ERNST BLOCH: Über Praxis und Utopie, Kommunismus und Religion

Es ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, und das Bewußtsein ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, daß es einen Prozeß gibt, und daß wir Menschen an der vordersten Front dieses Weltprozeßes stehen; daß es in unsere Hände gegeben ist, schon im Schwange befindliche Möglichkeiten zu befördern.“ (1)

Der Begriff der konkreten Utopie scheint in den gegenwärtigen Diskursen, ob spezifisch in den wissenschaftlichen oder den allgemein politischen, ein Schattendasein zu führen. Obwohl sich in jeder Prognose und in jeder Reform konkret Utopisches finden müsste, wird Utopie heute als unmögliche Vision begriffen, als bloß Abstraktes ohne jeden konkreten Gehalt gewertet und beiseite geschoben. Doch sind wir bereits an einem Punkt der gesellschaftlichen Organisation angelangt, an dem wir der heilsamen Kraft der Utopie nicht mehr bedürften? Ist etwa der Kampfplatz des Noch-Nicht-Gewordenen vollends aufzugeben? Ich meine: Nein!

Setzt man sich also die Frage vor, was denn nun genau zu verstehen wäre unter dem Begriff der konkreten Utopie, oder etwa unter dem Prozeß der Konkretisierung von Utopischem, läßt sich ziemlich schnell feststellen, daß der Bedeutungshorizont dieses Begriffs vielschichtiger ist, als die bloße Phrase im ersten Moment suggeriert. Denn: Wie konkret kann eine Utopie überhaupt sein? Oder: Wie kann sich in etwas Konkretem Utopisches überhaupt verbergen? Und welche Entwicklung ist das, bei der sich ein utopischer Gehalt konkretisiert? Das Analysefeld ist weit auffächerbar.

Der letzte Optimist…

Der Akademiker und Philosoph Ernst Bloch, tätig auch zwischen 1948 und 1957 (zwangsemeritiert) in Leipzig, hat hierzu schon 1918 in seiner Schrift „Der Geist der Utopie“ (2) weitreichende Untersuchungen angestellt. Seine Überlegungen gipfelten in der richtungsweisenden Arbeit „Prinzip Hoffnung“ (3), die er wesentlich während der Zeit seines US-amerikanischen Exils zwischen 1938 und 1947 nie­der­schrieb. In seiner Ausführlichkeit darf Bloch deshalb zu recht zu den letzten großen Optimisten zählen. Erstaunlich, denn fast parallel entsteht die „Dialektik der Aufklärung“ (4) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, ebenfalls im US-amerikanischen Exil verfaßt, und begründet in gewissem Sinne den postmarxistischen Pessimismus des 20. Jahrhunderts. Zwei gewissenhafte Rezeptionen der Marxschen Theorie im Angesicht der nationalsozialistischen Greuel, die kaum unterschiedlicher ausfallen konnten. Die Erkenntnis der barbarischen Momente menschlicher Aufklärung und Mündigkeit und die tiefe Verzweiflung über die Abwesenheit eines gesellschaftsrevolutionären Subjekts auf der einen, der unerschütterliche Glaube an das Offenbarte Marxens und die schöpferischen Kräfte des Menschen auf der anderen – kritiklos ist wohl keiner Seite recht zu folgen. Weder Adornos beinahe neurotischem Zwang, gegen einen möglichen guten Ausgang der Geschichte anzuschreiben, noch Blochs geradezu pathetischem Humanismus und seiner pseudoreligiösen Erbaulichkeit. Heute, im Zeitalter des Zynismus, das kein Gewissen gegenüber dem Morgen mehr kennt, wird Adorno gelehrt und gefürchtet, Bloch dagegen geehrt und vergessen – Ironie der Geschichte.

…ist und bleibt ein Idealist

Die Zugänge zum Blochschen Werk sind in vielerlei Hinsicht verstellt gewesen. In der DDR nach seiner offenen Parteinahme für die ungarischen Aufstände 1956 totgeschwiegen, 1961 von einer neuen Mauer an der Rückkehr gehindert, blieb er auch in der BRD ein mißliebiger Findling, ob seiner marxistischen Überzeugung und unverhohlenen Unterstützung der studentischen Unruhen von 1968. Dort als Pseudo-Materialist verpönt, hier als Marxist denunziert.

Und tatsächlich, fast scheint es so, als wollte Bloch dem Marxismus neues Leben einhauchen, indem er gegen die Orthodoxie der Parteiadepten den Idealismus des jungen Marx betont, indem er die Frage nach dem Klassenbewußtsein aus ihrer materialistischen Verengung befreit. Dem Blochschen, neu kreierten Kommunismus sieht man deutlich die 100jährige Distanz zum Hegelschen System des absoluten Idea­lis­mus an, seine Polemik gegen dessen universellen Positivismus fällt im Unterschied zum jungen Marx deutlich sanfter aus. Bloch sieht wieder, daß alles Gewordene auch immer schon in Begriffen ist, daß wenn der Hunger zur Arbeit an der Natur aufruft, auch schon ein Begriff desselben gegeben ist, also eine unmittelbare Erfahrung dem Menschen verwehrt bleibt. In diesem Sinne ist die Blochsche Konzeption keineswegs eine materialistische. Würde man das Wagnis eingehen, eine Tradition des deutschsprachigen Idealismus zu konstruieren, wäre Bloch nach dem kritischen Idealismus Immanuel Kants, dem subjektiven Idealismus Gottlieb Fichtes und dem absoluten Idealismus Hegels, und eben neben den negativen Idealismus Adornos einzuordnen: vorsichtig begriffen als konstruktiver bzw. historisch-konkreter Idealismus. Dagegen würde Bloch selber freilich opponieren. Der Anspruch seiner Philosophie ist es ja gerade, den scheinbaren Zwie­spalt zwischen Idealismus und Materialismus durch eine neugeordnete Ontologie, also einer Lehre vom Sein, aufzulösen. Daraus ergibt sich die manchmal verwirrende, aber äußerst fruchtbare Mischung aus kommunistischer und religiöser Konzeption, die der pantheistischen Weltan­schauung Friedrich Hegels letztlich viel ähnlicher ist, als etwa den Praxisüberlegungen, der Kapitalanalyse oder der Klassentheorie Marxens.

„Nur ein Atheist ist ein guter Christ.“

Bloch ist der jüdisch-christlichen Tradition des Chiliasmus (5) tief verbunden. In seinen Texten weist er immer wieder ein umfangreiches Quellenwissen nach und bedient sich gern und ausgiebig aus der bildreichen Metaphorik der geheiligten Schriften. Sein Pantheismus, also die Vorstellung eines alles, weltlich und überweltlich, durchdringenden Gottes ist dabei aber noch viel radikaler als der Hegels, dessen einfacher Gedanke, daß Gott und die Welt als Ganzes Eines wären, eben identisch, 200 Jahre zuvor genug Anlaß gegeben hätte, ihn samt seinen gesammelten Schriften öffentlich auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Bloch dagegen will nicht nur die christliche Tradition pantheistisch begründen, er will sie quasi revolutionieren durch ein neues Programm.

Was die beiden radikalen Denker weiter verbindet, ist ihr idealistischer Zugang zur Geschichte, der es ihnen ermöglicht, die ganze Tragweite der religös tradierten Vorstellungen für die moderne Gegenwart zu ermessen. (6) Ein historischer Zugang, der dem orthodoxen Marxismus stets verschlossen bleiben mußte, und dem gesamten Projekt der materialistischen Geschichtsschreibung einen merkwürdig instrumentellen Recht­fertigungscharakter verleiht. Während Marx bspw. seine Theorie als das ganz Neue einer neuen Zeit begreift, erscheint dieselbe für Bloch „nur“ als aktueller Gipfelpunkt einer umfassenden Entwicklung. Ganz wie Hegel hat er die Vorstellung einer sich zur Vollendung hin entwickelnden Welt, insofern der Mensch denkend handelnd in sie eingreift. Beide haben ein Konzept von Geschichte, das qualitative Sprünge (Revolutionen) und gleichbleibende Zwecke (Reformen) mitein­ander verbindet.

Und dennoch stehen die beiden Rücken an Rücken, wenn sie ihre Philosophien konzipieren. Hegel, der liberale und reputierte Akademiker, interessiert sich für die durch die Geschichte hindurch bewußt gewor­denen, sich dem Zweck nach gleichgebliebenen Wahrheiten, für das Ganze dessen, was gewußt werden kann. Bloch dagegen zielt geradezu auf den Gegenentwurf zum Gewordenen, seine zentrale Kategorie ist die des Noch-Nicht-Gewor­denen, des Noch-Nicht-Gewußten, des zu Erhoffenden, zu Erträumen, zu Erfindenden. Im Bloch­schen Reich herrscht keine Gewiß­heit und Notwendigkeit, sondern Latenz, Möglichkeit, Ambivalenz, mehr Eros als Logos. Gerade das hält ihn aktuell. Der Mensch als denkendfühlendes und handelndes Wesen, der vorwärts schaut, auf das Kommende, das erträumt, ersehnt und erhofft wird, getrieben von der inneren Not, unvollendet zu sein, und den Potenzen der ihn umgebenden Natur. Freilich, solch optimistisch inspirierende Kraft konnte sich nicht aus der Gegenwart seiner Zeitgenossen allein speisen, dafür waren die Umstände seines Lebens zu gewaltig, von Krieg zu Krieg, von Exil zu Exil. Es bedurfte eben jenes Rückgriffs auf die Religion und die in sie eingeschlossenen und überlieferten Ideen. Ja, Bloch geht sogar soweit, eine Neudeutung der Schöpfungsgeschichte vorzugeben, dernach das Paradies erst am Ende der Geschichte auf den Menschen warte, Christi Himmelreich auf Erden. Damit kann er zwar in Anspruch nehmen, den ungeklärten Bruch zwischen Politik und Religion, wie Hegel ihn schon markiert hat, thematisiert zu haben, befriedigend lösen kann das Problem m.E. aber nicht. Zwar zeigt er die Gefahren auf, die sich aus dem aufkeimenden Atheismus in der bürgerlichen Revolution entwickeln, und weist hier dem Nationalsozialismus einen wichtigen Platzhalter zu, dennoch steht sein beinahe naiv humanistischer Optimismus in auffälligem Kontrast zu den historischen Vorgängen seiner Zeit. Dem stets Unvollendeten die Vollendung auf Erden zu versprechen bleibt Propheterie. Deshalb gilt für Bloch auch: ‚Nur ein Christ ist auch ein guter Atheist.‘

Zur konkreten Utopie

Ich hatte bisher versucht aufzuzeigen, inwieweit man die Blochsche Konzeption des Utopischen mit dem Idealismus verbinden muß, um seine kommunistische Haltung zu verstehen. Sein Marxismus ist eben gar nicht materialistisch geprägt, im Gegenteil aktualisiert er den Marxismus, indem er ihn in ein idealistisches Konzept einbindet. Der Mensch kommt nicht nur durch die Erfahrungen gemeinsamer Organisation am Arbeitsplatz zur Erkenntnis notwendiger Veränderungen, viel weiter noch gefaßt, geht Bloch davon aus, daß der Mensch als „Mangelwesen“ stets und in allen Zeiten nach der Veränderung seiner Verhältnisse strebt. Glauben, Hoffen, Utopie – im tätigen Kampf mit der Gegenwart greifen wir beständig nach dem, was noch nicht geworden ist, was seiner Verwirklichung noch harrt. Diese beständige „Frontsituation“ des Menschen ist die anthropologische Konstante, die er behauptet und an vielen Phänomenen der Alltagswelt belegt. Doch weiß er ebenso um das Meer hoffnungsloser Tagträume, leerer Visionen und falscher Programme, das zwischen den Men­schen braust. Um also die gehaltvollen von den sinnlosen Utopien trennen zu können, benötigt er eine weitere Bestimmung, deshalb seine Rede von der konkreten Utopie. Leider muß man sagen, daß gerade bei der Frage nach diesem Konkreten Blochs schwächste Punkte liegen. Er traut zwar auch dem inneren Drängen des Menschen ein positives Gerichtetsein zu, dieser Optimismus wäre jedoch allzu naiv. Vielmehr muß es jetzt auch eine äußere, weltliche Tendenz geben, die bereits Noch-Nicht-Gewor­denes anzeigt – „Die Welt ist im Schwan­ge“ mit Blochs Worten. Diese Tendenzen mit tätigem Geist zu erkennen und das in ihnen vorscheinende zu verwirklichen, ist für ihn der Weg der konkreten Utopie.

Jetzt versteht sich auch, welche Stellung für ihn die Marxsche Theorie überhaupt hat. Sie ist für ihn die konkrete Utopie der Moderne. Oder, viel weiter noch gefaßt und auf den Blochschen Pantheismus hin gelesen, der Kommunismus ist für ihn die neue Religion des Christentums. Das Verhältnis von Konkretem und Utopischem, von Gewordenem und Noch-Nicht-Gewordenem bleibt dabei kritisch. Denn der Idealismus und Materialismus der Aufklärung hatten ja gerade über die Relgionskritik herausgestellt, daß der Bereich des menschlichen Wissens auf das bereits Verwirklichte beschränkt ist und dabei die schwierige Position des Erkenntnissubjektes betont. Um die Marxsche Theorie also zu verstehen und ihren konkreten Gehalt zu prüfen, müßte man sie aus dieser Perspektive zuallerst problematisieren. Bloch behauptet aber, sie wäre bereits Ausdruck eines konkret Wirklichen und macht sich so zu ihrem Propheten. Daran allerdings, daß die Arbeiterklasse die Macht über die Produktionsverhältnisse an sich reißt, kann man auch mit Bloch nur guten Willens glauben. Und angesichts des Aufstieges der modernen Nationen, der faschistischen Bewegungen und dem Niedergang der Gewerk­schafts­kultur drängt sich heute viel mehr die Frage auf, in welchem „Schwan­ge“ die Welt überhaupt ist bzw. wie konkret die kommunistische Utopie des Marxismus gegenwärtig noch ist. Dieser Skepsis hat sich Bloch freilich zeitlebens nicht ausgesetzt. Lange Zeit hat er den Sozialismus der DDR-Protektion verklärt und am Stalinismus festhalten wollen. Dennoch: Seine Überlegungen zur Utopie als einer spezifischen Art der säkularisierten Reli­gion sind beachtenswert. Der Identi­tätszwang des Politischen, der sich sowohl in der massenhaften National-Kultur der modernen Staaten, als auch in den Abgren­zungs­bedürfnissen innerhalb politischer Bewegungen zeigt, nähert die Politik tatsächlich der Religion an, aus der sie einst in radikaler Abwehrhaltung entstand. Und hier gilt es auch, weiterzudenken, bzw. mit Blochs Worten, durchs Denken das hier Vorgelegte zu überschreiten.

(clov)

(1) Bloch, Ernst „Abschied von der Utopie?“, Suhrkamp, Frankfurt (M.), 1980, S. 63
(2) Bloch, Ernst, „Der Geist der Utopie“, Suhrkamp, Frankfurt (M.), 1980 (1923)
(3) Bloch, Ernst, „Das Prinzip Hoffnung I-III“, Suhrkamp, Frankfurt (M.), 1985 (1959)
(4) Adorno, Theodor W. u. Horkheimer, Max, „Dialektik der Aufklärung“, Fischer, Frankfurt (M.), 2004 (1944)
(5) mit der ganzen Gewalt eines lexikalischen Verständnisses gesagt: Religiöse Haltung, die mit dem baldigen Eintreten eines herrlichen tausendjährigen Reichs rechnet, das die Weltgeschichte beendet.
(6) In ähnlicher Weise versucht der Soziologe Max Weber im frühen 20. Jahrhundert, den „Geist des Kapitalismus“ aus dem Protestantismus heraus zu begründen.
(7) Bloch, Ernst, „Das Prinzip Hoffnung I-III“, Suhrkamp, Frankfurt(M.), 1985 (1959), Band III, S. 1628

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