Kein Gott, kein Herr

Für einen nicht-religiösen Anarchismus

Sicher, Anarchismus ist ein Nischenthema, und „christlicher Anarchismus“ noch viel mehr – eine Nische in der Nische sozusagen. Das Folgende dürfte also für Außenstehende ein wenig wie eine Auseinandersetzung zwischen „judäischer Volksfront“ und „Volksfront von Judäa“ anmuten. Aber in Zeiten, wo wir einerseits von selbsternannten Verteidiger_innen des christlichen Abendlandes genervt werden und andererseits islamistische Attentäter wegen „blasphemischer“ Karikaturen Mordanschläge begehen, ist es nicht verkehrt, sich ein paar Gedanken zum Thema Religion zu machen. Und manche Debatten müssen eben auch mal etwas länger geführt werden. Das ist allemal besser, als sie gleich in einem großen Bottich aus Toleranz und Pluralismus zu ersäufen.

Gerade, wenn über Religion diskutiert wird – wie in der Feierabend!-Redaktion beim Thema „christlicher Anarchismus“ (vgl. FA! #51 und #52) –, kommen häufig solche Forderungen nach Toleranz dabei heraus: „Man muss doch über alles reden können, oder?“ Gegen wechselseitige Verständigung ist natürlich nichts einzuwenden, allerdings führen solche „Man muss doch…“-Aussagen meist zielgenau dahin, dass gar nicht mehr geredet wird. Vielmehr wird vom ursprünglichen Thema auf eine Meta-Ebene abgewichen: Statt sich über das diskutierte Thema zu verständigen, verständigt man sich dann darüber, dass man sich ja über alles verständigen kann. Vor lauter Toleranz wird die Debatte beendet, bevor sie begonnen hat.

Wie gesagt, gerade wenn es um Religion geht, passiert das öfter. Über „Gott“ lässt sich eben nicht sinnvoll debattieren, weil dieser – unabhängig davon, ob er nun existiert oder nicht – jedenfalls nicht als Fakt existiert, der sich überprüfen ließe und zwischenmenschlicher Verständigung zugänglich wäre. Aus genau diesem Grund versacken Debatten über Religion so leicht in wohlmeinendem Relativismus, nach dem Motto: Weil wir alle die „letzte Wahrheit“ ohnehin nicht kennen, sollten wir tolerant sein und z.B. religiösen Überzeugungen nicht allzu vehement widersprechen. Wobei das Argument hinkt, denn der Anspruch, sinnvolle Aussagen über irgendeine „letzte“ oder „absolute Wahrheit“ machen zu können, wird ja ziemlich einseitig, eben von Seiten der Religion, erhoben. Und wenn tatsächlich „wir alle“ die letzte Wahrheit nicht kennen, ist klar, welche Seite falsch liegt – nämlich die, die etwas anderes behauptet.

Demgegenüber werde ich im Folgenden versuchen, möglichst einseitig zu argumentieren – da ich nur eine einzelne Person bin, kann ich ohnehin nicht „pluralistisch“ sein. Ich bemühe mich dabei, meinen Standpunkt möglichst schlüssig und präzise darzulegen, damit alle anderen mich möglichst präzise kritisieren können, wenn sie das für nötig halten.

Christlicher Anarchismus – gibt’s das überhaupt?

Ich will an dieser Stelle die allgemeinen Vorüberlegungen beenden und mich dem eigentlichen Thema zuwenden. Eine naheliegende Frage zuerst: Wenn der Anarchismus tatsächlich „eine politische Haltung jenseits von jedem Dogmatismus“ ist, wie verträgt er sich dann mit Religion, die ja auf Dogmen, also Glaubenssätze, nicht verzichten kann? Überhaupt nicht, könnte man sagen. Wobei das Argument natürlich schwach ist: Dass man „jenseits von jedem Dogmatismus“ stünde, behaupten so ziemlich alle politischen Vereine von sich – auch die CDU ist total „undogmatisch“ und „fern von jeder Ideologie“.

Ich will die Frage also etwas anders akzentuieren: Wenn der Anarchismus vor allem ein politische Haltung ist, kann es dann so etwas wie einen religiösen Anarchismus überhaupt geben? Oder nochmal anders gefragt, denn der Gedanke ist sicher nicht unmittelbar eingängig: Gehen die beiden Elemente, die da in dem Begriffspaar des „christlichen Anarchismus“ scheinbar flüssig und widerspruchsfrei aneinander gekoppelt werden, wirklich so sauber inein­ander über, wie es die Sprache suggeriert? Und wenn nicht: Wie stellt sich die Beziehung von Christentum und Anarchismus dann dar, in welchem Verhältnis stehen diese beiden Elemente zueinander?

Polemisch ließe sich sagen: Es gibt natürlich Christ_innen, die in politischer Hinsicht eine anarchistische Position vertreten (und diese eben christlich „begründen“). Das ergibt dann anarchistische Christ_innen, aber noch lange keinen „christlichen Anarchismus“. Die Verbindung ist eben ziemlich einseitig: Auch für religiöse Menschen ist es unvermeidbar, dass sie sich irgendwie zur Welt und zur sie umgebenden Gesellschaft verhalten, also eine politische Position einnehmen, die dann unter Umständen anarchistisch ist. Nur gibt es umgekehrt keinen Grund, eine politische Position wie den Anarchismus religiös zu begründen – außer, mensch ist eben zufällig religiös.

Ich will das anhand eines Beispiels erläutern, dass immer wieder gern bemüht wird, um aus der Bibel heraus eine antikapitalistische Haltung zu „begründen“ – ich meine das bekannte Zitat: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein reicher Mann ins Himmelreich kommt.“ Das läuft zunächst mal auf ein reines Autoritätsargument hinaus: Seht hier, auch Jesus hat gesagt, dass Reichtum schlecht ist! – wobei dann der Name „Jesus“ als Begründung für die Sinnhaftigkeit der Aussage „Reichtum ist schlecht“ herhalten soll. Bei der CSU mag das ja als Argument durchgehen. Anarchist_innen sollten solchen Quatsch lieber unterlassen, weil es eben auch generell Quatsch ist: Die Aussage muss schon für sich selbst sinnvoll und schlüssig begründet sein, sonst hilft auch Jesus nicht weiter. Das gilt bei anderen Autoritäten natürlich genauso. Eine Behauptung von Kropotkin, Marx oder dem Dalai Lama ist auch nur eine Behauptung.

Zweitens: Mal angenommen, dass die Aussage faktisch richtig sei und der liebe Gott tatsächlich ein moralisches Vorurteil gegen reiche Leute hegt – hat das dann für unsere diesseitige, menschliche Existenz irgendeine Bedeutung? Die Frage, ob Bill Gates oder Josef Ackermann in den Himmel kommen, stellt sich ja ohnehin erst, wenn sie tot sind, und da hat sich das Problem ihres Reichtums bereits erledigt. Es mag vielleicht einer ominösen göttlichen „Gerechtigkeit“ dienlich sein, wenn Gates und Ackermann zu ewiger Verdammnis verurteilt würden. Aus menschlicher Sicht macht es keinen Unterschied – der Herrgott könnte sich dieses sinnlose Nachtreten also auch sparen.

Aber wir bewegen uns hier im Bereich der Spekulation, und eine solche spekulative Letztbegründung braucht es gar nicht, um den Kapitalismus kritisieren zu können. Die naheliegendste, nicht religiöse, sondern politische Begründung reicht vollkommen aus: Kapitalismus ist schlecht, weil er auf uns schlechte Auswirkungen hat, weil er uns das Leben in der Welt unnötig schwer macht. Weil er uns von den materiellen Gütern ausschließt, die wir zum Leben brauchen bzw. sie uns nur gegen Bezahlung zugänglich macht. Weil er uns zu sinnloser Arbeit zwingt, uns wertvolle Zeit und Kraft raubt usw. Wenn wir unter den Verhältnissen leiden, dann brauchen wir keine übergeordnete moralische Instanz, die uns ein „Recht“ darauf verleiht, diesen Zustand als unangenehm zu empfinden.

Die Frage nach „dem Wesen“

Für einen Anarchismus, der sich in Prinzipienerklärungen und moralischen Postulaten erschöpft, mag natürlich auch die Bibel eine brauchbare Fundgrube bieten. Die Frage ist aber, ob das irgendeinen Erkenntnisgewinn bringt. So mag, wie Sebastian Kalicha schreibt (1), „in den Evangelien eine ablehnende Grundhaltung gegen materiellen Reichtum, gegen Reiche an sich und die Ungerechtigkeit, die dies hervorbringt“ vorherrschen – über den Kapitalismus ist damit noch nichts gesagt, den gab es vor 2000 Jahren auch noch gar nicht.

Und wie kommt mensch denn überhaupt dazu, die Bibel „kapitalismuskritisch“ oder „anarchistisch“ zu interpretieren? Muss mensch dafür nicht vorab schon ein wenig Kapitalismus- und Staatskritik geübt haben? Die Bibel lässt sich ja offensichtlich ganz verschieden interpretieren, wenn sowohl „christliche Anarchist_innen“ als auch solche konservativen bis faschistoiden Vereine wie Opus Dei oder die Pius-Bruderschaft, sowohl Pazifist_innen als auch George W. Bush jeweils passende „Begründungen“ daraus ziehen können. Natürlich kann man sich jeweils die Rosinen aus dem Text herauspicken, also die Bibelstellen, welche die eigenen Überzeugungen zu unterstützen scheinen – aber welche Textstellen das sind, hängt allemal von den eigenen Überzeugungen ab.

Wir berühren hier die heikle Frage nach dem „Wesen“ des Christentums, mit der offenbar auch viele Anarchist_innen so ihre Schwierigkeiten haben. So z.B. in der Sonderausgabe der Direkten Aktion, die dem Schwerpunktthema „Religion“ gewidmet war. In einer Art Einleitungstext schrieb dort ein DA-Autor: „Es stellt sich aus progressiver Warte also die Frage, ob Religion wirklich etwas per se Schlechtes ist. Sicher: würde man diese Frage anhand von ultraorthodoxen FundamentalistInnen beantworten, so wäre die Antwort ziemlich eindeutig. Doch ist das wirklich ein beispielhafter Ausdruck von Religion oder nur ein Zerrbild oder ein Spiegel der Gesellschaft? Es ist nicht nur schwer, ein so komplexes Thema einzufangen und zu beurteilen, es ist schier unmöglich. Die vielen Verknüpfungen mit linker Geschichte machen die Suche nach dem Wesen der Religion nicht einfacher und eine Positionierung dazu erst recht nicht. Religion ist autoritär und befreiend, offen und verschlossen. Neben dem individuellen Glauben sind die Werte entscheidend, die transportiert werden, und die die Religion zu mehr werden lassen als rituelles Beten.“ (2)

Dazu wäre Einiges zu bemerken. Zunächst mal kritisiert Religionskritik nicht einzelne religiöse Menschen (auch wenn diese das anders empfinden mögen, sofern sie die Religion als Teil ihrer „Identität“ begreifen). Die Sache ist auch gar nicht so kompliziert: In konservativen Milieus herrscht sicher auch eine konservative, rigide Vorstellung von Religion vor. Demgegenüber haben sympathischere Menschen dann auch sympathischere Vorstellungen von Gott oder von der Religion – das spricht dann für die jeweiligen Menschen, aber nicht für Gott oder die Religion.

Zweitens ist die Frage nach „dem Wesen der Religion“ falsch gestellt – „das Christentum als solches“ ist eine Abstraktion, die sich in der Realität genauso wenig auffinden lässt wie z.B. „das Säugetier schlechthin“. Damit will ich natürlich Christ_innen nicht ihre Menschlichkeit absprechen. Ich wähle nur ein absichtlich banales Beispiel, um die verschiedenen logischen Ebenen zu unterscheiden, die der Autor im oben zitierten Text recht umstandslos durcheinanderwirft. In der Realität lassen sich natürlich haufenweise Säugetiere finden (Hunde, Katzen, Schabrackentapire usw.), aber „das Säugetier“ ist nur die abstrakte Oberkategorie, unter die alle diese Tiere sortiert werden, weil sie bestimmte Merkmale miteinander teilen. In ähnlicher Weise ist auch „das Christentum“, „der Islam“ nur eine Abstraktion, eine Oberkategorie, die aufgrund bestimmter gemeinsamer Merkmale (Glaubenssätze, Rituale usw.) gebildet wird. „Das Christentum“ wird sich real nicht finden lassen, sondern immer nur „dieses Christentum“, das Christentum in bestimmten, historisch und sozial geformten Ausprägungen.

In diesem Sinne ist es dann auch unsinnig zu sagen, der Islamismus habe mit „dem Islam“ nichts zu tun, oder umgekehrt: der Islam als solcher sei gewalttätig. Der Islam „als solcher“ ist weder gewalttätig noch friedfertig – nur die Gläubigen verhalten sich, je nachdem, gewalttätig oder friedfertig. Eine abstrakte Kategorie ist als solche gar nicht in der Lage, sich irgendwie zu „verhalten“.

An diesen ersten logischen Fehler schließt sich unmittelbar ein zweiter an, nämlich der, Christ_innen immer nur als solche zu betrachten, als ob sie eben nur Christ_innen wären und nicht auch z.B. Lohnarbeiter_innen in einer Fabrik, Teil einer Familie, alleinerziehend, jung oder alt, arm, reich, oder was es eben sonst noch an Merkmalen geben kann. Auch wenn wir die Religion grundsätzlich als Irrtum betrachten (wie gesagt, ich bemühe mich, möglichst einseitig zu argumentieren), wäre immer noch zu fragen, welche Rolle dieser Irrtum für die einzelnen Menschen spielt. Ein „christlicher“ Unternehmer und ein „christlicher“ Lohnarbeiter haben vielleicht bestimmte Glaubenssätze gemeinsam, so wie sie auch ganz allgemein das Menschsein gemeinsam haben. Für die Frage, wie sie sich z.B. bei einem Streik positionieren, spielt das keine Rolle – es sagt nichts über „das Wesen des Christentums“, wenn ein christlicher Lohnarbeiter streikt.

Ein langer Umweg und ein kurzes Fazit

Auch der Autor des oben zitierten Artikels verfällt, obwohl er der Religion eher kritisch gegenüber steht, letztlich dem gleichen Irrtum wie die Gläubigen selbst: Diese neigen natürlich dazu, so ziemlich alle ihre Handlungen religiös zu begründen. Das heißt aber nicht notwendig, dass sie tatsächlich aus religiösen Gründen handeln.

Wobei die religiöse Letztbegründung im besten Falle überhaupt nichts begründet – so wie im folgenden Zitat, das einem Artikel in der Graswurzelrevolution (3) entnommen ist: Der Verfasser lehnt dabei als „christlicher Anarchist“ zunächst mal die Anschauung ab, Gott sei eine übergeordnete, fremde Autorität. Nach seinen Worten ist Gott „kein fremdes Subjekt, das mich von außen bestimmen will“, vielmehr wolle er „das Gute für seine Schöpfung“: „Das ist ein Kriterium, an dem sich nach christlichem Selbstverständnis alles menschliche Verhalten und alle denkbaren staatlichen, kirchlichen, religiösen und sonstige Vorschriften messen lassen müssen. Und dies lässt die Frage inhaltlich offen, was das Gute für die Schöpfung – nämlich für mich, die anderen Menschen und die Natur – sei. Und dass diese Frage offen bleibt, ist gut so, ermöglicht doch genau das die Freiheit, sich immer wieder neu der Wirklichkeit zu stellen und so immer wieder neu sein Verhalten zu bestimmen. Diese Freiheit ist zutiefst antiideologisch und antihierarchisch.“

Da haben wir wieder etwas gelernt: Christ_innen sind also für „das Gute“. Das haben sie allerdings mit dem gesamten Rest der Menschheit gemeinsam, wenn man mal von der verschwindend kleinen Minderheit der orthodoxen Satanisten absieht. Wobei dem Autor das Gute selbst offenbar noch nicht gut genug erscheint. Jedenfalls braucht er noch eine zusätzliche Rechtfertigung dafür, dass er das Gute für gut hält – nämlich „Gott“. Weil dieser „das Gute für seine Schöpfung“ will, findet auch der Verfasser das Gute gut. Nach dieser komplizierten ideologischen Übung können wir dann „zutiefst unideologisch“ selber schauen, was gut für uns ist.

Viel Erkenntnisgewinn kommt bei dem ganzen Vorgang also nicht heraus: Der Autor endet mit großem Umweg an genau dem Punkt, wo man anfangen könnte, eine sinnvolle Debatte zu führen – zum Beispiel darüber, was für uns gut ist und warum es gut ist, was für politische Ziele sich daraus ableiten und welche Möglichkeiten wir haben, um diese zu erreichen. „Gott“ hilft uns in dieser Beziehung nicht weiter, und in diesem Sinne ist auch ein „christlicher Anarchismus“ schlicht überflüssig.

justus

 

(1) zitiert nach Sebastian Kalicha (Hg.), “Christlicher Anarchismus – Facetten einer libertären Strömung”, Verlag Graswurzelrevolution, Münster 2014, S. 33.

(2) https://www.direkteaktion.org/218/bad-religion

(3) zitiert nach Sebastian Kalicha, “Christlicher Anarchismus”, a.A.o., S. 80.

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