Die Träume unserer Eltern im Herzen …

Die Zeit des Großen und Ganzen scheint gekommen, zumindest wenn man Schröders Rede lauscht, mit der er sich anlehnt an das „Fesseln sprengen“-Pathos des Bundes der Deutschen Industrie (BDI). Um die gegenwärtige Regierungspolitik zu rechtfertigen, scheut Schröder nicht vor tumben Nationalismus und grober Geschichtsfälschung: „Wer in dieser Situation nicht mitzieht, der stellt Parteitaktik über das Wohl des Landes, ja der versündigt sich an unserem Land“. Und: „Die deutschen Sozialdemokraten, brauchen […] keine Patriotismusdebatte, weil wir schon seit 140 Jahren Patrioten sind.“ (1) Noch so manchem Parteigenossen Bebels wäre schlecht geworden bei einer derartigen Äußerung.

Heute braucht die Sozialdemokratie und „wir alle“ nur eins: „Wirtschaftswachstum“. „Die Kosten der Arbeit zu reduzieren, darum geht es“ – nicht um die Interessen der Arbeit[-erInnen], oder gar um sozialistische Revolution. Schnee von gestern, eines ganzen Jahrhunderts gar! Deshalb gibt es auch keine Alternative zur Hartz-Reform. Deshalb ist es richtig, dass sechs Millionen Menschen für nicht mehr als 400 Euro im Monat malochen … als SaisonarbeiterInnen und Aushilfen, Putzkräfte und Wachleute. Und es ist nur „sozial gerecht“, wenn viele dieser Mini-Jobber als solche ihr Ersteinkommen aufbessern. Völlig korrekt ist es, wenn man mit einem Lohn nicht auskommt – und also an zwei Orten zur Ausbeutung zur Verfügung steht. Niemand soll durch überzogene Ansprüche „denen zur Last fallen, die in den Betrieben und Büros arbeiten“ (2).

Weil aber noch der Hauch einer Erinnerung an die Arbeiterpartei, an einen Konflikt zwischen Arbeit und Kapital besteht, bringt die Fraktion am 11. November eine „Ausbildungsabgabe“ auf den Tisch. Die Gesetzesinitiative sieht vor, ab Herbst 2004 einen Fonds für zusätzliche Lehrstellen einzurichten – im Februar soll das Thema im Bundestag behandelt werden. Allein in Sachsen kamen im Oktober auf eine offene Lehrstelle (insgesamt 174) gut elf Jugendliche (insgesamt 1.922). Die neue Abgabe, die auch mit der DGB-Kampagne einen sozialen Anstrich erhielt – zumal sie essentielle Interessen berührt – wird mit einer beispielhaft autoritären Argumentation begründet, die jeglichen wirtschaftlichen Zusammenhang verdunkelt: die mangelnde Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen müsse bestraft werden. Schließlich müsste ansonsten durch die Kommunen ein Arbeitsplatz für Jugendliche geschaffen werden, um jene auszusondern, die sich der Ausbeutung verweigern. Denen soll dann nämlich für drei Monate die Stütze, nicht nur gekürzt, sondern komplett gestrichen werden – anders lässt sich ein Konsens bezüglich der Arbeit wohl nicht mal mehr oberflächlich aufrecht erhalten.

In Verbindung zu sehen ist all das mit der Rhetorik gegen Abweichler und Kritiker der Regierungspolitik in den eigenen Reihen: überflüssige „Kronzeugen gegen die eigene Politik“ (Ute Vogt), die man „ausfindig machen“ (und ausschalten?) werde (Müntefering). Aber der autoritäre Geist hat in der Partei ja Tradition. Schade nur, dass man’s sich damit so gemütlich machen kann in unserer Gesellschaft. Das neue Leitbild zeichnet sich ab als „Partner Staat“, akzeptiert, geachtet, verteidigt – wie einstmals „Vater Staat“.

Dumm nur, dass dieser „Partner“ so ungleich mächtiger ist. Und er wird es bleiben, solange er von den Allermeisten anerkannt wird. Die Legitimation ist unabdingbar für die Stabilität jeder Gesellschaftsordnung. Als, zum Beispiel, „Louis XIV. starb, trauerten sogar die Leibeigenen; als aber der Tod Louis XV. hinwegraffte, mußte man seine Leiche im Galopp zur Gruft fahren, und die Bauern warfen dem Sarg Steine nach. Der Glaube im Volke war verschwunden; nun herrschte bloß noch die nackte Gewalt. Aber dieser Zustand leitete auch die Periode der Revolution ein.“ (3) Nun kann von solchen Verhältnissen heute noch gar nicht gesprochen werden … das offensichtliche Versagen der etablierten politischen Parteien aber untergräbt das Vertrauen in die parlamentarische Ordnung.

Um die Misere der Lohnarbeit und der Ohnmacht also zu überdecken und die Legitimation zu stützen, versucht „unser aller“ Kanzler, das Nationalgefühl zu heben: Exportweltmeister sind „wir“ und können „uns“ behaupten gegen die USA und in der EU. Dies aber erfordert gemeinsame Anstrengungen, allgemeinen Verzicht auf jegliche Ansprüche: ob in der Krise oder im Konjunkturhoch, niemals dürfen Forderungen erhoben werden. Um „den Aufschwung“ nicht zu gefährden. Ob wir nun am Abgrund oder am Berg stehen, das zu bewerten kommt „Experten“ zu. Dabei gibt es einigen Spielraum hinsichtlich der Perspektive und der Bewertung. Nach Bautzen hat Leipzig mit 17,8 Prozent die höchste Arbeitslosenrate in Sachsen (Durchschnitt: 16,5%). Aber (mit der Olympia-Bewerbung, könnte man sagen): es geht voran … von September zu Oktober 2003 konnte die Zahl der Arbeitslosen um 0,8 Prozent (711) gesenkt werden. Das macht Mut. Erst der Vergleich mit Oktober 2002 offenbart einen Anstieg um 4,3 Prozent (3.640). Das heißt allerdings nicht unbedingt, dass es der Wirtschaft schlecht ginge; sie kann lediglich begrenzt expandieren. Zentral für die soziale Stabilität aber ist ein Zuwachs an Arbeitsplätzen – sonst werden bald noch Güterzüge überfallen, wie es Arbeitslose in Polen tun. So ist die Rede vom Aufschwung nicht nur Bauchpinselei der Regierenden, sondern vor allem die Chimäre des Weihnachtsmanns für die abhängige Bevölkerung: nur brave Kinder bekommen gewiss (lies: vielleicht) Geschenke. Dass mit einem Wirtschaftsboom nicht automatisch die soziale Krise der Arbeitslosigkeit beendet ist, demonstrierte vor ein paar Jahren die new economy.

Wie der betrachtete Sachverhalt nun bewertet wird, hat viel mit Ideologie und Legitimation, mit Durchhalteparolen zu tun. Etwa der „Exportweltmeister Deutschland“, der so sportlich und dynamisch dahergetragen wird. Weniger glorreich und erhebend mag man dies als Schwäche des bundesdeutschen Binnenmarktes, als unsere leeren Taschen beschreiben.

Beide Alternativen, die rechte wie die linke, die Verelendung um der Nation willen wie die Almosen des Binnenmarkts wegen – keines der Menüs schmeckt wirklich! Es ist eine karge Vorstellung vom Leben, die nichts zu bieten hat als höhere Lohnschecks und mehr Konsumfreiheiten. Denn die stille Verzweiflung des Alltags und die Einsamkeit vor der Glotze, patriarchale und rassistische Machtambitionen bedrängen uns, entmenschlichen die Gesellschaft auch in der schönsten Wirtschaftswunderzeit.

Anzusetzen gilt es also nicht nur bei den direkten wirtschaftlichen Interessen. Solange nicht auch dem Autoritarismus samt den Auswüchsen der Ohnmacht die Stirn geboten wird, kann von einer Verbesserung der Situation nicht gesprochen werden; höchstens von neuer Privilegierung. Und, wer will sich schon im Kreise drehen…? Also, auf zum politischen, zum sozialen Streik!

A.E.

(1) Schröderzitate, falls nicht anders gekennzeichnet aus der Rede auf dem SPD-Parteitag in Bochum am 17. November 2003.
(2) Schröder im Interview mit vorwärts, 25.10.03
(3) R. Rocker: Organisation und Freiheit. Aus: Aufsatzsammlung, Bd. 1 (1919-33).

Sozialreformen

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