Der lange Sommer der Autonomie (Teil 2)

Operaismus für Anfänger_innen (Teil 2)

Willkommen zum zweiten Teil unserer Operaismus-Reihe. Nachdem im letzten Heft vor allem die historischen Umstände behandelt wurden, unter denen sich der Operaismus als eigenständige Strömung der italienischen radikalen Linken entwickelte, soll dieser zweite Teil nun tiefer in die Materie einführen. Vor allem soll hier ein zentraler Angelpunkt der operaistischen Theorie und Praxis beleuchtet werden: das Projekt der „Arbeiteruntersuchung“. Und wir wollen uns einer Person widmen, ohne die diese Untersuchung und der Operaismus insgesamt wohl kaum zu denken wäre – Romano Alquati.

Rufen wir uns aber vorher kurz die Ausgangslage in Erinnerung: Um 1960 befand sich die traditionelle Arbeiterbewegung in Italien in einer tiefen Krise. Die großen Unternehmen – allen voran das Automobilunternehmen FIAT – hatten den Boom der Nachkriegszeit dazu genutzt, ihre Produktionsanlagen umfassend zu modernisieren. Mit der flächendeckenden Einführung der Fließbandfertigung ging auch eine weitgehende Dequalifizierung der alten Facharbeiterschaft einher, auf die sich traditionell die Macht der linken Parteien und Gewerkschaften stützte. Zugleich stellten die Unternehmen eine große Zahl an Arbeitskräften ein, die zu Anfang der 1950er Jahre noch meist aus Norditalien stammten. Gegen Ende des Jahrzehnts kamen diese jungen Arbeiter_innen aber vor allem aus dem agrarisch geprägten, verarmten Süden des Landes in die Industriestädte des Nordens. Sie waren auch die treibende Kraft hinter den neuen Konflikten in den Fabriken, die sich ab 1959 zu regen begannen.

1961 wurde in Turin die Zeitschrift Quaderni Rossi (Rote Hefte) gegründet. Die treibende Kraft war dabei Raniero Panzieri, ein langjähriges Mitglied der sozialistischen Partei PSI (mit ihm haben wir uns im letzten Heft ausführlich beschäftigt). Panzieri erkannte klarer als viele seiner Genoss_innen, dass die Institutionen der Linken weitgehend den Bezug zu den Arbeiter_innen verloren hatten. Um wirksam in die aktuellen Konflikte eingreifen zu können, hielt er vor allem eine eingehende Untersuchung der Verhältnisse in den Fabriken für nötig.

Die Arbeiteruntersuchung

Die Durchführung einer solchen Untersuchung war das gemeinsame Ziel, das die Redaktion der Quaderni Rossi verband. Freilich vertraten die Aktivist_innen dabei durchaus widersprüchliche Vorstellungen und Konzepte. So wollte z.B. ein Teil der Redaktion vor allem „neutrale Wissenschaft“ nach dem Vorbild der amerikanischen Industriesoziologie betreiben. Ein anderer hatte es vor allem darauf abgesehen, die Politik der PCI (der kommunistischen Partei) zu beeinflussen und in eine kämpferischere Richtung zu lenken. Und die Turiner Mitglieder der Metallgewerkschaft FIOM, welche das Projekt anfänglich unterstützten, suchten ihrerseits vor allem einen Ausweg aus der Sackgasse, in die die Gewerkschaftspolitik geraten war.

Panzieri versuchte zwischen diesen widerstreitenden Interessen so gut wie möglich zu vermitteln. Seine eigene Konzeption der Untersuchung war eher orthodox und ging von einem recht statischen Verhältnis von Klasse und politischer „Avantgarde“ aus – auf der einen Seite sollte die Untersuchung das Klassenbewusstsein der Arbeiter_innen fördern und zugleich Informationen liefern, auf die sich die weitere politische Arbeit stützen könnte (1).

Das Konzept der conricerca, wie Romano Alquati es später entwickelte, griff da schon beträchtlich weiter aus. Schon im Begriff selbst – conricerca lässt sich wörtlich etwa als „Mituntersuchung“ übersetzen – steckt bereits eine Kritik der gängigen Industriesoziologie. Die Untersuchung, wie Alquati sie sich vorstellte, sollte keineswegs auf bloße Wissenschaft hinauslaufen. Die Arbeiter_innen sollten nicht als Forschungsobjekt angegangen, sondern vielmehr selbst zu Akteuren der Untersuchung werden. Zugleich sollte in der Untersuchung die Trennung von Theorie und Praxis, von Analyse und politischer Aktion überwunden werden. Die Theorie wurde selbst als dynamischer Bestandteil der angepeilten umstürzlerischen Praxis begriffen, wie Alquati betonte: „Wir erarbeiten unsere Hypothesen für Avantgarden, die den Kämpfen eine Richtung zu geben vermögen; nicht also für neue geschlossene und in ihrer ideologischen Reinheit isolierte ‚Gruppen’, sondern gerade für diejenigen, die •mit oder ohne Titel und Mitgliedsausweis •innerhalb oder außerhalb der Fabrik […] tatsächlich im Zentrum des Klassenkampfes stehen“. [S. 94] (2)

Die Vorgehensweise beschrieb Alquati an anderer Stelle so: „Man beginnt damit, sich anzuschauen, wie die Fabriken beschaffen sind, wie sie wirklich funktionieren, wie die Arbeiter sind, wie die Leitung ist. Man fängt an, den Begriff der Arbeiteruntersuchung zu verbreiten, die zusammen mit den Arbeitern von ihrem subjektiven Standpunkt aus gemacht wird. Eine auf Erkenntnis und Praxis zielende Untersuchung und Forschung, die darauf gerichtet ist, Kämpfe von unten und außerhalb oder oft gegen die vermittelnde Funktion der Parteien und Gewerkschaften auszulösen“ (3)

Prägend für Alquatis Konzept waren vor allem die Erfahrungen, die er in den 1950er Jahren in Cremona und dem dortigen Milieu der undogmatischen Linken gesammelt hatte. Alquati gehörte dort der Gruppe der so genannten „Barfuß-Forscher“ an, die sich um den unorthodoxen Kommunisten und Soziologen Danilo Montaldi sammelte. In vielerlei Hinsicht nahm Montaldi wichtige Aspekte der späteren „Arbeiteruntersuchung“ vorweg. Im Zentrum seines Interesses stand das Alltagsleben von marginalisierten Gruppen, etwa der armen Landbevölkerung, das er mit den Mitteln der oral history erforschte. Ebenso wichtig war seine Tätigkeit als Übersetzer. So übertrug er etwa die Schriften der amerikanischen Correspondence-Gruppe und der französischen Socialisme ou Barbarie ins Italienische – diese Gruppen hatten schon in den 50er Jahren Untersuchungen in den Fabriken durchgeführt. Sie boten damit ein direktes Vorbild für die italienischen Aktivist_innen, die Mitte 1960 mit einer ersten Untersuchung bei FIAT begannen.

Die „neuen Kräfte“

Ein erstes Ergebnis dieser Untersuchungen war der Bericht über „Die ‚neuen Kräfte’ bei FIAT“. Alquati trug diesen zunächst im Januar 1961 bei einem Kongress der PSI vor. Wenig später wurde der Text in der ersten Ausgabe der Quaderni Rossi abgedruckt. Der Bericht beruhte vor allem auf Interviews mit Arbeiter_innen und Mitgliedern der Gewerkschaft – von einer besonders „operaistischen“ Untersuchungsmethode konnte dabei also noch nicht die Rede sein. Auch in seiner Analyse blieb der Text weitgehend an der Oberfläche, Alquati beschränkte sich auf die Beschreibung und die Wiedergabe dessen, was ihm seine Interviewpartner berichteten. Über diese Unzulänglichkeiten war sich auch Alquati im Klaren. So qualifizierte er den Text im Nachhinein (in einem Brief vom September 1971) als Ergebnis „einer persönlichen journalistischen Untersuchung“. (4)

Dennoch regte der Bericht große Debatten an. Ganz nebenbei zerlegte Alquati mit seinem Bericht einen zentralen Glaubenssatz der alten Arbeiterbewegung – die Überzeugung, dass es einen notwendigen Zusammenhang von „Klassenbewusstsein“ und „Organisation“ gebe –, indem er nachwies, dass gerade die jungen, weder gewerkschaftlich noch parteilich organisierten Arbeiter_innen es waren, welche die neuen Klassenkämpfe in der Fabrik vorantrieben.

Ab 1949 hatte bei FIAT eine Phase der „Rationalisierung“ begonnen. Insbesondere durch die Einführung neuer „Spezialmaschinen“, die keine oder nur sehr kurze Einarbeitungszeiten brauchten, trieb die Unternehmensleitung eine groß angelegte Neuzusammensetzung der Arbeiterschaft voran. Die spezialisierten Facharbeiter wurden innerhalb des Werks in andere Abteilungen versetzt bzw. entlassen und durch junge und meist ungelernte Arbeitskräfte ersetzt. Dies ging weitgehend problemlos, da sich FIAT durch vergleichsweise hohe Löhne und in Aussicht gestellte Karrieremöglichkeiten ein neues Image als „Arbeiterparadies“ schaffen konnte.

Die vermeintlichen Aufstiegschancen erwiesen sich jedoch bald als Illusion. Die Löhne stagnierten auf lange Sicht. Die Beschäftigten an den Montagebändern und die jungen Techniker erkannten bald, dass die von FIAT angebotenen „Qualifikationen“ wertlos waren und keineswegs zum Aufstieg in eine höhere Lohngruppe führten oder eine erfüllendere Tätigkeit mit sich brachten.

Die jungen Arbeiter_innen hatten von vornherein wenig Bezug zu den linken Parteien und Gewerkschaften, und da deren Politik kaum einen Bezug zu ihren Alltagsproblemen hatte, blieb diese Distanz bestehen. Alquati schrieb: „Wir können heute beobachten, dass die jungen Arbeiter zwar die Richtigkeit der Gewerkschaftsforderungen anerkennen, dass aber dann selbst diejenigen von ihnen, die in der Fabrik am engagiertesten für eine Wiederaufnahme der Arbeiterkämpfe arbeiten, sich regelmäßig nicht etwa nur weigern, in die Gewerkschaft einzutreten […], sondern sich vor allem weigern, in irgendeiner Form organisatorische Verantwortung dafür zu übernehmen, dass die Organisation, die diese Forderung erhebt, tatsächlich Fuß fasst.“ Auch die Passivität der älteren Arbeitergeneration, bei der sich nach jahrelangen Rückschlägen und Niederlagen kaum noch Widerstand regte, wirkte abschreckend auf die jungen Arbei­ter_innen und verstärkte deren ablehnende Haltung gegenüber den Gewerkschaften: „Die jungen Arbeiter glauben nicht an die vorhandenen Mittel zur Durchsetzung der Forderungen, denn sie erkennen darin jene Mittel wieder, die zur Integration der alten Arbeiter geführt hatten.“ [S. 79f.]

Die Gewerkschaften waren unfähig, sich aus sich selbst heraus zu erneuern. Jene ihrer Mitglieder, die sich ernsthaft um Kontakt zu den „neuen Kräften“ bemühten, steckten damit in einem Dilemma – „auf der einen Seite ist eine Erneuerung notwendig, um die jungen Arbeiter anzuziehen, auf der anderen Seite ist eine Erneuerung nur möglich, wenn die jungen Arbeiter selbst kommen und die Organisation erneuern.“ [S. 80]

Untersuchung bei OLIVETTI

Während der Bericht über FIAT auf einem „journalistischen“ Alleingang Al­quatis beruhte, ergab sich wenige Monate später die Möglichkeit, eine wirkliche kollektive Untersuchung durchzuführen. Ort des Geschehens war das Werk des Unternehmens OLIVETTI (die Firma produzierte vor allem Rechen- und Schreibmaschinen) in Ivrea, einer etwa 70 Kilometer nordöstlich von Turin gelegenen Stadt.

Alquati selbst beschrieb den zeitlichen Ablauf der Untersuchung bei OLIVETTI so: „Es waren zunächst zwei Genossen, die mit dieser Arbeit begonnen haben, dann arbeiteten hier etwas mehr als zehn Kader mit“ – bei den letzteren handelte es sich um Kader der örtlichen PSI, die die Untersuchung unterstützten. Im Sommer 1961 wurden „über hundert Gespräche geführt. Damit war das erste Ziel erreicht: nämlich die Suche nach anderen, nichtorganisierten jungen Arbeitern und die Beteiligung einiger ganz junger Arbeiter, die bisher noch nicht politisch gearbeitet hatten; diese Arbeiter konnten jetzt selbständig die Arbeit weiterführen“ [S. 105].

Die Beschreibung stammt aus einem Text Alquatis über „Organische Zusammensetzung des Kapitals und Arbeitskraft bei OLIVETTI“, der in zwei Teilen in der Quaderni Rossi Nr. 2 und 3 abgedruckt wurde und die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfasste. Dieses Dokument bietet ein gutes Beispiel der Konzepte und Begrifflichkeiten, die die Aktivist_innen entwickelten, um die komplizierten Verhältnisse und Konflikte in der Fabrik zu erfassen. Freilich würde es hier den Rahmen sprengen, diesen etwa 70 Seiten langen, oft recht kryptischen Text der Reihe nach durchzugehen. Ich werde im Folgenden ledig­lich einige zentrale Punkte erläutern.

Die Streiks der Jahre 1960 und 1961 waren zwar ein hoffnungsvolles Zeichen gewesen, hatten dabei die jungen Arbeiter_innen doch erstmals unabhängig die Initiative ergriffen. Aber zugleich waren diese Kämpfe beschränkt geblieben und gerade die Arbeiter_innen der größten Werke hatten sich kaum daran beteiligt.

Welche Möglichkeiten gab es nun, diese Isolation zu überwinden? Um das zu beurteilen, war es notwendig, den Produktions­prozess im Ganzen zu untersuchen, die Verbindungen zwischen den Arbei­ter_in­nen und ihren Tätigkeiten eben­so in den Blick zu nehmen wie die bestehenden Hindernisse und Spal­tungs­linien.

Alquati ging davon aus, dass sich die sozialen Kämpfe keineswegs „spontan“ ergaben, sondern auf einer informellen, „unsichtbaren“ Organisation der Arbeiter_innen beruhten. Anzeichen dafür hatte er schon bei FIAT vorgefunden, und von dieser Ausgangsthese wurde auch die Untersuchung bei OLIVETTI gelenkt.

Von zentraler Bedeutung ist hier der Begriff der Kooperation. Anders gesagt: Im Produktionsprozess selbst sind die Arbeiter_innen bereits organisiert, nämlich durch das Kapital. Einerseits wird jede_r Arbeiter_in eine eng begrenzte Teilaufgabe im Gesamtprozess zugewiesen, zugleich aber müssen die Arbeiter_innen und ihre vereinzelten Tätigkeiten notwendig in Bezug zueinander treten, damit im Produktionsprozess tatsächlich ein verwertbares Produkt entsteht. Das Kapital kann nicht auf diese Kooperation der Arbeiter_innen untereinander verzichten. Diese ist ihrem Wesen nach ambivalent, einerseits eine Produktivkraft im Dienst des Kapitals, zugleich aber auch die Grundlage eines möglichen Widerstands.

Organisation, Plan und Kooperation

An diesem Punkt knüpfte Alquati an die Technologiekritik an, wie sie zunächst von Raniero Panzieri formuliert worden war (vgl. Teil 1 unserer Artikelreihe). Er zeichnete allerdings ein widersprüchlicheres Bild, indem er die Entwicklung der Maschinerie mit dem Verhalten der Arbeiter_innen in Beziehung setzte.

Mittels der Maschinerie war es der Unternehmensleitung möglich, auf die Kooperation der Arbeiter_innen Einfluss zu nehmen – bestimmte „Sachzwänge“ zu schaffen, Zeiten für bestimmte Arbeitsschritte vorzugeben und damit Druck auszuüben usw. Vor allem das Fließband spielte eine wichtige Rolle dabei, die verschiedenen Tätigkeiten „dem Niveau der kürzesten Arbeitszeit anzugleichen“ [S. 113]. Diese Kontrolle, wie sie in der Maschinerie selbst schon angelegt war, wurde durch die Methoden der „wissenschaftlichen Arbeitsorganisation“ (Analyse der Bewegungsabläufe, Zeitmessungen usw.) ergänzt.

Das ideale Ziel der Unternehmensleitung war ein Endzustand, in dem die Kooperation der Arbeiter_innen völlig über die Maschinerie vermittelt und von dieser bestimmt gewesen wäre – ein Zustand umfassender Kontrolle, in dem die von oben kommenden Befehle umstandslos erfüllt wurden und das Management stets genau informiert war, was an jedem Teilabschnitt vor sich ging.

Dieses Ideal ließ sich freilich nicht realisieren. So lief die technische Entwicklung nicht einfach auf eine stetig wachsende „Dequalifizierung“ oder eine immer stärkere Unterwerfung der Arbeiter_innen unter die Maschinerie hinaus. Zwar wurden diesen in der Tat bestimmte Entscheidungskompetenzen genommen. Dieser Prozess lief aber keineswegs darauf hinaus, die Arbeiter_innen insgesamt auf den Stand von „Affen“ oder „Automaten“ zu reduzieren, wie es die gängige linke Kritik befürchtete. Letztlich wurden gerade die gleichförmigen Routinebewegungen auf die Maschinerie übertragen, während die Arbeiter_innen vor allem jene Aufgaben übernehmen mussten, die bewusste Aufmerksamkeit verlangten. Tatsächlich waren auch die „unqualifizierten“ Arbeitskräfte am Fließband ständig zur Improvisation und zur schnellen Entscheidungsfindung gezwungen, übten also keineswegs nur eine rein „ausführende“ Tätigkeit aus (5).

Das war natürlich nicht unbedingt eine Verbesserung: Die körperliche Anstrengung wurde durch die Technik verringert, aber dafür kamen neue, vor allem nervliche Belastungen hinzu, die auf Dauer ebenso zermürbend waren – zumal die Arbeitszeit stetig verdichtet und den Beschäftigten immer noch zusätzliche Aufgaben aufgebürdet wurden.

Zugleich machte Alquati bei seinen Gesprächen regelmäßig die Erfahrung, „dass die Arbeiter, die zunächst die gesamten konventionellen, offiziellen Mythen über die Organisation der Abteilung wiederholt hatten, am Ende schließlich so darüber urteilen: ‚Hier ist alles bis ins kleinste organisiert und festgelegt, und trotzdem gibt es noch zu viele wichtige Dinge, die bei der Arbeit nicht funktionieren. Wenn man sieht, wie minutiös man sich hier um eine Organisation kümmert, die dann doch nicht so funktionieren kann, dann könnte man fast auf den Gedanken kommen, dass bei OLIVETTI die organisierte Desorganisation studiert wird.’“ [S. 119]

Unter diesen Umständen konnten die Arbeiter_innen viele vorgegebene Planziele nur in eigenmächtiger Weise erreichen, indem sie die Arbeit neu unter sich verteilten, Vorschriften bewusst ignorierten usw. Die Planziele wurden erfüllt, aber ihre Umsetzung erfolgte in einer Weise, „die für die Betriebsspitze nicht zu erkennen ist“ – „der Kapitalist ist so gezwungen, immer wieder von vorne anzufangen und sich der Art anzupassen, wie der Arbeiter seinen Plan verwirklicht. Hier verbirgt sich in den Arbeitsverhältnissen eine tägliche Klassenauseinandersetzung“, wie Alquati erkannte [S. 129].

Dieser Konflikt äußerte sich vor allem als zäher Kleinkrieg: Die Arbeiter_innen versuchten sich die Arbeit zu erleichtern, ein paar freie Minuten zu gewinnen, während Management, Kontrolleure usw. ihrerseits versuchten, diese Lücken zu schließen und die Arbeitszeit so weit wie möglich zu verdichten.

Alquati beschrieb dies als Kreisbewegung mit folgenden Stationen: Zunächst wird eine neue Maschine eingeführt, was mit der Festsetzung einer vorläufigen neuen Arbeitsnorm einhergeht. Diese kann von den Arbeiter_innen zunächst nur in improvisierter, informeller Weise bewältigt werden. Nach und nach bilden sich dabei neue Handlungsroutinen und Fertigkeiten heraus, die dann wiederum als Ausgangsbasis für neue Planvorgaben dienen.

Die informelle Kooperation der Arbeiter_innen bildete so die Grundlage der technischen Erneuerung und Modernisierung. Zugleich erkannte Alquati in diesen Verhaltensweisen die ersten Ansätze einer möglichen „Arbeiterautonomie“ gegenüber dem Kapital. Die weitere technische Vereinheitlichung der Produktionsabläufe, so lautete seine These, würde mittelfristig auch zu einer Neuzusammensetzung der Arbeit­er_in­nenklasse und zu einer Ausweitung der bestehenden Konflikte innerhalb der Fabriken führen.

Es sollte sich rasch zeigen, dass Alquati mit dieser Prognose richtig lag. Im Sommer 1962 machte eine Welle von Streiks deutlich, wie groß die Entfremdung zwischen der Arbeiterschaft und der institutionellen Arbeiterbewegung inzwischen geworden war. Indem sie sich in diese Konflikte einmischten, gerieten die operaistischen Aktivist_innen rasch in Konfrontation mit der Gewerkschafts- und Parteibüro­kratie. Zugleich traten auch innerhalb der Redaktion der Quaderni Rossi die politischen Gegensätze offen zu­tage – eine Spaltung wurde unvermeidlich. Im selben Maße, wie die neuen autonomen Klassenkämpfe an Fahrt gewannen, gewann auch die operaistische Theorie an Eigen­ständigkeit und nahm genauere Konturen an. Aber dazu mehr im nächsten Heft.

justus

(1) So liest es sich jedenfalls in Panzieris Text über den „Sozialistischen Gebrauch des Arbeiterfragebogens“, in „Spätkapitalismus und Klassenkampf – Eine Auswahl aus den ‚Quaderni Rossi’“, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 1972, S. 105ff. Online ist der Text unter eipcp.net/transversal/0406/panzieri/de zu finden.
(2) Die Seitenzahlen in den eckigen Klammern folgen Romano Alquati, „Klassenanalyse als Klassenkampf – Arbeiteruntersuchungen bei FIAT und OLIVETTI“, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Rieland, Athenäum Fischer, Frankfurt a.M. 1974. Der Text „Organische Zusammensetzung des Kapitals und Arbeitskraft bei OLIVETTI“ ist als PDF unter www.wildcat-www.de/thekla/05/t05_oliv.pdf zu finden.
(3) Zitat nach Nanni Ballestrini/Primo Moroni: „Die goldene Horde – Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien“, Assoziation A, Berlin 2002
(4) Zitiert nach Rieland/Alquati 1974, S. 29.
(5) Schon in seiner Untersuchung zu FIAT hatte Alquati bemerkt, dass die Qualifizierung nur dazu diente, „die Existenz hierarchischer Stufen zu verfestigen und unter den Arbeitern durchzusetzen, indem man diese Stufen mit einem ‚falschen’ Prestige ausstattet, dessen ‚Absurdität’ den neuen Arbeitern durchaus nicht entgeht. […] Das ganze System der Hierarchisierung hat sowohl innerhalb als auch außerhalb der Fabrik eine politische Funktion.“ Siehe Rieland/Alquati 1974, S. 77.
Weitere verwendete Literatur:
Emiliana Armano, Raffaele Sciortino, „Ciao Romano. Erinnerung an Romano Alquati“, in: Sozial.Geschichte Online, Heft 3/2010, duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=22662

Theorie & Praxis

Schreibe einen Kommentar