dass Musik eine eigene Darstellungsform ist. Wir haben auch gute Musikredaktionen wie Bleep Hop oder die Zonic Radio Show, Leute, die sich auch sehr intensiv mit Geschichte und politischer Bedeutung von Musik auseinandersetzen. Es wird also nicht nur ein Song nach dem anderen gespielt, sondern auch kontextualisiert.

FA!: Wie viele Leute engagieren sich bei Radio Blau?

A: Ich schätze, ungefähr 130 Menschen. Die Zugangshürden sind auch relativ niedrig. Man muss eine „Erste Dosis Blau“ machen, da wird man in die Organisationsformen eingeführt, und dann den Technikkurs, damit man das Mischpult bedienen kann. Deshalb kommen viele Redakteur_innen zu uns, gehen wieder, bringen Leute mit… Es ist ein sehr fließender Kreis von Leuten.

FA!: Es gab ja vor zwei Jahren eine größere Krise, die Radio Blau fast in seiner Existenz bedroht hätte. Wie hat sich denn die Situation seitdem entwickelt?

A: Radio Blau war nicht in seiner Existenz bedroht. Das Problem war, dass wir die Sendungs- und Leitungskosten von 25.000 Euro im Jahr bezahlen mussten, die für die Übertragung auf UKW ent­stehen. Der Verein selbst war aus meiner Sicht nicht in der Existenz bedroht. Wir hätten dann eben wohl oder übel Netzradio machen müssen. Allerdings wollen wir das nicht. Im Gegensatz zum Internetradio ist UKW für alle Leute zugänglich, die ein einfaches Radio besitzen. Die zuständigen Me­dienpoli­tiker_innen argumentieren, man wolle bis 2015 die UKW-Frequenzen auslaufen lassen, zugunsten des Digitalradios. Der­zeit sieht´s aber so aus, als würde sich das noch Jahre hinziehen.

L: Wobei Radio Blau schon existenziell bedroht wäre, wenn wir nicht mehr auf UKW senden könnten. Ich würde schon von einer Krise reden, und die ist auch heut noch nicht ausgestanden. Auch wegen der sächsischen Medienpolitik, wo Freies Radio gar nicht vorgesehen ist. Es gibt einen Satz im Rundfunkgesetz, der sagt, dass nichtkommerzielles Radio ermöglicht werden kann. Wo unklar ist, was heißt das? Schließt das eine Förderung ein? Tatsächlich werden wir gerade mal mit einem Drittel der Sendekosten finanziert – von der Landesmedienanstalt, die als sogenannte staatsferne Behörde den Privatrundfunk beaufsichtigt und dafür einen Teil der GEZ-Gebühren erhält. Das sind ca. 7 Mio., davon kriegen Radio T und Radio Blau zusammen 16.000 Euro, während die Kosten bei ca. 50.000 Euro für alle drei Freien Radios liegen. ColoRadio in Dresden kriegt gar nichts, weil die bei der Landesmedienanstalt nicht so beliebt sind.

Das sind schlechte Voraussetzungen. Die Kosten für Strom, Miete, Telefon usw. sind ohne Förderung nicht zu schaffen. Bis Ende 2009 wurde unser Anteil an den Sende- und Leitungsgebühren noch von Apollo Radio übernommen. Diese Vereinbarung lief aus, und das führte dann zum Rechtsstreit mit Apollo und zur zeitweiligen Abschaltung der Freien Radios. Letztlich senden wir wieder, weil wir die Kosten selbst tragen – durch Spenden, und nun im zweiten Jahr durch eine anteilige Förderung der Stadt.

A: Ohne Unterstützung durch die Hörer_innen, die Medienpolitik und die Stadt sieht´s schwierig aus. Wir können nur appellieren, uns zu unterstützen. Wir sind als Plattform wichtig für Menschen, die in dieser Stadt ihr Radio machen und ihre Inhalte nach außen tragen möchten. Dabei vermittelt das Radio auch Medienkompetenz. Man schätzt ja den Gehalt von Medien ganz anders ein, wenn man weiß, wie sie funktionieren.

FA!: Und was sind Eure Visionen für Radio Blau für´s nächste Jahr?

A: Natürlich wollen wir weiterhin Menschen einladen, ihre Ideen ins Radioprogramm einzubringen. Eine Umweltredaktion haben wir zum Beispiel noch nicht. Warum nicht? Vielleicht waren wir für die Leute noch nicht Plattform genug? Es gibt ja auch in anderen inhaltlichen Feldern viele Gruppen und Medien in Leipzig, die inhaltlich arbeiten, brillante Essays schreiben… Und es wäre spannend, diese ins Radio zu holen, damit sie ihre Ideen und Texte auch dort präsentieren können. Auch ein Umdenken bei den Formaten wäre spannend…

L: Weniger Wortbeitragssendungen, die nur aus Interviews bestehen… Wobei jetzt schon mehr Leute auf die Idee kommen, uns als Radio anzufragen. Ich weiß nicht, wie oft wir in diesem Jahr als Medienpartner für Veranstaltungen angefragt wurden…

A: Podiumsdiskussionen im Radio zu senden, wäre eine Idee. Oder politische Hörspiele als Verbindung von Politik und Kunst. Das könnte für Menschen spannend sein, die sich mit literarischem Schreiben beschäftigen, aber auch politische Ansprüche haben. Oder Demo-Radio. Mal abgesehen von den Anti-Nazi-Demonstrationen könnten wir auch andere Veranstaltungen im Radio begleiten. Mir fällt da noch mobiles Radio ein… Wir haben letztes Jahr mit dem Straßenecken-Radio angefangen, sind in Projektläden im Leipziger Westen und Osten gegangen und haben Leute eingeladen, über das zu reden, was sie bewegt. Gentrifizierung, Probleme mit Gewalt, mit Drogen im Viertel… Das würden wir gern fortführen. Sehr spannend finde ich auch immer Live-Übertragungen von Fußball-Events des Roten Sterns. Neben den Berichten vom Spiel werden nebenbei dann Initiativen vorgestellt, die sich zum Beispiel gegen Rassismus in der Kurve engagieren.

FA!: Was braucht Ihr, um diese Ideen umsetzen zu können?

A: Kraft, und nette Leute, die uns unterstützen…

L: Wir hatten bis vor kurzem auch noch Leute, die als AGH-Stellen bezahlt wurden. Das gibt’s jetzt nicht mehr. Die Leute, die mitmachen, machen jetzt nicht mehr nur Programm, sondern tatsächlich alles in diesem Radio. Die Verwaltung usw. läuft jetzt alles ehrenamtlich.

A: Ich glaube, wir sind das erste und einzige Freie Radio in Deutschland, das vollkommen selbstorganisiert läuft. Und es läuft, erstaunlicherweise!

FA!: Wer mitmachen will, meldet sich einfach bei euch?

L: Genau, über radioblau@radioblau.de. Jeden ersten und dritten Mittwoch im Monat gibt’s die „Erste Dosis Blau“, jeweils 18.00 Uhr, im Hinterhof der Paul-Gruner-Straße 62. Da wird wie gesagt in die Strukturen eingeführt, und bei Bedarf kann man auch weitere Fragen stellen.

A: Und immer montags bis freitags von 17 bis 19.00 Uhr ist das Büro geöffnet und für Anfragen offen.

FA!: Vielen Dank für das Interview!

(momo & justus)