Irakische Ansichten 2005

In einer Umfrage des US-Fernsehsenders CNN vom 5.7.04,  erklärte über die Hälfte der Befragten, der Angriffskrieg sei ein Fehler gewesen und der Abzug solle möglichst schnell erfolgen. Darin sind sich die Bevölkerungen des Iraks und der USA einig: Die irakische Bevölkerung ist zu ebenfalls 54 Prozent gegen die Besatzung.

Gelebte „Demokratie“ in Basra

Am 19. März diesen Jahres kam es an der Al-Basra-Universität zu einem dreitägigen Streik der Studierenden. Dieser richtete sich nicht etwa gegen Privatisierungen oder Reformen, sondern gegen einen Angriff von so genannten Sadiristen, Anhängern von Muktada al-Sadir, einem radikalen Schiitenprediger und Mahdi-Milizen.

Eine Woche zuvor war eine Gruppe von StudentInnen des Ingenieurscolleges bei einem Picknick in einem Basraer Park von vermummten Männern mit Gummi- und Holzstöcken angegriffen worden, wobei ein Student erschossen und 15 schwer verletzt wurden. Dieser hatte sich in die Schlägerei gemischt, um einer Studentin zu helfen, die derart verprügelt wurde, dass sie ein Auge verlor und zwei Monate im Koma lag. Bei seinem Hilfeversuch wurde er von den Angreifern in den Kopf geschossen.

Außerdem wurde den Ausflüglern alles, was sie von Wert bei sich hatten, abgenommen (Handys, Lautsprecher, Kameras) und 20 von ihnen wurden zu „Untersuchungen“ in Sadir’s Büro gebracht, wo sie in der Nacht von ihren Eltern abgeholt werden sollten.

Begründet wurde die Attacke von einem Vertreter Sadir’s damit, dass die Stu­dentInnen sich im heiligen Monat des Muharram unmoralisch verhalten und die Sharia verletzt hätten, indem sie Musik hörten und sich offen mit Frauen unterhielten.

Ebenso hätte er vor dem Angriff telefonische Hinweise erhalten, daraufhin einige Gläubige als Beobachter geschickt und dann entschieden, dass man Ordnung schaffen müsse. Während dies geschah, hielt sich die ganze Zeit Polizei und britisches Militär in Sichtweite auf, ohne einzugreifen.

Aufgrund dieser Vorfälle demonstrierten tausende von Studierenden drei Tage lang vor dem Gouverneursgebäude in Basra, wobei sie den Islam, die Tyrannei und Sadir zur Hölle wünschten. Die Polizei reagierte mit Angriffen und versuchte die Demonstration auseinander zu treiben.

Einige Tage darauf erschien der Gouverneur von Basra, Muhammad al-Wadi im irak­ischen Fernsehen und verkündete, man habe das Problem mit Sadir gelöst. Wie? Der Gouverneur traf sich mit Sadir‘s Vertretern unter der Vermittlung der schiitisch-islamischen Parteien von Basra. Offensichtlich kam man mit diesen überein, dass die schuldigen Parteien von einem religiösen Gericht bestraft und die Studierenden entschädigt werden sollten. So wurde die Angelegenheit also in einem religiös-tribal definierten Gremium „gelöst“ und zwar auf Gouver­neurs­ebene.

Das dazu einberufene Gericht verurteilte niemanden zu irgendwelchen Strafen. Stattdessen verlangte Sadir die Namen der Misshandelten zu erfahren, um diese zu entschädigen. Im Weitern bot er an, seine Milizen den Universitäten zur Verfügung zu stellen, um die Studierenden bei ihren zukünftigen Ausflügen zu beschützen.

Diesen „Angeboten“ folgten Drohungen, dass die StudentInnen den Befehlen von Sadir’s Männern nicht gefolgt wären und diejenigen, die in den anschließenden Demonstrationen den Islam verurteilt hatten für ihre Blasphemie bestraft werden sollten.

Die Stu­­dieren­den haben nach diesen Vorfäl­len alle Parteienvertreter aus der Uni verjagt und fordern weiterhin, dass die Milizmänner Sadir’s in einem öffentlichen Verfahren verurteilt werden und bewaffnete islamistische Gruppen keinen Zugang zum Universitätsgelände erhalten.

Die Sadiristen und Vertreter einiger religiöser Parteien haben sich selbst zu Wächtern der Bevölkerung von Basra und vieler Gouverneure im Süden ernannt. Ihre bewaffneten Anhänger „schützen“ ungebeten alle Schulen, Krankenhäuser und Regierungsgebäude, indem sie jeden beobachten und dafür sorgen, dass niemand die Scharia verletzt. Viele religiöse Parteien versuchten, sich bei den Januar­wahlen als Alternative zum säkularen Staat (wie unter Hussein) zu profilieren, und hatten damit einigen Erfolg. Eine Wahl, die mit den heutigen Erfahrungen wohl anders aus­gegangen wäre.

hannah

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Ethnische Spannungen?

Die seit den Januarwahlen 2005 verstärkt betonten „ethnischen Gruppen“, erweisen sich auf den zweiten Blick als unscharfe Begriffe. Eindeutig voneinander abgrenzen lassen sich Schiiten, Sunniten und Kurden nur als verschiedene Glaubensrichtungen des Islams. Doch auch hier sind es lediglich Oberbegriffe, die sich weiter ausdifferenzieren lassen. Überträgt man diese Kategorien auf die Politik, greifen sie nur sehr bedingt. Zwischen den Bevölkerungsgruppen lassen sich keine klaren Grenzen ziehen, was wohl u.a. an den ca. 1400 Jahren liegt, die Schiiten und Sunniten historisch teilen. Neben anderen Gruppen findet man im Irak sowohl schiitische und sunnitische Araber, sunnitische und schiitische Kurden, als auch schiitische und sunnitische Türken. Mit den so genannten „Sunniten“, denen in den Medien derzeit vorgeworfen wird, sie seien aus Angst vor ethnischer Unterdrückung gegen die Verfassung und den Föderalismus, sind wohl eher sunnitische Geschäftsleute gemeint, die sich um den Zugriff auf Einnahmen aus dem Ölexport sorgen. Das Gebiet, das hauptsächlich von Sunnitisch-Gläubigen bewohnt wird, liegt im Zentrum Iraks, während sich zwei Hauptquellen im Norden und Süden befinden. Im Norden und Süden leben mehrheitlich kurdische und schiitisch-gläubige Bevölkerungsteile, die föderalismusfreundlich eingestellt sind.

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Die Zivilbevölkerung scheint vor allem eins zu sein: Arbeitslos – Schätzungen sprechen von 25-26 Millionen Einwohnern, darunter 12 Millionen Arbeitslose, also 85% der erwerbsfähigen Bevölkerung, wobei Hausfrauen nicht mitgerechnet wurden. Ansonsten gibt es kaum Elektrizität, mehr und mehr Analphabeten (da Schulen fehlen), die Häuser sind großteils noch immer nicht wieder aufgebaut und wie, um alles noch zu verschlimmern, gab die Regierung Mitte August bekannt, dass das Trinkwasser Bagdads nicht geniess­bar sei.

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Trotz oder gerade aufgrund der explosiv-gefährlichen Zustände, die im Irak an der Tagesordnung sind (vergleiche FA!18), versucht die Bevölkerung sich einen möglichst „normalen“ Alltag zu organisieren. Die Mehrheit versucht mit den häufigen Explosionen als eine Art Kulisse zu leben. Ob das immer gelingt bleibt fraglich, da die Auswirkungen der Besatzung viele Familien betreffen.

Die Menschen gehen einkaufen, zur Schule und fahren zur Arbeit mit Auto und Bussen. Auf Bagdads Straßen verkaufen Kleinsthändler, darunter auch Kinder gekühlte Getränke, um das Familieneinkommen aufzubessern. Andere arbeiten im Dienstleistungsgewerbe oder bei der Polizei. Das Durchschnittseinkommen ist laut den UN von US$255 im letzten Jahr auf US$144 gesunken, die Mietkosten dagegen haben sich seit 2003 verdoppelt. Daran hat auch die Regierungswahl im Januar nichts geändert.

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Setzte sich die Interimsregierung v.a. aus Vertretern religiöser Parteien und bekannter Persönlichkeiten zusammen, erscheint auch die nun „gewählte“ Regierung nicht wirklich viel­versprechender für die Bevölkerung: Sie besteht hauptsächlich aus Jalal Tala­bani, Mitbegründer der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) als Präsi­denten, Ghazi Yawer, einem ehemaligen Geschäftsmann und Stam­mes­füh­rer und Adel Abdul Mah­di, einem Islamisten und Selbständigem als Vizepräsidenten, und dem Emporkömmling Ja’afari als Ministerpräsidenten. Eben diese Regierung bittet die USA zum weiteren Verleib im Irak.

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Derzeit wird u.a. das Schulsystem privatisiert, wobei die US-Unternehmen Bechtel und die Consultinggesellschaft Caci International Inc. millionenschwere Verträge abgeschlossen haben. Caci International Inc. aus Washington, erhielt 157,1 Millionen US$, um „Musterschulen“ zu gründen und Lehrer auszubilden. Ebenso soll Caci für die irakische Regierung einen neuen Lehrplan entwickeln und Schulbücher drucken. Dasselbe Unternehmen kümmert sich gleichzeitig um die Vernehmung der Kriegsgefangenen. Die Firma Bechtel, die einen Globalauftrag zum Wiederaufbau der Infrastruktur erhielt, soll die Schulen errichten und ausstatten und ebenfalls Lehrer ausbilden. Zuvor war Bechtel aller­dings an der Entwicklung von irakischen Waffen beteiligt und warb für den Krieg gegen den Irak, der zerstörte, was Bechtel und andere Firmen nun ge­winn­bringend wieder­aufbauen.

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Neben religiösen und politischen Gruppen hat sich auch die Zivil­bevölkerung bewaffnet und macht davon Gebrauch. Bei mehreren Vorfällen sollen Geschäftsbesitzer und Einkäufer selbst zu den Waffen gegriffen und angreifende Gruppen von „Auf­ständigen“ in die Flucht geschlagen haben, wobei drei der Angreifer getötet wurden.

Im Irak, wo der Besitz von Waffen legal ist, kommt es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen verschiedenen Grup­pen, da erstere entweder zwischen die Fronten geraten oder direkt angegriffen werden.

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Vor allem im Ölsektor und dem Gesundheitswesen entwickeln sich Arbeitskämpfe. Im August 2003 organisierten Ölarbeiter mit Unterstützung aller Ölgewerkschaften einen Streik, der die gesamte Produktion stoppte. Daraus entstand die „General Union of Oil Employees“ (GUOE), die mittlerweile 23.000 Mitglieder hat. Mit dem Streik er­reichten sie die bevorzugte Einstellung von Irakern gegenüber anderen Nationalitäten, die Reduzierung des US-Einflusses auf die Unternehmen und eine Lohn­erhöhung. Das erste Ziel dieser Gewerkschaftsvereinigung war es, die Arbeiter zu organisieren, um die Produktionsstätten selbst zu reparieren und wieder zum Laufen zu bringen. Ende Mai diesen Jahres rief die GUOE erneut zum landesweiten Streik auf, um für einen höheren Prozentsatz, der in die lokale Wirtschaft aus dem Öleinkommen fließt und höhere Löhne zu streiten. Dabei erfuhren sie auch die Unterstützung des Gouverneurs von Basra. Berührungsängste zwischen Gewerkschaften und Politik scheint es nicht zu geben. Die GUOE appelliert ganz offen im Namen der nationalen Souveränität an die Zentralregierung, sich gegen die Privatisierung zu stellen.

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Am 17. Januar 05 schlossen sich in Bagdad die Lederarbeiter für mehr Lohn zusammen und in mehreren irakischen Städten kam es gleichzeitig zu Streiks und Protesten. Im August 2005 streikten die Angestellten eines Krankenhauses in Kirkuk gegen geringe Bezahlung. Der Ausstand wurde abgebrochen, nachdem die Minister ihn zur Kenntnis genommen hatten, nicht ohne mit einem neuen Streik zu drohen, falls es bei Worten bleiben sollte.

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In den USA entstehen Organisationen von Kriegsve­teranen, von denen einige mehrere Monate für Fah­nen­­flucht einsaßen. Die „United for peace“, eine Grup­pe von aktiven Kriegsgegnern, die 400 Mitglieder zählt und eine Anti-Rekrutierungs­kampagne führt, oder „Military Family Speak Out“, ein Zusam­menschluss von Familien mit Militärange­hörigen, die längst keinen Sinn mehr darin sehen, ihre Söhne in den Irak zu schicken.

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