Der Irak nach 25 Monaten Besatzung

Ganz schön verwirrend, was man an Informationen über die Situation im Irak serviert bekommt: tägliche Meldungen über Razzien der Besat­zungs­armee oder/und islamistische Terrorattentate.

Von wem nicht gesprochen wird (außer wenn Wahlen abgehalten werden sollen), ist die Bevölkerung, da diese in den politischen Strategien, welcher Seite auch immer, kaum Platz hat.

Dass sich gerade die unteren Klassen nach dem Sturz Husseins zu Wort und Tat melden, wird bei genauerem Hinsehen deutlich. War der Irak vor dem Angriffskrieg der „Koalition der Willigen“ eine Diktatur, so kämpfen heute alle politischen Gruppierungen um die Macht. Derweil lebt die zivile Bevölkerung unter extremsten Bedingungen. Bei einer geschätzten Einwohnerzahl von 25 Millionen, sind 50 – 75 % der Erwerbsbevölkerung (rund 7 Millionen) arbeitslos. Dies hat häufig Hunger und Obdachlosigkeit zur Folge; die Erwerbslosen können oft nicht die nötigen Kosten für den Lebensunterhalt einer Familie (umgerechnet 400-500 EUR im Monat) aufbrin­gen.(1) Da es keine Arbeitslosenunterstützung gibt, ver­suchen die meisten durch illega­lisierte Einkommen zu über­leben oder durch die Grundnahrungsmittel (Mehl, Speise­öl) des UN-Programms „Food for Oil“.

Durch den Krieg der Koa­li­tion wurden große Teile lebenswichtiger Einrichtungen zerstört. Die Ver­sorgung mit Trinkwasser, Strom und Medizin ist teilweise zusammengebrochen. Der „Politische Rat des Mittleren Ostens“(2) geht davon aus, dass der Wiederaufbau des Irak zehn Jahre dauern und 200 Mrd. Euro kosten wird.

Zudem hat die 12 Jahre dauernde Wirt­schafts­bloc­kade in der Bevölkerung schwere Spuren der Verarmung hinterlassen. Nach der militärischen Befreiung von der Hussein-Diktatur kam es zudem in Ministerien und Behörden zu zahlreichen Zerstörungen und Plünderungen, und zu Massen­entlassungen. Die alliierte Übergangsverwaltung entließ u.a. etwa 400.000 Soldaten der irakischen Armee aus dem Staatsdienst. In den verstaatlichten Betrieben, wo sich rund 80% aller Arbeitsplätze befanden, kam es ebenso zu Massenentlassungen (dort arbeiteten in der Mehrzahl Frauen). Durch diese Entwicklung wachsen Unzufriedenheit und Wider­stands­wille der Bevölkerung.

Des Weiteren schafft der Aufschwung eines politischen Islam (3) mit Terror­kampag­nen zur Durchsetzung des Kopftuchgebots, Geiselnahmen, Enthauptungen, Vergewaltigungen, und einem Arbeits- und Bildungsverbot für Frauen, Unsicherheit in der Bevölkerung. Die Besatzung dient den Islamisten als Vorwand, den Terrorismus fortzusetzen – solange es Attentate geben wird, werden die Militärs der Koalition einen Grund sehen, nicht abzuziehen.

Besonders dramatisch scheint die Lage für die Frauen im Irak. Hatten die Frauen 1959, vor der Machtübernahme Sad­dam Husseins, die Festschrei­bung einiger elementarer Rechte in der Verfassung erkämpft (Bildung, Scheidung, Kindererziehung, etc.), wurden viele dieser Rechte unter Hussein zurück genommen und schließlich „Ehrentötungen“ (4), lega­lisiert, die nun auch von der In­terims­regierung geduldet werden. Diese schlug im Februar 2004 vor, das Zivilrecht durch die Scharia, das islamische Gesetz zu ersetzen. Dagegen wandte sich eine Koali­tion von 85 Frauenorganisationen, die trotz aller Unsicherheit auf den Straßen Treffen und Demonstrationen abhielten.

Kurz nach dem Sturz Husseins begannen Arbeiterproteste und neue Gewerkschaften entstanden. Dabei spielten die zwei einflussreichsten marxistischen Parteien (die traditionelle „Irakische Kommunistische Partei“ (ICP) und die moderne „Arbeiterkommunistische Partei des Irak“ (WPI)), eine bedeutende Rolle. Diese stehen politisch und gesellschaftlich in einem Konkurrenzverhältnis und unterstützen jeweils andere Organisationen. (siehe Kasten unten)

Daneben gibt es noch die „Irakische ArbeiterInnen-Gewerkschaftsföderation“ (IFTU), die auch nach dem Sturz Hus­seins gegründet wurde und im ganzen Land aktiv ist. Im Vorstand der IFTU finden sich einige Mitglieder der ICP, die ihren Einfluss geltend machen. Zwar wendet sich die IFTU gegen die Besatzungskoa­li­tion, allerdings wurde sie im Januar 2004 von der Interimsregierung als einzig legale Gewerkschaft anerkannt.

Während fast alle Gesetze des alten Baath-Regimes nach dessen militärischer Niederlage abgeschafft wurden, hält die Über­gangsver­wal­tung an einem Gesetz aus dem Jahr 1987 fest, mit dem der Acht-Stunden-Tag abgeschafft worden war. Außerdem verbietet es in staatlichen Betrieben (das ist nach wie vor die überwiegende Mehrheit) Gewerk­s­chaf­ten zu gründen oder zu streiken. In einer Anordnung vom Juni 2003 droht die Über­gangs­ver­wal­tung damit, alle Menschen, die „zivile Unordnung anstiften“, also „jede Art von Streik oder Unterbrechung in einer Fabrik oder einem wirtschaftlich bedeutenden Unternehmen“ organisieren, festzunehmen und als Kriegsgefangene zu behandeln.

Da sich bisher keine der um die Zentralgewalt kämpfenden Gruppen wirklich durchsetzen konnte, entstand für diese ein quasi straffreier Raum und für die Bevölkerung große Unsicherheit, der durch Organisierung entgegen getreten werden soll. Da jede Organisierung außerhalb der IFTU illegal ist, sind die Erfolge der ArbeiterInnen umso interessanter.

Im Januar und Februar 2005 soll es nach einem Bericht von David Bacon, der mit einer Dele­gation des U.S. Labor Ag­ainst the War im Irak (5) un­­ter­­wegs war, eine enorme Streik­welle ge­geben ha­ben. Tex­til­ar­beiter in Kut, En­er­gie- und Alumi­nium­­arbeiter in Nasiriyah, Chemiearbeiter und Gerber in Bagdad und Landarbeiter waren daran beteiligt. Die jeweiligen Gründe waren verschieden, es gab eine Brenn­stoff­verteuerung, die Forderungen nach Lohnerhöhung nach sich zog, außerdem Privatisierungsdrohungen, v.a. für die Aluminium- und Energiearbeiter. Einige Streiks entwickelten sich spontan (6) – so in der Textilbranche und einer Pepsi-Cola Fabrik in Bagdad – in anderen Fällen spielte die FWCUI eine bedeutende Rolle.

Die Kämpfe waren für die Arbeiter erfolgreich: Die Chemiearbeiter sahen fast alle ihrer Forderungen erfüllt, die Energiearbeiter die Hälfte, wäh­­rend die Landarbeiter nur zu Teilerfolgen kamen. Im Januar 2005 gewannen Arbeiter in der chemischen und plastischen In­­dus­trie Bag­dads einen Streik und grün­­­deten ihren eigenen Ar­beiter­rat. (7) Die Streikenden hat­­ten den Ausstand be­en­det, nachdem die Direktion sieben von acht Forde­rungen akzeptiert hatte. Diese drehten sich u.a. um die Erhöhung des Mindestlohns, die Abschaffung der Pflicht­über­stunden, Ge­fahren­zulagen und die Verteilung des Jahresgewinns an die Arbeiter.

Oftmals sehen sich ArbeiterInnen auch gezwungen, selbst zu den Waffen zu greifen. So organisierten im Oktober 2003 Ar­beiter­Innen einer Ziegelsteinfabrik nahe Bagdads eine Demonstration zum Firmensitz. Dort forderten sie Lohnerhöhungen, da drei Viertel der Belegschaft nur etwa 1,50 Euro für einen Arbeitstag von 14 Stunden be­­kamen. Außerdem verlangten sie schrift­liche Verträge, sowie medizinische Einrichtungen und eine Altersversorgung. Als die Chefs mit Entlassung drohten, gingen die Leute nach Hause, kamen aber mit Schusswaffen zurück und bildeten Streikposten. Dem Besitzer blieb nichts anderes übrig, als den Arbeiter­Innen eine Lohnerhöhung von 500 irakischen Dinar (umgerechnet etwa 30 Cent) je Arbeitstag zu versprechen. Zudem bot er Verhandlung über eine Sozial- und Gesund­heits­versorgung an, was von der Beleg­schaft als Sieg gefeiert wurde.

Auf einer anderen Ebene spielen sich die Kämpfe der zivilen, nicht arbeitenden und meist weiblichen Bevölkerung ab: Amjad al-Jawhartzy, Mitglied der UUI und für die FWCUI-Vertreter in den USA, sprach in einem Interview mit alternative liber­taire im Januar 2005 von einer „zivilen Front“, die auf sozialem Gebiet, in den Städten und Stadtvierteln agiere. In einigen Vierteln hätten sich Einwohnerkomitees gebildet, die die Verteidigung gegen alle kämpfenden Gruppen organisierten. Diese bestünden aus 30-40 Wachleuten, die militärisch ausgebildet seien und das Gebiet rund um die Uhr bewachten. Angeblich gab es seitdem keine Übergriffe auf die Zivilbevölkerung mehr.

Insgesamt also kein sehr optimistisches Bild – seien es kämpfende Gruppen oder bewaffnete Miliz, um sich wirklich zu befreien, bedarf es gesamtgesellschaftlicher Selbstorganisation, die den Bedürfnissen aller und nicht denen einiger Warlords folgt.

hannah

(1) Die Besatzungsbehörde CPA zahlt Staatsbeschäftigten Löhne wie zu Husseins Zeiten, zwischen 60-180 Dollar, allerdings wurden die staatlichen Zulagen – Kinder, Unterkunft, Nahrungsmittel, Prämien – abgeschafft.
(2) “Politische Rat des Mittleren Ostens“, (The Middle East Policy Council), 1981 gegründet, um die Politik der USA im Mittleren Osten verständlich zu machen.
(3) Politischer Islam, da die Religionsfrage in die politische Arena verschoben wird.
(4) Die Männer haben das Recht, Frauen aus ihrer Familie zu töten, wenn sie meinen diese verhielten sich „unmoralisch“. Hervorstechend in der Frauenpolitik unter Hussein war die „Kampagne der Rechtschaffenheit“. Es wurde dazu aufgerufen, (angebliche) Prostituierte zu enthaupten. Die meisten dieser Frauen sahen sich zu dieser Art Gelderwerb durch das US-Embargo gezwungen, durch das viele Frauen ihre Arbeit verloren.
(5) Eine „Internationale Kampagne gegen die Besatzung und für Arbeitsrechte im Irak“ soll helfen, grundlegende Sicherheits- und Lohnstandards der ILO „Internationalen Arbeitsorganisation“ und das Recht auf freie Gewerkschaften im Irak durchzusetzen. Die Kampagne wurde von sechs Organisationen ins Leben gerufen, die sich im März 2004 im Genfer ILO Büro trafen: die FWCUI, die UUI, die „Internationale Konföderation der Arabischen Gewerkschaften“ (ICATU) und das „Internationale Verbindungskomitee der Arbeiter und Völker“ (ILC), sowie die gewerkschaftliche Antikriegsgruppe „US Labor Against the War“ (USLAW).
(6) Im August und September 2003 legten TransportarbeiterInnen in Basra ihre Arbeit nieder und forderten auf einem Protestmarsch die Versorgung mit Gas, Wasser und Strom. Als britische SoldatInnen den Demonstrations­zug stoppen wollten, kam es zu einer Massen­schlägerei und es folgten drei Tage Aufruhr in der Stadt.
(7) Arbeiterräte und Gewerkschaften gibt es mittlerweile in fast allen Betrieben.

WPI – „Arbeiterkommunistische Partei des Irak“, 1993 gegründet, hat nach eigenen Angaben ca. 150.000 Mitglieder. Spricht sich sowohl gegen den eingesetzten „Irakischen Regierungs­rat“ aus, wie auch gegen die Militärbesatzung und den terroristischen „Widerstand“. Der WPI stehen die UUI und die FWCUI nahe.

UUI – „Gewerkschaft der Arbeitslosen“, im Juni 2003 gegründet, gibt 350.000 Mitglieder an.

FWCUI – „Föderation der Arbeiterräte und Gewerkschaften im Irak“, im Dezember 2003 gegründet, gibt ebenfalls 350000 Mitglieder an.

ICP – „Irakische Kommunistische Partei“, 1934 nach Ende der britischen Kolonialherrschaft gegründet, befand sich bis in die 70er Jahre in Opposition zum arabisch-völkischen „Baath-Regime“ und koalierte 1973 mit diesem in einer Regierung einer „Nationalen Fortschrittsfront“. Seit der Machtübernahme Husseins im Untergrund, beteiligt sich an der kurdischen Selbstverwaltung und war mit verschiedenen religiösen und nationalistischen Parteien im „Irakischen Regierungsrat“ (IGC) vertreten, da ihr Generalsekretär dort zu einem Vertreter der schiitischen Bevölkerung bestimmt wurde.

IFTU – „Irakische ArbeiterInnen-Gewerk­schafts­föderation“, dem Sturz der Hussein-Diktatur gegründet und im ganzen Land aktiv. Im Vorstand der IFTU finden sich Mitglieder der ICP. Die IFTU wendet sich einerseits gegen die Besatzungskoalition, andererseits wurde sie im Januar 2004 von der Interimsregierung als einzige legale Gewerkschaft anerkannt und spricht sich grundsätzlich gegen jede Form von Militanz aus. Sie besteht aus 10 Einzelgewerkschaften.

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