Der (Alb-)Traum von Freiheit

Über das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und den Ländern Mittelamerikas

„Wer sagt: ‚hier herrscht Freiheit’, der lügt, denn Freiheit herrscht nicht.“, schrieb einst Erich Fried. Ob er damals bereits ahnte, wie sehr diese Worte einmal auf die europäische Außenpolitik zutreffen würden? – Wohl kaum. Dennoch hätte er nicht treffender beschreiben können, was hinter den Kulissen in Brüssel fortlaufend und flächendeckend verhandelt wird: Verträge, die Freiheit versprechen – aber nur Abhängigkeit halten können. So verhält es sich auch mit dem so genannten „Assoziierungsabkommen“ zwischen der EU und den zentralamerikanischen Staaten Nicaragua, Honduras, El Salvador, Guatemala, Costa Rica und Panama, das mit seiner Unterzeichnung am 18.Mai 2010 auf dem Iboamerika-Gipfel in Madrid die Entwicklung der Länder maßgeblich verändern wird.

Vogelfreiheit

Doch was verbirgt sich hinter diesem harmlos klingenden „Assoziierungsabkommen“, das aus den drei Säulen „Handel“, „politischer Dialog“ und „Kooperation“ besteht? Im Grunde nicht viel mehr als ein klassischer Freihandelsvertrag – also die Regelung, dass für verabredete Produkte die Zölle und Steuern gesenkt und somit dem anderen Markt zugänglich gemacht werden – mit dem kleinen Zusatz, dass die EU gerne in den politischen Angelegenheiten der betreffenden Staaten mitmischen will und sich dafür auch bereit erklärt weiterhin Gelder in die Entwicklungszusammenarbeit zu investieren. Während die Regierungen mit EU-Entwicklungshilfegeldern von bis zu einer Milliarde Euro bis 2013 und der Steigerung ihres BIP durch höhere Exportquoten gelockt werden, hat dieses Abkommen im Bereich Freihandel für die einfache Bevölkerung vor allem negative Auswirkungen: Die zentrale Einkommensquelle der meisten Mittelamerika­ner_in­nen ist immer noch die Landwirtschaft und Textilindustrie, da sich eigenständige, komplexer verarbeitende Industrien, wenn überhaupt vorhanden, oftmals erst im Aufbau befinden. Durch den Freihan­dels­ver­­trag nun sollen die lateinamerikanischen Märkte für EU-Güter wie Milchprodukte und Schweinefleisch, sowie für jegliche Industrieprodukte und Dienstleistungen geöffnet werden. Im Gegenzug sollen zentralamerikanische Güter wie Bananen, Zucker, Kaffee, Rum und Kleidung zu bestimmten Quoten auf dem europäischen Markt zugelassen werden.

Interessant ist diese Marktöffnung für die wenigen dort ansässigen exportorientier­ten Großunternehmen – wie Chicita, Dole oder die Kleidungsmittelzulieferbetriebe in den bereits etablierten Freien Produk­tions­­zo­nen(1) – die oftmals in US-amerika­nischer oder zunehmend asiatischer Hand liegen. Die einheimischen kleinen und mittelständischen Bauern und Firmen jedoch, die für den lokalen Markt arbeiten, können dem Wettbewerb unter Welt­markt­bedingungen nicht Stand halten und werden verdrängt. Denn da die EU die eigene Landwirtschaft finanziell unterstützt (eine europäische Kuh wird durchschnittlich mit 2,50 Euro täglich subventioniert), wird der einheimische Markt mit billigen EU-Artikeln überschwemmt. Diesen Preiskrieg können die Kleinproduzenten – die ohnehin am untersten Preislimit produzieren – gar nicht gewinnen. Des Weiteren kann auch die „zarte“ mittel­amerikanische Wirt­schaft kaum einer hoch­spezialisierten verarbeitenden europäischen Industrie oder dem bereits etabliertem Dienstleistungssystem Stand halten. Die Folgen der Marktöffnung sind weitreichend: Viele Bauern, die für den einheimischen Markt produziert haben, verlieren wahrscheinlich ihren Absatzmarkt durch die Konkurrenzprodukte und müssen entweder doch noch billiger produzieren oder ihr Land verkaufen. Folge davon wäre nicht nur weitere Verarmung, steigende Landflucht und Migration, sondern auch eine allgemeine Nahrungsmit­tel­ver­knap­pung, die zu globalen Preissteigerungen und Nahrungsmittelkrisen – wie bspw. in Haiti 2009 – führen kann. Im industriellen Sektor führt die Marktöffnung vor allem dazu, dass auf europäische Güter zurückgegriffen wird, anstatt den Aufbau eigener Industrien zu fördern. Dadurch werden die mittelamerikani­schen Staaten auch weiterhin auf ihre Funktion als billige Rohstofflieferanten festgelegt. So steigt insgesamt nur die Abhängigkeit von Importprodukten aus den Industrienatio­nen, was wiederum deren Einfluss auf die zentralamerikani­sche Politik und Wirtschaft vergrößert. Statt zu Entwicklung und Wohlstand, führt Freihandel zwischen wirtschaftlich so ungleichen Partnern wie der EU und den zentralamerikanischen Ländern also zu recht einseitigen Profitaussichten und Abhängigkeiten.

Narrenfreiheit

Obgleich die negativen Folgen solcherlei Freihandelsverträge spätestens seit DR-CAFTA (2) allgemein bekannt sind, schafft es die EU, sich mit ihrem Assozi­ierungs­ab­kom­men positiv von diesem US-amerikanischen Freihandelsvertrag abzugrenzen. Die ganz bewusst gewählte Rhetorik von „Diplomatie statt Konfrontation“, „Einhaltung des geltenden Rechts“, „Entwicklungsorientierung statt Sicher­heits­po­li­tik“ soll auf das positive Selbstbild – ein „Europa der Rechte und Werte“ zu sein – verweisen. So wird der Blick auf die Vereinbarungen in den Säulen „Kooperation“ und „politischer Dialog“ gelenkt, anstatt auf die am stärksten ausgeprägte „Handels-Säule“, die sogar viel schwerwiegendere Folgen als DR-CAFTA bereithält. Denn mit dem Abkommen wird nicht nur der zollfreie Handel, sondern z.B. auch die Patentie­rung „Geistigen Eigentums“ geregelt. Das bedeutet, dass bspw. Arzneimittel, die aus seltenen tropischen Pflanzen bestehen, zukünftig von europäischen Pharmakonzernen patentiert werden können und die lokale Bevölkerung – die mitunter die Heilwirkung seit Jahrhunderten traditionell nutzt – für den Zugriff dann zahlen müsste. Und auch die betreffende Regierung im Mittelamerika dürfte dann, sofern sie technisch überhaupt in der Lage wäre, keine billigen Generika von den Pflanzen in ihrem Land herstellen.

Auch schreibt das Assoziierungsabkommen die „Freiheit von Investitionen“ europäischer Unternehmen in Mittelamerika fest, die nicht durch staatliches Handeln (bspw. in Form von Subventio­nie­­rungen einheimischer Unternehmen oder der Verstaatlichung bestimmter Industrien oder öffentlichen Güter, wie Wasser) eingeschränkt werden darf. Hinzu kommt noch die Pflicht, bei öffentlichen Ausschreibungen europäische Konzerne einzubeziehen und das Recht jener Konzerne, vor einem Streitschlichtungsgericht ganze Staaten auf gefährdete Investitionen verklagen zu können. Solch eine Klage auf Schadensersatz für „zu erwartende Gewinne“ wäre etwa dann möglich, wenn eine der mittelamerikanischen Regierungen es unterlassen würde, einen bestimmten Sektor zu privatisieren, oder sie teurer produzierenden einheimischen Unternehmen den Vorzug bei öffentlichen Investitionen gibt (von Subventionen ganz zu schweigen) (3).

Insgesamt betrachtet, verschaffen sich europäische Konzerne im Rahmen des Assoziierungsabkommens also den umfangreichen Zugang zu mittelamerikani­schen Märkten, natürlichen Ressourcen, wie der biologischen Vielfalt und Rohstoffen sowie staatlichen Ausschreibungen Zudem wird der einstige „Hinterhof der USA“ langfristig umorientiert und kann für die EU auch geopolitisch von Nutzen sein.

Handlungsfreiheit

Bei so negativen Aussichten ist klar, dass sich trotz des immer noch vorhandenen positiven Images der EU auch Protest in Mittelamerika regt. Auch wenn der Widerstand vergleichsweise geringer als bei DR-CAFTA bleibt (auch weil auf anderen Ebenen viele Kooperationen mit europäischen Ländern bestehen), gibt es seitens der Zivilbevölkerung, NGOs und Gewerkschaften Kampagnen gegen das Abkommen. Mehr als 70 soziale und regie­rungs­unabhängige Organisationen haben bspw. in San Jose eine Erklärung verabschiedet, die sich entschieden gegen diesen Vertrag wendet. Allerdings stoßen solcherlei Proteste auf wenig Gehör bei den zentralamerikanischen Regierungen und der EU-Kommission, denn diese verhandeln lieber hinter geschlossenen Türen und nur unter Beteiligung von Unternehmensverbänden. Die Einbeziehung von zivilgesellschaftlichen zentralameri­ka­nischen Akteuren wurde bereits kurz nach Verhandlungsbeginn 2007 wieder eingestellt. Und auch hierzulande werden die Vertragsverhandlungen der EU und ihre Inhalte der Bevölkerung nicht mal transparent gemacht. So ist auch kaum bekannt, dass zeitgleich zu den Verhandlungen mit zentralamerikanischen Staaten auch Abkommen mit unzähligen Ländern in Afrika, Lateinamerika und Asien ge­schlos­sen wurden und werden. Je nach wirtschaftlicher Entwicklung und geografischer Nähe heißen diese schlicht „Frei­han­dels­verträge“, „Assoziierungsabkom­men“, „Wirtschafts- und Partnerschaftsabkommen“ oder „Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen“ (4). Dies entspricht insgesamt der Lissabon-Strategie, die zum Ziel hat, die EU bis 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Wie verbissen an dieser Zielstellung festgehalten wird, verdeutlicht auch die schnelle Einbeziehung der Putschregierung in Honduras in die Verhandlungen zum zentralamerikanischen Abkommen. Dort kam es im Sommer 2009 in Kooperation mit der nationalen Oligarchie zu einem Militärputsch gegen den Präsidenten Zelaya, der sich vorher gegen die Privatisierung des wichtigsten Hafens und der Wasser- sowie Stromversorgung gestellt hatte. Trotz massiver Unruhen und Proteste seitens der Bevölkerung und einer mehr als zweifelhaften „Wahl“ des von den Putschisten eingesetzten Präsidenten Lobo, nahm dieser die Regierungsgeschäfte im Januar 2010 auf. Den anhaltenden Menschenrechtsverlet­zungen und der bisher von den meisten Re­gierungen verweigerten rechtmäßigen An­erkennung dieser Regierung zum Trotz, nahm die Europäische Kommission bereits im Februar die Verhandlungen mit Honduras wieder auf, um das Abkommen wie ge­plant im Mai 2010 unterzeichnen zu können. Hier wird besonders deutlich, dass das Interesse der Europäischen Kommission weniger in der postulierten Förderung weltweiter demokratischer Werte liegt, sondern sich vielmehr am Nutzen der eigenen Wirtschaftsverbände orientiert.

Herrschaftsfreiheit

Die Folgen des Abkommens sind bekannt, die EU-Rhetorik ist durchschaubar und Proteste seitens der Bevölkerung, der NGOs und Gewerkschaften sind ebenfalls zu vernehmen. Warum sind die zentral­amerikanischen Regierungen dennoch be­reit, diesen Vertrag nach der Unterzeichnung im Mai 2010 in den eigenen Parlamenten ratifizieren zu lassen? Zum einen liegt das sicher an den Zusagen über weitere Gelder zur Entwicklungshilfe, die für jene Länder dringend notwendig sind und sich deshalb als Erpressungsmittel eignen, um die Wirtschaftsliberalisierung zu erzwingen. Zudem wurde der von Nicaragua in die Verhandlungen eingebrachte und geforderte „Kompensationsfond“, der die negativen Folgen der so ungleichen Handelspartnerschaft abfedern soll, aufgegriffen und unverbindlich in Aussicht gestellt – so dass diesbezüglich auch Wind in den Segeln fehlt. Die zentralamerika­nischen Regierungen selbst besitzen nicht viel Verhandlungsmacht, sind auf ein wachsendes BIP angewiesen, versprechen sich nationale Vorteile, wirtschaften zum Teil in die eigene Tasche und sind oftmals auch nur die Ausführenden der Interessen ihrer ansässigen exportorientierten Großunternehmen. Diese versprechen sich von der Markterweiterung einen Wachs­tumszuwachs und wurden in den Verhandlungen auch tatsächlich gegen die relativ schwach organisierte Gruppe der Kleinproduzenten ausgespielt. So wird bspw. der Niedergang der einheimischen Milchproduktion für einen erhöhten Bananenexport billigend in Kauf genommen. Für die EU ist vor allem ein Handelsabkommen mit Costa Rica, Panama und Guatemala interessant, da dort der Außenhandel bereits am Größten ist. El Salvador und Nicaragua müssen mitmachen, um sich nicht wirtschaftlich zu isolieren. Und Honduras ist schon allein deshalb an einer Ratifizierung interessiert, weil damit die Putschregierung offiziell anerkannt werden würde.

Unter diesen Vorraussetzungen ist kaum erwartbar, dass das Assoziierungsabkommen von der mittelamerikanischen Bevölkerung noch gestoppt werden kann. Aufklärung, Bewusstwerdung und Zeichen der Solidarität hierzulande sind dennoch wichtig, um den heuchlerischen Image-Lack der EU zum Abplatzen zu verhelfen. Die Freiheit und Entwicklung von der die EU hier spricht, dient einseitig dem großen Kapital, denn sie ist die Freiheit von Regulierungen, die auf Kosten der wirtschaftlich Schwächeren geht. Dennoch lohnt sich der Kampf um Freiheit – wenn wir wie Fried eine Freiheit meinen, die nicht beherrscht wird, sondern den Raum zur selbstbestimmten Entfaltung öffnet.

(momo)

(1) Abkommen, die den zoll- und steuerfreien Handel regulieren gibt es schon lange in Zentralamerika. Insbesondere im Bereich der Textilindustrie wurden seit den 90er Jahren verstärkt sog. Freie Produktionszonen eingerichtet, also Gebiete in denen mehrere ausländische Investoren Zulieferbetriebe für mitunter bekannte Marken gründen und dort ausschließlich für den Export produzieren lassen. Diese Zonen zeichnen sich in der Praxis vor allem durch unzumutbare Arbeitsbedingungen und Arbeitsrechtsverletzungen aus. Durch die Steuerbefreiung bleibt auch – abgesehen von den niedrigen Löhnen für viele Arbeiter_innen – kein Gewinn im Land.

(2) DR-CAFTA ist ein 2004 in Kraft getretenes Freihandelsabkommen zwischen den USA und den Staaten Costa Rica, Nicaragua, Honduras, El Salvador und der Dominikanischen Republik. Der Protest gegen das Abkommen war im Vorfeld groß und die Befürchtung, dass es der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung mehr schadet als hilft und nicht zur Armutsbekämpfung beiträgt, hat sich in der Praxis bereits bestätigt.

(3) Dass dieses Szenario kein utopisches Hirngespinst bleiben wird, belegt ein aktuelles Beispiel: UNION FENOSA, ein spanischer Energiekonzern, der im Zuge der vom IWF erzwungenen Privatisierung im Jahr 2000 das nicaraguanische Stromnetz kaufte und der Bevölkerung dann stetige Preissteigerungen und (über Monate hinweg) tagelange Stromabschaltungen zumutete, verklagt nun auch noch Nicaragua auf 55 Mio US$ Schadensersatz, für verloren gegangene Gewinne seit 2004. Denn letztendlich hatte sich die Bevölkerung zusammen mit der einheimischen Industrie gewehrt und auf die Wiederverstaatlichung gedrängt. Das geplante Assoziierungsabkommen hätte wahrscheinlich nicht nur zur Folge, dass der Konzern den Schadensersatz bekommt, sondern auch, dass die Wiederverstaatlichung der Stromversorgung langfristig unmöglich gemacht wird (www.stop-assoziierung.de/fenosa.shtml).

(4) Strategisch ausgetüftelt ist die Art der Abkommen für die jeweilige Region: Während Freihandelsabkommen mit wirtschaftlich z.T. entwickelteren Staaten, wie bspw. Kolumbien, Peru, Indien und die ASEAN-Staaten geschlossen werden, werden „Assoziierungsabkommen“ eher dann verabredet, wenn neben der Handelskomponente auch Vereinbarungen zur Entwicklungszusammenarbeit notwendig sind. So war Panama in diesem Abkommen lediglich Beobachter, als es um diese Punkte ging, stieg aber bei den Handelsverabredungen als vollwertiger Partner ein. zahlreiche „Wirtschafts- und Partnerschaftsabkommen“ hingegen werden Afrika vereinbart und beinhalten neben der Handelskomponente noch Aspekte nachhaltiger Entwicklung. Spezielle „Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen“ wurden mit den Staaten an den EU-Außengrenzen abgeschlossen (z.B. Bosnien Herzegowina, Serbien und Albanien), weil diese strategisch und wirtschaftlich von besonderer Bedeutung sind.

Abbas’ Odyssee durch die Ausländerbehörde

„Fiktionsbescheinigung“ & „Terrortest“ – Wunder der deutschen Sicherheitspolitik

„Eigentlich wollte ich nur meine Aufenthaltssgenehmigung verlängern lassen, aber sie haben mir die Genehmigung nicht gegeben. Ich habe nur eine Fiktionsbescheinigung bekommen“ erzählt Abbas auf mein Nachfragen, wie es bei der Ausländerbehörde war. „Eine Fiktionswas…?“ frage ich ihn und mich, ob ihm die kafkaeske, deutsche Bürokratie nicht ein wenig zu Kopf gestiegen ist. Aber Abbas, der seit vier Jahren in Deutschland und mit Hilfe eines Stipendiums des saudi-arabischen Königs in Leipzig studiert, ist besser mit dem deutschen Ausländerrecht vertraut als ich. Tatsächlich handelt es sich bei der Fiktionsbescheinigung um einen offiziellen Oberbegriff des deutschen Ausländerrechts, der noch einmal in fünf unterschiedliche „Erlaubnisfiktionen“ untergliedert ist. Das administrative Oxymoron (1) erhält demnach, wer einen Antrag oder eine Verlängerung auf einen Aufenthaltstitel stellt, über den noch nicht entschieden wurde. Mit der Fiktionsbescheinigung hat es der deutsche Verwaltungsapparat geschafft ein Dokument für den Zeitraum des bürokratischen Wartens zu kreieren. Wer die Bescheinigung hat, darf tatsächlich bleiben, bis die Fiktionsbescheinigung ausläuft – vorausgesetzt er oder sie zahlt 20 Euro. Denn auch das Warten hat seinen Preis. Angestrengt denke ich nach. Wieso wird das Dokument nicht Warte-Brief genannt? Wie kann etwas verlängert werden, das es nur scheinbar gibt? Und wenn ein Dokument, das auf einer hypothetischen Entscheidung beruht verlängert wird, befinden wir uns dann nicht schon im Bereich der Metaphysik? Hat eigentlich schon einmal jemand zu transzendenten Phänomene in bürokratischen Systemen geforscht?

Diese und ähnliche Fragen schießen mir durch den Kopf, als ich Abbas sagen höre: „…aber dann wollten sie diesen Terror-Test mit mir machen.“ Ich starre ihn an und der steinharte, geschmacksarme Kaugummi plumpst auf meinen Unterkiefer. Vor meinem inneren Auge sehe ich Abbas vor einer finster dreinschauenden Beamtin eine Handgranate aus seinem buschigen Haar nehmen und ihr grinsend entgegenstrecken. ‘Das müssen Nachwirkungen der Mohammed-Karikaturen sein,’ denke ich und sage: „Terrortest? Alter, du schaust zu viel US-Fernsehen, von was redest du?“

Abbas meinte den so genannten Gesinnungstest, eine Sicherheitsprüfung, der sich Angehörige von insgesamt 26 Staaten in Deutschland unterziehen müssen, wenn sie eine Aufenthaltsgenehmigung haben oder verlängern lassen wollen (2). Neben diesen Landsmännern und -frauen kommen noch Staatenlose, Personen „mit Reisedokumenten der palästinensischen Autonomiebehörde“ oder mit „ungeklärter Staatsangehörigkeit“, sowie Menschen, gegen die bestimmte Verdachtsmomente vorliegen, hinzu. Mensch beachte hier, dass die Formulierung „bestimmte Verdachtsmomente“  nicht selten als juristische Mehrzweckwaffe gegen allerlei Systemoppositionelle eingesetzt wird. Auf dem Prinzip „bestimmte Verdachtsmomente“ gründen Staatspraxen wie die Rasterfahndung, Vorratsdatenspeicherung und der so genannte Terroristen-Paragraph 129a. Ob also beispielsweise „unsittliches“ Verhalten oder „Handlungen, die das öffentliche Wohlergehen stören“, bereits als „bestimmte Verdachtsmomente“ ausreichen, lässt der Erlass bewusst offen. Je schwammiger, desto variabler einsetzbar.

Das Bundesinnenministerium machte immerhin deutlich, dass es bei dem Erlass nicht darum gehe, „durch die Hintertür zusätzliche Spezialfragen“ in einen anderen Test, nämlich den in den Medien kontrovers diskutierten Einbürgerungstest, einzufügen. Bei dem Einbürgerungstest, müssen ImmigrantInnen, die den deutschen Pass wollen, seit dem 1. September 2008 „deutsche“ Fragen beantworten. Aus einem Gesamtkatalog zum gesellschaftlichen und politischen System der Bundesrepublik werden von insgesamt 310 Fragen 33 herausgegriffen, von denen die Befragten mindestens 17 Fragen richtig ankreuzen müssen. Im Gegensatz zum Einbürgerungstest soll der Gesinnungstest laut Bundesministerium, die Einbürgerung nicht erschweren, sondern sei vielmehr „eine Bereicherung“, da der Bewerber sich auf diese Weise mit den abgefragten Themen auseinandersetze. Ob und was abgefragt wird, liegt in alleiniger Verantwortung der Bundesländer und gilt als Verschluss- bzw. Geheimsache der jeweiligen Landesregierungen. Deutschlandweit führen derzeit zehn Bundesländer, darunter auch Sachsen, den Gesinnungstest durch.

„Haben Sie Kontakt zu Osama bin-Laden?“

Abbas war einer der insgesamt 30.114 Menschen, die sich im Jahr 2008 – das erbrachte eine kleine Anfrage der Partei Die LINKE im Bundestag – einer solchen Befragung unterziehen mussten. Als der 23-jährige routinemäßig sein Studenten-Visum bei der Ausländerbehörde verlängern wollte, wurde er aufgefordert, sich einer „Sicherheitsprüfung“ zu unterziehen. Weshalb er die Prüfung machen müsse, fragte Abbas daraufhin die zuständige Mitarbeiterin der Ausländerbehörde, die 2005 zur freundlichsten Ausländerbehörde Deutschlands gewählt wurde. Es gehe um Sicherheit, so die Angestellte. Abbas entgegnete, dass er hier lediglich Student sei. Man wisse nie, entgegnete die Mitarbeiterin schroff. Daraufhin wurde ihm mitgeteilt, dass er den „Terror-Test“, wie er schließlich von der Beschäftigten der Ausländerbehörde unmissverständlich genannt wurde, unter allen Umständen machen müsse, dass er nach drei Monaten über die Ergebnisse informiert werde und dass er dafür zu einem gesonderten Termin erscheinen müsse. Abbas tat, wie ihm geheißen. An diesem Tag wurde er zu einem separaten Raum geführt, wo ihn ein junger Mitarbeiter erwartete, der ihn fragte, ob er gut Deutsch spreche. Abbas bejahte. Ansonsten hätte die Möglichkeit bestanden einen Dolmetscher mitzubringen – auf eigene Kosten – oder eben einen Bekannten, der gut Deutsch spricht. Obwohl Abbas selbst flüssig Deutsch spricht, verstand auch er nicht alle Formulierungen. Eine Frage blieb für ihn inhaltlich unklar, woraufhin er bei dem jungen Mitarbeiter nachfragte. Dieser verweigerte ihm jegliche Auskunft. Er dürfe diesbezüglich keine Informationen weitergeben. Also füllte Abbas den Test aus, so gut er konnte. Je mehr der gefühlten 200 Fragen er beantwortete, desto lächerlicher erschien ihm der Test. „Sie wollten ernsthaft wissen, ob ich Kontakt zu Osama bin Laden habe,“ erzählt Abbas und lacht ungläubig. Die Fragen hätten sich aber nicht nur auf islamische, sondern auch auf christliche und andere „extremistische“ Gruppen bezogen. Es wurde gefragt, ob er irgendwelche Kontakte zu jenen Gruppen pflege oder sich schon jemals über solche mit anderen Personen unterhalten habe und wenn ja mit wem. „Es gab bei diesen Fragen Gruppen, von denen ich noch nie in meinem Leben gehört habe, das war ganz komisch. Sie wollten auch wissen, ob ich irgendwann in anderen arabischen Ländern, außer in Saudi-Arabien gewesen bin, und weshalb ich dort gewesen bin und mit wem.“

Derartige Fragen machen deutlich, dass der Gesinnungstest ein Instrument des präventiven Sicherheitsapparates ist und ein erneuter Versuch verdachtsunabhängige Kontrollen in der Bevölkerung durchzusetzen. Darauf machten vor allem der Flüchtlingsrat in NRW (Nordrhein-Westfalen) und die Studierendenvertreter (AStA) der Uni Münster aufmerksam, die, nachdem ihnen der Gesinnungstest zugespielt wurde, antidiskriminierende Kampagnen initiierten und den „geheimen Fragenkatalog“ aus NRW in der Münsterschen Studierendenzeitung Semesterspiegel abdruckten (3). Mensch lese und staune: „Haben Sie sich außerhalb Deutschlands jemals an politisch, ideologisch oder religiös motivierten Gewalttätigkeiten beteiligt oder dazu aufgerufen?“ oder „Haben Sie an einer Spezialausbildung (Gebrauch von Sprengstoffen oder Chemikalien, Kampfausbildung, Flugausbildung, Lizenz für Gefahrguttransporte usw.) teilgenommen?“ Ob die Befragten oder ihre Dolmetscher verstehen was mit einer „Lizenz für Gefahrguttransporte“ gemeint ist, bleibt offen. Auf der Hand liegt aber, dass wohl keiner der Befragten so naiv sein dürfte derartige Fragen, sofern er/sie sie inhaltlich begreift, zu bejahen. Erst recht nicht, wenn die Befragten tatsächlich an solchen Spezialausbildungen teilgenommen haben. Anders verhält es sich bei Fragen wie beispielsweise der, ob der Befragte künftig mit deutschen Sicherheitsdiensten zusammenarbeiten wolle. Abgesehen davon, dass sich bei dieser Frage ImmigrantInnen angesprochen fühlen könnten, die sich von der Zusammenarbeit mit der Regierung bestimmte Vorteile erhoffen, wird hier eine andere Sache vollständig ausgeblendet: nämlich dass für deutsche StaatsbürgerInnen, die Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten strafbar ist. Die hier zugrunde liegende Logik ist die des nationalen Ausländerrechts: Nicht-Deutschen widerfährt eine grundsätzlich andere Behandlung als Deutschen, die sich als solche ausweisen können.

„Wo ist denn deine Bombe?“

Im Sommer 2008, als in Münster bereits 450 Leute befragt worden waren, reichte der marokkanische Student Mourad Qourtas, der selbst Vorstand der Ausländischen Studierendenvertretung (ASV) ist, Klage gegen den Gesinnungstest ein. Er fühlte sich, nur weil er aus einem bestimmten Land komme, diskriminiert. Ein Präzedenzfall, der zumindest, innerhalb von NRW, für Aufsehen sorgte. Die Rektorin der Uni und der Ausländerbeauftragte wurden von dem Fall unterrichtet und stellten sich hinter den Kläger. Aber es gab nicht nur Unterstützung für Mourad. Von manchen Kommilitonen kamen Sprüche wie: „Wo ist denn deine Bombe?“ Dass Privatpersonen so mit ihm umgehen, daran hätte er sich schon gewöhnt, sagte Mourad damals. Aber dass auch der Staat so agiere, hätte ihn überrascht. Studierende des AStA forderten die Landesregierung schließlich auf, den Gesinnungstest abzuschaffen und die bislang erhobenen Daten unverzüglich zu löschen. Die Landesregierung entgegnete den Forderungen mit dem Verweis auf äußere Zwänge: Der Test werde im Rahmen des Schengen-Abkommens durchgeführt, wonach Menschen aus „Gefährder-Staaten“ bei der Einreise überprüft werden müssen. Die Landesregierung enthüllte aber noch ein viel interessanteres Detail: Die Befragung diene nicht allein der Terrorabwehr, sondern auch dazu, herauszufinden, ob sich in Deutschland lebende Ausländer in „Problemstaaten“ aufgehalten haben. Sei dies der Fall, reiche dieser Umstand aus, jene Personen aus Deutschland auszuweisen. Der Gesinnungstest als neues Mittel zum Abschiebe-Zweck? Tatsächlich werden die TeilnehmerInnen des Tests in der „Belehrung über die Rechtsfolgen“ ausdrücklich darauf hingewiesen, dass falsche oder unvollständige Angaben zur Ausweisung führen können. Dass bejahende Angaben ebenfalls zur Abschiebung führen können, wird in der Belehrung unterschlagen.

Die Aussage der NRW-Landesregierung deckt sich mit solchen von sicherheitspolitischen Think Tanks wie dem Londoner IISS (Internation Institute for Strategic Studies), die sich mit Fragen der Migration beschäftigen und beispielsweise der Ansicht sind, dass der Migrationsdruck die innere Sicherheit und Stabilität von Zielländern stärker gefährde als militärische und terroristische Bedrohungen. Zu dem hier entworfenen Bedrohungsszenario für „gesellschaftliche Sicherheit“, also dem kollektiven Bedürfnis nach Homogenität und kultureller Identität, zählt u.a. auch die Betätigung von MigrantInnen als Drogenkuriere, Transporteure von tropischen Krankheiten und Aktivisten von kriminellen Organisationen.

Tatsächlich erscheint im Zusammenhang mit dem Gesinnungstest das Argument des Migrationsdrucks, der durch Abschiebung gelöst werden soll, logischer als das der Terror-Prävention. Denn Terroristen mit einer Sicherheitsprüfung zu ködern, scheint ein nicht von Erfolg gekröntes Unternehmen zu sein. Wie die Terrorfahndung der deutschen Marine, die im Rahmen der Operation Enduring Freedom am Horn von Afrika mit einer einzigen Fregatte ein Gebiet des Indischen Ozeans vor Terroristen schützen sollen, das achtmal so groß ist wie die Bundesrepublik, ist auch das Einfangen von Terroristen durch die Sicherheitsprüfung eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Mit falschen und vor allem unvollständigen Angaben MigrantInnen abzuschieben, scheint dem gegenüber um einiges einfacher zu sein. Ob es tatsächlich bereits zu Abschiebungen in Folge des Gesinnungstests gekommen ist, gilt es noch herauszufinden.

Der Gesinnungstest erreichte aufgrund der gerichtlichen Auseinandersetzung in NRW schliesslich auch die Bundesebene. Aus einer Anfrage der Partei Die LINKE im Bundestag geht hervor, dass sogar Kinder, „gemäß ihres Entwicklungsstandes“ geprüft werden können. Während das Thema von den deutschen Medien, bis auf wenige Ausnahmen, gekonnt ignoriert wird, gab das Verwaltungsgericht Münster im Oktober 2009 dem Kläger Mourad Qourtas Recht. Die Begründung: Der Fragebogen sei wegen einer Formalie in seiner jetzigen Form rechtswidrig. Auf dem Test fehle der Hinweis auf die Rechtsgrundlage. „Dem Kläger wurde nicht erklärt, warum er diesen Fragebogen ausfüllen soll“, erläutert der Gerichtssprecher Michael Labrenz das Urteil. Die Behörden seien nun aufgrund des Urteils angehalten, die erhobenen Daten zu vernichten – sofern dies von den Betroffenen beantragt würde. Ein formaler Fehler, und nicht der Inhalt, waren für das Gericht ausschlaggebend. Bis auf Weiteres dürfen die Testbögen in NRW nicht mehr eingesetzt werden. Wird aber die notwendige Klausel nachträglich in die Prüfung eingebaut, kann der Gesinnungstest in die zweite Runde gehen. Im Jahr 2008, als Mourad geklagt hat, mussten sich allein in NRW 13.374 Personen einem solchen Gesinnungstest unterziehen. Trotzdem konnte die Landesregierung in Folge nicht nachweisen, dass sie mit Hilfe des Erlasses so genannte Terrorverdächtige aufgespürt hat. Verdächtig macht sich bei derartigen Instrumentarien darum vor allem die Regierung, die hier ohne Kontrolle des Parlaments und unter Ausschluss der Öffentlichkeit derartige Maßnahmen beschliessen und durchführen kann.

„We are the media“

Eigenen Berechnungen des Faltblattes „Migranten in Leipzig 2009“ (4), bei dem LeipzigerInnen mit Migrationhintergrund u.a. nach Ländern aufgeschlüsselt aufgelistet werden, handelt es sich um insgesamt 3.293 Menschen, die sich dem Gesinnungstest in Leipzig unterziehen müssen. Laut der offiziellen „Ausländerstatistik“, wäre das jeder 14. Mensch mit Migrationshintergrund. Das Beispiel von Mourad Qourtas hat deutlich gemacht, dass das Generalverdacht-Instrumentarium zum Einsatz kommt – solange nicht dagegen geklagt wird. Möglichkeiten dazu, haben alle Betroffenen. Studierende können sich über ihre Studierendenvertretung (z.B. RAS – Referat Ausländischer Studierender der Universität Leipzig) einen Rechtshilfeschein besorgen, mit dem sie eine kostenlose Rechtsberatung in Anspruch nehmen können. Der RAS schreibt auf der Homepage des StudentInnenrats ausdrücklich, dass er es sich zum Ziel gesetzt hat „die Interessen der ausländischen Studierenden gegenüber den jeweiligen Stellen, Ämtern und Behörden zu vertreten“ (5). Nicht-StudentInnen können sich bei der Roten Hilfe melden, wo Rechtsfonds für Menschen eingerichtet sind, die sich den Rechtsbeistand nicht leisten können.

Aber es gibt auch andere Alternativen. Massenboykotts der Betroffenen beispielsweise, eine Option, die allerdings hohes Organisationsvermögen voraussetzt. Eine andere Möglichkeit wäre es, eine Petition zu schalten. Dass diese von 50.000 Menschen in den ersten drei Wochen unterzeichnet wird – eine Voraussetzung dafür, dass der so genannte Petent im Parlament angehört wird – ist nur möglich, wenn ausreichend viele Menschen über den Test informiert werden. Die Medien haben ihre Möglichkeit eine kritische Öffentlichkeit durch Information zu schaffen, bislang versäumt oder zumindest nicht einmal hinreichend ausgeschöpft. Stattdessen werden in der Mehrzahl der Texte, die MigrantInnen behandeln, weiterhin munter islamische Themen aufgegriffen, die in der Regel mit Terror-Themen verknüpft werden. Eine Medien-Strategie, die sich in der post-9/11-Ära bewahrt hat und starke Ressentiments gegenüber Muslimen in der Bevölkerung ausgelöst hat. „We the media“ titelte Dan Gillmor 2004 sein Buch über Graswurzel-Journalismus. In diesem Sinne sollten wir uns nicht auf die Informationsverbreitung massentauglicher Medien verlassen, sondern unsere eigenen Kanäle anzapfen, wichtige Informationen wie diese zu streuen. Aktiv werden müssen aber in erster Linie die Betroffenen selbst. Was wir tun können? Sie ermutigen und sie über ihre Rechte aufklären.

Fünf Monate, nachdem Abbas den Gesinnungstest abgelegt hatte, führte ihn sein Weg erneut zur Ausländerbehörde. Diesmal musste er seine Fiktionsbescheinigung verlängern lassen, die an diesem Tag auslief. Doch die Behörde sah sich nicht befugt die Verlängerung der Fiktionsbescheinigung auszustellen. Die Ergebnisse der Sicherheitsprüfung lägen noch nicht vor, so ein Mitarbeiter. Erst wenn die Ergebnisse es erlauben, könne eine Verlängerung ausgestellt werden. Abbas verwies darauf, dass die Mitarbeiterin der Ausländerbehörde ihm damals gesagt habe, dass die Ergebnisse bereits nach drei Monaten einträfen, was nicht geschehen sei. Das sei bedauerlich, teilte mensch ihm mit, doch ändere nichts an der Tatsache, dass er seine Fiktionsbescheinigung nicht verlängern lassen könne. Abbas solle wiederkommen, wenn sie auslaufe. „Gibt es denn noch eine Bescheinigung, die den Bescheid der Fiktionsbescheinigung weiter in die Länge zögert? So etwas wie eine Hyperfiktionsbescheinigung?“ frage ich Abbas, als er mir von seiner Odyssee erzählt und muss unweigerlich grinsen. „Schau sie dir mal an,“ sagt Abbas und streckt mir die Fiktionsbescheinigung hin, als wäre sie die Antwort auf meine Frage. Dann ergänzt er: „Sie sieht genauso aus wie ein Abschiebe-Papier. Genauso. Nur, dass beim Abschiebe-Papier ein roter Strich quer durch das Dokument geht“. Ein roter Strich, der dem Warten ein jähes Ende setzt. Ein roter Strich auf einem Papier, der entscheidet wie ein Mensch zu leben hat. Ein roter Strich, der auf wundersame Weise die Verbindungslinie zwischen „Fiktionsbescheinigung“ und „Terrortest“ sein könnte.

(Klara Fall)

 

(1) Ein Oxymoron  (griechisch oxys, „scharf(sinnig)“, und moros, „dumm“) ist eine rhetorische Figur bei der eine Formulierung aus zwei gegensätzlichen, einander (scheinbar) widersprechenden oder sich gegenseitig ausschließenden Begriffen gebildet wird. Das Wort „Oxymoron“ selbst ist bereits ein Oxymoron. Der innere Widerspruch eines Oxymorons ist gewollt und dient der pointierten Darstellung eines doppelbödigen, mehrdeutigen oder vielschichtigen Inhalts, indem das Sowohl-als-auch des Sachverhaltes begrifflich widergespiegelt wird.

(2) Dazu zählen alle Menschen aus Afghanistan, Algerien, Bahrein, Indonesien, Irak, Iran, Jemen, Jordanien, Katar, Kolumbien, Kuwait, Libanon, Libyen, Marokko, Nordkorea, Oman, Pakistan, Philippinen, Saudi-Arabien, Somalia, Sudan, Surinam, Syrien, Tunesien und den Vereinigten Arabischen Emirate.

(3) Der gesamte Gesinnungstest kann mensch auf folgender Seite herunterladen: semesterspiegel.uni-muenster.de/index.php?option=com_content&view=article&id=60:ssp-383-erschienen&catid=36:pdfs

(4) Das Faltblatt der Stadt Leipzig gibt es zum download unter : www.leipzig.de/imperia/md/content/18_auslaenderbeauftragter/statistik/lz_fb_migranten.pdf

(5) Referat Ausländischer Studierender der Universität Leipzig: www.stura.uni-leipzig.de/1322.html

Schafft ein, zwei, viele Erwerbslosentheater!

Stichworte wie „Hartz IV“, „1-Euro-Job“ oder „zweiter Arbeitsmarkt“ dürften bei den meisten Leuten eher negative Assoziationen hervorrufen. Nicht ohne Grund denkt mensch da an Erwerbslose, die zum Laubharken in öffentlichen Grünanlagen abgestellt werden, wilde Plakatierflächen säubern dürfen oder bspw. unter dem Namen Bürgerdienst LE (siehe FA!#24) in Uniformen gesteckt und als Aushilfspolizisten auf Streife geschickt werden. Aber zumindest in Teilen der Institution ARGE scheint man mittlerweile erkannt zu haben, dass reine Beschäftigungstherapie wenig zur angestrebten Wiedereingliederung der Erwerbslosen in den ersten Arbeitsmarkt beiträgt. Sogar Kunst kann im Rahmen von AGH-Maßnahmen (1) entstehen – Theater zum Beispiel. Solche Ausnahmen von der schlechten Regel sind weniger ungewöhnlich, als es scheinen mag. Allein in Leipzig laufen derzeit fünf von der Arbeitsagentur unterstützte Theaterprojekte, an denen gut 80 Erwerbslose teilnehmen.

Who is who?

Klären wir erst mal die großen W-Fragen: Wer macht hier wo was, warum und wozu? Die eine Seite bilden dabei die einzelnen Projekte und deren Träger. Da wäre z.B. der Eutritzscher Geyserhaus e.V. (als freier Träger im Kinder- und Jugendbereich auch für die Betreuung von anderen ARGE-Maßnahmen zuständig), dessen Theaterprojekt Faule Haut nun schon im dritten Jahr läuft. Ebenfalls in der dritten Runde befindet sich derzeit das Projekt Theater am Kanal der Agricola-Institut GmbH. Schon die vierte Maßnahme führt, in Kooperation mit der VILLA-Betriebsgesellschaft mbH, die Theatergruppe DramaVision (siehe FA! 33) durch. Im selben Haus probt und arbeitet zeitgleich auch die Figurentheatergruppe Xp3rim3nt 1 1/4. Als weiterer Träger ist in diesem Jahr der Mischhaus e.V. dazugekommen, dessen Kunst- und Sozialwerkstatt gezielt auf die Interessenlage der Arbeitsagentur (und die entsprechenden Geldmittel) hin konzipiert wurde.

Das Wer und Wo wäre damit geklärt – widmen wir uns also der Frage nach dem Warum und Wozu, nach Motiven und Zielen der beteiligten Instanzen, allen voran der Arbeitsagentur als zentralem Akteur. Diese hat beim Erwerbslosentheater nun nicht einfach ihre kulturelle Ader entdeckt. Die aus solchen „kreativen“ Maßnahmen folgende Imageverbesserung nimmt das Amt als Bonus allerdings gerne mit – auch daraus dürfte sich die vor allem in der Chefetage der Leipziger ARGE gepflegte theaterfreundliche Haltung erklären. Dem steht bei den  Arbeitsvermittler_innen das Interesse zur Seite, die eigenen „Klienten“ nicht unnötig zu dequalifizieren – die Theatermaßnahmen dienen dazu, die eigene Angebotsvielfalt zu erhöhen und auch solchen Erwerbslosen Beschäftigung anbieten zu können, die künstlerisch höher gebildet und/oder kreativ veranlagt sind, denen man einförmiges Unkrautzupfen folglich nicht zumuten will.

In erster Linie verfolgt das Amt also auch hier das übliche Ziel, die Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt zu reintegrieren. So sollen die Teilnehmer_innen wieder an Verbindlichkeiten wie pünktliches Erscheinen und Entschuldigung im Krankheitsfall gewöhnt werden. Auch werden Verwaltungs- und sozialpädagogische Betreuungsaufgaben an die Projektträger ausgelagert, was eine erhebliche Entlastung für die ARGE darstellt. Über die geforderte Teilnehmerbeurteilung werden zudem persönliche Daten der Erwerbslosen (vorhandene Qualifizierungen, Begabungen und allgemeine Arbeitseinstellung) für das Amt erhoben, die von diesem selbst nicht erschlossen werden könnten. Die theaterpädagogische Betreuung soll den Zielvorgaben der ARGE nach u.a. dazu dienen, Selbstbewusstsein und Auftreten der Erwerbslosen und damit ihre Chancen bei Bewerbungsgesprächen zu verbessern.

Die künstlerischen Inhalten, die produzierten Stücke selbst sind für die meisten Bürokrat_innen dagegen nur als Mittel zum Zweck interessant. Positiver Nebeneffekt dieser Ignoranz ist immerhin, dass den diversen Theaterprojekten in ihrer kreativen Tätigkeit weitgehend freie Hand gelassen wird und so auch sehr kritische Äußerungen zur Realität der Institution ARGE auf die Bühne kommen.

Für die Träger dagegen sind die Theaterprojekte nicht nur eine Möglichkeit, sich in der öffentlichen Wahrnehmung zu profilieren, sondern sich auch der ARGE als verlässliche Partner anzudienen. Eben das ist für viele Einrichtungen überlebenswichtig, bekommen sie dadurch doch nicht nur praktisch kostenlose Arbeitskräfte, sondern auch zusätzliche finanzielle Mittel vom Amt. Ohne solche Unterstützung müssten einige soziokulturelle Zentren in Leipzig schlicht dichtmachen.

Dabei können die verschiedenen Einrichtungen auf ganz verschiedenem Wege zum Theater kommen. Im Fall der Gruppe DramaVision ging die Initiative von dem Dramaturgen und Theaterpädagogen Matthias Schluttig aus, der schließlich in der VILLA einen geeigneten Träger fand, um 2005 das erste Erwerbslosentheater in Leipzig auf die Bühne zu bringen. Dagegen entstand beim Agricola-Institut die Idee eines eigenen Theaterprojekts daraus, dass im Rahmen des Aus- und Weiterbildungsbetriebes auch Bühnenkulissen gebaut wurden. Hier suchte man sich also einen Theaterpädagogen, um quasi ein passendes Stück zu den Kulissen zu inszenieren. Diesen verschiedenen Ausgangspunkten entsprechen auch in ihrer künstlerischen Qualität sehr unterschiedliche Ergebnisse.

Blick von unten

Die beteiligten Erwerbslosen sollen dabei nicht vergessen werden. Die jeweiligen Gruppen sind anfänglich meist kaum mehr als ein bunter Haufen von Anfänger_innen, Laien mit Theatererfahrung und (ehemaligen) Profis, von irgendwie am Theatermachen Interessierten oder auch gänzlich Uninteressierten, die nur aufgrund des von ARGE-Vermittler_innen ausgeübten Drucks oder des zusätzlichen Verdienstes dabei sind.

Das sind nicht gerade günstige Startbedingungen für einen produktiven gruppendynamischen Prozess, wie ihn Theaterarbeit im besten Fall darstellt. Künstlerischer Anspruch (sofern vorhanden) und institutioneller Rahmen gehen also nicht reibungslos zusammen. Denn die Schwierigkeiten der Theaterarbeit mit Laien potenzieren sich natürlich, wenn mensch nicht nur unausgebildete, sondern auch unmotivierte Schauspieler_innen zu vorzeigbaren Leistungen bringen soll. Mangelnde Motivation macht es auch schwierig Kontinuität aufzubauen, und darunter leidet wiederum die Qualität. Nicht umsonst verzeichnet z.B. das Theaterprojekt des Agricola-Instituts eine Abbrecherquote von knapp 50%. Und so verständlich das Bedürfnis ist, die ARGE-Vorgaben zu erfüllen um die finanzielle Förderung nicht zu gefährden, so unsinnig ist es andererseits, wenn etwa der Hauptdarsteller eines Stücks wegen wiederholten Zuspätkommens gekündigt wird (wie beim Theater des Mischhaus e.V. einen Tag vor der Premiere geschehen) – immerhin wird damit auch die bereits investierte Arbeit zunichte gemacht.

Anders bei DramaVision, wo ein zum Großteil aus Teilnehmer_innen früherer Projekte gebildetes stabiles Ensemble entstanden ist. Motivierte Mitwirkende, die zudem schon über Theatererfahrung verfügen, ermöglichen weitgehend selbständige Arbeit an mehreren Stücken gleichzeitig, ein Umstand, der diese Gruppe auch künstlerisch auszeichnet. Es wäre den Leiter_innen der einzelnen Erwerbslosen-Theaterprojekte also generell größerer Mut bei der Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber der Arbeitsagentur anzuraten – dies würde auch der Qualität der eigenen Arbeit nur dienlich sein.

Dabei sind sie natürlich auf das (längst nicht selbstverständliche) Wohlwollen der jeweiligen Sachbearbeiter_innen angewiesen. Dabei können gerade die „unkonventionellen“ Theaterprojekte einen realen Zugewinn an Selbstbewusstsein und Kompetenzen, Erfahrungen und persönlicher Reife bedeuten, also womöglich auch im Sinne der ARGE mehr erreichen als bloße Beschäftigungstherapie. Mehr noch: Eine gute Theaterarbeit kann Lernprozesse anstoßen, die nicht nur dafür taugen, die eigene Haut möglichst gewinnträchtig zu Markte zu tragen. Theater und lebendiges, überzeugendes Schauspiel braucht schließlich mehr als das widerspruchslose Erledigen von Vorgaben – es erfordert die Auseinandersetzung mit sich selbst, das Einbringen und Austauschen eigener Erfahrungen, Kommunikation und vielfältige Aushandlungsprozesse zwischen den Teilnehmer_innen. Auch um solche Lernprozesse zu ermöglichen, wäre es nötig sich nicht umstandslos den Vorgaben der ARGE zu beugen, sondern solche Theatermaßnahmen als (wenn auch prekäre) Freiräume zu begreifen, die nach ihren eigenen (von allen Beteiligten mitbestimmten) Regeln funktionieren. Das setzt natürlich voraus, dass es Trägern und Projektleiter_innen um mehr geht als nur den Zugriff auf staatliche Finanzmittel.

Anschauen!

Trotz aller Reibungsverluste, die zwischen Kunst und institutionellem Rahmen auftreten, ist es beachtlich, was das Leipziger Erwerbslosentheater in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Es ist eben die besondere Möglichkeit des Theaters, Öffentlichkeit herstellen, Geschichten erzählen zu können, ein Publikum zu berühren. Vielleicht ist dies einer der letzten Orte, wo ein politisches Theater, das diesen Namen verdient, noch stattfinden kann. Ein Theater, das soziale Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern ein stückweit auch real verändert, das nach Innen Freiräume zur Selbstentfaltung schafft und nach Außen zur Selbstermächtigung anregt.

Es dürfte also lohnen, sich das bunte Programm der Ensemble im Sommer mal genauer anzuschauen – umso mehr, da die Zukunft der Erwerbslosentheater eher ungewiss aussieht. Der Etat der Bundesagentur für Arbeit weist riesige Löcher auf und die schwarz-gelbe Regierung plant massive Einschnitte gerade bei Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen. Ob wir also gerade den letzten großen Sommer des Leipziger Erwerbslosentheaters erleben, bleibt abzuwarten. Bis dahin lautet die Parole: Erwerbende und Erwerbslose aller Länder, auf ins Theater!

(justus & clov)

 

(1)  AGH heißt aus dem Amtsdeutsch übersetzt „Arbeitsgelegenheit“. Die AGH MAE (Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung), volkstümlich auch „Ein-Euro-Job“ genannt, ist dabei die unterste Stufe in der Pyramide staatlich gestützter Teil- und Vollzeitjobs, deren höchste Stufe die AGH Entgelt darstellt, bei der 1400,- Euro brutto monatlich verdient werden können.

WENDLAND 2010 – Widerstand der Schule macht

Optimismus ist hierzulande ja ein teures Gut geworden. Stattdessen durchherrscht die Köpfe Angst, Zynismus und Verzweiflung bei dem Gedanken an die Zukunft. Alle Köpfe? Nein – es regt sich Hoffnung. Ein kleiner Archipel, von der Industrialisierung weitestgehend unberührt, leistet Widerstand. Im unbeugsamen Wendland hat der Optimismus dieser Tage neuen fruchtbaren Boden gefunden, auf dem der Glaube an bessere Verhältnisse gedeihen kann. Die Wiedererweckung der Anti-AKW-Bewegung aus dem Schlummer falscher Kompromisse ist mehr als nur eine Machtbedrohung für die schwarz-gelbe Koalition, es ist ein Lehrstück in Sachen entschlossenen Widerstands, das Schule machen wird.

Denn der Erfolg der diesjährigen Anti-Castor-Proteste lag weniger darin, den Castor-Zug um xy-Stunden zu verzögern und damit die Transportkosten exorbitant zu verteuern, nicht so sehr in der Ver­stetigung der einzelnen Initiativen, auch nicht in dem breiten und positiven medialen Echo. Nein, es waren diese beiden denkwürdigen Nächte vom 7. zum 8. und vom 8. zum 9. November, an denen es schien, als käme die gesamte Polizeimaschinerie zum Erliegen und die Allmacht des Staates bekäme Risse im Angesicht dieses bunten Haufens von Entschlossenen, der sich da mit Strohsäcken, Kerzen und körperlicher Entbehrung gegen die Ent­schei­dungs­vormacht der verantwortlichen PolitikerInnen stemmte. Es war die Wirkmacht dieser kollektiven Aktion, die jedem und jeder rund um den Globus zu sagen schien: Da geht doch noch was!

Doch von vorn. Den diesjährigen Castor­protesten ging eine bislang beispiellose Mobilisierung voraus, wie die unzähligen Kampagnen, Vortragsreihen, Trainings und Work­shops belegen, die die unterschiedlichen Initiativen bundesweit veranstalteten. Freies Radio Wendland sendete 24h rund um die Uhr, während der Castor rollte und wurde vom Netzwerk der Freien Radios bundesweit geschaltet. Ein Heer von JournalistInnen bereiste das beschauliche Land, allein die taz setzte 10 Korres­pon­­den­tIn­nen ein, um den hauseigenen Online-Ticker zu versorgen. Überhaupt: Die Rolle der neuen Medien ist bei der Vernetzung kaum noch wegzudenken und Informationen werden durch sie wieder zu einer ernstzunehmenden Waffe*. Unzählige namenlose BeobachterInnen speisten die Internet­seiten während der Reise des Castorzuges mit konkreten Daten über Zeit, Geschwindigkeit, Route und jeweiligen Standort. Das hat diesmal auch über die Landesgrenzen hinaus funktioniert. Erstmalig konnten AktivistInnen aus Frankreich den Zug schon wenige Stunden nach seinem Start für mehrere Stunden stoppen.

Machtlose Polizei

Trotz der zahlenmäßigen Unterlegenheit – bei optimistischen Schätzungen kommt man nicht substanziell über 10.000 „im Feld“ Aktive hinaus, denen ca. 16.000 eingesetzte plus nochmal 4.000 nachgezogene BeamtIn­nen entgegenstanden – gelang es diesmal durch eine einzigartige Ver­netzung der verschiedenen Aktionen seit langem wieder, Schiene und Straße tatsächlich zu erobern. Auch weil die Bewegung einen spürbaren Strategiewechsel vollzogen hat. Statt sich aus Angst vor Unterwanderung und Spionage durch Zivilbeamte und Spitzel in den verschiedenen Aktionsformen und -gruppen abzugrenzen, setzte mensch auf verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und freien Informations­fluß. Statt in der Ecke zu tuscheln, wurde offen pleniert, statt heimlich zu üben, wurde gemeinsam öffentlich trainiert. Die Initiative Castor?Schottern! (siehe auch S. 21f) konnte durch das offene Aussprechen der Taktik und Ziele der Schotter-Aktion im Vorfeld ihre Kampagne derart popularisieren, dass es erstmals gelang, die Kräfte, die sich bisher immer in dezentral agierenden Bezuggruppen aufgerieben hatten, zu bündeln. Das zwang die Polizei, die sonst weiträumig stattfindende Abschirmung der Gleise und der Straßen ins Lager schon frühzeitig aufzugeben und sich stärker auf die Schot­terIn­nen zu konzentrieren. Die Taktik, dabei auf Festnahmen zu verzichten und stattdessen die SchotterInnen mit harter körperlicher Gewalt abzuschrecken, ist letztlich völlig schiefgegangen. Über tausend verletzte AktivistInnen und zahlreiche Pres­sebilder von Polizeigewalt, ledig­lich 12 Ingewahrsamnahmen über den ganzen Tag, die allesamt einer richterlichen Prüfung nicht standhielten, und nicht eine einzige Festnahme waren ein unmißverständ­licher Beweis der Gewaltlosigkeit des Widerstandes. Allein ein abgebrannter Einsatzwagen – vermutlich von den eigenen Leuten kontrolliert angezündet und dann schnell wieder gelöscht – mußte als Mittel der Propaganda herhalten. Das hat auch die Moral der eigenen Truppe nachhaltig untergraben, die ohnehin unter viel zu langen Einsatzzeiten, Unlust und dem bewußten Gefühl leidet, im Wendland nicht gerade als „guter Freund und Retter“ aufzutreten. Es war deshalb auch Ausdruck der Resignation, dass die Einsatzleitung der Polizei auf eine frühzeitige Räumung der Sitzblockaden verzichtete und sich lange darauf beschränkte, den Zulauf zu den Blockaden zu hemmen. Man spielte auf­grund der bereits angelaufenen Verspätung lieber auf Zeit, anstatt wie etwa 2001 in einem letzten Kraftakt den Transport hektisch durchzupeitschen und setzte dagegen bei den Räumungen auf Deeskalation und Verhandlung. Ein Umstand, der der Entschlossenheit des Widerstandes sicher entgegenkam und so ungewollt die enormen Verspätungen mit bewirkte. Tatsächlich war es aber der Mut, den gewaltlose Aktionen benötigen, die Vielfalt und Kreativität des Widerstandes, der die BeamtIn­nen in ihrem Handeln beeinflußte.

Der Staat in der Defensive

Die wiedergeborene Anti-AKW-Bewegung hat überzeugt. Beeindruckt zeigt sich nicht nur die bürgerliche Presse und der sympathisierende Teil der Bevölkerung, auch innerhalb der Polizei wächst der Widerstand gegen derartig unzumutbare Mülltransporte. Anders ist die teilweise stoisch anmutende Gelassenheit der Einsatzführung im Blick auf die Sabotage der eigenen Logistik nicht zu erklären. Die lästigen Traktorenblocka­den“ der Bauern hätten durch Festnahmen und Beschlagnah­mung relativ einfach beseitigt werden können. Hier war die Staatsmacht auch mal kreativer. In den Neunzigern bspw. sprangen kurzerhand Fallschirmkommandos über den einschlägig bekannten Höfen ab und legten die Trecker durch das Zerstechen der Reifen lahm. Doch statt­dessen berichten die Bauern dieser Tage darüber, wie ganze Einsatzzüge ratlos wieder umkehrten, während der zivile Verkehr ungehindert fließen konnte. Vielen BeamtIn­nen fehlte offensichtlich die Lust und auch der Druck von oben, sich ernsthaft auseinanderzusetzen. Die großen Sitzblockaden wurden verhältnismäßig zurückhaltend geräumt, es gab diesmal auch keine Camp-Kesselungen oder Festnahme-Exzesse.

Ob es der Regierung, dem Innenministerium und der Obersten Leitung der Bundespolizei gelingt, an diese erlöschende Lunte neues Feuer zu legen, ist angesichts der positiven Presseresonanz, die die Proteste erzielten, und deren nachhaltig gewaltlosem Auftreten, stark zu bezweifeln. Von daher ist derzeit auch völlig unklar, mit welcher Strategie bei weiteren Transporten den Protesten überhaupt effektiv entgegengewirkt werden kann. Um zu verhindern, dass die erfolgreichen Protestaktionen weiter an Zulauf gewinnen, bräuchte man dringend eine starke Abschreckungswirkung. Die wird sich aber nur dann erzielen lassen, wenn die Polizei dementsprechend martialisch auftritt, was innerhalb der Beamtenschaft kaum noch zu vermitteln ist und außerdem eine viel höhere Zahl an Einsatzkräften bedingen würde, was, zumindest so wie derzeit, nicht bezahlbar wäre. Es ist also sogar möglich, dass die diesjährigen Proteste ein längeres Aussetzen der Atom­mülltransporte bewirken und die Regierung stattdessen lieber neue Verträge über die Zwischenlagerung des radioaktiven Materials mit den Betreibern der Wiederaufbereitungsanlagen bei Le Hague (FR) und Sellafield (UK) aufsetzt, wo derzeit sowieso fast 3/4 des deutschen Atommülls lagert. Dass Umweltminister Röttgen dieser Tage die geplante Verklappung des radioaktiven Mülls aus dem ehemaligen Forschungsreaktor Rossendorf (bei Dresden) im fernen Majak (RU) kurzerhand wegen Bedenklichkeit der dortigen Zustände abblies, kann mensch durchaus als politisches Zeichen in diese Richtung werten. Und um so entschlossener gilt es jetzt gegen den letzten Atommüll-Transport nach Lubmin (siehe auch S. 20) aufzutreten, der für dieses Jahr noch genehmigt ist!

Unverantwortliche Politik

Das Problem der deutschen Atomenergiepolitik ist einfach zu offensichtlich. Einer­seits will man den durch die Laufzeitgarantien weiter verbilligten Atomstrom, um die hiesigen Industrien zu befeuern, ande­rerseits gibt es für den entstehenden, hochradio­akti­ven Müll keinerlei Konzept der sicheren Lagerung. Stattdessen werden die verbrauchten Brennstäbe zur wenig lukrativen Erzeugung von neuen Brennstäben und ganz nebenbei waffenfähigem Material nach Frankreich und England transportiert, und dann wird der Müll – um ein Vielfaches an strahlenden Masse angewachsen – wie­der zurückgekarrt, um in Gorle­ben letztlich in einer Betonhalle oberirdisch abgestellt zu werden, während völlig unklar ist, ob der Salzstock bei Gorleben überhaupt jemals zu einer Endlagerstätte wird. Die lokale Grafschaft, die das Schürfrecht an dem Salz besitzt und bereits in den Neunzigern ein millionenschweres Kaufangebot von Seiten des Staates abgelehnt hat, wird man zu­vor wohl erst enteignen müssen, ebenso wie die örtliche Kirchengemeinde und eine hand­voll Bauern. Die legislativen Weichen dafür hat Bundespräsident Wulff zumindest gerade im Zusammenhang mit dem neuen Atomgesetz abgesegnet. Außerdem gibt es nach dem katastrophalen Wassereinbruch in der Asse II (siehe u.a. FA!#38 Seite 1/23) wieder erhebliche Zweifel an der Tauglichkeit von Salz als Wirtsgestein überhaupt. Doch statt über die Probleme der Endlagerung des Atommülles offen zu diskutieren und alle erdenklichen Möglichkeiten auszuloten, eine vielseitige Forschung zu betreiben und die hochgiftige Müllproduktion schnellstens zurückzufahren, hat sich die deutsche Politik an Gorleben als Endlager festgebissen. Ge­gen­wärtig lagern 102 Castorbehälter, also ca. 1.000 Tonnen radioaktives Material in dem provisorischen Containerlager, das damit schon zu 25% gefüllt ist. Nimmt man den bereits wiederaufbereiteten deutschen Müll hinzu, der allein in Le Hague und Sellafield lagert, wäre das Lager jetzt schon voll. In dieser Lage ist es nicht nur grob unvernünftig sondern geradezu fahrlässig, die hochgefähr­lichen Transporte weiter quer durch die Lande zu jagen und durch längere Lauf­zeitgarantien gleichzeitig deren Menge noch zu erhöhen. Egal wieviel Geld dadurch kurzfristig zusätzlich ins Staatssäckel fließt. Die Beseitigung der verheerenden Folgen auch nur des kleinsten Transportunfalls in so einem eng besiedelten Gebiet wie Deutsch­land wären durch keinen Rettungsschirm dieser Welt finanzierbar.

Abschalten, aber sofort!

Die Anti-AKW-Bewegung muss also auch in Zukunft mit aller Macht darauf dringen, dass die unsinnigen und hochge­fährlichen Mülltransporte unterbleiben, bis es eine allseitig akzeptable Endlager-Lösung gibt, und gleichzeitig darauf beharren, dass alle AKWs umgehend abgeschaltet werden. Außerdem muss es ihr noch stärker gelingen, den Technologie-Export deutscher Firmen in den Fo­kus und Aktionsradius mit einzubeziehen, was gleichbedeutend mit der Internationali­sie­rung der Bewegung ist. Die unzähligen Mails mit Solidaritätsbekundungen aus anderen Ländern, die allein das Radio Freies Wendland über das Aktionswochenende hinweg erhielt, bezeugen, dass der erfolgreiche Pro­test hierzulande über die Grenzen hinweg Vorbild und Inspiration ist. Und Papa Staat macht es ja schon vor. Auch bei diesem Castortransport wurden französische Po­­li­zeieinheiten gesichtet, die offensichtlich „in freier Wildbahn“ Schulung in Demon­stra­­tionsbekämpfung erhielten. Ähnliches soll­te mensch auch auf der Gegenseite noch stär­ker praktizieren. Denn das Wendland die­ser Tage ist, was es ist: Eine Kulturnische des politischen Protestes, ein gewachsenes La­boratium für verschiedene Formen des non-konfrontativen, subversiven Widerstandes. Ob daraus in Zukunft eine mächtige Bür­gerbewegung entsteht ist allerdings so fraglich, wie ausgeschlossen ist, dass die der­zei­tige Anti-AKW-Bewegung Vorreiterin einer tiefergehenden Umwälzung der Verhäl­tnisse sein könnte, dafür ist der anti-atomare Konsens einfach zu klein. Sicher ist aber auch: JedeR AktivistIn, gleich welcher sozialen Bewegung, sollte ge­nau hinschauen, wie diese ‘gallischen Wendländer’ Gegenmacht organisieren. Der Erfolg lädt zum Nachahmen ein. Weiter so!

(clov)

 

* Am Beispiel der Strahlenbelastung bei der Begleitung von Castor-Transporten. War da nicht mal was? Als 1998 herauskam, dass die Castor-Behälter doch erheblich mehr abstrahlen, als die Industrie zuvor behauptet hatte, weigerte sich die Gewerkschaft der Polizei zeitweilig, die Transporte abzusichern. Über die nach wie vor bestehenden erheblichen Strahlenrisiken in der Nähe der Castorbehälter klärte eine eigens für Polizisten und Polizistinnen eingerichtete, sachlich fundierte Internetseite auf, die während der Protesttage immer wieder beworben wurde – castoreinsatz.110mb.com

Editorial FA! #32

Manch eineR hat vielleicht schon auf das Er­scheinen des neuen Feierabend! gewartet. Doch leider konnten wir aufgrund der üblichen Jahreswechselturbulenzen unseren Drucktermin im Januar nicht halten und muss­ten die Veröffentlichung um einen Monat verschieben. Trotz dieser Terminschwie­rig­keiten und dem daraus folgenden missglückten Start ins neue Jahr braucht sich aber keineR Sorgen machen. Auch 2009 wer­den wir Euch mit interessanten Informa­tionen, spannenden Themen und Geschichten, lohnenswerten Terminen und vielem mehr versorgen. Außerdem wird der Feierabend! auch endlich wieder online gehen. Die Frage ist nur: wann genau. Naja, das Warten lohnt. Lange warten musstet ihr auch auf die Weiterführung der Pro&Con­tra-Rubrik, die wir nun entlang den Fragen von Kommunen/Kommunalisierung fortsetzen. Ansonsten findet Ihr im aktuell vor­liegenden Heft thematisch wieder eine bunte Zusammenstellung. So z.B. Hinter­grün­de zum neu formierten Stadttheater, eine Nachbetrachtung der Off-Produktion „Der Subjektive Faktor“, Informationen zu den großen Sicherheitskonferenzen dieses Jahr, zum neuen BKA-Gesetz, ein weiteres Wächterhausporträt, einen Reisebericht aus Istanbul, einen Vorabdruck des neuen Buches der Leipziger Kamera und letztlich viele kleine Anekdoten, Hinweise und Tipps aus und rund um das politische Alltagsleben Leipzigs. Falls Ihr mal Lust am Schreiben verspüren solltet oder bei der Redaktionsarbeit mitwirken möchtet, schreibt einfach an unsere E-Mail-Adresse!

Als neue Verkaufsstelle begrüszen wir die vor kurzem neu eröffnete VLEISCHEREI in Plagwitz, wo mensch neben leckerem veganen Fastfood nun auch den Feierabend! kaufen & lesen kann.

In diesem Sinne, ran an die Buletten… äh, Bürger. Viel Spasz beim Lesen.

Eure Feierabend!-Redax

Globalisierungskritik goes to Hollywood

Seit sechs Jahren findet nun schon das alljährliche globalisierungskritische Filmfestival globaLE statt. Dieses geht auf das gleichnamige Filmfestival in Berlin zurück und übernahm anfänglich das Berliner Programm eins zu eins. Seit ein paar Jahren jedoch stellt das Leipziger Team ein eigenes Programm zum Thema Globalisierung zusammen.

Auch diesen Herbst werden wir wieder Filme und Dokumentationen in die Leipziger Kinos bringen. Denn nicht jeder Kinobesuch muss zwangsläufig eine seichte Berieselung mit Hollywood-Blockbustern oder experimentellen Kunstfilmen zur Folge haben. Zwar gibt es in Leipzig so einige Filmfestivals (z.B. Französische und Argentinische Filmtage, DOK), aber keines greift mit seiner Filmwahl so viele Facetten des Weltgeschehens auf wie die globaLE. Außerdem: Wer sah sich nicht schon mit der Frage konfrontiert, ob ein Besuch bei den genannten Festivals denn finanziell überhaupt machbar ist? So verlockend das Programm des kommerziellen Kinos auch sein mag, Eintritt kostet jeder Kinobesuch. Weil wir überzeugt sind, dass Teilhabe am politisch-kulturellen Leben das Recht jedes Menschen ist und nicht vom Einkommen abhängen soll, ist der Eintritt zu den globaLE-Veranstaltungen frei. Die Unterstellung, dass „was nichts kostet nichts wert ist“ gehört ja genau zu den neoliberalen Denkweisen, die im Widerspruch zur Realität stehen, wie Linux-User oder Studierende in Sachsen bei allen Vorbehalten sicherlich am besten wissen.

 

Die globaLE ist auch mehr als reines Politkino in konsumptiver Form. Im Anschluss an die Filmvorführungen bieten ReferentInnen die Möglichkeit, das Thema des Abends kritisch zu diskutieren. Sei dies nun der Zugang zu AIDS-Medikamenten, die Folgen von Massentourismus, der Kampf gegen Konzerne oder die politische Lage in der Kaffee-Region Chiapas (Mexiko): Die globaLE ist stets bemüht, dem Publikum die Verhältnisse in anderen Teilen der Welt nicht nur konsumptiv näher zu bringen. Mit externen ReferentInnen kann das Publikum diskutieren und sich so mit der Thematik des Films näher auseinandersetzen. Auch dies unterscheidet die globaLE von anderen Medien-Spektakeln. Denn eine allabendliche Portion von Desastern und Katastrophen kann sich jedeR bei der Tagesschau um 20:00 Uhr abholen und (damit sich jedeR gleich besser fühlt) im Anschluss etwas für die Opfer der Flutkatastrophe in Pakistan spenden. Da jedoch gesellschaftliche Veränderung nicht ausschließlich über das Unicef-Konto laufen muss oder alle vier Jahre denen vorbehalten ist, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, stellt die globaLE auch immer wieder Organisationen und Initiativen vor, die sich global oder vor Ort der neoliberalen Globalisierung entgegenstellen.

 

So ist Widerstand eines der immer wiederkehrenden Themen, welches von der globaLE in diesem Sommer, mit ihrem monatlichen Programm der globaLE Zwischendurch, aufgegriffen wurde. Am 15. September 2010 zeigte die globaLE den Film „Battle in Seattle“ von Stuart Townsend. Der Titel spricht für sich. Die meisten werden schon einmal von den Protesten gegen die in Seattle stattfindenden Konferenz der Welthandelsorganisation WTO vor nunmehr 11 Jahren gehört haben. Die Proteste werden heute als Startpunkt der globalisierungskritischen Bewegung bewertet. Aber wer weiß schon noch, dass sich in den Tagen vom 30 November 1999 bis zum 4. Dezember 50.000 Protestierende (1) in Seattle einfanden, um ihrem Unmut gegenüber der WTO und deren neoliberaler Politik Ausdruck zu verleihen? Im Gedächtnis geblieben sind die Ereignisse wohl vor allem durch das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen die größtenteils friedlichen Demonstranten (2). Selbst der Ausruf des Notstandes und eine Ausgangssperre konnten nicht verhindern, dass Delegierte am Betreten des Konferenzgebäudes gehindert wurden. Am Ende scheiterten die WTO-Gespräche, was nicht nur den Protesten geschuldet war, sondern auch der afrikanischen Delegation (3) und deren Verärgerung über die Green Room Meetings (4).

 

Der irische Schauspieler und Regisseur Stuart Townsend verfilmte 2007 die Ereignisse als fiktionalisiertes Hollywood-Spektakel. Der Film erzählt die Geschichte der WTO-Konferenz und der Proteste durch verschiedene Protagonisten: dem damaligen Bürgermeister von Seattle, dem Polizeichef Norm Stamper, diversen WTO-Delegierten und natürlich den Protestlern. Schon  in den Wochen und Monaten nach den Protesten gab es Kritik an der medialen Darstellung von „Seattle“. Bemängelt wurden vor allem die einseitige und verkürzte Berichterstattung über die Gewaltausschreitungen und den Vandalismus. Dass vereinzelt Scheiben zu Bruch gingen, ist unbestritten, war jedoch nur ein Teilaspekt. Und dabei Anarchisten und den Schwarzen Block in einen Topf zu werfen, entwirft ein verqueres Bild der Ereignisse. Ebenso geriet der Mythos von einer spontanen Rebellion in die Kritik, da dieser z.B. die Organisationsarbeit des Direct Action Network im Vorfeld der Proteste ignoriert (5).

 

Auch der Film „Battle in Seattle“ geriet für die Darstellung der Aktivisten in die Kritik. Denn wenn dort z.B. eine Aktivistin gezeigt wird, die die Versuchslabore ihres Vaters niederbrennt, erscheint ihr Protest gegen die WTO eher als Resultat eines Elektra-Komplexes und weniger als (eventuell berechtigte) Kritik an der undemokratischen Institution der WTO und ihrer neoliberalen Politik. So reproduziert der Regisseur, obwohl er die mediale Ausblendung der Hintergründe im Film zu thematisieren versucht, genau diese. Ebenso fehlt im Film jeglicher Verweis darauf, dass die Proteste nicht nur von Gruppen aus dem globalen Norden getragen wurden, sondern sich auch zahlreiche Gruppen aus dem globalen Süden durch das Netzwerk People’s Global Action daran beteiligten (5).

 

Zugegebenermaßen ist „Battle in Seattle“ keine Dokumentation der Ereignisse, sondern ist und bleibt ein Spielfilm. Wer sich also Unterhaltung mit einem Hauch von Globalisierungskritik wünscht, dem/der sei dieser Film wärmstens empfohlen. Doch neben seichter Unterhaltung bot die Veranstaltung auch Raum für Reflexion. Als Referentin war Friederike Habermann eingeladen, die als Teilnehmerin der Proteste etwas zu den Ereignissen erzählen konnte. Wie üblich bei der globaLE wurde im Anschluss an den Film über das Thema diskutiert. Denn der Film ließ viele Fragen offen, und eine kritische Auseinandersetzung mit der „Hollywoodisierung“ der globalisierungskritischen Bewegung ist wünschenswert und notwendig.

 

Wer die Veranstaltung verpasst oder Lust auf mehr hat, kann sich nun auf den Herbst freuen. Denn von Oktober bis Dezember findet die globaLE wieder im Wochenturnus statt. Geboten werden  Dokumentationen zu Themen wie Fabrikbesetzung, Gated Communities, Ölsand-Abbau in Kanada,  Uranmunition im Irak, Formen des Widerstands gegen den G8-Gipfel in Göteborg und Gentrifizierung in Hamburg. Wieder einmal sollen Themen kritisch beleuchtet werden, die es sonst nicht in die Schlagzeilen schaffen. Der Einsatz von Uranmunition im Ersten Golfkrieg und dessen Auswirkungen werden zum Beispiel auch der/m einen oder anderen Indymedia-LeserIn noch unbekannt sein. Und was der Abbau von Teersand in Kanada (dessen Prozess im Vergleich zu konventionell gefördertem Öl drei- bis fünfmal so viel Treibhausgase entstehen lässt) mit kapitalistischen Produktionsweisen zu tun hat, ist außerhalb von klimapolitischen Kreisen wohl wenig bekannt. Von Gated Communities haben dagegen vielleicht schon einige gehört. Jedoch ist diese Entwicklung nicht nur durch Sicherheitsrisiken bedingt. Vielmehr spiegelt sie die Realität einer Gesellschaft wieder, in der sich die mit dem nötigen Kleingeld in von Armut und Gewalt abgeschirmte Enklaven zurückziehen können. Auch der Film über die Werkschließung eines deutschen Konzerns in Mexiko und die folgende Mobilisierung der Belegschaft wirft Fragen auf, die es mit dem Publikum zu diskutieren gilt. Denn eine selbstverwaltete Fabrik in den Händen der Angestellten ist nicht frei von Problemen, auch sie muss sich der Logik des kapitalistischen Marktes beugen. Zum selben Thema gibt es auch einen Film aus Lateinamerika, wo in den Favelas von Venezuela Konzepte für die konkrete Umsetzung von der Idee der Selbstverwaltung entwickelt werden. Doch auch in Deutschland passiert so einiges: Zwei Filme, einer aus Berlin und einer aus Hamburg, fragen kritisch, wem die Stadt eigentlich gehört und wer entscheidungsberechtigt ist. Wer die globaLE aus den Jahren davor kennt, kann erahnen, dass das Team aus Ehrenamtlichen sich wieder bemüht hat, die Vielschichtigkeit der Globalisierung deutlich zu machen. Auch wenn der Fokus der globaLE10 auf dem Thema Stadt, Stadtentwicklung und Freiräume liegt, ist die diesjährige globaLE kein rein „urbanes“ Filmfestival. Denn neben Filmen wie Empire St. Pauli, Communa under construction oder RAW. Wir sind gekommen um zu bleiben wird mit umweltpolitischen und sozialen Themen die ganze Bandbreite der Globalisierung abgedeckt. Dabei wird deutlich, dass urbaner Raum, Ressourcen-Nutzung und soziale Auseinandersetzungen eng miteinander verknüpft sind.

 

Für alle, die im Detail wissen möchten, welche Filme die globaLE diesen Herbst in die Leipziger Kinos bringen wird, haben wir hier noch das Programm. Wer weiterhin auf dem Laufenden gehalten werden möchte, kann sich auch auf der Webseite www.globale-leipzig.de informieren oder in unseren Newsletter aufgenommen werden, dazu einfach eine Email an infos@globale-leipzig.de senden.

Euer globaLE-Team

 

(1) Schätzungen reichen von 40.000 bis 75.000. Siehe de.wikipedia.org/wiki/Ministerkonferenz_der_Wirtschafts_und_Handelsminister_der_WTO_in_Seattle_1999. Die Zahl 50.000 ist folgender Webseite entnommen: realbattleinseattle.org/node/70

(2) democracynow.org/2008/9/18/battle_in_seattle_with_a_list

(3) Patrick Bond: „From Seattle to Copen-hagen. Will African again block a bad deal?“ Siehe zeitschrift-luxemburg.de/?p=427

(4) Green room bezeichnet im WTO-Jargon ein besonders informelles Verhandlungsforum, das in einem unbekannten Raum und in unbekannter Zusammensetzung tagt, um problematische Fragen zu besprechen. Siehe germanwatch.org/pubzeit/z10green.htm

(5) David & Rebecca Slonit „The battle of the story of the battle of Seattle“ 2009 AK Press

Auf dem Kreuzzug der Informationsfreiheit

In immer kleineren Intervallen macht WikiLeaks mit immer spektakuläreren „Datenbefreiungen“ von sich reden und hat es mit dem letzten großen Coup vom 25. Juli 2010, der Veröffentlichung von gut 76.000 geheimen US-Dokumenten über den Afghanistan-Krieg, bis in die etabliertesten Medien geschafft. Dieser bildet nur den derzeitigen Höhepunkt des rasanten Aufstiegs der Internetplattform, die in nicht mal vier Jahren insgesamt weit über 1,2 Millionen teils sehr brisanten Dokumenten die Freiheit schenkte und dabei einigen Staub aufwirbelte.

Dabei ist WikiLeaks (engl.: (to) leak – ein Leck, etwas durchsickern lassen) erstmal nicht mehr als eine Webseite, deren erklärtes Ziel „die massenhafte und nicht auf den Absender zurückzuführende Veröffentlichung und Analyse von geheimen Dokumenten“ ist. Prinzipiell kann jede_r im Besitz von Geheimdokumenten diese dort sicher hochladen und sie werden nach eingehender Prüfung der Authentizität und Spurenbereinigung durch Spezialisten auf wikileaks.org gestellt. Nur im Falle hochbrisanter und wie bspw. im aktuellen Afghanistan-Fall (1) kriegsrelevanter Daten wird im Zweifel, ob jemand durch den Leak direkt in Leib und Leben bedroht ist, von der Veröffentlichung abgesehen. Diesem Vorwurf sieht sich das Whistleblower-Portal (2) dennoch ausgesetzt, weil WikiLeaks als höchstinvestigatives Projekt einigen Mächtigen ziemlich auf die Füße tritt. Wobei es allerdings nicht einer gewissen Ironie entbehrt, gerade von kriegsführenden Militärs der Gefährdung  ihrer Soldaten beschuldigt zu werden.

Gut organisiert?!

Doch wer steckt eigentlich hinter dieser Seite, die da plötzlich wie ein Wirbelwind auf der politischen Bühne auftaucht? Die virtuelle Plattform WikiLeaks ist Teil der (sonst noch recht leeren) „publishing entity“ sunshine press, einer unkommerziellen Nicht-Regierungsorganisation, gegründet von Menschenrechtsaktivist_innen, investigativen Journalist_innen, Informatiker_innen und anderen aktiven Menschen. WikiLeaks besteht dabei laut Selbstauskunft als freier Zusammenschluß aus „22 Leute[n], die direkt in das Projekt involviert sind“ und über 1.000 Zuarbeiter_innen aus über 60 Ländern. Öffentlich repräsentiert wird das Projekt jedoch nur durch wenige – der australische Hacker und Journalist Julian Assange, der deutsche „Sprecher“ mit dem Pseudonym Daniel Schmitt und der US-amerikanische Hacker Jacob Appelbaum wären da zu nennen. Gründer und Mastermind Assange wird in den Medien gern als „Chef“ bezeichnet, obwohl immer wieder ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß WikiLeaks nicht auf einer zentralen Hierarchie basiert.

Sinn dieser konspirativen Konstitution ist der größtmögliche Schutz der Mitwirkenden, also vor allem der Quellen, auf denen das Projekt aufbaut. Denn WikiLeaks’ einziger Zweck besteht darin, Dokumente an’s Licht der Öffentlichkeit zu bringen, die den Weg dahin aus ganz bestimmten Gründen nicht finden sollen. Journalismus in seiner radikalsten Form, wenn mensch so will. Kriterium zur Veröffentlichung ist neben dem Fakt der Geheimgehaltung die „öffentliche Relevanz“. Die ist freilich relativ, doch soll es laut Schmitt keine „Güteabwägung“ geben.

Um die Geheimhaltung gewährleisten zu können, bedarf es neben hoher technischer Versiertheit, die einige Hacker einbringen, auch einer sicheren Infrastruktur. Hilfe bekommt WikiLeaks hier u.a. in Schweden. Dort, genauer gesagt im Stockholmer Vorort Solna, stehen die Server der Firma PRQ, dessen Gründer auch schon The Pirate Bay (3) betrieben, und bieten den heißen Dokumenten eine von der Piratpartiet (4) mit Hosting und Bandbreite komplett gesponsorte und behütete Heimat. WikiLeaks hofft unter dem schützenden Mantel einer demokratischen Partei vor Razzien etwas sicherer zu sein, als bei den anderen Servern in Belgien oder Island, bzw. das Risiko besser verteilen zu können. Möglich ist allerdings ein Umzug auf den künftigen „Informationsfreihafen“ Island, wo die von WikiLeaks entscheidend mitinitiierte Icelandic Modern Media Initiative (IMMI) Mitte Juni einem Gesetzesvorhaben zum umfassenden Journalisten- und Quellenschutz zustimmte (5).

Zudem beantragte Assange Mitte August beim schwedischen Patentamt das sog. Utgivningsbevis, die formale Voraussetzung, um unter den dortigen (sehr weitreichenden) Quellenschutz für Journalisten zu fallen. Dadurch und durch Assanges kürzliche Anstellung bei der Zeitung Aftenbladet könnten die meisten rechtlichen Gefahren gebannt werden. Allerdings bedarf WikiLeaks sehr wahrscheinlich noch einer Rechtsform, oder Gerichte und Gesetzgeber nehmen sich der neuen Form von Aktivismus an, bewegt sich derzeit doch alles noch in rechtlichem Niemandsland.

Gefahr droht dem Projekt allerdings vor allem von geheimdienstlicher Seite. Ein Strategiepapier der CIA, das im März geleakt wurde, erkennt und bewertet die „Bedrohung, die WikiLeaks für die Spionageabwehr der US Army darstellt“. Und so kann sich WikiLeaks wohl schon mal auf „die Identifikation, Bloßstellung, Entlassung von oder ein juristisches Vorgehen gegen aktuelle oder frühere Insider, Informanten oder Whistleblower“ einstellen (6). Denn diese und andere geplante Aktionen drohen der Plattform nun, sollen das Vertrauen in sie oder gar sie selbst zerstören.

Solche oder ähnliche Hintergründe könnten auch im aktuellen Gewirr der Vergewaltigungsvorwürfe gegen Julian Assange vermutet werden.  Die Stockholmer Staatsanwaltschaft stellte zwei Anzeigen, die auf den Aussagen zweier Frauen beruhen. Diese wurden jedoch kurz nach ihrer Bekanntwerdung wieder zurückgezogen, dann als sexuelle Belästigung und schließlich als Vergewaltigung wieder aufgenommen. Interessant ist an solchen Vorgängen vor allem, wie sehr die interne Politik WikiLeaks von solchen Vorwürfen beeinflusst wird. Mittlerweile fordert Birgitta Jónsdóttir, WikiLeaks-Aktivistin, Mitglied der IMMI und des isländischen Parlaments sowie Vertraute Assanges, er solle sich eine Auszeit nehmen und andere die Fackel tragen lassen. Das kratzt am „Chef“ persönlich, allerdings auch an geplanten Veröffentlichungen, die sich durch die rechtlichen Querelen schon verschoben.

Völlig unpolitisch?!

Hier zeigt sich die (personelle) Angreifbarkeit des Projektes, welches durch deutlich dezentralere Strukturen, also großflächige Aufgaben- und Machtverteilung, sicherer und nützlicher wäre.

Wenn dann ein Vernehmungsprotokoll Assanges trotz mehrfach zugesicherter Geheimhaltung einem Boulevardblatt zugespielt wird, bekommt der Aktivist einen Vorgeschmack dessen zu spüren, was WikiLeaks mit anderer Menschen Daten anstellt. So wurden z.B. Namen, Adressen, Alter und Beruf von fast allen 12.801 Mitgliedern der British National Party oder 37.000 eMails der NPD der Öffentlichkeit preisgegeben. An diesem Scheideweg macht sich zwar die grundpolitische Einstellung der Beteiligten bemerkbar (es werden sichtbar Dokumente veröffentlicht, die rechtsextremen Organisationen und ihren Mitgliedern Schaden zufügen können), doch steht das Projekt damit nicht eindeutig auf der Seite der Guten. (7) WikiLeaks selbst gibt sich neutral und beteuert seine unpolitische Haltung, denn es veröffentlicht „alles, was nicht von irgendwem selbst verfasst wurde und ein echtes Dokument ist, egal ob es von links oder von rechts kommt“, sagte Daniel Schmitt in einem Interview (8). Hier kommt der tiefgreifende Idealismus der Aktivisten zum Vorschein, wenn Schmitt auf die Gefahr hingewiesen wird, unbescholtene Personen könnten durch Leaks zu Schaden kommen und er antwortet: „Wir entwickeln uns in eine Gesellschaft, in der im Internet immer mehr Informationen zu jedem vorhanden sind. Keiner weiß mehr, wie viel über einen unterwegs ist. Alle Menschen werden lernen müssen, damit verantwortungsbewusst umzugehen.“ Datenschützer sind die Leaker jedenfalls nicht, eher so etwas wie das radikale Gegenteil. „Die Gegenseite kann ja zurückleaken. Und dann gibt es am Ende eine Riesenschlammschlacht der Wahrheit. Die Öffentlichkeit entscheidet, was von Interesse ist. Und was uninteressant ist, wird untergehen.“

Dabei wird schnell klar, daß das Gerede von Selbstregulierung Augenwischerei ist. Schließlich entscheidet WikiLeaks, was veröffentlicht wird, und – noch viel wichtiger – was wie veröffentlicht wird. Viele Dokumente, die den Aktivisten selbst wichtig erscheinen, wurden und werden von der etablierten Presse nämlich kaum aufgegriffen, ihnen so die Öffentlichkeit versagt. Weswegen sich WikiLeaks auch entschlossen hat, mit den etablierten Medien zusammenzuarbeiten. In Zukunft soll dies bedeuteten, daß „die Quelle entscheidet, welches Medium ihr Dokument für einen von ihr festgelegten Zeitraum als erstes sieht“, so die Ankündigung Schmitts. Sowieso könnte sich noch einiges tun auf WikiLeaks’ Kreuzzug der Informationsfreiheit. So soll ein Heer von freien Mitarbeiter_innen den enormen Arbeitsaufwand der Prüfung und Aufarbeitung von immer mehr Dokumenten vor allem dadurch leisten können, daß es von hauptamtlichen Mitarbeiter_innen koordiniert wird. Die Bezahlung dieser soll wiederum durch eigene Stiftungen in allen möglichen Ländern geleistet werden. Noch übernimmt das die Wau-Holland-Stiftung (9), die Spenden für das Leakprojekt einnimmt. Diese beruhigte auch die schnell laut werdenden Stimmen über die Intransparenz von WikiLeaks’ Finanzen und schlüsselte öffentlich auf, was in etwa für Technik- und Reisekosten drauf ging. An der Undurchsichtigkeit nehmen immer mehr Kritiker_innen Anstoß und so hat sich – frei nach dem Motto „Wer überwacht die Überwacher?“ – kürzlich sogar schon WikiLeakiLeaks gegründet (10).

Doch auch ohne die doppelmoralistische Transparenzschiene zu fahren gibt es durch den oben erwähnten blinden Idealismus genug Anlaß, Kritik zu üben. Gibt sich WikiLeaks auch noch so unpolitisch, so können sie dennoch nicht vor ihrer politischen Verantwortung fliehen. Völlige Informationsfreiheit macht vielleicht in einer völlig aufgeklärten Gesellschaft Sinn, auf dem Weg dahin ist das Verhältnis von freier Information zur Aufklärung jedoch ein höchst ambivalentes. So werden Informationen niemals völlig objektiv ihre Rezipient_innen erreichen und sind Zeitpunkt, Ort und vor allem Art ihrer Veröffentlichung und Aufarbeitung immer Mittel für einen politischen Zweck, der sich in der Konkurrenz der Interessensparteien erst nach dem Medienfilter zeigt. So lässt sich mit einer medienkompetenten Handhabung des Instruments gezielt Einfluß auf politische Entscheidungen üben und so letztlich selbst Politik machen. Genauer gesagt ist diese politische Einflußnahme immanenter Bestandteil des WikiLeaks-Konzeptes, über welchen sich die Aktivist_innen in Zukunft besser bewusst werden sollten, anstatt nur „den Mächtigen an’s Bein [zu] pinkeln“ (Assange).

(shy)

 

(1) WikiLeaks hält mit dieser Begründung noch gut 15.000 Dokumente zurück, kündigte aber ihre Veröffentlichung nach weiteren Prüfungen an

(2) angloamerikanischer Rechtsbegriff, der im Deutschen mit “Tippgeber“ eine unzulängliche Entsprechung hat, siehe auch: de.wikipedia.org/wiki/Whistleblower

(3) größter BitTorrent-Tracker (Vermittler von Tauschanfragen für Daten) und Flaggschiff der schwedischen Anti-Copyright-Organisation Piratbyrån (Piratenbüro), trug durch die medienwirksame Beschlagnahme ihrer Server 2006, den folgenden Rechtsstreit und die öffentliche Auseinandersetzung darum maßgeblich zum Erfolg der Piratenpartei (nicht nur) in Schweden bei

(4) Aus dem Umfeld der Piratbyrån Anfang 2006 gegründete schwedische Piratenpartei für Informationsfreiheit, Datenschutz und eine Reform des Urheberrechts, nach deren Vorbild es Piratenparteien in mittlerweile über 40 Staaten gibt.

(5) de.wikipedia.org/wiki/Icelandic_Modern_Media_Initiative

(6) im Original: file.wikileaks.org/file/us-intel-wikileaks.pdf

(7) Es passt, wenn dctp ein aufschlußreiches Interview „Wir sind die Guten“ betitelt: www.dctp.tv/#/meinungsmacher/wikileaks-schmitt

(8) www.taz.de/1/netz/netzpolitik/artikel/1/wir-brauchen-die-obskuritaet-noch/

(9) nach dem verstorbenen Hacker, Freidenker, Datenphilosophen und Mitbegründer des Chaos Computer Club benannter gemeinnütziger Verein

(10) Klicken unter Vorbehalt, wenn schon bekannte Firewalls warnen: „Auf www.wikileakileaks.org sollten Sie Vorsicht walten lassen.“

Kleine Chronik der spektakulärsten Veröffentlichungen von WikiLeaks:

Im Juli 2007 veröffentlichte WikiLeaks über den Guardian einen Report des kenianischen „Anti-Korruptions-Zaren“ John Githongo über die Milliardenkorruption des ehemaligen kenianischen Präsidenten und seiner Regierung. Der Bericht war wochenlang Top-Thema in den kenianischen Medien und hatte vermutlich erheblichen Einfluß auf den Ausgang der Präsidentschaftswahl im Dezember des gleichen Jahres. Schätzungen zufolge wurden 10 bis 15 Prozent der Stimmen von diesem Leak beeinflusst.
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Ebenfalls 2007 wurden die Richtlinien für das Gefangenenlager Guantánamo Bay veröffentlicht. Sie bewiesen die schon lange vermuteten Menschenrechtsverletzungen/Folterungen der US-Armee.
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Im Jahr 2008 publizierte WikiLeaks Internetsperrlisten verschiedener Länder, die den Sperrsystemen eine hohe Fehlerrate sowie oftmals den eindeutigen politischen Missbrauch bescheinigen.
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Im Juli 2009 kam es zu einem großen Empathiezuwachs in Island, als WikiLeaks mit einem internen Dokument der größten isländischen Bank aufzeigte, daß die Banker u.a. durch unsichere Kredite in Milliardenhöhe erheblich zur dortigen Bankenkrise und dem folgenden Staatsbankrott beigetragen haben. Durch viele Medienauftritte, z.B. in der meistgesehenen Talkshow des Landes, wurde das Konzept von WikiLeaks populär, woraus die IMMI hervorging, welche sich zum Ziel gesetzt hat, Island zu einem internationalen Datenfreihafen zu machen.
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Im November 2001 kam es zum sog. Climategate, bei dem gehackte eMails aufzeigen sollen, wie Forscher der Climatic Research Unit der Universität von East Anglia systematisch Daten zum Klimawandel manipuliert und verschwiegen haben sollen. Die Veröffentlichung sorgte für viel Wirbel rund um die Klimakonferenz in Kopenhagen (FA #37) und entfachte eine starke Diskussion um Transparenz in wissenschaftlicher Arbeit.
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Nur vier Tage später waren es ca. 570.000 Pager-Nachrichten, die am 11. September 2001 in New York versendet wurden. Bemerkenswert hieran ist nicht so sehr der Inhalt, sondern die Erkenntnis, daß Unternehmen schon damals in diesem Ausmaß Telekommunikationsdaten und sogar Inhalte speicherten und diese wahrscheinlich von Regierungsstellen mitgelesen wurden.
Am selben Tag begann WikiLeaks mit der Veröffentlichung großer Teile der geheimen (selbst Bundestagsabgeordneten nicht zugänglichen) Toll Collect-Verträge. Das Konsortium täuschte damals über die Funktionsfähigkeit des Mautsystems und verschwieg die mit dem Bundesverkehrsministerium ausgehandelte Milliardenrendite.
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Im Dezember 2009 folgte der Feldjäger-Report zur durch einen deutschen Offizier ausgelösten Bombardierung von zwei Tanklastern in Afghanistan, bei dem 142 Menschen (größtenteils Zivilisten) umkamen, der bewusste Fehlinformationen der Regierung bewies und eine innenpolitische Krise auslöste.
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Im März 2010 dann ein aufschlußreicher CIA-Report, der sich mit den Meinungen der europäischen Bevölkerung zum Afghanistan-Krieg, und wie diese im Sinne der USA zu beeinflussen sind, beschäftigt.
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Im April 2010 ging mit www.collateralmurder.com ein Video der U.S.-Streitkräfte im Irak online, welches die Erschießung von augenscheinlich Unbewaffneten zeigt und allein in den ersten 72 Stunden bei YouTube 4,5 Millionen Zuschauer_innen erreichte. Assange und ein paar Mitstreiter schlossen sich für die Entschlüsselung, Übersetzung und mediengerechte Aufarbeitung des Videos mehrere Wochen in ein eigens angemietetes unauffälliges Haus in Reykjavik ein, um mit diesem „ProjectB“ im April 2010 den medialen Coup zu landen, der ihnen die wichtigen finanziellen Mittel und Weltöffentlichkeit für die nächsten Veröffentlichungen einbringen sollte.
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Im Juli dann das sog. Afghanische Kriegstagebuch, eine Sammlung von über 76.000 Dokumenten von Soldaten, Geheimdiensten, Botschaften und anderen Quellen aus den Jahren 2004 und 2010. Neben vor allem für die USA sehr ärgerlichen Enthüllungen militärischer Art wirft der Leak ein desaströses Bild auf die Sicherheitslage in Afghanistan. Auch Informationen zu Osama bin Ladens Beteiligung lassen sich darin finden. Die Dokumente wurden vorher Spiegel Online, der New York Times und dem Guardian zur Analyse und zeitgleichen Veröffentlichung überlassen, was die gesamte mediale Aufmerksamkeit enorm steigerte.
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Im August 2010 wurden Unterlagen zur Planung und Genehmigung der Loveparade 2010 veröffentlicht, bei der in einer Massenpanik 21 Menschen umkamen.

Die große Kunst des Kürzens

Nicht nur die griechische Bevölkerung soll derzeit den Gürtel enger schnallen. Auch die Regierungen Rumäniens, Spaniens, Portugals, Irlands und Großbritanniens haben mittlerweile einschneidende Sparmaßnahmen beschlossen. Da darf natürlich Deutschland nicht abseits stehen: Im Juni 2010 stellte die schwarz-gelbe Koalition ihr groß angelegtes Sparkonzept vor. Dieses hat nun im neuen Haushaltsbegleitgesetz (1), das Finanzminister Schäuble am 1. September der Öffentlichkeit präsentierte, seine vorläufige Form gefunden. Ende November soll das Sparpaket endgültig in Sack und Tüten sein. 11,2 Milliarden Euro will der Staat damit im nächsten Jahr sparen, bis 2014 sollen Einsparungen von insgesamt 82 Milliarden erzielt werden.

Dass diese vor allem auf Kosten derer gehen, die ohnehin schon unterhalb der Armutsgrenze leben, war schon zu erwarten. Ohnehin sollte man misstrauisch sein, wenn wieder mal das „Allgemeinwohl“ beschworen wird. Denn mit dieser Allgemeinheit ist in aller Regel nur das imaginäre „große Ganze“ der Nation gemeint, und deren Wohlergehen hat mit dem ihrer Insassen wenig zu tun. Die derzeitigen Sparpläne liefern dafür das beste Beispiel, denn für den Erfolg des „Standorts Deutschland“ im internationalen Wettbewerb wird die weitere Verarmung von großen Teilen der Bevölkerung nicht nur in Kauf genommen, sondern bewusst vorangetrieben. Die schwarz-gelbe Koalition setzt damit den Kurs fort, den die rot-grüne Schröder-Regierung mit der „Agenda 2010“ vorgegeben hat.

Sparen, sparen, sparen!

Die Sachzwänge, auf die sich bei dem Sparprogramm berufen wird, sind dabei zu einem guten Teil selbstproduziert, nicht nur durch milliardenschwere Rettungspakete für die Banken, sondern auch durch die „Schuldenbremse“, die Mitte 2009 im Grundgesetz verankert wurde. Von 2011 an soll die staatliche Neuverschuldung dabei schrittweise bis 2016 auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beschränkt werden. Also müssen nun die Ausgaben gesenkt werden. Nur einzelne Ressorts bleiben dabei verschont, z.B. die Bildung (wo nach diversen Rationalisierungen ohnehin kaum noch was zu holen ist). In der Verwaltung sollen bis 2014 bis zu 15.000 Stellen wegfallen, die Gehälter von Staatsangestellten werden eingefroren. Auch bei der Bundeswehr wird gekürzt, dort sollen 40.000 Dienstposten gestrichen werden. Mit Abrüstung hat das freilich nichts zu tun. Der Trend geht ohnehin zur technisch hochgerüsteten Berufsarmee, mit der sich bei den künftigen globalen Kampfeinsätzen auch besser mitmischen lässt.

Aber wie üblich wird vor allem am unteren Ende der sozialen Hierarchie gespart: Geplanten Kürzungen von 30 Mrd. Euro im Sozialbereich stehen gerade mal 20 Mrd. gegenüber, die die Unternehmen beisteuern sollen. Und anders als die Erwerbslosen bekommen die Unternehmen für stärkere finanzielle Belastungen auch handfeste Gegenleistungen: So sollen die Betreiber von Atomkraftwerken zwar künftig eine sog. „Brennelementesteuer“ zahlen, bekommen im Gegenzug aber eine Laufzeitverlängerung von 8 bzw. 14 Jahren (siehe auch S. 1).

Bei den Hartz-IV-Empfänger_innen wird dagegen einfach so gekürzt. So sollen nicht nur die beim Übergang vom ALG I zum ALG II anfallenden Zuschläge (monatlich 160 Euro im ersten, 80 Euro im zweiten Jahr) ersatzlos gestrichen werden. Für Erwerbslose soll es künftig auch keine Zuzahlungen zur Rentenversicherung mehr geben. Und auch bei den Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt wird gekürzt, alle bisherigen Pflichtleistungen werden in Ermessensleistungen umgewandelt. So sind z.B. jugendliche Erwerbslose künftig wieder vom Willen ihrer Sachbearbeiter_innen abhängig, wenn sie den Hauptschulabschluss nachholen wollen. Gleiches gilt bei den Reha-Maßnahmen für Behinderte – die meisten sonstigen Eingliederungshilfen für Hartz-IV-Empfänger_innen sind aber schon jetzt bloße Ermessensleistungen.

Noch deutlicher zeigt sich das Klasseninteresse beim Elterngeld: Zwar soll der Spitzensatz von jährlich 1.800 Euro, der an Menschen mit einem Einkommen von 2770 Euro im Monat aufwärts gezahlt wird, erhalten bleiben, im Gegenzug sollen Hartz-IV-Empfänger_innen künftig gar kein Geld mehr bekommen. Familien mit hohem Einkommen werden also wie gehabt gefördert, während die Unterstützung bei den Armen auf Null heruntergefahren wird. Die Erwerbslosen tragen damit mehr als zwei Drittel der Summe, die beim Elterngeld eingespart werden soll (440 von 600 Millionen Euro). Man könnte glatt meinen, der frühere Bundesbänker Thilo Sarrazin sei hier an der Konzeption beteiligt gewesen. Der hatte schließlich schon 2009 über angeblich zu hohe Geburtenraten bei der „Unterschicht“ gejammert und biopolitische Zwangsmaßnahmen gefordert: „Wir müssen in der Familienpolitik völlig umstellen: Weg von Geldleistungen, vor allem bei der Unterschicht“ (siehe FA! #35). Daran hat sich die Bundesregierung offenbar ein Beispiel genommen. Es scheint, als wolle man der Armut nun mit den Mitteln der Eugenik zu Leibe rücken: Um die Zahl der Armen zu reduzieren, sollen diese möglichst von der Fortpflanzung abgehalten werden.

Kürzen & senken

Auch ein anderer Schreihals hat sich durchgesetzt: FDP-Chef Westerwelle nämlich mit seiner Forderung nach „Leistungsgerechtigkeit“. Von der Tatsache ausgehend, dass nicht wenige Erwerbstätige für Löhne noch unterhalb des Niveaus der Hartz-IV-Sätze arbeiten, schwenkte der FDP-Boss zur üblichen Propaganda über. Dass manche Leute für ihre Arbeit weniger Geld bekommen als die Arbeitslosen sei natürlich ungerecht, fand Westerwelle. Um die Gerechtigkeit wieder herzustellen, müssten den Erwerbslosen also die Bezüge gekürzt werden.

Dabei sind natürlich nicht die für die miese Bezahlung im Niedriglohnsektor verantwortlich, sondern die jeweiligen „Arbeitgeber“. Auch von den Regeln von Angebot und Nachfrage scheint der FDP-Boss noch nie gehört zu haben. Sonst müsste er nämlich wissen, dass eine Senkung der Hartz-IV-Sätze auch das Angebot an Arbeitskräften im Niedriglohnsektor erhöht – womit sich die finanzielle Misere der dort Beschäftigten, für die er sich so hochmoralisch stark macht, nur weiter verschärft. Der Effekt solch einer Kürzung ist aber nicht nur auf den Niedriglohnbereich beschränkt: Wenn die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zunimmt, dann sinkt der Preis der Ware „Arbeitskraft“ und damit auch das Lohnniveau insgesamt.

Genau das dürfte auch das Ziel sein. Die Schaffung eines breiten Niedriglohnsektors war ja schon einer der Kernpunkte der Hartz-IV-Reformen. Etwa ein Fünftel der hiesigen Erwerbstätigen hängen heute in Niedriglohnjobs fest. Der Erfolg des Standorts Deutschland beruht eben darauf, dass es den Leuten umgekehrt zusehends schlechter geht. Man muss sich nur die Statistik anschauen: Zwischen 1995 und 2005 stiegen die Löhne in Deutschland um gerade mal knappe 10% – diese Steigerung hielt nicht einmal mit der Inflationsrate Schritt, stellt also tatsächlich eine Senkung der Reallöhne dar. Zu dieser Entwicklung haben auch die steten Bemühungen des DGB, den „sozialen Frieden“ zu bewahren, also Streiks und sonstige Arbeitskämpfe möglichst zu vermeiden, ihren Teil beigetragen.

An diese „Erfolge“ soll nun angeknüpft werden. Dabei wird das Lohnniveau nicht nur indirekt über Einschnitte bei der Grundsicherung gesenkt. Auch bei den Zuschüssen zur Arbeitslosenversicherung wird gekürzt, was eine Erhöhung der Lohnabzüge bedeutet. Und auch hinter der scheinbar harmlosen Ankündigung, alle Subventionen zu prüfen, keine neuen einzuführen und bestehende nicht zu erhöhen, könnten sich Einbußen für die Erwerbstätigen verbergen, z.B. mögliche Einsparungen bei der Pendlerpauschale oder der bislang üblichen teilweisen Steuerfreiheit von Nacht-, Feiertags- und Sonntagszuschlägen.

Exportieren!

Was das Ziel dabei ist, machte Kanzlerin Merkel in einem Interview mit der FAZ klar: „Es geht darum, dass es Deutschland gelingt, aus der Krise stärker hervorzugehen, als es hineingegangen ist, und unsere Wettbewerbsfähigkeit noch zu verbessern. Denn die mit uns konkurrierenden Volkswirtschaften anderer Länder schlafen ja nicht.“ Sinkende Löhne sind dabei ein großer Vorteil, denn dann lassen sich die hierzulande produzierten Waren auf dem Weltmarkt billiger verkaufen. Das spült Geld in die Kassen der Unternehmen und des Staates. Den Titel des Exportweltmeisters hat Deutschland zwar mittlerweile an China verloren, an der Exportorientierung der hiesigen Wirtschaft hat sich aber nichts geändert. Bislang mit Erfolg: So lag z.B. der Auftragseingang der deutschen Maschinen- und Anlagenbaubranche im Juli 2010 gegenüber dem Vorjahr um 47% höher, die Auslandsnachfrage konnte um 54% gesteigert werden. Und das soll nach dem Willen der schwarz-gelben Regierung auch so bleiben.

Die drohende Wirtschaftskrise ist damit aber nur vertagt. Zwar steht Deutschland als Exportnation im europäischen Raum derzeit konkurrenzlos da. Gut die Hälfte der europäischen Binnenexporte kommen aus Deutschland, das Gesamtwachstum der deutschen Wirtschaft lag so im zweiten Quartal 2010 bei 2,2% – der höchste Wert seit 1987! Diese übermächtige Konkurrenz bringt aber die europäischen Nachbarländer in wachsende Schwierigkeiten. Und wenn die als Absatzmarkt ausfallen, steckt auch Deutschland im Schlamassel. Diese Gefahr ist durchaus real. So forderten nicht nur die französische Wirtschaftsministerin, sondern auch der Chef des Internationalen Währungsfonds und sogar US-Präsident Obama, die deutsche Politik solle endlich von ihrer einseitigen Exportorientierung abrücken und lieber die Binnennachfrage stärken. Schließlich wollen auch die anderen Nationen ihre Waren irgendwo absetzen.

Weniger aus Sorge um die Weltwirtschaft als aus wohlverstandenem Eigeninteresse wäre jetzt breiter Widerstand gegen die Sparpläne nötig. Bislang gelingt es den Regierenden aber noch all zu gut, Erwerblose und Lohnabhängige auseinander zu dividieren, und die DGB-Gewerkschaften beschäftigen sich weniger damit, die Interessen der Beschäftigten zu vertreten, sondern viel eher damit, den Standort Deutschland für den globalen Wettbewerb fit zu machen. Auch sonst scheinen die Ausgangsbedingungen für Protest heute eher ungünstig. Und das nicht etwa, weil die schwarz-gelbe Regierung als Gegner so übermächtig wäre, sondern vielmehr wegen der Übermacht der potentiellen Verbündeten. Die Hartz-IV-Demos von 2004 hatten immerhin noch Zeit zum Wachsen, ehe die neu aufgestellte Linkspartei sich der Sache annahm. So lange würde die Vereinnahmung heute nicht mehr auf sich warten lassen. Mit SPD und Grünen stehen momentan zwei weitere Parteien bereit, um mögliche Proteste wahlkampftaktisch auszuschlachten. Ein Protest, der auf wirkliche Verbesserungen abzielt, müsste sich von solchen Verbündeten tunlichst fernhalten.

(justus)

(1) als PDF zu finden unter www.bundesfinanzministerium.de/…/20100901-HHbegl_anl,templateID=raw,property=publicationFile.pdf

Gutes Gewissen durch Konsum

Ohne die fossilen Brennstoffe wäre der Kapitalismus wohl nicht möglich gewesen. Die Kohle der englischen Bergwerke war die Energiequelle der Industrialisierung, sie trieb die Dampfmaschinen an, welche die alte Form der handwerklichen Heimarbeit verdrängten. Diese Konkurrenz beraubte einen Großteil der Bevölkerung ihrer bisherigen Lebensgrundlage. Die Besitzlosen strömten in die Städte, um als formal freie Lohnabhängige ihre Arbeitskraft auf dem Markt anzubieten, die Fabriken zu füllen. Der Mehrwert, den ihre Arbeit abwarf, ermöglichte die weitere Expansion.

Das Öl verdrängte schließlich als neuer Treibstoff die Kohle, mit der von Henry Ford eingeführten Fließbandarbeit und den dabei produzierten Automobilen ging der Kapitalismus in die nächste Phase. In diesem Prozess wurden zwar gewaltige Produktivkräfte freigesetzt, die alte Hoffnung der Liberalen, der freie Markt würde letztlich für das Wohlergehen aller sorgen, erfüllte sich aber bekanntlich nicht. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Maschine in´s Stocken geriet. Heute ist nicht nur klar, dass die weltweiten Ölreserven in absehbarer Zeit erschöpft sein werden, sondern auch, dass das massenhafte Verfeuern fossiler Brennstoffe wohl insgesamt keine gute Idee war. Vom Horizont her droht die Klimakatastrophe.

Es wäre also angebracht, nach Alternativen zu suchen. Das ist aber schwierig, wenn man gleichzeitig den Klimawandel stoppen und das Wirtschaftssystem retten will, das diesen erst verursacht hat. Die politische Klasse übt sich also in Symbolik und versucht z.B. per Emissionshandel (siehe oben) den Kapitalismus zwar nicht umweltfreundlich, aber zumindest nicht mehr ganz so schädlich zu gestalten.

Gesund und nachhaltig

Manche Leute brechen darum schon in Jubel aus: „Die Trendforscher und Wirtschaftsexperten sind sich einig: Der Werte- und Systemwandel in der Konsum- und Wirtschaftslandschaft hin zu einer qualitätsorientierten nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise ist in vollem Gange. Dieser Wandel hat dramatische Folgen für alle Unternehmen. Unternehmerische Verantwortung (…) rückt zunehmend in das Zentrum unternehmerischen Handelns, denn die neuen kritischen Konsumenten gewinnen an Einfluss, dem sich kein Anbieter entziehen kann“ (1). Das Zitat stammt von KarmaKonsum, laut Selbstauskunft (2) „eine der führenden Trendforschungs- und Marketing-Beratungsgesellschaften zum Thema nachhaltige und gesunde Lebensstile (LOHAS)“.

LOHAS steht für Lifestyle Of Health And Sustainability und ist das neue Zauberwort der Marktforschung. Damit werden die Anhänger_innen eines gesunden, nachhaltigen Konsums bezeichnet, eben die erwähnten neuen kritischen Konsumenten ein Marktsegment, das sich weitgehend mit der Wählerschaft der Grünen decken dürfte. Das LOHAS-Kundenprofil sieht etwa so aus: Sie sind meist 40 bis 50 Jahre alt, akademisch gebildet, idealistisch, ökologisch und sozial interessiert, kaufen gern im Bioladen ein, verfügen also auch über das dafür notwendige überdurchschnittliche Einkommen. Grob geschätzt gehören etwa 10% der deutschen Bevölkerung dieser Klientel an, Tendenz steigend. Ein lohnendes Geschäftsfeld also, auch weil die LOHAS (anders als die alte Ökobewegung) nicht auf Verzicht setzen, sondern Nachhaltigkeit mit Hedonismus und Konsum verbinden wollen und nicht nur bereit, sondern auch fähig sind, für „nachhaltige“ Produkte etwas mehr zu bezahlen.

Diesem Konsum-Milieu stehen die Unternehmen gegenber, die dieses mit entsprechenden Waren beliefern und sich selbst mit dem Schlagwort „LOHAS“ vermarkten. Marketinggesellschaften wie KarmaKonsum fungieren als Mittler zwischen diesen beiden Polen. Sie melden nicht nur vorhandene Trends an die Unternehmen weiter, sondern wirken auch aktiv auf den Markt ein und versuchen als Multiplikatoren den Kundenkreis zu erweitern. Dabei nimmt derzeit wohl die UtopiaAG (die das größte deutschsprachige Internetforum für korrekten Konsum betreibt) die Führungsrolle ein.

Diese Vermittlungsarbeit ist nicht zu unterschätzen. Schließlich sind die LOHAS (laut KarmaKonsum) eine anspruchsvolle und gut informierte Konsumentengruppe, die mit konventionellen Marketingbotschaften kaum zu erreichen ist. Stattdessen legen sie Wert auf Authentizität und ein glaubwürdiges Auftreten der Unternehmen. Auch das Marketing muss also umdenken: „Das Internet ist das Leitmedium und Informations-Plattform  dieser Bewegung schlechthin. (…) Die neue Moral ist geboren aus dem Geist der Netzwerke: Viral Marketing und Mundpropaganda über eigene Erfahrungen sind relevanter im Entscheidungsprozess als die meisten Werbeversprechen. Die Veranstaltung KarmaKonsum-Konferenz liefert Ihnen die Informationen, die Sie zum Verständnis und im Umgang mit den neuen ökologischen Subkulturen benötigen“ (2).

Solche Konferenzen (wie sie nicht nur KarmaKonsum, sondern auch Utopia einmal im Jahr veranstalten) richten sich vor allem an die Unternehmen als Zielgruppe. Für die Einbindung der konsumierenden Basis ist dagegen die Webpräsenz das wichtigste Mittel, wo z.B. über Diskussionsforen die Möglichkeit zur Partizipation gegeben wird. Etwas Graswurzelaktionismus gibt´s gratis dazu: KarmaKonsum organisiert z.B. auch Flashmobs, während Utopia zur letzten Bundestagswahl zur Umgestaltung von Wahlplakaten aufrief und entsprechendes (mit dem eigenen Logo versehenes) Material verschickte.

Von diesen harten Fakten abgesehen scheint es aber schwierig zu erklären, was Unternehmen wie KarmaKonsum oder Utopia eigentlich machen. Denn bei allem vordergründigen Aktivismus tun sie tatsächlich ziemlich wenig. Ein Großteil der Aktivität erschöpft sich in der Pflege des eigenen guten, „authentischen“ Images. Dieses lässt sich anschließend verwerten, wenn man als „ehrlicher Makler“ mit anderen Unternehmen zusammenarbeitet und diese vom eigenen guten Ruf profitieren lässt.

KarmaKapitalismus

Dabei soll es freilich nicht nur um´s Geschäft gehen, sondern auch um Ideale. So will die UtopiaAG nicht nur „dazu beitragen, dass Millionen Menschen ihr Konsumverhalten und ihren Lebensstil nachhaltig  verändern“, „mit jedem Kauf umweltfreundliche Produkte und faire Arbeitsbedingungen in aller Welt unterstützen“, sondern auch „einen starken Impuls in Richtung Unternehmen setzen, dass es richtig und wichtig ist, ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltig zu handeln“, um so das erwartete „grüne Wirtschaftswunder“ voranzubringen (3). KarmaKonsum-Macher Christoph Harrach bringt diese Philosophie mit dem Slogan „Do Good with your money“ auf den Punkt (4).

Das Problem ist nur, dass man erst mal Geld haben muss, um etwas Gutes damit anstellen zu können. Wo sollen etwa die hiesigen Erwerbslosen die Mittel hernehmen, um sich teure Bio- und Fair-trade-Produkte leisten zu können? Und was haben z.B. die Bewohner_innen südamerikanischer Slums vom fairen Handel, wenn sie gar nicht in der Lage sind etwas zu produzieren, was sich auf dem Weltmarkt losschlagen ließe? Die Antwort auf diese Fragen bleiben die LOHAS-Vordenker_innen trotz aller Avantgarde-Ansprüche leider schuldig.

So ist der LOHAS-Hype auch nur eine ökologisch aufgehübschte Variante des alten liberalen Irrglaubens von der ordnenden „unsichtbaren Hand“ des Marktes (die deswegen unsichtbar ist, weil sie nicht existiert). Er bildet damit auch die bislang letzte Schwundstufe der Ende der 1970er so hoffnungsfroh gestarteten Ökologie- und Alternativbewegung. Hatte diese (bei allen ideologischen Fragwürdigkeiten) doch einen Anspruch auf grundsätzliche gesellschaftliche Veränderung, so ist ein nicht geringer Teil der Bewegung mittlerweile in der Bürgerlichkeit angekommen. Die LOHAS-Konsument_innen vollziehen nach, was die Grünen im Bereich der parlamentarischen Politik vorgemacht haben: Der einstige politische Anspruch wird durch Moral ersetzt.

Gegen die Aufforderung zum bewussten Konsum wäre noch wenig einzuwenden, wenn dieser nur als Beitrag zur Problemlösung und nicht als die Lösung selbst propagiert würde. Eben dies schwingt im Hintergrund mit, wenn Harrach in einem Interview (5) scheinbar vorsichtig behauptet: „Ob der Konsum dafür ausreicht, die Welt zu retten, weiß keiner.“ Da irrt er sich, denn wissen könnte man das durchaus. Die Antwort lautet Nein.

Aber leider betreibt Harrach nur Markt- und keine Ursachenforschung. Und er glaubt nicht nur an die unsichtbare Hand des Marktes, sondern auch an allerlei sonstige unsichtbare Hände – der Name seiner Firma deutet es schon an. Zwar übersetzt Harrach den Begriff „Karma“ scheinbar realistisch als „Konzept von Ursache und Wirkung“. Der esoterische Name seiner Firma dürfte aber dennoch nicht nur dem Umstand geschuldet sein, dass KausalKonsum einfach nicht so geil klingt. Denn um reale Kausalzusammenhänge geht es hier nur am Rande. Vielmehr soll der Name KarmaKonsum eine „Haltung des verantwortungsvollen und ethischen Konsums“ bezeichnen. Es geht also vor allem um die richtige Haltung, das eigene gute Gewissen, und weniger um wirkungsvolles Handeln. Es ist eben alles nur eine Frage der richtigen Einstellung…

Um die geht es auch der Utopia-Chefin Claudia Langer. Deshalb bemüht sie sich eifrig, die Probleme der Welt so zu definieren, dass sie zu der von ihr bevorzugten Lösung passen. So habe z.B. „die Finanzkrise der letzten Monate gezeigt, wohin ungezügelte Gier uns bringt. Ja, nachhaltig wirtschaften macht also Sinn, auch für Unternehmen“ (6). Dass Unternehmer_innen Gewinn machen und Gewinn machen müssen, ist also völlig in Ordnung – sie dürfen nur nicht zu gierig sein, also auch noch Gewinn machen wollen. Es scheint für Frau Langer undenkbar zu sein, dass es womöglich die Spielregeln der Marktwirtschaft selbst sind, die regelmäßig zu Krisen führen, und nicht das individuelle Fehlverhalten von Einzelpersonen, die sich in ungezügelter Gier nicht an diese Regeln halten. Es ist also nur menschliches Versagen, wenn unser Wirtschaftssystem nicht so funktioniert, wie es soll…

Grün, ja grün…

Dieser Denkfehler erklärt wohl auch die Beliebigkeit, die die UtopiaAG in der Wahl ihrer Partner an den Tag legt. Zu denen zählen u.a. die Deutsche Telekom AG oder die Otto Group, Unternehmen also, die mit sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit wenig am Hut haben. So bemüht sich der US-amerikanische Ableger der Telekom seit Jahren darum, eine gewerkschaftliche Organisierung seiner Beschäftigten zu verhindern. Und manch eine_r erinnert sich wohl noch an den Skandal, den es hervorrief, dass die deutsche Telekom die gesammelten Verbindungsdaten nutzte und Privatdetektive anheuerte, um Mitarbeiter_innen zu bespitzeln. Aber bei Utopia weiß man ja: „Ein  großes Ziel braucht viele Unterstützer!“ Da kann mensch nicht wählerisch sein und erlaubt selbst dem Verband der Automobilindustrie, auf der Utopia-Website zu werben.

Damit spiegelt Utopia zumindest einen Trend der Wirtschaftswelt treffend wider. Denn immer mehr Firmen üben sich im „Greenwashing“, versuchen also, sich ein ökologisches Image zu geben. Wie das funktioniert, zeigt z.B. der Stromkonzern Entega, einer der Partner von Utopia (7). Obwohl Entega sich selbst als Ökofirma vermarktet, handelt es sich dabei um ein Subunternehmen von Konzernen, die ganz und gar nicht „öko“ sind, nämlich der Stadtwerke Mainz und der HSE (bei der wiederum der Stromkonzern E.ON 40% der Aktien hält). Das Manöver, die eigenen spärlichen Ökostrom-Anteile (3% bei den Stadtwerken bzw. 10% bei der HSE) in eine neue Firma auslagern, zielt darauf ab, über die neue Fassade ein besseres Image und damit neue Kunden zu bekommen.

Kein Wunder. Schließlich dürften die wenigsten Unternehmen ein Interesse haben, ihre alten und immer noch Gewinn abwerfenden Produktionsanlagen einzumotten oder gemäß den Grundsätzen der Nachhaltigkeit umzurüsten. Da ist es allemal billiger, wenn der Systemwandel nur beim Marketing stattfindet, dieselben Produkte also nicht mehr als „gut & günstig“ beziehungsweise „jung, wild & sexy“, sondern als „gesund & nachhaltig“ beworben werden. So warb Anfang 2010 der Discounter Lidl in einem Werbeprospekt: „Lidl setzt sich weltweit für faire Arbeitsbedingungen ein.“ Aufträge würden nur an „ausgewählte Lieferanten und Produzenten“ vergeben. Dabei stammt ein Großteil der bei Lidl verkauften Textilien aus Sweatshops in Südostasien und wurden nachweislich unter miserablen Arbeitsbedingungen produziert. Auf eine Klage wegen unlauteren Wettbewerbs hin musste Lidl seine Werbeprospekte wieder einstampfen. An seiner Strategie hat der Konzern dennoch nichts geändert. Jetzt wirbt er mit den Worten: „Nachhaltigkeit hat seit vielen Jahren für Lidl einen hohen Stellenwert.“ Das ist doch schon mal ein kleiner Schritt in eine bessere Zukunft…

(justus)

 

(1) karmakonsum.de/konferenz/hintergrund/

(2) www.karmakonsum.de/info/geschaeftsfelder.html

(3) www.utopia.de/utopia#partnerwahl

(4) www.karmakonsum.de/2007/06/12/in-eigener-sache-excitinggreen-wird-zu-karmakonsum/

(5) jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/425980

(6) www.utopia.de/blog/unterwegs-nach-utopia/warum-wir-nicht-an-den-pranger

(7) www.andre-henze.de/wissenswertes/republica/utopia-watchblog/der-utopistische-pressespiegel.html

Ausbeutung als Alltag

NS-Zwangsarbeit in Leipzig (Teil1)

Über die Geschichte Leipzigs im Nationalsozialismus wird zwar nicht grundsätzlich geschwiegen, sie ist aber dennoch, bis auf wenige Schlaglichter, kaum bekannt. Diese Schlaglichter beschränken sich, wie z.B. in der Online-Chronik der Stadt, auf das Jahr 1933, als die Nazis kamen, 1938, als die Reichspogromnacht „für über 13.000 jüdische Bürger der Stadt den Anfang vom Ende“ bedeutete, den schwersten Luftangriff am 4. Dezember 1943 und dann das Ende 1945 mit dem Einmarsch der amerikanischen Truppen. Dass Leipzig ein sehr funktionstüchtiges Rädchen in der NS-Maschinerie war, unter anderem als ein Zentrum der Kriegswirtschaft und Arbeitsort für annähernd 100.000 ZwangsarbeiterInnen, geht hieraus jedoch nicht hervor.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden in Deutschland mehr als zehn Millionen Fremd- und ZwangsarbeiterInnen in nahezu allen Wirtschaftszweigen und Bereichen des öffentlichen Lebens beschäftigt – ausländische ZivilarbeiterInnen, Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge. Bis zu ihrer Deportation wurden auch noch im großen Umfang die jüdische Bevölkerung sowie „Zigeuner“ zur Zwangsarbeit herangezogen. Die sogenannten ZivilarbeiterInnen kamen sowohl aus den verbündeten als auch aus den besetzten Ländern zum Arbeitseinsatz nach Deutschland. In den ersten Kriegsjahren konnten diejenigen, die den Versprechen von Lohn und Arbeit aus eigenem Antrieb, wenn auch nicht immer frei von äußeren Zwängen, folgten, den Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften zunächst noch decken. Durch den zunehmenden Wegfall deutscher Arbeitskräfte zugunsten des Fronteinsatzes und die gleichzeitig steigende Kriegsproduktion, wurde bald auf Maßnahmen der Zwangsrekrutierung von ZivilistInnen zurückgegriffen. Es gab in den besetzten Ländern repressive Sondergesetzgebungen, die den Einsatz im Reich erzwangen, es kam aber auch überall zu Verschleppungen, Deportationen nach spontanen Razzien usw. Einer der Verantwortlichen für diese brutale Form der Arbeitsmarktregulierung, Fritz Sauckel, der „Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz“ erklärte 1944: „Von den 5 Millionen ausländischen Arbeitern, die nach Deutschland gekommen sind, sind keine 200.000 freiwillig gekommen“ (1).

Bei Stellung und Behandlung der Zwangs- und FremdarbeiterInnen wurde nach Status, zivil oder kriegsgefangen, nach Herkunftsland und ganz deutlich nach den im NS geltenden rassisch-ideologischen Kriterien unterschieden. So galten „ausländische Arbeitnehmer aus den besetzten Gebieten im Westen und Norden des Reiches germanischer Abstammung“, d.h. niederländischer, dänischer, norwegischer und flämischer Herkunft, als den Deutschen gleichberechtigt. Das bedeutete auch, dass sie Einfluss auf ihre Arbeits- und Aufenthaltsbedingungen hatten und nach Ablauf ihrer Arbeitsverträge in ihre Heimat zurückkehren konnten. Dies galt auch für ArbeiterInnen aus den verbündeten Staaten. Deutlich schlechter gestellt waren ZivilarbeiterInnen aus besetzten Ländern sowie Kriegsgefangene. Unabhängig vom Grad der Freiwilligkeit ihres Arbeitsaufenthalts in Deutschland unterstanden sie einer Dienstverpflichtung, in der sie wenig bis keine Freiräume hatten, die sie nicht auf eigenen Wunsch beenden oder ändern konnten. Alle diese Menschen waren gezwungen bis zum Kriegsende in Deutschland zu bleiben. Auf der untersten Stufe der ZivilarbeiterInnen standen diejenigen aus dem Generalgouvernement Polen und die „Ostarbeiter“ aus der Sowjetunion. Sie waren starken Diskriminierungen ausgesetzt, mussten sich in der Öffentlichkeit mit einem Aufnäher kennzeichnen und unterlagen extremen Beschränkungen. So war den polnischen ZivilarbeiterInnen in Leipzig nach einem Beschluss aus dem Jahr 1941 die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, der Besuch von Gaststätten oder kulturellen Einrichtungen und das Betreten des Stadtzentrums untersagt. Eine ähnliche Stellung in der Hierarchie nahmen die polnischen Kriegsgefangenen ein, sowie die nach 1943 hinzukommenden italienischen Militärinternierten. In Folge des Waffenstillstandes Italiens mit den Alliierten wurden große Teile der italienischen Armee entwaffnet und zur Arbeit in Deutschland gezwungen. Eine letzte Gruppe, bei der in neueren Darstellungen mitunter nicht von Zwangsarbeit sondern von Sklaverei gesprochen wird, bildeten die sowjetischen und polnisch-jüdischen Kriegsgefangenen, Konzentrations- und Arbeitslagerhäftlinge, sowie „Arbeitsjuden“ aus Zwangsarbeiterlagern und Ghettos. Die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft diente den Deutschen als willkommenes und effektives Mittel zur Vernichtung dieser als „unwert“ erachteter Menschen.

Wirtschaft und Zwangsarbeit in Leipzig

In ganz Sachsen waren zu Kriegsbeginn noch verhältnismäßig wenige ZwangsarbeiterInnen im Einsatz (2). Anfangs wurden diese vor allem in der Landwirtschaft und somit im Umland eingesetzt. Das Einbinden ausländischer Arbeitskräfte war in der Region jedoch nicht unumstritten. Gerade der sächsische Gauleiter Manfred Mutschmann äußerte Vorbehalte und forderte, das deutsche Dorf müsse frei von nichtdeutschstämmigen Arbeitskräften bleiben. Nichsdestotrotz wurden aufgrund des wachsenden Bedarfs aber schon 1939 mehrere hundert polnische ZwangsarbeiterInnen, vornehmlich Kriegsgefangene, im Leipziger Umland eingesetzt. Ab 1940 begann das Interesse an ZwangsarbeiterInnen auch in der Leipziger Industrie zu wachsen und dies schlug sich ab 1942/43 auch in den Zahlen nieder. Bei der Heranziehung von ZwangsarbeiterInnen taten sich vor allem die etablierten Rüstungsunternehmen hervor, aber auch diejenigen, welche ihre Produktionspaletten im Sinne der Kriegswirtschaft umstellten oder als Zuliefererbetriebe für andere Firmen fungierten. Als Beipiel zu nennen wäre an erster Stelle die Hugo Schneider AG (HASAG), das größte sächsische Rüstungsunternehmen, das neben der Munitionsherstellung vor allem mit der Produktion der Panzerfaust eine wichtige Stellung einnahm. Die Erla-Maschinenwerke, die Allgemeine Transportanlagen GmbH (ATG) und die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke produzierten das Messerschmidt-Jagdflugzeug Bf109 sowie die Ju 88, das Standard-Kampfflugzeug der Deutschen Luftwaffe. Die Christian Mansfeld GmbH stellte erst Werkzeug- und Druckereimaschinen her, dann Raketenteile für die „V2“, die Rudolf Sack KG ergänzte bereits 1933 die Herstellung von Bodenbearbeitungsgeräten um die Produktion von Bomben und Granaten. Die Pianofortefabrik Hupfeld-Zimmermann konzentrierte sich auf die Produktion von Militärbedarf für die Luftwaffe. Unterschiedlichen Zählungen und Listen zufolge beläuft sich die Zahl der Rüstungsbetriebe in der Stadt im Jahr 1939 auf fast einhundert (3). Gleichzeitig gab es eine Reihe von Unternehmen, die, wenn auch nicht direkt an der Rüstungsproduktion beteiligt, als kriegswichtig galten. Während das Gros der ZwangsarbeiterInnen in dieser Branche verpflichtet wurde, waren auch in allen anderen noch aktiven Bereichen der städtischen Wirtschaft, vom Druckerei- und Verlagswesen, über Gärtnereien, den Einzelhandel, das Handwerk, bis hin zur Hauswirtschaft ausländische Arbeitskräfte beschäftigt. Die Leipziger Verkehrsbetriebe, die Deutsche Reichsbahn und die Post griffen zur Aufrechterhaltung ihres Betriebs ebenfalls auf ZwangsarbeiterInnen zurück. Ein sehr großer Anteil wurde zudem im kommunalen Dienstleistungs- und Versorgungssektor, wie dem Vieh- und Schlachthof, der Müllabfuhr und in der Stadtverwaltung eingesetzt. Gefährliche und schmutzige Arbeiten fielen vor allem jüdischen ArbeiterInnen und Kriegsgefangenen zu. Letztere wurden in Folge der Luftangriffe auch für Räumungsarbeiten herangezogen. Die weit verbreitete Vorstellung, dass sich Zwangsarbeit allein in der Kriegs- und Rüstungsindustrie abspielte, ist daher Illusion. Das „So einen hatte doch jeder“ (4), was in der Landwirtschaft galt, lässt sich auch für die Leipziger Wirtschaft anbringen.

Unterbringung

Die Unterbringung der ZwangsarbeiterInnen erfolgte auf ganz unterschiedliche Weise. Da Bestimmungen der Deutschen Arbeitsfront (DAF) zufolge „sowohl aus völkischen, sicherheitsmäßigen wie auch kriegswichtigen Gründen eine Unterbringung in Privatquartieren nicht möglich“ war, wurden an allen möglichen Plätzen Wohnlager errichtet. Es gab Firmenlager, die den ArbeiterInnen auf dem Betriebsgelände als Unterkunft dienen mussten. Waren diese Möglichkeiten nicht gegeben oder bereits ausgeschöpft, griffen viele Betriebe darauf zurück, Räume in der Umgebung in Lager umzuwandeln. Sie erhielten dabei, vermutlich aus städtischem Interesse am Wirtschaftsstandort und den zusätzlichen Einnahmen aus der Gewerbesteuer, Unterstützung von der Stadtverwaltung, die Gebäude und Grundstücke zur Verfügung stellte. Das waren unter anderem Gaststätten, wie z.B. das „Waldcafé“ in Connewitz, Kleingartenanlagen, wie beim Lager „Am Entenweiher“ in der Gartenanlage am Prießnitzbad. Ungenutzte Schulen und Turnhallen wurden genauso zweckentfremdet wie fremde oder auch stillgelegte Betriebsgelände und enteignete Gebäude. Das Brausebad Connewitz wurde zum Lager „Südbrause“, in der Zentralstraße 12 entstand das Gemeinschaftslager „Loge“. Es gab Lager mit anheimelnd klingenden Namen wie „Vogelsang“ oder „Schwarze Rose“. An verschiedenen Orten der Stadt, so auch auf Sportplätzen, wurden außerdem in großem Umfang Barackenlager errichtet. Viele der Lager waren überwacht und eingezäunt, insbesondere bei Kriegsgefangenen und den ZivilarbeiterInnen, bei denen aufgrund der Lebens- und Arbeitsbedingungen Fluchtgefahr bestand. Bei einer neueren Untersuchung des Leipziger Stadtarchivs konnten ca. 700 Sammelunterkünfte ermittelt werden, von denen 400 im Stadtgebiet lagen. Sie befanden sich sowohl in Wohn- als auch in Industriegebieten. In der Braustraße 28, Ecke Adolf-Hitler-Straße (heute Karl-Liebknecht-Straße und Feinkostgelände) befand sich beispielsweise das Lager Südbräu, welches von der Wirtschaftskammer betrieben wurde. Hier waren über hundert Menschen untergebracht, die in fast 70 Firmen arbeiteten, die über die ganze Stadt verteilt waren. Ein städtisches Kriegsgefangenenlager befand sich in der Gießerstraße 66 im auch heute noch existierenden Ballhaus Mätzschkers Festsäle. Von hier aus erfolgte der Arbeitseinsatz für Hafen-, Tiefbau- und Stadtreinigungsamt. Auch auf dem Hafengelände entstanden Gemeinschaftslager und Lager für Kriegsgefangenenarbeitskommandos.

Ab 1943 wurde in Leipzig zudem mit der Einrichtung von insgesamt acht Außenlagern des KZ Buchenwald begonnen. Die hier untergebrachten Häftlinge waren bei der HASAG, in den Erla-Werken, bei Junkers, ATG und Mansfeld beschäftigt (5).

Die nahezu flächendeckende Ausbreitung, sowohl was Arbeitsorte als auch Unterkünfte für die ZwangsarbeiterInnen betrifft, macht deutlich, wie selbstverständlich die Ausbeutung „nichtdeutschstämmiger Arbeitskraft“ in Leipzig war. Zwangsarbeit fand in der Nachbarschaft, im eigenen Betrieb, vor den Augen und im Beisein der Bevölkerung statt.

In der übernächsten Feierabend!-Ausgabe wird der Artikel fortgeführt und auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ZwangsarbeiterInnen und das Schicksal der KZ-Häftlinge eingegangen. Abschließend sollen einige erinnerungskulturelle Aspekte angesprochen werden.

(teckla)

 

(1) siehe Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, Stuttgart 2001, S. 36.

(2) siehe auch im Folgenden: Thomas Fickenwirth/Birgit Horn/Christian Kurzweg, Fremd- und Zwangsarbeit im Raum Leipzig 1939-1945. Archivalisches Spezialinventar. Hrsg. v. Stadtarchiv Leipzig, Leipzig 2004, S. 5-26.

(3) siehe Klaus Hesse, Rüstungsindustrie in Leipzig, Leipzig 2001.

(4) Roland Werner, „So einen hatte doch jeder im Dorf“ – Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft Thüringens 1939-1945, Erfurt 2006.

(5) siehe Wolfgang Benz/Barbara Distel: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 3, Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006.

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