„Genpatsu – Hantai“

(Anti-Atom) Protestbewegungen in Japan

„Genpatsu – Hantai! Genpatsu o tomete, shagai o kaeyô!“ – „Gegen Atomenergie! Lasst uns die Atomkraft abschalten und die Gesellschaft verändern!“ schallt es aus dem Megafon. Wie fast jeden Tag haben sich ein paar Mitglieder der Zenga­kuren (dt. Allja­pa­nischer Verband der studentischen Selbstverwaltung) vor der Hôsei Universität versammelt, um auf die Gefahren der Atomenergie hinzuweisen. Ein weiterer wichtiger Punkt auf ihrer Agenda ist der Kampf gegen die zahlreichen Entlassungen und Einstellungsstopps, die Konsequenz der wirtschaftlichen Folgen der Katastrophen seit dem 11. März sind.

1948 gegründet, können die Zengakuren auf eine lange Tradition des Kampfes für die Rechte der Arbeiter, Demokratisierung der Universitäten, gegen die neoliberale Ideologie und die Privatisierung der Bildung zurückschauen. Mit derzeit max. 200 Mitgliedern in Japan handelt es sich bei den Zenga­kuren um eine relativ kleine Organisation, aber in Kooperation mit radikalen Arbeitergewerkschaften kämpfen sie entschieden für ihre Vorstellungen von der Gesellschaft. Jede Woche gibt es gemeinsame Kundgebungen oder Demonstrationen, auf dem wöchentlichen Treffen werden aktuelle Entwicklungen und theoretische Texte besprochen und genauso regelmäßig erscheint eine Ausgabe ihrer Zeitung, in der vor allem Themen behandelt werden, die in den japanischen Main­stream-Medien kaum Beachtung finden. Seit der Katastrophe in Fukushima haben sie die Aktivitäten noch weiter intensiviert. Viele Mitglieder könnte man als „Vollzeit-Aktivisten“ bezeichnen.

Radikalität im Kontext

MATSUMURO Shiori (1) tritt einen Schritt nach vorne. Einen Schritt zu viel, findet das Sicherheitspersonal, das am Eingang der Hôsei Universität positioniert ist und weist MATSUMURO Shiori mit seinen Stöcken an, zurück zu treten. Seit den großen Studentenunruhen der 70er sind in Japan politische Organisationen und Aktivitäten auf dem Universitätsgelände verboten. Als ich Mitte April das erste Mal mit Mitgliedern der Zengakuren in Kontakt kam, während sie auch vor meiner Uni für die Teilnahme an einer Anti-Atomdemo warben, wurde ich ein paar Meter weiter von einem Universitätsmitarbeiter angesprochen. Ich solle sehr vorsichtig sein, es handele sich um eine gewalttätige Sekte. Anscheinend unsicher darüber, ob ich ihn verstanden habe, fügte er auf Englisch hinzu „A communist cult!“. Die Universitätsleitung hat an den Ausgängen Schilder anbringen lassen, welche den Studenten raten, nicht bei Unterschriftenaktionen mitzumachen und keine vertraulichen Daten herauszugeben. Offensichtlich scheinen Aktionen, die auf mich wie ein legitimes Mittel der politischen Partizipation wirken, von den japanischen Autoritäten bereits als Bedrohung der öffentlichen Ordnung angesehen zu werden. So wurden z.B. Mitglieder der Zenga­kuren polizeilich abgeführt, als sie in den Tagen nach dem Unglück in Fuku­shima vor dem TEPCO-Gebäude de­monstrierten. Viele der Studenten, die täglich für politische Partizipation vor der Hôsei Universität wer­ben, sind deshalb von der Uni suspendiert worden oder sogar in Haft gewesen. Sie hatten gegen das Verbot, auf dem Campus Flyer zu verteilen, verstoßen. Seit dem 20. Mai befinden sich nun erneut zwei Mitglieder, darunter der Präsident der Organisation ODA Yosuke, wegen „Hausfriedensbruch“ in Haft. Sie hatten mit friedlichen Mitteln im Tokyo High Court Building gegen ein Urteil zur Enteignung der Bauern im Rahmen der Fertigstellung des Flughafens Narita gekämpft.

Es ist schwer zu sagen, ob diese repressiven Maßnahmen oder einfach nur ein mangelndes politisches Interesse die Ursache dafür sind, dass nur wenige Studenten sich für die angebotenen Flyer interessieren und wohl kaum einer meiner Kommilitonen an der großen Demo am 11. Juni teilnehmen wird. Während die Katastrophen in Fukushima ganz augenscheinlich großen Einfluss auf die politische Stimmung in Deutschland hatte, zu den Wahlerfolgen der Grü­nen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sowie dem Popularitätsverlust der FDP beigetragen haben, scheint sich die Par­teienlandschaft in Japan kaum verändert zu haben. Auch der rechts-liberale Politiker ISHIHARA Shintarô (Liberal De­mo­cratic Party) wurde trotz seiner kontroversen Äußerung über die Erdbeben und Tsunami­katastrophe als göttliche Bestrafung im April als Gouverneur von Tokyo, eines der wichtigsten politischen Ämter in Japan, wiedergewählt. Eine Wahl, der die Studenten meiner Universität erstaunlich wenig Interesse geschenkt haben. Natürlich wird in Japan auch Kritik geäußert, es werden strengere Höchstwerte für die Strahlenbelastung auf Spielplätzen und Schulgeländen gefordert, es wird über die Höhe der Entschädigungszahlungen der Betroffenen gestritten und die Infor­mationspolitik von TEPCO und der Regierung hinterfragt. Aber von einer Politisierung der Gesellschaft kann keine Rede sein und innerhalb der politisch umstrittenen Fragen nimmt die Zukunft der Atomenergie – wenngleich von zunehmender Bedeutung – eine eher untergeordnete Rolle ein.

Interpretationen in Deutschland

In den deutschen Medien wird das Fehlen einer Anti-AKW-Massenbewegung häufig kulturalistisch interpretiert. Mit dem Verweis auf die „spezifisch japanische Reaktion“ scheinen einige deutsche Journalisten einen Vorbildcharakter der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung zu postulieren, wobei die japanische Situation als mangelhaft und unmodern erscheint. Die Tatsache, dass der Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung in dem „Atom­energiegegnerland“ Deutschland trotz jahrzehntelangen Protesten und Aktionen mit 26% nur unerheblich niedriger ist als in Japan (29%), wirft jedoch die Frage auf, ob nicht eigentlich eher die Situation in Deutschland erklärungsbedürftig ist. Erstaunlicherweise spielt diese Frage in den derzeitigen Mediendiskursen allerdings keine sichtbare Rolle – vielleicht, weil mögliche Antworten für Atomkraftgegner wie -befürworter gleichermaßen unangenehm ausfallen würden und zudem die impliziten Überlegenheitsansprüche, die in der Berichterstattung in Bezug auf die Atomfrage mitschwingen, in Frage stellt.

Stattdessen wird in Artikeln mit Titeln wie „Das unglaubliche Volk. Stolz, diszipliniert, leidensfähig, selbstlos – wie Kultur und Katastrophen die Mentalität der Japaner prägen“ (Titelstory des Stern Nr. 13, 24.3.2011) versucht, diese selbstdia­gnos­tizierte Andersartigkeit der „japanischen“ Verhaltensweise mit Konzepten wie „Konsensprinzip“ oder „Konformitäts-“ vs. „Individualgesellschaft“ und anderen kulturalistischen Interpretationen zu erklären. Und auch wenn die Formen der Meinungsäußerung und politischen Partizipation in Japan wie in Deutschland in kontextspezifische Konzeptionen von Gesellschaft und Selbst eingebettet sind, versperrt eine Überbetonung dieser kulturellen Interpretation und Erklärung des Verhaltens als „typisch japanisch“ die Perspektive auf den politischen Kontext, bei­spielsweise auf die Frage, welche Rolle Macht, Medien und die neoliberale Ideologie in diesen Zusammenhang spielen.

Zudem lassen diese Erklärungen die japanische Gesellschaft als starr und homogen erscheinen. Verweise auf Parallelen zum Verhalten der Japaner während des 2. Weltkrieges suggerieren eine historische Kontinuität, die aber im starken Kontrast zur empirischen Realität steht. Wer die deutschen Medien verfolgt, könnte schnell auf die Idee kommen, Japaner seien grundsätzlich eher unpolitisch und wenig oppositionell. Eine andere Perspektive bekommt man allerdings, wenn man einen Blick in die Geschichte des radikalen Widerstands in Japan wirft, bei dem auch die Zenga­kuren maßgeblich beteiligt waren.

Ein Blick in die Vergangenheit

Seit 1948 gab es Studenten- und Gewerk­schaftsverbände, die aus linker Perspektive gegen die Privatisierung der Universitäten und den Einfluss der Amerikaner aktiv waren. Damals noch unter ameri­kanischer Besatzung wurde von Douglas MacArthur (2) als Reaktion auf diese linken Bewegungen 1950 der „Red Purge“ veranlasst. Die Kommunistische Partei wurde verboten und mehr als zehntausend Sympathisanten verloren ihren Arbeitsplatz. Der Stellvertreterkrieg in Korea verhalf Japan zu wirtschaftlichem Aufschwung, verbesserte die Beziehung zwischen Japan und den USA und sorgte für weiteres repressives Vorgehen gegen Kommunisten. Dennoch gab es in den folgenden Jahren immer verschiedene oppositionelle Bewegungen. Anlass dazu gaben vor allem die Sicherheitsverträge 1951 und 1960. Im Mai 1960 hatten sich fast 6 Mio. Studenten und Arbeiter den Protesten gegen die Erneuerung der Verträge, welche in Japan als „anpo-hentai“ bekannt sind, angeschlossen. Mitglieder der Zenga­kuren besetzten das Parlamentsgebäude. Schlies­slich musste der Besuch Eisen­howers abgesagt werden und der Premierminister KISHI Nobusuke trat zurück. Etwa 500 Menschen wurden im Kontext der Proteste verletzt.

Aber auch die Friedensbewegung, die sich als Reaktion auf die Erfahrungen in Hiroshima und Nagasaki formierte und sich vor allem gegen Atomwaffen und Wasserstoffbomben engagierte, erhielt neuen Aufschwung, als die Besatzung eines bei einem Atombombentest der USA ver­sehent­lich verstrahlten japanischen Fischerbootes starb. Während sich die Atomdebatte in Deutschland häufig an die Frage der Endlagerung und Umweltbe­we­gun­gen anschließt, geht es in Japan vor allem um die Anreicherung von kern­waffen­fähigem Material für atomare Waffen.

Wie in vielen anderen Ländern erstarkte die linksradikale Bewegung auch in Japan gegen Ende der 60er, als Reaktion auf den Vietnamkrieg. Die Thematik erhielt besondere Brisanz, da die USA den Krieg von japanischem Gebiet und Stützpunkten in Okinawa (damals noch unter ameri­kanischer Besetzung) aus führte und atomare Waffen in Japan stationiert haben soll. Im Oktober 1968 kam es bei der sogenannten „Attack of Tokyo“ zu tagelangen Unruhen in der Hauptstadt, bei der zahlreiche öffentliche Gebäude besetzt wurden. Mehrere tausend Aktivisten wurden verhaftet. Die zunehmende Gewaltbereitschaft und Fragmentierung führte jedoch zu einer schwindenden Popularität der Bewegung. Dies wurde durch „Yodo-go“, die Entführung des Flugzeugs 351 der Japanese Airways durch die JRA (Japanese Red Army) 1970, das Massaker am Flughafen in Lod (ebenfalls JRA) und den Asama-Sanso-Vorfall 1972, bei dem sich Mitglieder der URA (United Red Army) gegenseitig umbrachten und anschließend in einer Hütte am Fuß des Berges Asama verschanzten, noch weiter verstärkt. Entsprechend stieg in der Folge auch die Toleranz gegenüber repressivem Vorgehen und „Maßnahmen zur Herstellung der öffentlichen Ordnung“.

Es ist jedoch nicht ausschließlich den gewalttätigen Gruppierungen zuzuschreiben, dass linke Bewegungen und Protestaktionen in Japan zunehmend unpopulärer wurden. Die oppositionellen Bewegungen in Japan wurden neben studentischen Bewegungen vor allem durch Gewerkschaften getragen. Die veränderte Rolle der Gewerkschaften in Japan muss im Rahmen des „neoliberal turn“ seit den 70er Jahren gesehen werden. In Folge verschiedener neoliberaler Reformen vor allem in Zusammenhang mit den Wirtschaftskrisen (1973 Ölkrise, Anfang der 90er Platzen der Bubble-economy, 97/98 Asienkrise) und damit einhergehenden Privatisierungen, verloren die Gewerkschaften zunehmend an Einfluss, so dass ihnen heute aus marxistischer Perspektive vorgeworfen wird, nur noch eine ideologie-verschleiernde Funktion zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems zu haben und eher im Interesse der Firmen statt der Arbeiter zu handeln.

Repolitisierung der japanischen Gesellschaft?

Auch wenn ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Japanern oppositionelle Bewegungen und politische Partizipation in Form von Protest keineswegs fremd sind, so erscheint es dennoch unwahrscheinlich, dass sich demnächst eine Massenbewegung gegen Atomkraftwerke in Tokyo erhebt. Zwar gibt es das ehrgeizige Ziel, für die nächste Demo eine Million Menschen zu mobilisieren, auf den letzten Veranstaltungen haben jedoch nie mehr als 15000 Menschen teilgenommen. Allerdings kann man eine veränderte Stimmung erkennen: Während über die ebenso große Demo am 10. April von keinem großen Medium berichtet wurde, lassen sich seit Anfang Mai in einigen Zeitungen, wie z.B. „Tokyo Shinbun“ mittlerweile fast täglich Artikel über die Zukunft der Atomenergie und Proteste finden. Die Mitglieder der Zengakuren sind in jeden Fall entschlossen, so lange weiter zu kämpfen, bis alle Atomkraftwerke in Japan abgeschafft sind. Und das demonstrieren sie täglich lautstark mit ihrem Megafon: „Genpatsu – Hantai! Genpatsu o tomete, shagai o kaeyô!“

rote.schuhe

(1) Zur Unterscheidung von Ruf- und Familiennamen, werden japanische Familiennamen in der Folge mit Großbuchstaben gekennzeichnet und wie in Japan üblich vorangestellt.
(2) amerikanischer Feldmarschall und Oberbefehlshaber über die Besatzungstruppen in Japan
Informationen zu den Zengakuren: www.zengkuren.jp
Email: intl-solidarity@hotmail.co.jp
Möglichkeit ein Protestmail über die Verhaftungen an das Japanische Ministerium weiterzuleiten:
www.kantei.go.jp/foreign/forms/comment_ssl.html

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