Der lange Weg in die Autonomie

Ein kleiner Bissen zapatistischen Politikverständnisses

13 Jahre ist es nun her, dass die za­pa­tis­ti­sche Be­we­gung der Campesin@s (1) (Kleinbauern/Klein­bäuerinnen) mit ihrem Ruf nach An­er­ken­nung als Teil der mexi­ka­ni­schen Ge­sell­schaft in die Öffent­lichkeit trat. Die For­derung nach Auto­no­mie, die alle gesell­schaft­lich relevanten Bereiche, wie die kulturelle Ei­gen­ständigkeit, die Kontrolle über die Ressourcen, politische Selbstver­waltung und ein eigenes Rechts­system umfasst, existierte da­bei eigentlich schon lange bevor die Guerilla der Za­patistischen Armee der Natio­nalen Befreiung (EZLN) erschien und hat sich bis heute kaum verändert.

Sichtbar verändert hat sich dagegen, dass seit dem Aufstand der Zapatistas am 01. Januar 1994 die Autonomie in den auf­stän­dischen Gebieten nicht mehr nur gefordert, son­dern gegen den Willen der Regierung und mit der Unterstützung der EZLN in die Tat um­gesetzt wird. Dabei verstehen die Za­pa­tis­tas unter Autonomie ausdrücklich nicht die „Fragmentierung des Landes oder Se­pa­ra­tismus, sondern die Ausübung des Rechtes, uns selbst zu regieren, wie in Artikel 39 der po­litischen Verfassung [Mexikos] verankert“ (Sub­comandante Mar­cos). Ihr Politik­ver­ständ­nis und ihre Vor­stel­lungen vom re­vo­lu­tio­nären Kampf, für eine radikale Basis­de­mo­kra­tie, ihre Selbst­be­stim­mung und für die Wür­­de stellen da­bei nicht nur ab­strakte Zie­le dar, sondern sind in ihrem Alltag allgegen­wärtig.

Durch die großflächige Wiederaneignung und Besetzung von fruchtbarem Land wur­den seit 1994 nötige Freiräume ge­schaffen, in denen autonomes Denken und Handeln über­haupt erst möglich wurde. Bis heute hat sich somit ein alternatives Verwaltungssystem eta­bliert, in dem die einzelnen Comunidades (Ge­meinden) die oberste Entscheidungs­ebene darstellen. Die staatlich festgelegten Mu­nicipios (Land­kreise) wurden nach geo­graphischen und kulturellen Aspekten neu auf­geteilt und sind heute Orte der Planung kollektiver Landwirtschaft und Entwicklung so­wie der Streitschlichtung.

Überregional or­ga­nisieren sich die Za­pa­tis­tas über fünf zen­trale Ver­samm­lungssorte, sog. Caracoles (2), die unter­einan­der weit­gehend unabhängig sind und denen die je­weils umliegenden Muni­cipios zugeordnet wur­den. Die Caracoles fun­gieren in ers­ter Linie als Kom­muni­kations- und Logistik­zent­ren, in denen sich neben den großen Ver­samm­lungsstätten auch Läden, Werk­stätten, Kultur­ein­rich­tungen und ver­einzelt auch weiter­führende Schulen und Hos­pitäler be­­finden. Sie dienen als An­lauf­­stelle für jene, die Kontakt mit den Za­pa­tistas aufnehmen wollen. Hier finden auch die Treffen mit der na­tionalen und inter­nationalen Zi­vil­­ge­sellschaft (3) statt.

Das ent­schei­den­de Merk­mal der zapa­tis­­tischen Selbst­­ver­wal­tung ist der Grund­satz, dass die Ent­schei­dungsmacht über die Ge­stal­tung des Zusammen­lebens bei den Ge­mein­den liegt, die alle Belange in Voll­ver­sammlungen diskutieren und im Konsens be­schließen. Dies gilt ebenfalls für Entschei­dun­gen, die das militärische und politische Vor­­gehen der Guerilla betreffen. Die EZLN sieht sich ihrer Basis verpflichtet und handelt nicht, ohne vorher Absprachen mit ihr zu treffen.

Die gewählten Vertreter_Innen werden als Ver­antwortliche für die politischen Ämter in den Landkreisen und Caracoles ent­sandt, wo sie nach dem Grundprinzip des „gehorch­en­den Regierens“ jederzeit wieder von ihren Auf­­gaben enthoben werden können, sofern diese nicht nach den Beschlüssen ihrer Ge­meinde handeln. Ein weiteres ent­scheiden­des Merkmal ist die ständige Rotation der Ver­­ant­wort­lichen zwischen den einzelnen Äm­tern. Je nach Gebiet haben somit die je­weiligen Entsandten nur wenige Wochen ei­nen Aufgabenbereich inne. Dies soll zum ei­nen einen wirksamen Schutz gegen Korrup­tion und Amtsmissbrauch bieten, zum anderen aber auch möglichst vielen Men­schen die Möglichkeit geben, selbst an den Ver­waltungsaufgaben teil­zu­haben, die als Mul­tiplikatoren ihre Er­fahrungen in die Ge­meinden zurück tra­gen und somit ein breites Ver­ständnis für die An­for­der­ungen der Selbst­ver­waltung in der Be­völ­kerung er­zeugen.

Diese Art der Politikgestaltung ist natürlich sehr zeitintensiv und verlangt von den Za­pa­tistas sehr viel Geduld. Gerade dieser As­pekt spiegelt aber auch den Anspruch des za­patistischen Politik­ver­ständ­nises wieder, “im Tempo des Langsamsten zu gehen”, um auch alle, die es wollen, am Aufbau alter­na­tiver Formen des Zu­sammen­lebens zu be­tei­ligen. Gemäß dieses Prinzips und dem des Pre­gun­tando caminamos („fragend gehen wir voran“) probieren die Zapatistas ihre Vor­stellungen von Auto­no­mie immer wieder neu aus und modifizieren ihr Konzept nach auf­ge­tretenen Schwierig­keiten in der prak­tischen Um­setzung. Das hat auch zur Folge, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Ge­meinden zum Teil erheblich sind und ge­neralisierende Aussagen über das Leben dort kaum getroffen werden können. Jede Dorf­ge­meinschaft lebt die Au­tonomie auf ihre ei­gene Art, wobei die ver­schiedenen indi­ge­nen Traditionen eine ent­scheidende Rolle spie­len. Auch dieser Um­stand bildet einen grund­legenden Konsens im Auto­no­mie­kon­zept der Za­pa­­tis­tas. Das erklärte Ziel „eine Welt“ auf­zu­bauen, „in der viele Welten ihren Platz haben“, beinhaltet gerade eben den Ver­such, eine Vielzahl von möglichen Le­bens­for­men neben­einander existieren zu lassen, ohne sich gegenseitig aus­zu­schließen. Eben da­rin un­ter­scheidet sich der zapa­tis­­tische Auto­nomie­anspruch von dem homo­geni­sieren­den Kon­zept des mo­dernen ka­pi­ta­lis­tischen Staates, in dem das In­di­vi­duum unabhängig von seiner kul­turellen Iden­tität (bspw. als An­ge­hö­rige_R einer indigenen Kultur) als bloßes Wirt­­schafts­subjekt (bspw. als Klein­bauer/Klein­bäuerin) oder poten­zielle Wähler_In ver­standen wird. Darüber hinaus stößt dieser Anspruch in der Selbst­be­trach­tung aber gleichzeitig auch an eigene tra­di­tions­be­stimmte Ungleichgewichte sozialer Macht­­verhältnisse, die einer kritischen Re­flexion unterzogen werden. Das betrifft an dieser Stelle insbesondere das Rollen­ver­ständ­nis von Mann und Frau. So wurde be­­reits ein Jahr vor dem Aufstand der Za­pa­­tis­tas in den Gemeinden das als ‚Revolu­tion in der Revolution‘ bekannt gewor­dene „Re­vo­lu­tionäre Frauengesetz“(4) verabschiedet.

Leben im Süden Mexikos

Die meisten der zapatistischen Ge­mein­den wur­­den im Zuge der Land­besetzung nach 1994 gegründet und befinden sich auf Ge­bie­­­ten ehemaliger Groß­grund­be­sit­zer_­Innen, die teilweise vertrieben wurden oder freiwillig ihr Land aufgaben.

Ei­nige der Gemeindeländereien wurden mittlerweile durch den Kauf des Landes le­­ga­lisiert, was allerdings nur wenigen der za­­pa­tistischen Gemeinden möglich ist. Der Groß­teil lebt währenddessen nach wie vor mit einer kaum abschätzbaren Be­drohungs­lage der Landvertreibung. Im Rahmen des staatlichen Programms zur “Aufstands­be­kämpfung” zielt die Schaf­fung eines per­mantenten Zustandes der Angst und Un­sicher­heit in erster Linie auf die Zer­mürbung und Spaltung der zi­vilen Basis der EZLN und ist in vielen Fällen bereits auch ge­glückt. In Chiapas sind der­zeit ca. 60 000 Soldaten in 118 Camps (da­von 57 direkt auf Ge­meindeland der Indigenen und Bauern) (5) stationiert, so dass die Be­völkerung selbst in den ent­le­gensten Winkeln des Landes einer ständigen Re­pression durch die An­wesenheit des Militärs aus­ge­setzt ist.

Zur staatlichen Strategie des Krieges Niederer In­tensität (6) gehört zu­dem die Land­ver­gabe und An­­sied­lung re­gierungs­treuer Bauern (sog. Priistas – abgeleitet von ihrer Unter­stützung der Staats­partei PRI), die propor­tional über­durch­schnitt­liche staatliche Zu­wendungen erfahren und somit den sozialen und öko­no­mischen Druck auf die za­pa­tis­tischen Familien erhöhen. Gleich­zeitig stellen diese in vielen Fällen auch die Basis für para­mi­li­tä­rische Organisationen. Die Dul­dung und Unterstützung para­mili­tärischer Gruppen durch die politische und wirt­schaftliche Elite des Landes zielt vor allem auf die Ver­schleierung der staatlichen Ver­antwortung für Übergriffe auf zapa­tis­tische Gemeinden, indem der Konflikt in Chia­pas in der Öffentlichkeit als Problem zwischen unterschiedlichen indigenen Ge­meinden oder Gruppen dargestellt wird.

Trotz dieses Umstandes hat sich die Lage der zapatistischen Kleinbauern in den letzten 13 Jahren vielerorts sichtbar verbessert, vor allem im Hinblick auf die Nahrungs­mit­telversorgung, die neben der Selbst­ver­sor­gung durch die vielen unter­schiedlichen Ko­operativen für Kaffee, Kunsthandwerk und an­dere Agrar­pro­dukte erreicht wurde. Ein za­patistischer Dorfbewohner kommen­tierte dies mit Blick auf die dicken Bäuche der Män­­ner in seiner Gemeinde. Allgemein sollte das aber nicht darüber hinweg­täuschen, dass das Leben der Campesin@s nach wie vor von absoluter Armut geprägt ist. Noch heute sind die häufigsten Todes­ur­sachen leicht heilbare Krankheiten, zu einem Groß­teil hervorgerufen durch die meist fehlende Trinkwasser- und Abwasser­ver­sorgung sowie die Bereitstellung öffent­licher Ba­sis­dienste (7).

Der Konstruktion eines regierungs­un­ab­hän­gigen Gesundheits- und Bildungs­systems kommt daher im Kampf um die Autonomie eine besondere Bedeutung zu. In fast jeder Ge­meinde wird über die Er­nennung von Pro­mo­toren (als eine Art Be­auf­tragte) für den Schul­bereich und die me­dizinische Ver­sor­gung eine schrittweise Ver­besserung der Le­bens­bedingungen an­ge­strebt. Zum einen bie­tet dies die Ge­legenheit, traditionelles und auf die Region abgestimmtes Wissen, das teil­weise bereits verlorengegangen schien, wieder zu beleben und auch weiterhin zu nutzen. Zum anderen dient gerade das staat­liche Gesundheits- und Bildungs­wesen im­mer wieder zur massiven Ein­fluss­nahme und rassistischen Unter­drückung der indi­ge­nen Bevölkerungs­schichten (so z.B. zur Zwangssterilisation indigener Frauen oder dem “Verloren­gehen” der Mayasprachen durch aus­schließlich in spanischer Sprache ge­führten Unterricht).

Widerständige Praxis zwischen Alltag und revolutionärer Utopie?

Auf dem Weg in die kulturelle Selbst­be­stimmung stehen die Zapatistas dabei auch wei­terhin erst am Beginn eines langen, aber not­wendigen Pro­zesses, was ihnen auch sehr be­wusst ist. Auto­nomie kann dabei in vielen Fällen aber gerade nicht mit Au­­tar­kie gleich­gesetzt werden. Nach wie vor sind ge­rade die Projekte zur grund­legenden Ver­besserung der allge­meinen Lebens­situation nicht ohne die Un­ter­stützung von außen realisierbar. Dies betrifft beispiels­weise die technische und finanzielle Abhängigkeit der za­pa­tis­tischen Campe­sin@s von soli­da­rischen Or­­ganisationen und Einzelpersonen aus dem In- und Ausland beim Aufbau einer un­­abhängigen Trink­wasser- und Strom­ver­­sor­gung, wie auch die Notwendigkeit einer weiterhin breiten, weltweiten Öffent­lich­keit, die durch alle aktiven Un­ter­stüt­zer_Innen, insbesondere aber durch die Men­schenrechtsbeobachtung er­reicht wird. Dass es trotz aller politischer Ab­wägungen da­bei auch zu Grenzfällen zwischen der guten Ab­sicht konkreter Unterstützung und fehlender Konflikt­sensibilität mit Blick auf die langfristigen Fol­gen einer nicht genügend re­flektierten Ein­wirkung von außen kommen kann, ist nicht auszuschließen. Gerade die Ar­beit als inter­natio­nale_R Unter­stützer_In ver­langt in die­ser Hin­sicht die Re­flexion des ei­genen kul­turel­len Selbst­ver­ständnisses und der Vielschichtigkeit des politischen Kampfes, der in den bestehenden Ver­hält­nissen und alltäglichen Mög­lich­keits­räumen zum Widerstand unterschiedlich gegeben ist, in Chiapas ebenso wie in allen anderen Teilen der Welt.

Dabei bleiben auch die zapatistischen Cam­pe­sin@s hinsichtlich ihres eigenen Emanzi­pa­tions­prozesses selbstkritisch im Bezug auf die Reflexion ihrer eigenen Tradition und Wer­te. Seit der Rebellion 1994 wurde vieles hin­sichtlich der Ver­wirklichung einer al­ter­na­tiven Lebens­praxis erreicht, dagegen in vie­len sozialen Teil­bereichen erst zögerliche Schritte begonnen. Daher wird es auch zu­künftig nötig sein, weiterhin das nötige Durch­haltevermögen bei­zu­behalten und den all­täglichen Wider­stand poco en poco um­zu­setzen.

LottenLise

(1) Als gendergerechte Schreibweise wird in der kastilen (allg. als Sp. bekannten) Sprache das „a“ für die weib­liche bzw. das „o“ für die männliche Form durch ein „@“ ersetzt & so im Artikel verwendet.
(2) Übersetzt „Schneckenhaus“. Dieses Symbol wurde bewusst gewählt, um den zapatistischen Ent­scheidungs­pro­zess zu veranschaulichen, in dem die vielen Stimmen am Ende der basisdemokratischen Entscheidungsfindung zu einem Konsens führen sollen.
(3) „Zivilgesellschaft“ wird im zapatistischen Diskurs in Abgrenzung zur europäischen Definition generalisierend als der Teil der Bevölkerung verstanden, der außerhalb der staatlichen Strukturen den Kampf um die Wiederaneignung seiner Lebensbedingungen aufgenommen hat.
(4) Eine deutsche Version der ersten Fassung von 1993 unter www.npla.de/poonal/p134.htm.
(5) Vgl. www.sipaz.org/data/chis_de_03.htm (Stand 2005).
(6) Der Krieg der Niederen Intensität zielt weniger auf eine direkte militärische Zerschlagung der Guerilla, son­dern ist vielmehr als eine psychologische Kriegsführung gegen die Basis, also den zivilen Teil der Bewegung, zu verstehen. Diese Strategie wurde bereits in den 40er Jahren an der in Panamá, durch US-amerikanisches Mi­li­tär, gegründeten School of the Americas (S.O.A.) entwickelt, wo die Mehrzahl lateinamerikanischen, militärischen Führungspersönlichkeiten ausgebildet wurde. Heut befindet sich die Schule unter dem Namen Western Hemisphere Institute for Security Cooperation (WHINSEC) in Fort Benning im US- Bundesstaat Wisconsin. Mehr unter: www.imi-online.de/download/AUSDRUCK-08-2004JP-Chiapas.pdf#search=%22Krieg%20niederer%20Intensitaet%22
(7) Vgl. sipaz.org/fini_deu.htm

Nachbarn

Schreibe einen Kommentar