Die Großstadtindianer (Folge 1)

Eine Heimat, ein Springer und ein paar Gläser I

„Ist das das Buch aus der Bibliothek?“ Kalle war hereingekommen und hatte sich das kleine, schwarze Büchlein vom Tisch geangelt. „Ja, steht aber nicht viel drin, nur die ersten paar Seiten sind bedruckt.“, ich verdrehte etwas die Augen, „Ziemlich mystisch.“. Kalle blätterte nachdenklich durch die rotschimmernden Seiten: „Merkwürdig!?“ „Ja, der Autor wartete wohl auf irgendwelche Helden, die alles Böse für immer vernichten würden.“ „Hmm.“ „Vielleicht wollte er ja ihre Taten aufschreiben, und die Helden sind nicht gekommen.“, ich lächelte Kalle etwas ungläubig zu, „Komische Vorstellungen hatten die damals – ach, wenn das alles so einfach wäre.“ Er brummte wenig überzeugt und vertiefte sich in die wenigen Zeilen.

Ich ließ ihn lesen, ging zum hinteren Fenster und sah hinaus. Von hier konnte man die Ausmaße unseres kleinen Fleckchens Erde nur erahnen. Der Blick fiel geradewegs auf die langsam vor sich hin bröckelnden Ruinen des zusammengesackten Fabrikgebäudes von Gegenüber. Nur die Backsteine erinnerten noch an den einstigen Reichtum. Davor hatten wir mit viel Mühe einen winzigen Acker aufgeschüttet. Es reichte zumindest für das Notwendigste – Kartoffeln, Mohrrüben, ein paar hochgeschoßene Bohnenranken, allerei Gewürze und einiges mehr. Die Vielfalt ließ den Boden gesund bleiben und der eigene Schweiß sorgte für den doppelten Genuß. Wenn man die Nase an dem Fenster nach links plattdrückte, sah man noch geradeso die Verschläge fürs Holz, das Werkzeug und Anderes. Rechts blies der Wind kraftlos in die Wäsche. Die Sonne lachte. Zwischen den Bohnen tauchte kurz ein rot-schwarzer Haarwuschel auf. Mir fiel ein, daß sich Moni ja heute um die Pflanzen kümmern wollte. Ich spähte nach unserem Gartenengel, aber sie war schon wieder zwischen den Pflanzen verschwunden.

Kalle räusperte sich in meinem Rücken und ich drehte mich zurück zu ihm. Er hielt das Buch mit einer aufgeschlagenen Seite über eine der Kerzen. Mir fiel es schwer, nicht lauthals loszulachen. Mein Glucksen schien ihn ein wenig zu ärgern. „Man kann ja nie wissen, vielleicht hätte sich irgendein Hinweis versteckt, Wachsstifte waren einmal sehr beliebt!“, rechtfertigte er sich vorwurfsvoll. „Du bist aber auch immer auf Schatzsuche“, ich nahm ihm das Buch aus der Hand, „Das wird mein neues Notizbuch.“ Kalle starrte mich kurz an, aber dann gefiel ihm plötzlich die Idee. „Genau Finn, du wirst unser Chronist. Die Schreiberei lag dir ja schon immer nah. Wir reißen die beschriebenen Seiten einfach raus und schreiben unsere eigenen Taten hinein. Unsere Geschichte …“ Seine Augen blitzten auf und glitten über die sieben Weltmeere seiner Phantasie. „Das wird aber dann keine Piratengeschichte.“ Ich versuchte seine aufkeimende Euphorie ein wenig zu bremsen, weil ich mir über die Idee selbst noch nicht ganz im Klaren war, aber Kalle sah schon die Lagerfeuer vor sich, an denen unsere Taten erzählt würden: „Naja, ein kleinwenig wie Piraten sind wir schon. Los, Finn, die Idee ist gut. Schlag ein!“ Er streckte mir die Hand entgegen. „Ich probier mal ein wenig herum, aber versprochen ist nichts, ok.“ Kalle wollte gerade zu einer seiner fünfminütigen Predigten ansetzen, über die Notwendigkeiten, die Dinge beim Schopfe zu packen, Ideen immer sofort in die Tat umzusetzen, den Zweifel zu überwinden … als Boris in eiligem Schritt durch die Tür trat. „Kalle? Finn? Es ist soweit.“ Sein Atem war noch auf dem Weg zu uns. „Der Buggemüller ist losgefahren – das Tuch – das Tuch hängt am Wagen …“ Er verschnaufte kurz. Wenn Buggemüller das Zeichen gegeben hatte, dann blieb uns noch gut eine Stunde, dachte ich, er würde warten. Sein Ehrgeiz war unersättlich. Ich sah zu Kalle. „Du bist unser Mann für die Springerzange.“ Er grinste. „Kein Problem. Den Buggemüller steck‘ ich noch im Halbschlaf weg.“ „Na dann los, wir nehmen den Wagen, die Kiepen und vielleicht noch ein zwei Leute und dann holen wir uns die Gläser!!“ Über unsere Gesichter huschte ein Hauch von Vorfreude und wir stoben in drei Richtungen auseinander, um alles vorzubereiten.

(Fortsetzung folgt.)

clov

…eine Geschichte

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