Neues aus der Bewegung: Mit Kommunikationsmethodik gegen kapitalistische Krise

Es soll nicht die Aufgabe dieses Artikels sein, am neuesten Beispiel einer Bewegung durchzuexerzieren, was an Gerechtigkeitsidealen oder Appellen an den Staat kritikabel ist. Es soll an dieser Stelle nur ein Aspekt unter die Lupe genommen werden, der wirklich als ein Novum der Occupy-Bewegung reklamiert wird: die neue Art der Kommunikation. Die Bedeutung dieses Aspekts für die Occu­py-Bewegung sollte nicht unterschätzt werden. Inhalte der „Occu­­panten“ können schließlich von Land zu Land, von Staat zu Staat recht stark variieren. Na klar, irgend­wie findet man Banken schon fies – aber ein US-ameri­kanischer linker Kritiker der Zentralbank hat in dem Punkt womöglich mit der dortigen Libertarian Party mehr gemeinsam, als mit der hiesigen attac oder dem DGB. Im Punkt des „Wie“ der Entscheidungsfindung scheint die Einigkeit viel größer zu sein – mit Stolz und Begeisterung wird auf die Erfahrung der spanischen „Asambleas“, also eine Art offene Versammlung, als ein Beispiel von „echter Demokratie“ verwiesen.

Das Dokument aus den spanischen 15M-Protesten mit dem Titel „Kurzanleitung: Gruppendynamiken in Bürgerversamm­lungen“ (1), auf das sich auch deutsche Occupy- bzw. „Echte Demokratie Jetzt“-Aktivisten berufen, ist zwar als methodische Anleitung geschrieben, verrät aber eine ganze Menge über die Inhalte der Proteste.

Unserem Verständnis nach steht Kollektives Denken im völligen Gegensatz zu der Art zu denken, wie sie durch das gegenwärtige System angeregt wird. Dadurch ist es schwer zu integrieren und anzuwenden. Zeit ist nötig, da dies eines langen Prozesses bedarf. Wenn eine Entscheidung getroffen werden muss, neigt das normale Gesprächsverhalten zweier Menschen mit unterschiedlichen Meinungen dazu, konfrontativ zu sein. Jeder verteidigt seine Meinung mit dem Ziel, seinen Gegner zu überzeugen, und das solange, bis die eigene Meinung gewonnen hat, oder zumin­dest ein Kompromiss erreicht werden konnte.

Das Ziel von Kollektivem Denken hingegen ist es, Neues zu erschaffen. Das bedeutet, zwei Men­schen mit unterschiedlichen Ideen arbeiten zusammen um etwas Neues zu kreieren. Die Betonung liegt also nicht auf: meine Idee oder deine; man verpflichtet sich vielmehr der Auffassung, dass zwei Ideen zusammen etwas Neues entstehen lassen können, etwas, das keiner von uns vorher ahnen konnte.“

Die neue Bewegung grenzt sich vom Rest der Politik nicht durch Inhalte, sondern durch Methode ab – aus kontroversen Positionen soll etwas Gemeinsames erarbeitet werden. Sicherlich, das gibt es, dass Diskussionen unnötig aggressiv und nicht mehr an der Sache entlang geführt werden. Soweit richtig. Aber daraus macht die Bewegung dann, dass es gar keinen Dissens geben könne, der in der Sache begründet ist. Weder die Verfasser des Papiers, noch ihre zahlreichen Anhänger und Nachahmer kommen auf die Idee, dass es Positionen geben mag, die sich wirklich gegenseitig ausschließen, dass es gute Gründe geben kann für einen handfesten Dissens.

Kollektives Denken entsteht, wenn wir verstehen, dass alle Meinungen, seien es unsere eigenen oder die anderer, berücksichtigt werden müssen um Konsens zu erzeugen, und dass eine Idee, wenn sie erst einmal erschaffen ist, uns verwandeln kann.“ Einen Dissens, der sich nicht mit geduldigem Zuhören in einen Konsens umbiegen lässt, gibt es einfach nicht. Dagegen wäre bspw. einzuwenden, dass ein Ablehnen einer Position gerade Folge aufmerksamen Zuhö­rens und Ernstnehmens des Kontrahenten sein kann (bzw. sollte). Doch auf die Frage, warum es überhaupt Dissens gibt, haben die Aktivisten der neuen Bewegung bereits eine eigentümliche Antwort gegeben:

Was ist eine Bürgerversammlung? Sie ist ein bürgerbeteiligendes Entscheidungsgremium, das Konsens anstrebt. Die Versammlung sucht nach den besten Argumenten um eine Entscheidung zu treffen, die jede Meinung widerspiegelt – nicht gegensätzliche Positionen, wie es bei Wahlen geschieht. Sie muss friedvoll ablaufen, mit Respekt für alle Meinungen: Vorurteile und Ideologien müssen zuhause gelassen werden. Eine Versammlung sollte sich nicht um einen ideologischen Diskurs drehen; vielmehr sollte sie sich mit praktischen Fragen beschäftigen: Was brauchen wir? Wie können wir es bekommen?“

Es soll also scharf zwischen „Ideologie“ (hier wohl als jedwede politische Einstellung gemeint, vermutlich auch abwertend für Menschen, die das beharrlich bzw. „penetrant“ vertreten) und praktischen Fragen (politisches Programm) unterschieden werden. Wie sich z.B. der Vorschlag „den Staat abzuschaffen“ von „anarchistischer Ideologie“ trennen lassen soll, wird zwar nicht klar – aber das neue Entscheidungsverfahren wird schon mal als eine Alternative zum Parlamentarismus präsentiert. Sonst haben die Autoren des Papiers übrigens kein Wort darüber gesagt, was sie an der bestehenden Ordnung auszusetzen haben, außer diesen einen Punkt: Bei Wahlen geht es um gegensätzliche Positionen und Ideologien.

Der Glaube an die grundsätzliche Kon­sens­fähigkeit aller Positionen kommt zustande, weil der Demokratieidealismus der neuen Bewegung völlig ohne den Begriff des „Interesses“ auskommt. Die parlamentarische Demokratie ist diesen Kritikern nicht „echt“ genug. Bei den Entscheidungen, die die per Gesetz dazu berechtigten politischen Organe treffen, fühlen sich die Teilnehmer diverser Zelt-Camps in Madrid und Frankfurt ziemlich übergangen – und das ist eine richtige Feststellung, ein wahres Moment der Forderung der Bewegung. Doch wenn es um die Benennung der Gründe dafür geht, fällt den Wutdemokraten vor allem ein, dass ja nicht alle mitentscheiden dürften und daher nicht alle vorhandenen Lösungsvorschläge für welche Probleme auch immer angehört würden. Dabei gibt es gar keine Übereinstimmung der Interessen etwa zwischen Protestlern und Regierenden in Deutschland in Sachen Hartz IV, ob die Verarmung der Arbeitslosen ein Problem darstellt oder doch vielmehr als Lösung eines Standortproblems daherkommt.

Die Stimmen aus der Bewegung verraten, dass für Occupy-Anhänger die Sache so aussieht, dass Parlamente, Parteien und Interessenverbände das Volk überhaupt erst spalten. Dass es verschiedene Parteien gibt, weil die Interessen nun mal verschieden sind, darauf werden die Verfasser folgender Zeilen wohl nicht gekommen sein:

In unserem zunehmend auseinanderfallenden Gesellschaftssystem haben wir uns an folgende Form sozialer Kommunikation gewöhnt: Berufspoliker und Vetreter von Lobby-, und Partikularinteressen nutzen die massenmediale Infrastruktur um die grundlegenden Eckpfeiler in gesellschaftspolitschen Themenbereichen abzustecken.“ (2)

Über das Auftauchen von Nazis auf ihren Demos sollten sie sich dann nicht wundern. Der Hass auf die bösen Partikularinteressen, die eine ansonsten ach so harmonische Gesellschaft (Gemeinschaft) auseinanderfallen lassen, ist ein Grundgedanke des Faschismus.

Die Occupy-Bewegung will, dass das Volk (also die „99%“) wirklich bestimmt, wo es lang geht. Der parlamentarische Weg schafft Gegensätze, in der Asamblea sei das Volk dagegen tatsächlich mal ei­ne Gemeinschaft mit gemeinsamen Interessen. „Volkswille“ ist für die Anhänger direkter Demokratie kein rhetorisches Konstrukt – den gäbe es wirklich, den unverfälschten Willen des Kollektivs, aber die egoistischen Partikularinteressen verfälschten ihn. „Findest du auch: […] dass wir nur noch von einer nicht einmal repräsentativen gesellschaftlichen Elite regiert werden?“ (3)

Wenn aber „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“ mal wieder sowas von gar keinen Konsens darüber finden, ob die Lohne erhöht oder gesenkt bzw. die Arbeitszeit gekürzt oder verlängert gehört, dann liegt es nicht daran, dass sie keine tollen „Gesten zum Ausdruck des gemeinsamen Befindens der Versammlung“ kennen! („Dein Beitrag nimmt zu viel Zeit in Anspruch“ = überkreuzte Arme. Die Unterarme kommen zusammen und bewegen sich voneinander weg, wie die Zeiger einer Uhr, so dass sich die Handflächen über dem Kopf berühren.“) In den Mitteln des individuellen Voran­kommens in der Marktwirtschaft sind nun mal ziemlich unversöhnliche Interessenwidersprüche angelegt. Die Konkurrenz der Kapitalisten um die Märkte und der Arbeiter um die Arbeitsplätze ist auch nicht gerade etwas, was sich so eben mit einer anderen Art des Kommunizierens lösen ließe. Von Konflikten zwischen den Staaten ganz zu schweigen.

In der Kommunikationsform der „Occu­panten“ kommt dagegen zum Ausdruck, dass hier Empörung mit Kritik verwechselt wird. Jeder kann aber mit seiner ganz persönlichen Betroffenheit als Betroffener vorstellig werden und mittels Demonstration seiner Empörung, die Versammlung bereichern. Es geht nicht darum, für bestimmte Interessen zu kämpfen – das würde andere ja ausschließen – sondern darum, mit der Versammlung und dem öffentlichen Campen zu zeigen, dass hier eine Mehrheit von Betroffenen versammelt ist.

Die neue Bewegung ist so offen für alles, dass sie gar nicht weiß, was überhaupt der gemeinsame Nenner zwischen all den Teilnehmern sein soll. Aber auch da sollen Kommunikationsforme(l)n helfen:

Es ist nützlich, eine Diskussion mit den Punkten zu eröffnen, die verbinden, bevor man sich den Punkten widmet, die entzweien. Beispiele:

1) „Fass diesen Hund nicht an oder er beißt dich!“ könnte formuliert werden als „Sei vorsichtig mit diesem Hund, weil er dich beißen könnte, und keiner von uns würde das gut finden.“

2) „Wenn wir hier keinen Konsens erreichen, werden alle Anstrengungen verschwendet gewesen sein!“ könnte formuliert werden als „Es ist wichtig, dass wir einen Konsens in diesem Punkt erreichen, oder es könnte uns passieren, dass wir als Gruppe an Kraft verlieren, und keiner möchte, dass das passiert.“

Jede Festlegung auf eine konkrete Analyse oder Programmatik würde der Bewegung das besondere Güterzeichen „für alles offen zu sein“ berauben – und keiner möchte, dass das passiert. Denn eine offene Bewegung zu sein scheint schon Programm genug.

Junge Linke – gegen Kapital und Nation

(1) Zit. nach: www.echte-demokratie-jetzt.de/material. Soweit nichts anderes angegeben, entstammen alle Zitate dieser Quelle.
(2) Debatte: Die Asamblea als Instrument basisdemokratischer Meinungsbildung. 06.09.2011. acampadaberlin.blogspot.com/2011/09/debatte-die-asamblea-als-instrument.html
(3) Flugblatt von „Echte Demokratie Jetzt“ – Bremen, verteilt am 15.01.2012.

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