Die klassische „Ente“

Absichtlich verbreitete Falschnachrichten – nerven so manchen Internetbenutzer, Doch „Enten“ sind keine Erfindung des Internetzeitalters. Tom Appleton machte sich auf die Spur der großen klassischen Zeitungsente.

Die klassische „Ente“ stammt von den Märchenbrüdern, Jakob und Wilhelm Grimm. „Hänsel und Gretel“, „Rotkäppchen“, „Schneewittchen“, so behaupteten sie, seien echt deutsch bzw. „ächt hessisch“. „In diesen Volks-Märchen“, schrieben sie im Vorwort zu ihrer berühmten Sammlung, „liegt lauter urdeutscher Mythus.“ Im Vorspann des Buches zeigten sie dazu das Bild einer „alten Märchenfrau“, Dorothea Viehmann, genannt die „Viehmännin“. Diese „Märchenfrau von Niederzwehren“ sollte stellvertretend für alle anderen auf die Quellen der Grimm-Märchen verweisen: alte, des Lesens unkundige Bäuerinnen, Ammen, also Leute aus dem Volk, die auf einen Fundus mündlich tradierter Geschichten aus längst vergangener Zeit zurückgreifen konnten. Es sollte der Eindruck entstehen, als hätten die beiden jungen Männer (damals beide Mitte zwanzig) an den Lippen ländlicher Analphabetinnen gehangen und Wort für Wort ihre Äußerungen mitgeschrieben.

Die „Kinder- und Hausmärchen“ wurden ein Hit, sie wurden das deutsche Volksbuch. Dass sich der Inhalt der Sammlung von einer Auflage zur nächsten änderte, oder dass Wilhelm Grimm (der jüngere der beiden Brüder) die bereits gedruckten Märchen (zwischen 1812 und 1857) weiter bearbeitete, um den „richtigen Märchenton“ genauer zu treffen, störte niemanden. Nicht einmal die Germanistik, stieß sich daran, dass die Grimms für ihre Sammlung außer der einen „Märchenfrau“ offenbar keine weitere Quelle nennen konnten. Auch, dass sie ihre ursprünglichen Aufzeichnungen verbrannt hatten, weckte keinen Argwohn. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts – 40 Jahre nach dem Tod der Grimms – gab es einen ersten Hinweis auf die wahre Quellenlage. Hermann Grimm, der Sohn Wilhelms, zeigt, dem Literaturwissenschaftler Johannes Bolte die eigenen Exemplare der Erstauflage aus dem Besitz der Brüder. An den Seitenrand hatten sie hier zu jedem Märchen handschriftliche Notizen gesetzt. „Aus Cassel“, „aus Hessen“, stand dort etwa. Es waren, wie sich zeigte, irreführende Hinweise. Denn aus den dazugehörigen Namen der Märchenlieferantenlnnen ging hervor, dass diese Geschichten fast ausschließlich aus dem Kreis der engsten Freunde der Grimms stammten. Insbesondere handelte es sich um die Familien Wild und Hassenpflug, mit denen sie eheliche Bande knüpften. Die Quellen der Geschichten waren keineswegs alte Leute vom Land, sondern junge, gebildete Yuppies, die in der Stadt Kassel oder in ihrer näheren Umgebung wohnten. Und die Märchen selbst waren weit davon entfernt, authentisch deutsch zu sein. Die Familie Hassenpflug, z.B. war hugenottischer Abstammung und die Umgangssprache zuhause war Französisch. Als diese Fakten ans Licht kamen, um 1900, im Kaiserreich, schwieg man sie einfach tot. Schließlich konnte niemand ein Interesse daran haben, die Erkenntnis an die große Glocke zu hängen, dass das urtümlichste deutsche Volksbuch aus französischen Quellen abgekupfert war.

Frankreich galt zu dieser Zeit, lächerlicher Weise, als „Erbfeind“ der Deutschen. Hermann Grimm trug daher noch ein wenig zur bewussten Spurenverwischung bei, indem er um 1895 eine weitere Amine, „die alte Marie“, aus dem Hut zog. Diese alte Dienerin im Haushalt der Wilds, von der angeblich viele der Märchen stammten, stellte sich bei genauerem Hinsehen (allerdings erst 1975, also 80 Jahre später) als eine Tochter der Wilds heraus, nicht als eine Dienerin. Auch war sie nicht alt, sondern jung, wie alle Quellen der Grimms, ja, sogar die jüngste der Töchter. Selbst die einzig echte, „alte“ Märchenquelle, Dorothea Viehmann, war, wie sich 1955, zur Feier ihres 200. Geburtstags, herausstellte, zur Zeit der Erstauflage von Grimms Märchen noch keine 60. Und auch sie war keine deutsche Bauersfrau, sondern eine, gebildete Bürgerin. Eine Hugenottin auch sie, deren erste Sprache Französisch war. Die Märchen der Gebrüder Grimm stammten mitnichten aus den Urtiefen der deutschen Mythologie, sondern aus der Märchensammlung des Charles Perrault und manch anderen, schriftlichen, französischen Quellen. Gegen die schlichte Einsicht, dass es sich hier um einen literarischen Betrug, um eine Fälschung handelt, wehrt sich nicht allein die Germanistik, sondern wenn man so will, die gesamte deutsche Nation – bis heute. Grimms Märchen sind zwar ursprünglich keine deutschen Volksmärchen gewesen, aber sie sind es geworden. Die Konterfeis der Grimms zieren denn auch, fast wie zur Belohnung, den 1000 D-Mark-Schein, Deutschlands höchste säkulare Seligsprechung. Doch mit dem Euro ist dies wohl auch irrelevant.

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