Die radikalen Wurzeln des Ersten Mai

Was heute als „Tag der Arbeit“ bekannt ist, wurde 1889 von der neu gegründeten Zweiten Internationale als „Kampftag der Arbeiterklasse“ ausgerufen. Die Internationale, die soeben den libertären Flügel ausgeschlossen hatte, machte sich damit eine Forderung der amerikanischen ArbeiterInnen zu eigen: den Achtstundentag. Ironischerweise konnte gerade die anarchistische Strömung in Chicago, dem Zentrum der Achtstunden-Mobilisierung, einen starken Einfluss auf die ArbeiterIn­nen­bewegung ausüben. Heute würde das wohl als „internationaler Aktionstag“ ausgerufen werden – eine Aktionsform, die in den vergangenen Jahren wieder belebt wurde (vgl. Feierabend! #3). Die zentrale Forderung „Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden, was wir wollen!“ war 1856 erstmals in Australien aufgekommen, und fand direkt nach dem US-amerikanischen Bürgerkrieg (1865) auch unter den ArbeiterInnen der „neuen Welt“ großen Anklang.

Zu dieser Zeit setzte eine Modernisie­rungs­welle im amerikanischen Wirtschaftsleben: der Schwerpunkt verlagerte sich vom handwerklichen und agrarischen Sektor zur Großindustrie. Am Anfang des Wirtschaftswunders hatte der Krieg gestanden: Subventionen, Schutzzölle und Staatsaufträge. Chicago, die „weiße Stadt“ im Norden des Landes, war schon Mitte des 19. Jahrhunderts ein ökonomischer Knotenpunkt gewesen: der zentrale Umschlagplatz für Mais und Weizen, Sammelplatz für Schlachtvieh und Bauholz. Weiterhin entwickelte sich in Chicago die Stahlindustrie, die in der Waggonfabrik Pullman und der Erntemaschinenfabrik McCormick verkörpert war. Beschleunigt wurde die Modernisierung der Stadt auch durch den Großbrand von 1871, der binnen drei Tagen die Innenstadt verwüstete. In den folgenden zwei Jahren herrschte Arbeitskräftemangel, was die Position der ArbeiterInnen stärkte. Doch 1873 brach auch hier die erste Wirtschaftskrise der USA ein, die – verstärkt durch die Krise in Europa – zu massiver Arbeitslosigkeit bzw. Kurzarbeit und einer Senkung des Lohnniveaus um 20 Prozent (1873-79) führte. Noch im selben Jahr erlebte Chicago eine erste große Arbeitslosendemonstration. Die Polizei knüppelte die 20.000 TeilnehmerInnen auseinander, an den Folgen der Schläge starben zwei Menschen. Von der landesweiten Krise beson­ders betroffen waren auch die ArbeiterIn­nen der Eisenbahngesellschaften, letztere hatten seit 1873 die Löhne durchschnittlich um 25 Prozent gesenkt. Als im Juni 1877 weitere Lohnkürzungen angekündigt wurden, begannen im Osten des Landes Streiks, die sich zu einem Generalstreik gegen Niedrig­löhne und Arbeitslosigkeit ausweiteten. Gegen die Eisenbahner wurden Bundestruppen und die Nationalgarde eingesetzt: 13 Streikende wurden getötet. In Chicago wurde der Streik Ende Juli im Blut von 24 Toten und mehr als 200 Schwerverletzten erstickt. Im Jahr darauf schenkte die Industriellenvereinigung Citizens’ Association der Stadtverwaltung zwei Maschinengewehre!

In dieser gesellschaftlichen Situation kam es 1880 in der Sozialistischen Arbeiterpartei zu Auseinandersetzungen über die Legitimität der bewaffneten Arbeitermilizen, die jüngst verboten worden waren. Die Revolutionäre lehnten den Wahlkampf aus taktischen Gründen zwar nicht ab, bot sich darin doch eine gute Gelegenheit, ihre Ideen zu verbreiten; sie waren jedoch von der Notwendigkeit bewaffneter Organe über­zeugt. Die „Propaganda der Tat“ verstanden sie jedoch nicht als politisches Atten­tat, sondern als bewaffneten Massenaufstand. Auf einem Kongress, in Pitts­burgh 1883, fanden sich Delegierte aus 26 Städten zusammen und gründeten die International Working Peoples’ Associa­tion (IWPA), die die gewerkschaftliche Organisation in ihr Revolutionsmodell einbezog: Nach der Zerschlagung des Kapitalismus sollten die auf lokaler und regionaler Ebene existierenden Gewerkschaften die Keimzellen einer neuen Gesellschaft bilden, die eine staatliche Struktur nicht mehr kennen sollte. Dieses Sozialismusverständnis war einerseits von Marx’ Analyse der ökonomischen Verhältnisse geprägt, andererseits wurde eine geistig-moralische und kulturelle Revolution in ihrer Bedeutung der Umwälzung der Besitzverhältnisse gleichgestellt.

Dass die IWPA in ihrer Radikalität großen Zuspruch erhielt, lag zum einen daran, dass die Revolutionäre ihre Vorstellungen nicht dogmatisch verfolgten, sondern durchaus bereit waren, auch aktuelle Tagesforderungen – z.B. den Achtstundentag – zu unterstützen. Zum anderen war die blutige Repression seitens des Staates und der Arbeitgeber fast alltäglich, und doch war die kollektive Aktion unvermeidlich. Denn wenn auch der Achtstundentag gesetzlich verankert war, bedeutete das noch lange nicht, dass er auch durchgesetzt wäre. Für immerhin 40.000 Arbei­terInnen war die Arbeitszeit schon auf einen dritten Teil des Tages reduziert worden – nun hieß es: alle oder keiner. Vom ersten Mai an sollte der Achtstundentag überall durchgesetzt werden. August Spies, Chefredakteur der einzigen sozialrevolu­tionären Tageszeitung, der deutschsprachigen „Arbeiter-Zeitung“, betonte als Redner auf der 80.000er Demo: „Ja, zwanzigtausend organisierte, bewusste und entschlossene Lohnarbeiter sind ein schwerwiegenderes Argument als die allerlogischsten und schönsten ökonomischen Beweisführungen.“ In der Folge kam es, wie schon 1867 im Rahmen der ersten Acht-Stunden-Kampagne, zu einem Generalstreik.

Nach einem Angriff der Polizei am 3.5.1886 auf die Streikposten der McCor­mick-ArbeiterInnen waren wieder zwei Tote zu beklagen. Die am folgenden abgehaltene Protestversammlung auf dem Haymarket, bzw. der Polizeieinsatz dort, wurde zum Ausgangspunkt dramatischer Ereignisse: das erste Bombenattentat der US-Geschichte tötete einen Polizisten, sechs weitere starben im Kugelhagel ihrer Kollegen. Daraufhin initiierte die Polizei Razzien und Massenverhaftungen im revolutionären Milieu. Die Staatsanwaltschaft erhob Klage gegen acht Wortführer, und wollte damit der sich formierenden ArbeiterInnenbewegung ein für allemal den Garaus machen – mit vier Hinrichtungen, einem Selbstmord und dreimal 7 Jahren Haft.

A.E.

Soziale Bewegung

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