Die Großstadtindianer (Folge 2)

Eine Heimat, ein Springer und ein paar Gläser II

Nachdem Kalle die Idee meines neuen Amtes als Chronist geboren hatte, war es Boris gewesen, der mich vor einer alle Zweifel vertilgenden Predigt Kalles bewahrte. Freilich, seine Euphorie hatte mich angesteckt: Eine Geschichte unserer eigenen Taten. Aber ich scheute gerade vor den unumgänglich selbstreflexiven Zügen solch einer Unternehmung. Schließlich würde sie ohne kritischen Selbstbezug aus der Feder eines einäugig Blinden stammen. In dererlei Zweifel war Boris mit seiner Nachricht von Buggemüller gestürzt, jenem fettleibigen Fuhrunternehmer der Stadt, und hatte jedwede tiefergehende Diskussion just abgeschnitten. Wollten wir unseren rasant abnehmenden Vorrat an Einweckgläsern wieder mit Nachschub versorgen, mußte sofort gehandelt werden. Buggemüller war der (vertraglich abgesicherte) Entsorger der kleinen Fast-Food-Fabrik am östlichen Ende der Stadt. Sein Job bestand einfach darin, den in der Fabrik anfallenden Müll an die entsprechenden Stellen zu entsorgen. In der Fabrikleitung hatte man unsere Bitten nur mißmutig angehört. Satzfetzen wie: „Wenn da jeder kommen würde.“, „Das geht einfach nicht!“, oder „Der Herr Buggemüller würde anfangen, um seinen Job zu bangen. Und das wollen wir doch alle nicht.“ Ja, ja! Noch immer spukten sie durch meinen Kopf. Dabei wäre alles so einfach gewesen. Ein Anruf und wir hätten die Gläser abgeholt, direkt vom Fabriksgelände und ohne Kosten!? Doch der Mythos vom Fortschritt durch Kostenminimierung hatte einen zutiefst konservativen Kern: Hauptsache alles bleibt, wie es ist! Wegen dieser Halsstarrigkeit mußten wir einen anderen Weg finden, um an die für uns so wichtigen Gläser heranzukommen. Unser Obst war schließlich in der ganzen Gegend beliebt. Nicht nur weil niemand mehr so leicht an Eingewecktes herankam, sondern vor allen Dingen weil jeder es bei uns so ziemlich gegen alles eintauschen konnte: Ob gegen eine überflüssige Packung frische Eier, ein loses Stromkabel oder ein paar saubere Mauersteine. Zum Verkauf sollte nur im äußersten Notfall gegriffen werden, dieser Vorsatz galt wie Ungeschriebenes. Von Geld konnte mensch zwar alles kaufen, was es eben gab, aber selten das, was mensch wirklich brauchte. Daraus mußte man keine Theorie machen, das wußte jeder.

Am Anfang dachten wir daran, in die Deponie einzusteigen und die Gläser einfach zu mopsen. Doch der Stacheldraht der Halde lag hoch, die Hunde gehörten dringend in die Therapie und es wäre auch schwierig gewesen, die Kameras auszuschalten. In einem Wort, der Müll der Stadt war zu gut bewacht und außerdem mußte man davon ausgehen, daß ein Großteil der Gläser beim Entladen schon zerbrochen war. Wie also an die Gläser herankommen? Die Lösung hieß: BUGGEMÜLLER. Während ich darüber nachdachte, wie wir auf Buggemüller gekommen waren, hatten sich meine Schritte denen Kalles und Boris‘ angeschlossen, doch kurz vorm Schuppen wandte ich sie noch einmal Richtung Feld. „Moni!?“ Sie war nirgends zu sehen, nur das Gartengerät faulenzte träge in der Sonne. „Au!!“ Ein Apfel traf mich zielgenau am Hinterkopf und purzelte vor meine Füße. Ich drehte mich jäh herum, doch niemand war zu sehen. Aus der Baumkrone über mir kicherte es leise. „Moni?“

Ihr Wuschelkopf erschien zwischen den Ästen. „Suchste mich?“ „Äh, ja.“, ich rieb mir die kaum noch wahrnehmbare Trefferstelle am Hinterkopf, „Du, der Buggemüller ist mit Gläsern unterwegs. Will’ste mitkommen?“ Moni hangelte vom Baum. „Nee. Laß mal. Das Feld ist fertig und jetzt mach‘ ich gar nichts mehr. Ich leg‘ mich nur noch in die Hängematte und genieße die Sonne.“ Sie wollte an mir vorbeigehen, überlegte, und sagte dann noch: „Außerdem mag ich den Buggemüller nicht!“. Sie blies in meine Haare an der Stelle, wo mich der Apfel getroffen hatte und flüsterte: „Ich mache jetzt die Beine lang, er hebe hoch, der Müßiggang!“ Noch ehe ich reagieren konnte, war sie schnell zwischen die Bohnenranken abgetaucht.

Ich zuckte etwas hilflos mit den Schultern und ging zurück zum Schuppen. In meinem Rücken hörte ich Moni noch rufen: „Du Finn, ihr wascht mir die Gläser doch hinterher noch aus. Die stinken immer so nach saurer Gurke. Pfui, Pfui.“ Ich mußte lächeln. Dieses ‚Pfui, pfui‘ – so wie Moni es sagte – das war Moni. Und sie wußte das. Es erinnerte an die unzähligen Male zuvor, an gemeinsam Erlebtes, an Moni und ihr ‚Pfui, pfui.‘. „Hallo, Herr Tagträumer!“ Ich stolperte fast über Kalle, der mit den Holzkiepen aus dem Schuppen kam. „Nimmst du den Wagen? Boris ist zum Wohnhaus. Er will fragen, ob noch jemand mitkommt. Wir treffen uns vorn, an der Ecke.“ „Gut.“ Ich griff nach der Achse des Wagens. „Und was ist mit Moni?“ „Sie will …“, ich erinnerte mich an ihren Flüsterton, „ …müßiggehen.“ „Aha, soll sie mal. Soviel ist nun auch wieder nicht zu tun. Na dann los.“ Als wir die Ecke erreichten, kam uns Boris mit Schlumpf und Schmatz entgegen. ‚Die beiden …‘, dachte ich und sagte zu Kalle: „Für den Spaßfaktor ist damit auf jeden Fall gesorgt.“ Er lachte nur und gemeinsam gingen wir den Berg hinab, von dem sich die Straße zwischen die städtischen Viertel schlängelte; unsere Heimat im Rücken und unsere Aufgabe weit voraus.

(Fortsetzung folgt.)

clov

…eine Geschichte

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