Eintausend deutsche Soldaten in Mali

Mit überwältigender Mehrheit hat der Bundestag am 28. Januar 2016 der „Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung“ der Bundeswehr an der MINUSMA-Operation in Mali zugestimmt. Anfang März besuchte Verteidigungsministerin von der Leyen mit hochrangiger Delegation für drei Tage das Land und auch die im Aufbau befindlichen deutschen Container im von der niederländischen Armee übernommenen Camp Castor im umkämpften Norden des Landes. Das sorgte kurzfristig für etwas Berichterstattung über den Bundeswehreinsatz, die danach aber schnell wieder abebbte. Das ist erstaunlich, denn die Mission in Mali könnte bald Afghanistan als gefährlichsten Einsatz der Bundeswehr ablösen.

Als von der Leyen Camp Castor besuchte, waren bereits etwa 200 Soldat_innen der Bundeswehr vor Ort. Mit als erste waren bereits im Februar Sanitätskräfte dort stationiert worden, die künftig verletzte Bundeswehrangehörige versorgen sollen. Insgesamt umfasst das Mandat des Bundestages den Einsatz von 650 Kräften der Bundeswehr, von denen etwa 400 im Norden, der Rest überwiegend in der Hauptstadt Bamako im Süden stationiert sein werden. Dem Sanitätstrupp folgten Spezialpioniere aus Husum, die für den Aufbau der Container und deren Sicherung u.a. mit insgesamt 320.000 Sandsäcken zuständig waren. Ende Februar dann übernahmen Objektschutzkräfte der Luftwaffe u.a. von bewaffneten Wachtürmen aus den Schutz des Lagers. Mittlerweile hinzugekommen sind Heeresaufklärer des einsatzerprobten Aufklärungsbataillons Holstein aus Eutin. Falls die Spähtrupps außerhalb des Feldlagers in Gefechte geraten, steht dort ein Mobile Reaction Team mit etwa 40 Kräften in Bereitschaft, um schnell und robust vor Ort sein und mitkämpfen zu können. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit bewaffneter Auseinandersetzungen eingeschätzt wird, zeigt sich auch daran, dass die Bundeswehr in diesem Einsatz nur mit gepanzerten Fahrzeugen (1) unterwegs ist.

Die Heeresaufklärer sind – neben dem Spürpanzer Fennek – v.a. mit Drohnen ausgestattet. Dazu gehört die „Mikro-Aufklärungsdrohne für den Ortsbereich“ (MIKADO), die mit einer Reichweite von etwa 1km handelsüblichen Kameradrohnen vergleichbar ist, sowie die gut 4m breite LUNA-Drohne. Die LUNA wird von einem Katapult gestartet und bei der Landung mit einem Netz aufgefangen. Insgesamt sind mehrere Fahrzeuge und über 20 Personen notwendig, um sie zum Einsatz zu bringen. Dann kann sie in einem Radius von ca. 80km mit verschiedenen Kameras das Gebiet aufklären und in Echtzeit Bilder liefern. Nach ersten Tests im Camp Castor soll die Drohne zukünftig auch außerhalb eingesetzt werden, um Verbindungsstraßen zu überwachen und Bewegungen bewaffneter Gruppen zu verfolgen. Die LUNA-Drohne wird bereits seit Jahren in Afghanistan eingesetzt. Ihre Bilderkennung wurde vom FraunhoferInstitut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung optimiert, so dass sie z.B. eigenständig Fahrzeuge identifizieren und verfolgen kann.

Bei ihrem Besuch kündigte von der Leyen außerdem an, dass bis Ende des Jahres auch deutlich größere Drohnen vom Typ Heron I in Mali stationiert werden sollen, die bislang von der Bundeswehr nur in Afghanistan eingesetzt wurden und werden. Die Heron I ist eine Drohne der MALE-Klasse (Medium Altitude, Long Endurance) und kann mit einer Einsatzreichweite von etwa 400km über 24 Stunden in der Luft bleiben. Sie gehört nicht der Bundeswehr, sondern wird vom Hersteller Israel Aerospace Industries über das deutsche Rüstungsunternehmen Airbus Defence and Space geleast, das auch für die Ausbildung, Wartung und Teile der Steuerung verantwortlich ist.

Nach Angaben der Zeit sollen insgesamt zwei oder drei Heron-Drohnen nach Mali verlegt werden. Die Zeitung schreibt: „Mit kleineren Drohnen könne die Bundeswehr zwar die unmittelbare Umgebung ihres Standortes in Gao überblicken, aber nicht die vielen hundert Kilometer langen Straßen zwischen den Städten in der dünn besiedelten Region… ‚Es ist in dieser Wüstenregion so: Wer die Straße beherrscht, der kann den Zugang zu einer Stadt ermöglichen oder die Stadt von der Versorgung abschneiden‘, sagte von der Leyen in Gao“. (2)

Ein wesentlicher Teil der Arbeit des deutschen Kontingents besteht tatsächlich darin, die „Rettungskette“ im Fall von Verwundeten und die eigenen Versorgungswege unter Kontrolle zu halten. Diesem Ziel dienen letztlich auch die sog. CIMIC-Teams, die „Erkundungsfahrten“ nach Gao und in andere Siedlungen unternehmen um – neben vielen Fotos mit Kindern und Frauen –„einen Beitrag zum zivilen Lagebild“ zu liefern, damit entsprechende Erkenntnisse „bei militärischen Entscheidungen mit berücksichtigt werden können.“ (3)

 

Zur Sicherheitslage in und um Gao

Von der malischen Hauptstadt Bamako aus, dem Fluss Niger folgend, ist Gao nach Timbuktu die letzte große Stadt vor der Grenze zum Staat Niger. Von Gao aus führen wichtige und traditionelle Verbindungsrouten in und durch die Sahara. Wesentliche Teile des Transsahara-Handels und selbst die Migration wurden jedoch in den letzten Jahren verstärkt illegalisiert. Entsprechend werden diese Routen heute von kriminellen, oft auch als terroristisch eingestuften Gruppen kontrolliert.

Während Gao aus Sicht der Regierung im Süden Malis und auch der UN-Truppe MINUSMA über die Versorgungswege entlang des Niger versorgt und kontrolliert wird, bestehen wichtige und bislang kaum kontrollierbare Verbindungen in den von Wüste geprägten Süden Algeriens, den Niger und hierüber auch nach Libyen. Im Grenzgebiet zwischen Algerien und Mali befindet sich das unübersichtliche Ifoghas-Gebirge, in dem sich seit 2013 verschiedene als terroristisch oder sezessionistisch eingestufte Kräfte verschanzt haben, die sich verlustreiche Kämpfe mit französischen und tschadischen Truppen lieferten. Von Mali aus liegt der Zugang zu diesem Gebirge in Kidal, das zugleich eine Provinz, ein weiträumiges Siedlungsgebiet und eine Stadt ist.

Trotz intensiver Bemühungen haben es bislang französische Spezialeinheiten und die v.a. aus dem Tschad und anderen Nachbarstaaten stammenden Soldaten der MINUSMA nicht geschafft, diese Region auch nur annähernd unter Kontrolle zu bringen. Eine große Offensive mit 60 gepanzerten Fahrzeugen fand offenbar am 10. April 2016 statt. Diese wurde dadurch bekannt, dass mindestens drei französische Soldaten starben, als sie auf eine Mine fuhren, worüber auch in deutschen Medien berichtet wurde. Über weitere Verluste ist wenig bekannt. Laut Statistik der UN sind jedoch bislang 86 Menschen, davon 80 Soldaten, seit Juli 2013 ums Leben gekommen. Damit ist MINUSMA bereits jetzt der gefährlichste UN-Einsatz weltweit. Allerdings bleibt unklar, welche Opfer überhaupt dieser Mission zugeordnet werden, da Frankreich mit Kontingenten aus denselben afrikanischen Staaten, welche einen Beitrag zu MINUSMA leisten, auch im Zuge seiner Operation Barkhane operiert – diese Operation umfasst die gesamte Region von Mauretanien an der Westküste bis zum Tschad.

Auch die Verluste der malische Armee – die von den MINUSMA-Truppen bei der Rückeroberung des Nordens des Landes unterstützt wird – werden ebenfalls nicht erfasst. Sie sollen sich jedoch alleine bis zum Jahr 2014 auf etwa 500 belaufen haben. Die Zahl der offiziell bestätigten Gefallenen der französischen Armee beläuft sich mit dem Vorfall am 10. April bislang auf sieben, wobei in Wirklichkeit deutlich mehr französische Soldaten gefallen sein dürften.

Insofern ist es allenfalls Ausdruck (neo)kolonialer militärischer Arbeitsteilung, wenn Verteidigungsministerin von der Leyen nicht von einem „Kampfauftrag“ der Bundeswehr in Mali sprechen möchte und versichert, dass die Bekämpfung von Terroristen keine Aufgabe der Bundeswehr sei. Ziel ist es vielmehr, jene Aufklärung zu leisten, mit der dann französische Spezialeinheiten mit Luftunterstützung und ihre afrikanischen Hilfstruppen ins Gefecht geschickt werden; zusätzlich die Sicherung der Nachschubwege, der Aufklärungstrupps (durch Mobile Reaction Teams) und des Camps selbst. Erst im Dezember 2015 war Camp Castor – damals noch unter niederländischer Führung – mit Granaten beschossen worden. Die 320.000 Sandsäcke und die rund um die Uhr bemannten Wachtürme, mit denen die Bundeswehr das Camp schützt, sind also alles andere als symbolisch. Bis heute kann nicht einmal das unmittelbare Umfeld des Camps – und schon gar nicht Gao selbst – als sicher gelten.

Aufgrund von Gaos Lage und seiner Funktion als Tor zur Sahara ist es wenig verwunderlich, dass die im Oktober 2011 u.a. von aus Libyen zurückgekehrten Tuareg gegründete MNLA (Mouvement National de Libération de l‘Azawad) Gao zur Hauptstadt des „Staates“ Azawad kürte, als sie im April 2012 den Norden Malis für unabhängig erklärte. Gut zwei Monate später, Ende Juni 2012, gewannen jedoch islamistische Gruppen nach heftigen Gefechten in der „Schlacht um Gao“ die Oberhand in Gao, ebenso in Timbuktu und Kidal. Im Januar 2013 dann erfolgte die Intervention Frankreichs, mit der Gao und Timbuktu zurückerobert wurden. Den französischen Soldaten folgten Truppen der MINUSMA-Vorgängermission AFISMA aus den Nachbarstaaten und anschließend Truppen der malischen Armee. Gerade durch diese Truppen aus dem Süden Malis kam es im Zuge der Rückeroberung im Schatten der französischen Intervention zu schweren Übergriffen auf Tuareg als „Vergeltung“ für den Vormarsch der MNLA ein Jahr zuvor. Die MNLA hat sich zwar von den Islamisten distanziert und bekämpft diese nun in Koordination mit den französischen Truppen, will aber die Präsenz der malischen Armee im Norden nicht dulden.

Wer in Gao aktuell die Oberhand und den Rückhalt der Bevölkerung hat, lässt sich schwer sagen. Nach dem französischen Vormarsch gab es zwar viele Presse- und Radioberichte über jubelnde Bewohner, die französische Fahnen schwenkten. Von Aufbruchstimmung war die Rede. Mittlerweile ist die Berichterstattung aber wieder zum Erliegen gekommen. Neben den Bildern der CIMIC-Teams der Bundeswehr, die (stets mit Handschuhen bekleidete) Soldaten im harmonischen Miteinander mit Frauen und Kindern zeigen, gibt es kaum Nachrichten aus Gao. Das hat schlicht damit zu tun, dass die Sicherheitslage für (westliche) Journalist_innen zu gefährlich ist. Konvois mit Waren, UN-Mitarbeiter_innen und anderen Zivilist_innen werden häufig auf den Straßen von und nach Gao überfallen oder angegriffen. In der Stadt dürfte weiterhin die MNLA sehr einflussreich sein, Islamisten aus dem Umland können einsickern und Anschläge verüben. In den entlegeneren Gegenden kann durchaus von Arrangements der MNLA mit islamistischen Gruppierungen ausgegangen werden, von einer Zusammenarbeit mit eher kriminell/ökonomisch motivierten bewaffneten Gruppen ohnehin. Der Krieg ist hier zum Geschäft geworden.

Logistik vom Süden und von Niger aus

Das Mandat zur Beteiligung der Bundeswehr an MINUSMA sieht neben den genannten Komponenten (sanitätsdienstliche Versorgung, Aufklärung, Sicherung und Schutz, zivil-militärische Zusammenarbeit (CIMIC)) auch Personal aus den Bereichen Führung(sunterstützung), militärisches Nachrichtenwesen, Luftbetankung und Lufttransport sowie in Stäben und Hauptquartieren vor.

Ein Großteil dieser Unterstützung wird von Bamako im Süden Malis aus bereitgestellt. Hier befindet sich nicht nur das Hauptquartier der MINUSMA, sondern auch das Transit Camp Midgard auf dem Flughafen der Hauptstadt. Dort sind Logistiker der Bundeswehr stationiert, weil hier die Transportflugzeuge landen, deren Fracht dann für den Weitertransport nach Gao auf der Straße oder wiederum per Flugzeug verladen wird. Bereits bis 13. April 2016 sollen dies „über 1.200 Tonnen Material, verteilt auf 16 Transportflugzeuge“, darunter „Einsatzfahrzeuge mit Waffenanlagen, Funkgeräten und Schutzausrüstung“ sowie 350 Soldaten gewesen sein. (4)

Das Mandat umfasst jedoch auch den taktischen Lufttransport von Soldaten aus den Nachbarstaaten ins Einsatzgebiet sowie „bei Bedarf“ die Luftbetankung von französischen Kampfflugzeugen. Auf diese Weise unterstützte die Bundeswehr schon zuvor die MINUSMA und die Vorgängermission AFISMA. Hierzu hatte sie parallel zur (angeblich spontanen) Intervention Frankreichs im Januar 2013 auf dem Flughafen Dakar in Senegal einen Luftwaffenstützpunkt aufgebaut. Dort wurden Maschinen vom Typ Transall und ab März 2013 auch ein Airbus 310 zur Luftbetankung stationiert. Bis zum 30. Juli 2014 haben die deutschen Transportflugzeuge „auf mehr als 470 Unterstützungsflügen etwa 4.500 Passagiere sowie rund 520 Tonnen Material von und nach Mali“ transportiert (5) und damit einen wesentlichen Beitrag zur AFISMA- und zur darauf folgenden MINUSMA-Mission geleistet.

Die größten Kontingente dieser 11.750 Kräfte umfassenden Mission stammen (neben Bangladesch mit 1.442) aus den Staaten Burkina Faso (1.720), Tschad (1.440), Togo (934), Niger (859), Guinea (850) und Senegal (666, Stand aller Zahlen: 30.4.2016). Dabei handelt es sich um Staaten, in denen das Militär eine starke innenpolitische Rolle spielt und die zugleich eine teilweise sehr enge militärische Kooperation mit Frankreich (und, nachgeordnet, Deutschland) pflegen, aber wenig bis gar keine eigenen Fähigkeiten für den strategischen Lufttransport haben.

Die Luftbetankung gestaltete sich in der Umsetzung jedoch bald völkerrechtlich kompliziert. Praktisch konnte sie nur französische Kampfflugzeuge betreffen. Während die ursprüngliche Intervention Frankreichs unter dem Operationsnamen Serval nach Auffassung der Bundesregierung und der UN noch mit dem Mandat der AFISMA zu vereinbaren war, trat die offensive Bekämpfung des Terrorismus dabei immer klarer in den Vordergrund. Spätestens als die französische Mission unter dem neuen Namen Barkhane auf Mauretanien, Burkina Faso, Niger und Tschad ausgedehnt wurde, wurde jedoch eine Einzelfallprüfung nötig, ob der jeweilige konkrete Auftrag des entsprechenden französischen Flugzeuges unter das UN-Mandat fällt oder nicht. Entsprechend wurde der Airbus zurückverlegt und dient mittlerweile zur Betankung französischer Flugzeuge in Syrien. Die Transalls und damit der Stützpunkt in Senegal wurden zwischenzeitlich für den Einsatz zur Ebola-Bekämpfung in Westafrika umgewidmet. Nun sollen die Transportmaschinen für Flüge nach Gao im benachbarten Niger stationiert werden, von dessen Hauptstadt Niamey es nur halb so weit zum Camp Castor ist, wie von Bamako aus.

 

Beihilfe zum Bürgerkrieg

Alle bisher genannten deutschen Kontingente finden offiziell im Rahmen der MINUSMA statt. Zeitgleich mit dem Einsatz der Luftwaffe zur Unterstützung der Mission AFISMA beschloss der Bundestag im Februar 2013 jedoch über die Beteiligung an einer weiteren Militärmission im Rahmen der EU.

Dabei handelt es sich um eine Ausbildungsmission für die malischen Streitkräfte. 2013 betrug das Bruttoinlandsprodukt Malis mit seinen etwa 16 Mio. Einwohner_innen knapp 17 Mrd. US$ (im Vergleich Deutschland: 3.726 Mrd.). Davon flossen etwa 1,5% in eine Armee mit etwa 10.000 Kräften. Die erst kurz zuvor wieder verstärkt im Norden Malis stationierten Einheiten waren in kurzer Zeit von der MNLA vernichtend geschlagen und – zumindest in der Wahrnehmung ihrer im Süden verbliebenen Kameraden – regelrecht massakriert worden. Aus Empörung hierüber putschten im März 2012 in der Hauptstadt junge Offiziere, die unzufrieden mit dem Krisenmanagement des amtierenden Präsidenten Amadou Toumani Touré waren (dessen Amtszeit einen Monat später geendet hätte). Das minimierte die Fähigkeiten von Regierung und Armee, politisch oder militärisch auf den Tuareg-Aufstand im Norden zu reagieren, noch weiter. International wurde der Putsch zwar verurteilt, zugleich wurde aber recht schnell Bereitschaft signalisiert, der Forderung der Putschisten nach internationaler Unterstützung bei der Bekämpfung der MNLA nachzukommen. Das Erstarken der Islamisten im Norden und das Eingreifen Frankreichs – mit dem angeblich ein Vormarsch der Islamisten nach Bamako verhindert wurde – ließen diese Bereitschaft weiter wachsen. So beschloss die EU Anfang 2013 eine Ausbildungsmission nach dem Vorbild eines entsprechenden Einsatzes im Bürgerkriegsland Somalia. Ziel war es, Soldaten auszubilden, die direkt danach in den Norden geschickt werden. Deutschland beteiligte sich hieran zunächst mit 180 Kräften, weitete dieses Mandat jedoch schrittweise auf mittlerweile 350 Soldat_innen aus. Gegenwärtig stellt Deutschland damit nicht nur das mit Abstand größte Kontingent der Mission, sondern hat im Sommer 2014 auch die Führung des Einsatzes übernommen.

Das Hauptquartier der European Union Training Mission (EUTM) liegt in einem ehemaligen Hotel in Bamako. Die Ausbildung findet auf dem nahegelegenen Stützpunkt Koulikoro statt und umfasst inzwischen auch Artillerie-Übungen. Deutschland kann dabei auf lange Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit den malischen Streitkräften zurückblicken, die bereits in den 1970er Jahren begann. Im Rahmen der Ausbildungs- und Ausstattungshilfe wurden viele (über die Jahre wahrscheinlich hunderte) höherrangige malische Militärs in Deutschland aus- und fortgebildet. Der amtierende malische Kommandant des Feldlagers in Koulikoro konnte zum Beginn der EUTM-Mission die deutschen Soldaten in ihrer Muttersprache begrüßen und dem Deutschlandfunk Interviews auf Deutsch geben. Über viele Jahre, zuletzt seit 2005, waren zudem Beratergruppen der Bundeswehr vor Ort und organisierten die kostenlose Überlassung von militärischer Ausrüstung, nicht jedoch von Waffen und Munition. Einen Schwerpunkt bildete dabei schon traditionell das Pionierwesen und insbesondere der Brückenbau und andere Methoden zum spontanen Überwinden von Gewässern.

Betrachtet man die Geografie des Binnenlandes Mali, ist diese Priorisierung bemerkenswert. Schließlich strebt die Bevölkerung im Norden bereits seit Jahrzehnten eine möglichst hohe Autonomie an. Vergangene, meist von Tuareg dominierte Aufstände wurden mehrfach durch Zusagen befriedet, die Stationierung vom Süden kontrollierter Sicherheitskräfte im Norden zu reduzieren. Während in Timbuktu das Denkmal „Flamme de la Paix“ an die symbolische Verbrennung hunderter Waffen nach einem solchen Friedensschluss im Jahr 1996 erinnerte, lieferte Deutschland Ausrüstung und Know-how, das es der malischen Armee ermöglichte, mit großen Kontingenten unerwartet den Niger zu überqueren und in den Norden vorzustoßen.

Die militärische Ausbildungs- und Ausstattungshilfe wurde nach dem Putsch 2012 kurzzeitig eingestellt, offenbar mittlerweile aber wieder aufgenommen. Im April 2016 nannte die Bundesregierung drei Projekte der Ausstattungshilfe im Umfang von insgesamt 3,15 Mio. Euro für den Zeitraum 2013-2016, darunter Instandsetzungsmaßnahmen an der Zentralwerkstatt der Pioniere in Bamako und die „Nachsorge am Ausbildungszentrum in Bapho (Wasserübungsplatz für Fähranlagen und Brückenbau; Pontoneinsatz)“. (6) Die Zahl der hierfür eingesetzten Berater wird von der Regierung mit zwei (vier ab Juli 2016) angegeben.

Die Bundeswehr berichtete jedoch bereits im März 2015 unter dem Titel „Auf zu neuen Ufern“ von einer Ausbildungsmaßnahme mit „elf deutschen Soldaten und ihre[n] knapp 60 ‚Azubis‘“ in Segou, von Koulikoro etwa 100km nordöstlich entlang des Niger gelegen: „Das Niger-Binnendelta ist eine Lebensader für die malische Bevölkerung. Für die Streitkräfte des westafrikanischen Landes hingegen ist er das größte Hindernis. Brücken gibt es in Mali kaum. Nur in der Hochwasserzeit zwischen Oktober und Januar kann der Fluss mit größeren Booten überquert werden. Mit der Hilfe deutscher Pioniere aus Minden lernen die malischen Soldaten den Fluss mit einfachen Mitteln zu überqueren“. (7)

Offenbar fand diese neunwöchige Ausbildung im Rahmen des EUTM-Einsatzes, jedoch außerhalb des Standortes statt. Für die Zukunft ist die Ausdehnung der EUTM auf mehrere Standorte entlang des Niger bis in den umkämpften Norden geplant. Damit wird der Einsatz zwangsläufig gefährlicher und „robuster“ und die Grenze zum Kampfeinsatz verschwimmen noch mehr.

Gefährlich ist die EUTM-Mission bereits jetzt. Am 21. März meldete der Europäische Auswärtige Dienst einen Angriff auf das Hauptquartier in Bamako, bei dem ein Angreifer getötet worden sei. Wie viele Angreifer es gab und wer an dem Gefecht beteiligt war, wurde jedoch nicht veröffentlicht.

Auch das Erstarken der seit Anfang 2015 existierenden Front de Liberation du Macina zeigt an, dass sich die Sicherheitslage weiter verschärft. Diese bewaffnete Gruppe agiert im Gebiet um Mopti, das wiederum nur gut 100km nordöstlich von Segou liegt, wo die Ausbildungsmaßnahme zur Überwindung des Niger stattfand. Die Gruppe rekrutiert sich aus der dort ansässigen Bevölkerungsgruppe der Fulbe, die beim Konflikt zwischen Norden und Süden zwischen die Fronten gerieten. Obwohl sie in Zentralmali und außerhalb des Azawad leben, wird ihnen oft pauschal von den Sicherheitskräften Sympathie für die Islamisten unterstellt. Bereits im Januar 2016 hatte Human Rights Watch einen Bericht veröffentlicht, wonach zahlreiche Fulbe von der malischen Armee misshandelt, willkürlich inhaftiert und in einigen Fällen auch exekutiert wurden. (7) Womöglich wird der Konflikt auch von einzelnen Fraktionen bewusst angeheizt und ethnisiert. Anfang Mai etwa berichteten internationale Presseagenturen übereinstimmend, dass nahe Mopti zunächst vier Vertreter der Fulbe in einem Restaurant von einer regierungstreuen Miliz erschossen und bei der anschließenden Beerdigung neun weitere Angehörige der Gemeinschaft getötet wurden.

 

Drohnenkrieg und Militarisierung – für seltene Erden?

Aktuell ist der Einsatz von 1.000 Soldaten der Bundeswehr in Mali mandatiert. Darüber hinaus sind weitere deutsche Soldaten ohne Mandat des Bundestages vor Ort, wie etwa die Beratergruppe und Personal an der Ecole de Maintien de la Paix (EMP), wo afrikanische Polizisten für den Einsatz in „Friedensmissionen“ wie MINUSMA ausgebildet werden. Außerdem hat Deutschland auch die Führung der im Januar 2015 begonnenen zivil-militärischen Mission EUCAP Sahel Mali inne.

Solche Missionen der EU zum Kapazitätsaufbau gelten ansonsten meist als „zivile“ Einsätze, da sie v.a. aus Berater_innen und Polizeikräften bestehen. Bei EUCAP Sahel Mali jedoch spielt die European Gendarmerie Force (EGF) eine zentrale Rolle und damit jene Einheiten der EU-Mitgliedsstaaten Spanien, Frankreich, Italien, Niederlande, Portugal, Rumänien und Polen, die sowohl unter zivilem Kommando, als auch militärisch mit Kombattantenstatus eingesetzt werden können. Im Rahmen der EUCAP-Mission in Mali werden zwar auch Lehrgänge für Verkehrspolizist_innen veranstaltet, zugleich steht jedoch auch jenes für die EGF typische Spektrum von Einsatzformen auf dem Programm, das vom Tränengas- und Schlagstockeinsatz gegenüber Demonstrationen über den Personenschutz inklusive Nahkampfausbildung bis hin zu geheimdienstlichen Ermittlungen reicht.

Zusammenfassend kann mit Recht davon gesprochen werden, dass Mali mit tatkräftiger Unterstützung Deutschlands umfassend militarisiert wird. Das für MINUSMA erteilte UN-Mandat ist entsprechend ausgreifend und unbestimmt zugleich und damit völlig unrealistisch. In Bundeswehrkreisen wird deshalb auch von einem Einsatz ausgegangen, der Jahrzehnte dauern könnte. Sicherheitslage und regionales Umfeld sind in vielerlei Hinsicht mit Afghanistan vergleichbar. 2017 soll die zukünftig in Mali stationierte Drohne Heron I außerdem durch das Nachfolgemodell Heron TP ersetzt werden, die bewaffnungsfähig ist. Es braucht dann nur noch einen Vorfall mit einigen verwundeten oder verletzten Bundeswehrangehörigen, und die Forderung wird laut werden, dass nun auch Deutschland mit bewaffneten Drohnen auf die Jagd nach Terroristen gehen soll.

Diese Militarisierung findet statt, während unter den beteiligten europäischen Staaten keinerlei Einigkeit oder Konzept besteht, wie die zugrundeliegenden Konflikte gelöst und der malische Staat zukünftig organisiert werden soll. Zur Erinnerung: Die Bundeswehr bildet malische Soldaten aus, die nicht nur Minderheiten attackieren, sondern ihrerseits in einem schweren Konflikt mit der immer noch nach Unabhängigkeit strebenden MNLA stehen. Diese kämpft in Koordination mit Frankreich jene Gebiete frei, die anschließend von MINUSMA und der Bundeswehr kontrolliert werden können, damit hier wiederum die malische Armee stationiert werden kann. Während im UN-Mandat das Ziel der territorialen Integrität verankert ist, unterstellen viele Frankreich als wichtigstem militärischen Akteur jedoch ganz andere Ziele. So mutmaßte etwa Alexander Göbel, „Afrika-Korrespondent“ des Deutschlandfunks, bereits im Juni 2015: „Fakt ist: Wie im Nachbarland Niger gibt es auch im Norden Malis Uran, außerdem Gold, Seltene Erden, Erdöl. Je näher die Tuareg-Rebellen ihrem Ziel kommen – einem unabhängigen Staat Azawad –, desto leichter dürfte es für Frankreich sein, später die Ressourcen zu kontrollieren. Ein Friedensvertrag, gar ein wirklich souveräner und stabiler malischer Staat, der würde dieser Strategie nur im Wege stehen.“ (9) Vor allem stabile und demokratische Staatswesen – in Mali, Niger dem Tschad und allen anderen in diesen Konflikt gezogenen Ländern des Sahels – dürften diesen Zielen noch viel mehr im Wege stehen.

christoph marischka

 

[Der Text erschien in „Ausdruck“, Nr. 3/2016 und wurde mit Genehmigung des Autors für den Feierabend! leicht bearbeitet]

 

(1) Insgesamt etwa 60 gepanzerte Fahrzeuge, überwiegend vom Typ Fennek und Dingo sowie Eagle IV und Transportpanzer Fuchs.

(2) „Bundesregierung verlegt Heron-Drohnen nach Mali“, zeit.de vom 5.4.2016.

(3) „‚Über Fußball kommt man immer ins Gespräch‘ – Eine Einsatzregion verstehen durch CIMIC“, Einsatz.Bundeswehr.de, 31.3.2016.

(4) „MINUSMA: Wichtig für den Aufbau – Die Drehscheibe Bamako-Sénou“, Einsatz.Bundeswehr.de, 13.4.2016.

(5) „Die Bundeswehr in Mali (MINUSMA)“, Einsatz.Bundeswehr.de, 5.4.2016.

(6) Bundestags-Drucksache 18/8086.

(7) „Auf zu neuen Ufern – deutsche und malische Pioniere überqueren gemeinsam den Niger“, Einsatz.Bundeswehr.de, 31.3.2015.

(8) Human Rights Watch: „Mali: Abuses Spread South – Islamist Armed Groups’ Atrocities, Army Responses Generate Fear“, 19.02.2016.

(9) „Ein Friedensvertrag, gestützt auf lose Hoffnungen“, deutschlandfunk.de, 20.6.2015.

Der Leib der zerteilen will den Geist oder: Der radikale Zyniker ist der Sadist

Ich bin gestolpert. Buchstäblich bin ich gestolpert über Worte, die mir Worte abverlangen. Jean Améry hat sie geschrieben, nachdem seine Schultern krachten. Im Stolpern regt sich der Knacks, der hallt, da sich die Dinge wandeln. Zuzeiten wandeln sie sich mit einem Schlag – ins Gesicht etwa, der Améry im Juli 1943 im Gefängnis der Brüsseler Gestapo traf. Kurz darauf und andernorts krachten und knackten und splitterten seine Schultern, als ihn ein Offizier der SS an den Haken hing. In diesen Tagen, in denen überall wieder die Gewalt anschwillt, erinnere ich mich, was diese letztlich ist: die Kontrolle, die Unterwerfung des Leibes am extremsten praktiziert in der Tortur. Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich tragen kann, schreibt Améry in seinem gleichnamigen Essay und wohl ist das In-Sich-Tragen dieses Eingriffes wörtlich zu nehmen. Er ist der Quell des Traumas. Mit einem Schlag zwingt der Folternde dem Gepeinigten seine Körperlichkeit auf, quält der Rassist den Fremden mit der Angst vor dem Ausbruch der Gewalt, der er unterläge, hegt der Herrschende den Körper des Kolonialisierten ebenso ein, wie den Körper der Frau.

Man hat mir ein Leids getan. Ich werde geschlagen. Mich durchfährt der Schreck. Auf das, was mir jetzt, in diesem Augenblick, geschieht, war ich nicht vorbereitet. Es hat mich schlicht übermannt. Es zernichtet mir jegliches Vertrauen (1), wirft mich aus der Welt, entstellt mich schlagartig als Gegenmenschen.

Der Geschlagene erschrickt nicht vor dem Schmerz allein. Nicht fassen kann er, dass eine Grenze übertreten wurde, dass man ihn berührt, in ihn eindringt. Bis ins Mark trifft die Gewissheit und drückt sich dort als Alp ein: Die Gewalt ist, das Schrecken kennt keine Grenzen, „Man is the animal.“ Und er, der ihm gegenüber steht, der sich die Freiheit nimmt, die Hand gegen ihn zu erheben, ihn an den Haken zu hängen, bis die Gelenke nachgeben, er ist der Sadist.

Doch seine Visage ist nicht die des Satans. Améry erschrickt über die „Dutzendgesichter“ seiner Peiniger, die wir nicht in den Folterkellern der SS suchen müssen. Ich schließe meine Augen und folge den Gewaltphantasien eines Mannes, der nicht mehr schlafen wolle, gäbe man ihm noch einmal eine Kalaschnikow in die Hand. Ich öffne meine Augen und finde mich in einer Straßenbahn wieder.

Den Sadisten auf das Moment der Geilheit zu reduzieren, wäre zu kurz gefasst. Unter diesem Blickwinkel würde ich den Mann, der jene Gewaltfantasien in der Straßenbahn äußert, übersehen. Er schaut etwas müde… Gerade deshalb erschrecke ich. Der Sadist kann jeder sein.

Blackout hearts with skull designs upon their shoes. (2)

Dieser Sadismus, um den es mir geht, ist fern der Pathologie. Wie auch sollte eine Krankheit des Geistes untersucht werden, wenn der Mensch seinen Geist überwindet? Der Sadist, schreibt Améry, schert sich um den Fortbestand der Welt nicht. Er hebt sie ganz einfach auf und berauscht sich an dem Triumph seines Willens über den Geist, die Vernunft, die Moral.

Der Sadist ist Zyniker im Radikalen. Er praktiziert seinen Zynismus. Der Abi-turient glänzt im Unterricht – vornehmlich in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Nach dem Unterricht quält er seinen Mitschüler. (3) Der Vernünftige, der Gepeinigte, kann das nicht fassen. Es kommt mir darauf an, hier den Worten von Jean Améry zu entsprechen: „Ein schwacher Druck mit der werkzeugbewehrten Hand reicht aus, den anderen samt seinem Kopf, in dem vielleicht Kant und Hegel und alle neun Symphonien und die Welt als Wille und Vorstellung aufbewahrt sind, zum schrill quäkenden Schlachtferkel zu machen. Der Peiniger selbst kann dann, wenn es geschehen ist und er sich ausgedehnt hat in den Körper des Mitmenschen und ausgelöscht hat, was dessen Geist war, zur Zigarette greifen oder sich zum Frühstück setzen oder, wenn es ihn danach gelüstet, auch bei der Welt als Wille und Vorstellung einkehren.“

Die Fragen wird der Gequälte, die Geschlagene, der Gedemütigte, die aus der Stadt Getriebene nicht mehr los: Woher rührt es? Wie ist es möglich, dass der Leib den Geist zerteilt? (4) Das Entscheidende ist die Willkür. (5) Der Sadist ist gewalttätig, weil er es will. Am Ende ist es seine Entscheidung. Er entscheidet sich für die Umwertung aller Werte.

Sowieso ließe sich ja alles umwerten. (6) Es gibt keine allein gültige Wahrheit über die Dinge, weil sich bereits das Ding als solches uns nie auf eine nur einzige Weise, nie präzise zeigt. Die Vertreter des Spekulativen Realismus schlagen daher auch vor, die Philosophie als Wissenschaft durch eine Philosophie als kraftvolle Kunst zu ersetzen, die sich den Dingen auf eine ebenso vage wie liebende Weise nähert. (7)

Gerade jedoch das offenbare Fehlen einer einzigen Wahrheit versetzt den Menschen ebenso in die Lage, die Dinge willkürlich auszulegen und daraus seine Wahrheit zu formulieren, wenn er es will. Es ist ihm ein Leichtes, kalt lächelnd das Andere, den Anderen zu negieren. Jean Amérys Peiniger war ein kleiner Mann. Es genügte ihm, zu sagen: „Jetzt passiert‘s.“ Dann hing er ihn einfach an den Haken. Vielleicht schaute er dabei in die Leere und pulte an dem Ochsenziemer in seiner Hand.

Das Ausüben von Gewalt erfreut. (8) Es versetzt den kreativen Geist des Führenden in höchste Gefilde. „Wo man sich der Folter zuwendet, kann man der menschlichen Phantasie bei der Arbeit zuschauen“, schreibt Roger Willemsen. Und in der Tat – wo die Schranken des Geistes geöffnet werden, kann sich die Fantasie frei entfalten und das tut sie auch – imaginär und wirklich.

Der einzigen Logik, der der Sadist folgt, ist die des Schmerzes. Ich muss ihn am Haken die Kette hinaufziehen, dann werden seine Schultergelenke brechen. Der Sadismus befähigt den Menschen zur außermoralischen Schöpfung. Der Mensch, der die Welt außer Acht lässt, wird so ganz Kreator. Und darüber erschrak Améry ebenso: Dass es nämlich Momente gab, „wo ich der folternden Souveränität, die sie über mich ausübten, eine Art von schmählicher Verehrung entgegenbrachte.“ Lautréamont schuf seinen Maldoror, den „Vergolder des Bösen“, um der Schöpfung ihr absolutes Gegenstück zu präsentieren und beide – den Schöpfer, wie den Menschen – zu verlachen…

 

Übrigens, wozu betreibe ich denn diese Jonglage der Namen?

Es zeigt gewissermaßen die Willkür meiner „Arbeit am Wortwerk“, wie es Dylan Thomas nennt. Ich sitze daheim in meiner wohlbeheizten Mansarde, am Mahagonimundstück meiner Pfeife kauend und greife mir willkürlich Bücher aus dem Regal. Ich sage: Die Worte münden dorthin, wo ich sie münden lassen will. Ihr Quell ist ja derselbe. (9) Natürlich ist es mir eine Freude und natürlich wollt ich es noch viel ärger treiben. Ich sage aber auch: All diese Worte sind! Tausende und Millionen haben sie gelesen, haben sie gedacht. Sie sind eingeflossen in das Bewusstsein der Menschheit. Und dennoch verhindern sie nicht, dass der Mensch haut, sticht, hinein schießt, dass jetzt, in diesem Augenblick, ein Mensch verfolgt und gefoltert wird, dass Kretins wie Gelehrte gleichermaßen das in Brand gesteckte Haus des Fremden beklatschen oder dass ein Kritiker des Zynismus selbst zum Zyniker wird. Ich denke mir aus: Amérys Peiniger greift nach dem Frühstück zur Zigarette und kehrt bei der Welt als Wille und Vorstellung ein. Natürlich tut er das! Und danach gelüstet es ihn, einen Dissidenten mit dem Ochsenziemer zu bearbeiten. Beides – die Lektüre und die Tortur – geht zusammen. (10) Vielleicht befriedet jener SS-Offizier damit seinen eigenen Pessimismus. Vielleicht ist es seine Art, Schopenhauer beizupflichten, dass es ihn gibt: den Willen. Jedoch: Der Philosoph lässt sein Werk in die Ethik der Askese münden. Dem Sadisten könnte man den ganzen Schopenhauer wechselseitig um die Ohren hauen und damit dennoch nicht garantieren, dass er es lässt, sich an dem Menschen zu vergehen. Es ist ja sein Wille…

Und so vermögen tausende Schriften alles und nichts, nichts und alles, wenn der Mensch, in Überheblichkeit oder in Demut, es will. Wir sind in der Welt, die jedermanns Werk ist, diejenigen, die darüber entscheiden, was uns heilig ist und was nicht, wo wir beginnen, wo wir enden.

Olav Amende

 

(1) Mit Jean Améry gesprochen: Zusammen bricht das „Weltvertrauen“.

(2) Ich sah den Teufel einst auf Facebook. Sie trug das anverwandelte Lächeln meiner ersten Liebe.

(3) Die Figur Herbert aus Max Frischs Requiem Nun singen sie wieder: „Ich werde töten, bis der Geist aus seinem Dunkel tritt, wenn es ihn gibt, und bis der Geist mich selber bezwingt. Man wird uns fluchen, ja, die ganze Welt wird uns fluchen, jahrhundertelang. Wir aber sind es, die den wirklichen Geist ans Licht gezwungen, wir allein – gesetzt den Fall, dass nicht die Welt mit uns zugrunde geht, weil es den Geist, den unbezwinglichen, nicht gibt.“

(4) Freud und die Zentrifugalkraft des Todestriebes…

(5) „Es lässt sich begreifen, dass es nie darum ging, Menschen zur Wahrheit oder zum Sprechen zu bringen, sondern dass es um die Willkür einer Zerstörung der Körper und Seelen ging, die ihre Logik ausschließlich in der Fabrikation der größten, dem Menschen erreichbaren Schmerzen besaß.“ (Roger Willemsen – Der Knacks)

(6) Es genügt, auf Derridas Konzeption der Différance oder auf Friedrich Nietzsches Schrift „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ zu verweisen.

(7) Diese Gedanken finden sich auch bei Martin Bubers „Ich und Du“ wieder.

(8) Das Tier zeigt die Zähne und greift an. Der Mensch zeigt die Zähne und lacht.

(9) Walter Benjamin und die Adamitische Sprache

(10) Ich nehme an, dass das Kapitel „Geistige Elite“ immer noch zu den Tabus in der Aufarbeitung der NS-Geschichte zu zählen ist. Freilich, es zermürbt den Geist ebenso, wie die Namen Horst Mahler oder Jürgen Elsässer, weil viele der gängigen Argumentationsmuster hier eben nicht mehr greifen.

Autoritäre Antiautoritäre

„Wo geht’s denn hier zur Macht?“, fragte der autoritäre Antiautoritäre mit einem Selbstbewusstsein, das an Selbstverliebtheit grenzte, mit einem Lächeln auf den Lippen, scheinbar souverän wie immer. Die eigentlichen Worte lauteten anders. Wahrscheinlich irgendwas mit „Strukturen stärken“, „Kontakte aufnehmen“, „ein Player werden“ – dies alles aber auf bestimmte Art und Weise, nämlich um jemand zu werden. Wo sind die Leute, die „wirklich was machen“, jene die „wirklich Kontakte haben“, die „vernetzt“ sind? So lauten derlei Fragen auch.

Dabei werden fleißig Keywords platziert, sowas wie „Protestchoreographie“, „Diskurs“, „ideeller Gesamtkapitalist“ oder was auch immer. Nicht zu vergessen ist auch der Anschein, um irgendwelche „Interna“ aus irgendwelche Gruppen zu wissen, überhaupt zu wissen „wie die Linke derzeit aufgestellt ist“ und sich „die politische Lage entwickelt hat“, beeindruckender noch: „wie sie sich entwickeln wird“. Up to date sein im Szene-Gossip ist eine permanent zu bewältigende und schwierige Aufgabe mit enormen Zugangsvoraussetzungen.

Schwer zu bewältigen ist teilweise der Spagat zwischen vermeintlich professionellem und irrsinnigerweise für seriös gehaltenem Auftreten auf der einen und einer von oben herab behandelnden kumpelhaften Art auf der anderen Seite. Dabei handelt es sich um die Einübung der coolen Art linker Politiker, der Checker, die wissen, wo sie den nächsten Widerspruch begraben werden: unter ihrem Deckmantel, dafür schon eine Lösung zu finden. Entscheidend dafür ist natürlich, Kontakte zu halten, Informationen abzugreifen, sich blicken zu lassen wo notwendig, und sich einige zuverlässige Sympathisant_innen zuzulegen, die am klebrigen Schein der Aura des Simulanten hängengeblieben sind.

Wo sie glauben, Macht zu finden, lassen sie sich von den Leuten blenden, denen solche zugeschrieben wird. Früh übt sich, wer in der Hierarchie nach oben klettern will, und kein Buckeln, Kratzen, Selbsterniedrigen und Lächeln ist zu viel, wenn ein Stück vom Kuchen abfallen könnte. Und wer mal Kuchen essen will, frisst auch mal Scheiße. Allerdings verliert er dabei sein „anti“ und wird nur noch ein autoritärer Autoritärer, was die Sache für ihn wesentlich erleichtert, denn dann braucht es kaum mehr Rechtfertigung vor einem selbst, sondern nur noch vor den linken Bossen – solange man in ihrer Gnade steht.

Stattdessen nehmen antiautoritäre Autoritäre die Prinzipien der Selbstverwaltung und Selbstorganisation sogar fast ernster als ein stinknormaler Apparatschik. Irgendwo muss damit ja angefangen werden. Deswegen streichen sie für sich einfach das Adjektiv „kollektiv“ von diesen Begriffen, organisieren und verwalten also sich selbst. Und wenn sie einmal dabei sind, organisieren und verwalten sie auch gern andere mit, denen sie ihre ungefragte Hilfe aufdrängen können.

Äußerst wichtig dabei ist, wie schon erwähnt, das politische Geschwätz und das Darstellen der „politischen“ Bekanntschaften, um sich Bedeutung zu verschaffen.

Die Psychologie des antiautoritären Autoritären ist ein vertracktes Ding. Bisher unverstanden ist auch sein Verbalradikalismus, der ans Lächerliche grenzt und nur politische Analphabeten zu überzeugen vermag. Sei es drum: Er weiß die Gründe, kennt die Wege, im Übrigen auch die Mittel – deren Anwendung er gern anderen überlässt, während er zum nächsten „Projekt“ weitereilt. Deswegen fällt es ihm schwer, anderen zuzuhören, sie überhaupt tiefgehender wahrzunehmen und sich vorstellen zu können, dass seine Meinung möglicherweise doch nicht so klug und durchdacht ist, wie er selbst stets glaubt und sich selbst beweisen muss.

Wenn er auftritt, wird der Raum eng. Lassen sich Situationen nicht vermeiden, in denen die Gruppe keine rein oberflächliche, sondern eine grundsätzliche Debatte führt, versucht er sich ihnen zu entziehen. An basisdemokratische Beschlüsse, die seinem Ego zuwiderlaufen, würde er sich ohnehin nicht beteiligen. Dies versucht der antiautoritäre Autoritäre dadurch zu übertünchen, dass er unterlegene Positionen in Dienst nimmt und anderen aufdrängt, sich mit ihnen zu beschäftigen – unabhängig davon, ob sie dies möglicherweise schon ausgiebig tun oder nicht. Beispielsweise geht er davon aus, wenn er sich mit Feminismus beschäftigen würde, könnte er sich Inhalte und Techniken aneignen, die ihn dann des Problems seiner eigenen Verstrickung entledigen würden, womit er besser dastünde, diese Sache abgehakt hätte und über andere urteilen könnte, „die es noch nicht geblickt haben“.

Dass eine solche Beschäftigung eine langwierige und schwere Aufgabe wäre, die am Ende seine eigene Selbstverliebtheit und Aufgeblasenheit in Frage stellen müsste, geht ihm nicht in den Kopf rein. Überhaupt ist Emanzipation für ihn nur ein Wort neben vielen anderen. Salvador Dalí malte 1929, ich denke noch vor der Phase seiner faschistischen Sympathien, ein Gemälde mit dem Titel „Le Grand Masturbateur“ („Der Großmasturbator“). Ganz im hier beschriebenen Sinne würde ich den antiautoritären Autoritären analog als den „Großorganisator“ bezeichnen.

jens

Die Redaktion … läuft

sich die Hacken wund

auf der Suche nach der richtigen Füllung für die neue, 55. Ausgabe vom Feierabend!, die dieses Mal von einigen neuen Autoren gefüttert wurde. Wir sind schon gespannt, wie die Themen der aktuellen Gazette bei unseren LeserInnen ankommen werden, aber fest steht, dass die Feierabend!-Redaktion einen langen Atem hat und immer noch Feuer spuckt!

balu

 

im Hamsterrad

Sicher passt der Vergleich nicht ganz – Hamster fahren bekanntlich voll darauf ab, im Laufrad rumzulaufen. Einen Menschen kann das aber wirklich mürbe machen, immer in Bewegung zu sein, ohne von der Stelle zu kommen, wie es die Lohnarbeit mit sich bringt. Seit einigen Monaten gehe auch ich nun einer geregelten Beschäftigung nach. Im Call Center, was sicher nicht das Geilste von der Welt, aber immerhin ganz okay ist. Die Kolleg_innen sind großteils sympathisch, die Kund_innen meist nett und die Tätigkeit halbwegs sinnvoll. Kann man machen, wenn man muss.

Aber natürlich ist Arbeit ein gesellschaftliches Zwangsverhältnis, egal, wie nett der Zwang sich auch gestaltet. Ein Hamsterrad eben, bei dem man die eigene Lebenszeit an irgendwelche Kapitalist_innen verkauft, um das Geld zu verdienen, das einem dann von anderen Kapitalist_innen wieder weggenommen wird. Arbeiten, um Geld zu kriegen, um sich Nahrung, Wohnung, Kleidung usw. kaufen zu können, die man braucht, um weiter arbeiten zu können. Und generell nervt es natürlich, dass dabei viel zu wenig Zeit für einen selber… Verdammt, ich muss Schluss machen. Arbeiten gehen.

justus

 

amoralischen amok

mit pantinen aus panzergarn. ri ra rutsch, wer fährt mit der schwäbschen eisenbahn? nicht die redaktion, sie läuft ins abseitige, ins gebüsch, nein halt, doch nur über die plastegrüne wiese zur autobahnraststätte, wo die fliessbandbabies ihr trauriges bodypainting herzeigen. fi fa futsch, wer flüstert dir ins ohr, dieses land hier sei es nicht, damit du es nicht vergisst? die redaktion, na klar! in diesem sinne, pfui spinne auf das kältere dytshland, läuft bei dir ehrenamt im untergrundverband? amokamoröse grüsze vom laktoseintoleranten vulkan der ferne!

sam

durch den Wald

Oder besser gesagt: Will eigentlich gern regelmäßig durch den Wald laufen, kommt aber dann irgendwie doch nie dazu. Es gibt einfach zu viele Gründe, die eine_n dann doch davon abhalten. Hitze, Kälte, falsche Tageszeit, Müdigkeit, Mathehausaufgaben (die man dann doch nie macht) usw. Dabei scheint das „Laufen“ an sich für viele Menschen eine sehr bedeutende Rolle im Leben zu spielen. „Wie läuft‘s?“ ist oft das erste, wonach sich Menschen bei mir erkundigen, wenn sie mir begegnen. Beliebt sind außerdem das etwas weniger sportliche „Wie geht‘s?“ oder auch „Was geht?“ für Leute, die noch nicht genau wissen, wer oder was sich da eigentlich fortbewegen soll. Ich sage dann oft einfach „gut“ (was es bedeutet, gut zu laufen oder zu gehen, ist nicht offensichtlich. Mir sei aber der Verweis auf Monty Python‘s „Ministry of silly walks“ erlaubt) oder, ebenso kryptisch wie die Frage, „`s läuft“, manchmal auch „geht so“.

Na gut, ich gebe zu, die meisten Menschen erkundigen sich nicht nach der Art, wie ich physisch meine Position im dreidimensionalen Raum verändere, sondern nach meinem Befinden. Wie aber die Fragestellung nahelegt, ist dieses in unserer Gesellschaft sehr stark mit einem persönlichen Fortkommen verbunden. Denn nur wer sich beständig weiter entwickelt, immer lernt und nicht müde wird, sich an der Karriereleiter immer höher zu hangeln, hat die Chance (und in der bürgerlichen Ideologie überhaupt das Recht) auf ein gutes Leben. Wer nicht kräftig strampelt, verliert das Gleichgewicht und fällt auf die Nase. Und wer unten liegt, darf kein schönes Leben haben. Wenn sie_er‘s doch hat, ist sie_er faul, ein Schmarotzer_in oder eine linke Zecke.

An dieser Stelle kommt auch wieder der Zusammenhang zur echten, sportlichen Fortbewegung, zum Laufen zustande. Körperliche Fitness, welche durch den Sport erreicht werden soll, kann nämlich wunderbar in mehr Arbeit umgesetzt werden. Menschen, die nicht für ihre Gesundheit sorgen, leisten weniger und beanspruchen evtl. noch Geld von der Krankenkasse, sind also ebenfalls „Parasiten“. In dieser Ideologie wird der eigene Körper letztendlich der freien Entscheidung des Individuums entzogen und dem gesellschaftlichen Interesse unterstellt. Er wird zum „Corpus Delicti“.

Da ich diese bürgerlichen Wertvorstellungen ziemlich scheiße finde und ich beim Nachdenken über all das sowieso jede Lust auf Fortbewegung, und zwar sowohl im physischen, wie auch im gesellschaftlich-bürgerlichen Sinne, verloren habe, bleib ich heute lieber sowohl auf meinem physischen, als auch auf meinem sinnbildlichen kapitalismuskritischen Sofa liegen und genieße den Stillstand.

trk

Leser_innenbrief FA! #55

Sagt mal, Feierabend! – geht‘s noch? Was sollte das denn?

Vorsichtig formuliert, ist der Inhalt eures Kommentars aus der Ausgabe 54 bestenfalls „kontrovers“, aus meiner Sicht leider wenig „libertär“. Daher wunderte ich mich sehr, dass ihr nicht wenigstens ein „Pro-Contra“-Thema draus gemacht habt… Zwei Junkies, die beim Klauen erwischt wurden, sind nicht dem Staat überantwortet worden, sondern es wurde das Naheliegendste durchgezogen: Das Diebesgut wurde ihnen abgenommen und es wurde vor Ihnen gewarnt (auf Mailinglisten, also einem relativ begrenzten Szene-Rahmen, nicht durch wildes Plakatieren oder Ähnliches). Das als „bürgerlich“ zu beschimpfen ist einfach nur absurd! Weder wird wirklich argumentiert, warum die bemängelte Aktion der „Selbstjustiz“ nun „Unrecht“ war, noch macht der Autor die Wertmaßstäbe für seine eigene Moral klar. Die ergriffenen Maßnahmen werden verurteilt ohne eine Alternative zu beschreiben – oder soll es etwa emanzipatorisch sein, die Polizei zu rufen? Falls das behauptet werden sollte, dann soll der Autor doch bitte mal ´nen Artikel schreiben warum das bürgerliche Rechtssystem (dem er die zwei Junkies gerne übereignet hätte) eigentlich eine anarchistische Form des Umgangs mit Konflikten darstellt! Ich war wirklich geschockt, denn der Text trieft vor einer bürgerlichen Moral – in der die Schuldigen ihrer gerechten Strafe durch die neutrale Polizei zugeführt werden sollten – und verurteilt den Versuch, mit einer schwierigen Situation selbst umzugehen, der (wie „primitiv“ und unperfekt er auch immer sein mag) eigentlich solidarische Kritik und Anerkennung verdient hätte. Ganz nach dem Motto „fragend schreiten wir voran“… Ich hoffe, Ihr findet eine der beteiligten Personen, die eine Gegendarstellung schreibt…

konne

 

Hey konne,

schön, dass du den Kommentar als kontrovers empfindest. Kontroversen sind ja prinzipiell eine feine Sache, und fragend Voranschreiten klappt eben auch nur, wenn man nicht bloß rhetorische Fragen stellt, wie „soll es etwa emanzipatorisch sein, die Polizei zu rufen?“

Diese Fragestellung geht nämlich an der Sache großzügig vorbei. Was Leute tun und was sie bleiben lassen, sind zwei verschiedene Dinge. Wenn du das Handeln von Leuten beurteilen willst, musst du dir auch dieses selbst mal anschauen. Ist ja schön und gut, dass die beteiligten Wagenplätzler_innen nicht die Polizei gerufen haben – aber was haben sie denn stattdessen getan?

Naheliegend wäre es gewesen, die beiden Junkies mit der Ansage „Haut ab und kommt nicht wieder“ nach Hause zu schicken – umso mehr, weil die beiden wohl gar nicht beim Klauen erwischt wurden, sondern bloß vermutet wurde, das sie klauen wollten. Aber so geht das eben bei der Selbstjustiz: Gerade die Grundsätze, die an der bürgerlichen Rechtssprechung sinnvoll sind, werden meist als erste fallengelassen – etwa die Unschuldsvermutung.

Dann auf bloßen Verdacht hin eine selbstorganisierte Hausdurchsuchung zu veranstalten und zur Beschlagnahmung vermeintlichen Diebesguts zu schreiten, ist auch nicht gerade ein Musterbeispiel für „emanzipatorisches“, nicht mal für pragmatisches Verhalten. Und nebenbei erwähnt, wird eine Denunziation auch nicht besser, wenn sie „nur“ im halböffentlichen Rahmen einer Mailingliste läuft (dort dann allerdings mit allem Drum und Dran, inklusive Fotos und Angabe der Wohnadresse).

Viel mehr als das Bestreben, die eigene subkulturelle Nische mit allen nötigen oder auch unnötigen Mitteln zu verteidigen, ist darin nicht zu erkennen. Es fragt sich, wofür du den Beteiligten hier „Anerkennung“ zollen willst. Weil sie sich in dieser ja doch arg „schwierigen Situation“ so wacker geschlagen haben?

Im Übrigen scheinst du den Kommentar recht persönlich genommen zu haben, zumindest lässt dein Tonfall das vermuten. Auch da fragt sich, woher das kommt – man muss ja nicht zwanghaft mit allem einverstanden sein, was Leute so machen, nur weil diese zufällig im selben Milieu rumhängen wie man selbst. Könnte es vielleicht sein, dass du dich von der Kritik in deiner Identität betroffen fühlst? Deine Frage „soll es etwa emanzipatorisch sein, die Polizei zu rufen?“ weist haargenau in diese Richtung. Viel mehr als die Aussage „in unseren Kreisen macht man das nicht!“ steckt in dem Satz leider nicht drin. Und das ist nun mal kein Argument, sondern nur eine Beschwörung der eigenen Identität.

In dieser Hinsicht ist dein Leserbrief ähnlich symptomatisch wie die Aktion selbst. Es ist natürlich ärgerlich, wenn man feststellen muss, dass sich die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft nicht einfach aussperren lassen – wenn man das plötzlich bemerkt, kann man schon mal überreagieren, sei es nun verbal oder handgreiflich. Wobei es immerhin schön ist, dass du dich mit dem Thema mindestens ein paar Minuten lang beschäftigt hast, wie dein Brief zeigt. An der Stelle könntest du ansetzen und deine Position noch mal überdenken.

In diesem Sinne…

justus

P.S.: Der Kommentarschreiber shy hatte keinen Bock, dem Leserbrief etwas zu erwidern. Ich weise darauf hin, dass es sich bei meiner Antwort um eine individuelle Äußerung handelt, die nicht notwendig der Meinung der FA!-Gesamtredaktion entspricht.

Das VoKü-Rezept FA! #55

Hallo, beim Wochenmarkt konnten wir Unmengen Spargel und Erdbeeren ergattern. Wir dachten, da könnten wir ja auch mal eine Deluxe-Vokü machen. Wäre super, wenn du eine Idee für uns hättest!

Grüße, die Küchenheld_innen“

Liebe Küchenheld_innen,

für eine Deluxe-Vokü kommen aber noch ein paar Zutaten hinzu. Viel Erfolg! Hier die Vokü-Idee (für ca. 25 Personen):

 

Gang 1: Spargelsalat mit Erdbeeren

Zutaten:

3 kg Spargel

1,5 kg Erdbeeren

2 Bund Petersilie

60ml Apfelessig

200ml Sesamöl

200ml Traubensaft

 

Zubereitung:

Spargel putzen, schälen und in kleine Stücke (2cm) schneiden. In kochendes Salzwasser geben, ca. 15min kochen lassen. Spargel abtropfen, auskühlen lassen. Essig, Öl und Saft zusammen gießen. Salz, Pfeffer und Safran dazu. Alles mit einem Stabmixer cremig pürieren. Creme über den Spargel geben. Petersilie klein hacken und darüber streuen. Erdbeeren als Verzierung darauf anrichten. Fertig.

 

Gang 2: Polenta-Plätzchen mit Spargelnudeln

Zutaten:

1,5 l Sojamilch

3 l Gemüsebrühe

1,25 kg Polenta (Maisgrieß)

Salz, Pfeffer

Kokosfett

4 kg Spargel

Zitronensaft

Salz

 

Zubereitung:

Sojamilch und Brühe in einen Topf geben und aufkochen. Grieß einrühren, salzen und pfeffern, einmal kurz aufkochen und dann 15min quellen lassen. Polenta in eine flache Form geben (z.B. Backblech), auskühlen lassen und dann in dreieckige Stückchen schneiden. Kokosfett in Pfanne zerlassen, Polentastückchen von beiden Seiten kurz anbraten.

Spargel waschen, putzen, schälen und mit einem Sparschäler in feine Streifen schneiden. Danach in einem Topf mit kochendem Salzwasser geben, 10min köcheln und danach im Sieb abtropfen lassen. Mit Salz und Zitronensaft abschmecken. Fertig.

 

Gang 3: Mousse au Chocolat mit Erdbeeren und Minze

Zutaten:

64g Sahnesteif

4 TL Rapsöl

625g Kuvertüre/Zartbitterschokolade

800ml aufschlagbare Sojasahne

50 Erdbeeren

50 Minzblätter

 

Zubereitung:

Sojasahne mit Sahnesteif steif schlagen, kühl stellen. Kuvertüre/Zartbitterschokolode im Wasserbad (max. 45 Grad) schmelzen, Rapsöl hinzufügen. Warme Schokolade unter ständigem Schlagen in die Sahne gießen. Mit Erdbeeren und Minzblättern anrichten. Fertig.

mv

Editorial FA! #54

Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Weiter so, das war einmal. Phrasenschwein, ich hol dich ein. Doch, was lustig klingt, ist ernst gemeint: Wir sind am Ende. Und da wir keine Wurst sind, die auf zwei Enden verweisen kann, kommt jetzt der große und wahrscheinlich letzte Hilfeschrei:

Wir brauchen aktive Redaktionsmitglieder!

Seit langem schon dümpeln wir (die FA!-Redax) auf ein Unterminimum geschrumpft und mit stecknadelgroßen Zeitlöchern vor uns hin, brauchen fast ein halbes Jahr um ein Heft mit hängen und würgen in den Druck zu kriegen. Ganz zu schweigen vom schleifenden Vertrieb. Und das schlimmste dabei: der Spaß bleibt zunehmend auf der Strecke, denn wir kommen kaum mehr alle zusammen, um in gemütlicher Atmosphäre Texte zu besprechen, zu planen und zu layouten.

Die Zeit heilt keine Wunden mehr, es muss sich jetzt was ändern. Wenn du also den Feierabend! magst und willst, dass er nach einer 13 jährigen Geschichte nicht sang- und klanglos aus der anarchistischen Zeitungslandschaft verschwindet, dann geh doch mal in dich: Hast du nicht Lust, in der Reaktion aktiv zu sein und wahlweise Texte zu schreiben, diese gemeinsam zu besprechen, zu layouten, den Vertrieb zu organisieren? Oder kennst du wen, der darauf Bock hat? Dann schreib uns: feierabendle@riseup.net. Denn davon wird es abhängen, ob ihr noch mal ein weiteres Heft in der Hand halten werdet.

Macht aus uns eine Tofuwurst oder einen anarchistischen Jesus, der wieder aufersteht. Ihr habt es in der Hand. Wann, wenn nicht jetzt …

… und falls ihr dieses Jetzt – entgegen unserer idealistischen Hoffnung – aktionslos zum Morgen werden lasst, dann möchten wir uns an dieser Stelle bei unseren fleißigen Schreiberlingen, all den helfenden Händen, unseren treuen Leser_innen und natürlich bei unserem Drucker für die vielen guten Jahre bedanken.

Eure Feierabend!-Redax

 

P.S.: „Verkaufsstelle des Monats“ ist diesmal der Wilde Heinz.

„Sagt mal – geht‘s noch?!“

… war meine erste Reaktion, als ich von der Selbstjustiz-Aktion einiger Wagenplätzler im April diesen Jahres erfuhr. Die behandelten laut L-IZ zwei mutmaßliche Diebe schlimmer als die Polizei, die herbeizurufen eines alternativen Projekts anscheinend nicht würdig ist. So wurden die Crystal-Junkies alternativ verhört, erkennungsdienstlich behandelt, bei der nachfolgenden Razzia um vermeintliches Diebesgut gebracht und zu guter letzt in einem größeren Email-Verteiler an den Pranger gestellt. Samt Fotos und genauer Wohnortsbeschreibung, versteht sich. Unrecht mit Unrecht zu begegnen kann aus moralischer Sicht nur falsch sein. Es stellen sich spannende Fragen: Ob die Prangernden wiederum an den Pranger zu stellen ebenso falsch wäre, ob Wagenplatzbewohner_innen ob ihrer alternativen Lebensform dennoch Solidarität verdient hätten und ob die Selbstjustiz nur Ausdruck der letztendlichen Bürgerlichkeit, des fehlenden emanzipatorischen Charakters von (Leipziger) Wagenplätzen ist. Was in jedem Fall bleibt ist ein fader Geschmack und die Erkenntnis, dass alternative Wohnformen nicht per se zu besserem Verhalten führen.

[shy]

Ein Dings für Deutschland

Für Deutschland kann gar nicht oft genug demonstriert werden, gerade jetzt, wo es von bärtigen Barbaren überrollt zu werden droht. Das dachte sich wohl auch Silvio Rösler. Nachdem er Mitte Juni 2015 mehr oder weniger freiwillig aus dem LEGIDA-Organisatorenkreis ausgestiegen war, trommelte Rösler einige seiner alten Kumpels aus der Leipziger Hooliganszene zusammen, um künftig sein eigenes Ding zu machen. „Offensive für Deutschland“ nennt sich das Baby, das zwar noch gewisse Artikulationsschwierigkeiten hat, aber immerhin schon laufen kann.

Freilich kam die Offensive schon beim ersten Aufmarsch-Versuch am 26. September ins Stolpern. Nur etwa 350 Nasen fanden sich auf dem Augustusplatz ein, was deutlich zu wenig war, um den fiesen Gutmenschen etwas entgegenzusetzen. Eine antirassistische Demonstration, die vom Rabet aus in die Innenstadt zog, brachte etwa 700 Menschen auf die Straße, insgesamt stellten sich wohl gut 2000 Leute den Faschos entgegen. Deren Marschroute war von der Polizei zwar weiträumig mit Hamburger Gittern umbaut worden, was aber nicht verhinderte, dass einige eher sportlich motivierte Antifas vor dem Neuen Rathaus den Aufmarsch und die Polizei mit Steinen und ähnlichen Wurfgegenständen angriffen. Dabei wurden wohl auch unbeteiligte Gegendemonstrant_innen verletzt*, was tatsächlich mies ist – bei solchen Aktionen sollte mensch besser auf den Sicherheitsabstand achten.

Am 17. Oktober marschierte die „Offensive“ – deutlich geschrumpft auf eine geschätzte Personenzahl von 150 – dann in Grünau auf, wohl in der Hoffnung, in solchen eher abgelegenen Stadtteilen etwas mehr reißen zu können. Das Kalkül ging nicht ganz auf: Durch eine Sitzblockade konnte die Route der Faschos deutlich verkürzt werden. Die Polizei hatte zwar einen Wasserwerfer dabei, aber offenbar keine Lust zu gewaltsamen Maßnahmen. Nach einigem Hin und Her zwischen Plattenbauten wurden die Rösler-Hooligans durch das Allee Center evakuiert.

Damit ist Spuk nun nicht beendet. Am 24.10. folgte z.B. noch ein Aufmarsch in Markleeberg, aber da waren nur noch 50 Kameraden dabei – der Rest musste wohl die wundgelatschten Füße schonen. Zahlenmäßig geht es also in die richtige Richtung, nämlich zügig dem Nullpunkt entgegen. Weiter so!

[justus]

* die nachfolgende linke Debatte kann mensch u.a. bei Indymedia nachlesen: linksunten.indymedia.org/de/node/154205

Vom Zauber des Dranvorbeigehens

Stickerdiskurs im öffentlichen Raum

Kinder sammeln sie manchmal in Alben, Reinigungsfirmen ärgern sich über ihre Rückstände und viele Passanten wundern sich über sie: Sticker laufen einem tagtäglich über den Weg, wenn man selber durch die Stadt läuft.

In Leipzig sind Aufkleber im öffentlichen Raum im Laufe der Nullerjahre zunehmend in Erscheinung getreten. Vermutlich war das in anderen und vor allem größeren europäischen Städten schon eher der Fall. Meiner Erfahrung nach sind Aufkleber in anderen Großstädten vergleichbar präsent – zumindest in Prag, St. Petersburg, Hamburg, Berlin, Halle, Dresden und Chemnitz . Da ‚Subkultur‘, im allgemeinen Sinne von nicht-institutionalisierter und eher ‚freier Kultur‘, ein vorwiegend urbanes Phänomen ist, kann man wohl schließen, dass Sticker mit regionalen Unterschieden in allen europäischen Großstädten auftauchen. In diesem Beitrag versuche ich zuerst, Aufkleber in Abgrenzung zu anderen Formen von ‚Streetart‘ zu bestimmen. Darauf folgen einige Überlegungen zum ‚Stickerdiskurs‘ in Leipzig. Und anschließend stelle ich eine themenbezogene Einteilung der Erscheinungsformen von Stickern/Aufklebern dar. Zwischendurch findet ihr einige Beispiele in Bild und Text. Es ist klar, dass hier kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird: dazu gibt es einfach zu viele verschiedene Sticker und vor allem Leute, die sie wo auch immer hinkleben.

Ursprünge und technische Aspekte

Das Platzieren von Aufklebern im öffentlichen Raum ist einer kleinen und harmlosen anarchischen Aktion näher als dem Straftatbestand des Vandalismus. Die Ursprünge der Sticker sind vielfältig. So haben Spuckies vor allem für Agitation/Präsenz von linken Ideen eine relativ lange Tradition. Für die Jüngeren: Spuckies sind vorgefertigte bedruckte Zettelchen, die nur in Verbindung mit Wasser (Spucke) selbstklebend sind. Für ‚die Linke‘ waren Spuckies mit Sicherheit seit den 60igern in der BRD wichtig, vor dem ersten Weltkrieg wahrscheinlich nicht. Zu dieser Zeit waren eher Anschläge/Plakate Mittel des ‚optischen politischen Kampfes‘ in der Alltagskultur. Bezogen auf den Zweiten Weltkrieg ließen sich seit dem späten Frühjahr 2015 (Tag der Befreiung?) noch von der Antifa an den entsprechenden, nach Widerstandskämpfern benannten Straßen angeklebte Reproduktionen der historischen Originale inklusive Foto-Porträt/Begleitplakat finden: Bspw. in der Georg-Schwarz- und William-Zipperer-Straße. Für die jüngere Zeit ist es plausibel anzunehmen, dass Sticker als Weiterentwicklung von Spuckies als praktische Erweiterung des Taggens (also des ‚öffentlichen Unterschreibens‘ mit Edding/Sprayfarbe) aufkamen. Praktisch weil billig, schnell zu platzieren und strafrechtlich weniger gravierend als Sprayfarbe/Edding. So sieht man etwa öfters Aufkleber der Form ‚Hello my name is …‘, wobei die Leerstelle per Edding um das Tag ergänzt wurde. Oft sind auch zweckentfremdete Paketscheine das Mittel der Wahl, die dann häufig mit Farbe und/oder Schablonen gestaltet werden. In diesem Sinne ist der Ursprung von Stickern auch apolitischer Natur, weil in Zusammenhang mit Graffitti stehend. So wirken z. B. in Leipzig entsprechende Sticker – Fast Drips/ORG bzw. der Schlagring für die RCS/Radicals – flankierend zur typischen optischen Präsenz beider Crews durch die üblichen Graffiti. Und ja, es gibt durchaus politische Motivation für Graffiti – hier ist aber die Rede von ‚dekorativen Graffiti‘, und nicht von Parolen, auch wenn die Grenzen wie so oft verschwimmen.

Es gibt bestimmt gute Gründe dafür zu glauben, dass Sticker auch ohne Spuckies ihren Weg in den öffentlichen Raum gefunden hätten. Aber immerhin waren Spuckies die ersten unkontrolliert im Stadtbild auftauchenden Zettelchen mit bestimmten Botschaften. Rein technisch gesehen lässt sich ohnehin die Frage stellen, ob eine Unterscheidung zwischen Stickern und Spuckies sinnvoll ist. Beide lassen sich massenhaft reproduzieren und verteilen. Das Internet ist aber relevanter für die flächendeckende Verbreitung von Stickern als für Spuckies, obwohl beides online barrierearm bestellt werden kann. Für die Platzierung von Stickern braucht man – im Unterschied zu Spuckies – eben einfach nichts weiter als a) den Sticker, b) einen geeigneten Untergrund und c) die Abwesenheit von Regen. Daher ist deren Verbreitung höher bzw. zumindest vielgestaltiger als die von Spuckies. An dieser Stelle noch ein Wort zur Unterscheidung von ‚professionellen‘ gegenüber ‚Do-it-yourself‘ (DIY)-Aufklebern: Für mich gehört zum DIY-Prinzip das selbständige ‚handwerkliche‘ Tätigwerden – also das Rumklecksen mit Farbe und Schablone auf Paketscheinen zum Beispiel. Das Designen von Motiven für die Internetbestellung hingegen hat zwar auch Züge davon, ist im strengen DIY-Sinne jedoch schon immer Teil der Aktion, da ja auch hier der Entwurf des Motivs an erster Stelle steht. Insofern ist für mich daher die industrielle Reproduktion von Aufklebern – etwa in professionellen Druckereien – ein Kriterium, was dem DIY-Prinzip widerspricht.

Stickerdiskurs als Reaktion auf Reklame

Sticker sind u. a. eine subkulturelle und oppositionelle Antwort auf die optische Omnipräsenz von Reklame und die damit einhergehende Reizüberflutung im Stadtbild. Diese Eigenschaft läßt sich allen Stickern zuschreiben, denen man im Alltag außerhalb des üblichen Anwendungsbereichs von Aufklebern begegnet. Wobei es eine ‚systemische Ausnahme‘ gibt, nämlich das sogenannte ‚Guerilla-Marketing‘. Ein vergleichsweise ‚sympathisches‘ Beispiel sind Skate/Graffiti-Shops oder Bandsticker. Diese systemische Ausnahme macht sich die ‚street credibility‘ des Mediums zu eigen und versucht so, etwas anderes zu sein als die herkömmliche Reklame. Klappt auch ganz gut. Aber noch sind zumindest meiner Wahrnehmung nach die meisten Sticker subversiver Natur.

Daher misst man sich, unabhängig von der eigentlichen Intention des Rumklebens, nicht nur subkulturell selbstbestimmt innerhalb des öffentlichen Stickerdiskurses, sondern steht gleichzeitig auch in Opposition zur Reklame im öffentlichen Raum. Werbung wird folgerichtig nicht selten unfreiwilliges Medium bzw. unfreiwilliger Gegenstand karikierender oder schlicht destruktiver Aktionen – Stichwort ‚Adbusting‘. Diese Anwendung teilen Sticker demzufolge mit Grafitti und – im Sinne politischer Meinungsäußerung/Agitation besonders hervorzuheben – mit Stencils. (Stencils sind zumeist einfarbige, mit Schablonen angefertigte Graffiti.) Und weiteren Streetartformen, wie z. B. diesen großflächigen und meist gedruckten Papierdingern, Kacheln und was es sonst noch gibt. So wie etwa von den notorisch sichtbaren LE-Sticker-Vandals Sladge&Konjack durchaus auch Fliesen zu bewundern sind und auch Dinge wie Guerilla-Knitting, Styropormotive und anderes im Stadtbild vorkommen.

Modell des Stickerdiskurses als Meinungsstreit

Zurück zum ‚Stickerdiskurs‘: Im Prinzip gibt es zwei modellhafte Kontexte, in denen sich Aufkleber platzieren lassen. Und das im jeweils ‚öffentlichen‘ und ‚halböffentlichen Raum‘ – der private wird hier ignoriert. Mit ‚halböffentlicher Raum‘ sind hier vor allem Kneipen etc. gemeint, deren Sanitärästhetik den subkulturellen Touch häufig aus der Stickerpräsenz bezieht.

Im ersten modellhaften Fall werden Aufkleber in einer bislang aufkleberfreien Umgebung platziert, wie etwa einer von den LSB/JCDecaux-Leuten frischgeputzten Haltestelle oder einem relativ jungfräulichen Verkehrsschild. Das ist dann gewissermaßen der Ausgangspunkt für eine diskursive Auseinandersetzung, indem sich andere Leute zur Präsenz dieses Aufklebers verhalten (müssen).

Zum zweiten kann ein Sticker in genau einer solchen Reaktion in Bezug zu einzelnen oder mehreren bereits angebrachten Aufklebern platziert werden. Er kann dann entweder unterstützend wirken oder als Kontra-Statement dienen. Der erste Fall ist eher theoretischer Natur, wenn auch nicht soo selten. Schließlich ist die mit dem Sticker transportierte Botschaft ja an dieser Stelle bereits präsent. Und auch das Kontra-Statement wird eher direkt auf dem gegnerischen Aufkleber angebracht als daneben. In bester Erinnerung sind da die prototypischen freundlichen Aufkleber mit dem Cartoonmännchen und seiner Sprechblase ‚Ich überdecke einen blöden Nazi-Aufkleber‘. Oder eben doch daneben und der andere Aufkleber wird abgerissen bzw. anderweitig unkenntlich gemacht. Es ist natürlich auch denkbar, dass z. B. politische Sticker einfach von sich gestört fühlenden Bürgern mit Kontrollbedürfnis abgerissen werden, ohne dass die Sticker-Botschaft überhaupt wahrgenommen wird. Ein Beispiel aus dem Meinungsstreit mit Stickern im öffentlichen Raum findet ihr in untenstehendem Kasten, der den politischen Diskurs mit Aufklebern in Merseburg beschreibt. Wie auch immer das im konkreten Fall aussehen mag: Aufkleber dienen der eigenen Meinungsäußerung und damit auch der Auseinandersetzung mit gegnerischen Meinungsäußerungen.

Klingt banal und ist es auch. Deswegen sind Sticker ja auch ein urbanes Massenphänomen. Aber da Banalitäten immer trivial und damit wahr sind, bieten sie auch einen sicheren Ausgangspunkt zum weiteren Nachdenken und Beobachten: Wann sind wo wie viele Sticker präsent? Diese Fakten sagen immerhin etwas zum Stand des lokalen Meinungsaustauschs im öffentlichen Raum. Wie präzise und aussagekräftig diese Fakten sind, sei mal dahingestellt: schließlich ist ja auch denkbar, dass vergleichsweise wenig Leute relativ viele Sticker in einem bestimmten Gebiet über einen längeren Zeitraum immer wieder anbringen. Damit ist dann aber auch klar, dass bei vorausgesetzter Präsenz der Sticker zumindest die Gegenfraktion entweder nicht existiert, ignorant ist oder schlicht zu faul, sich den Stress des Abpulens zu machen. Das sind alles potentiell relevante Schlüsse auf die jeweilige Situation im Meinungsaustausch der verschiedenen Szenen vor Ort. So sind zum Beispiel als Sonderfall die einzeln verblichen noch auffindbaren ‚Fence-Off‘-Sticker im Leipziger Westen (und wahrscheinlich auch anderswo in der Stadt) eine schöne Reminiszenz an den Widerstand gegen die Nazi-Präsenz in der Odermannstraße. Hier befand sich von 2008 bis September 2014 ein sogenanntes NPD-Bürgerbüro, gegen das seinerzeit u. a. mit den ‚Fence-Off‘-Stickern agitiert wurde. Das letztendliche Verschwinden des Nazizentrums aus Lindenau hat sicher viele Ursachen, aber zumindest haben Sticker die Verbreitung des Widerstandes optisch unterstützt.

Thematische Einteilung von Aufklebern

Vom Stickerdiskurs zum Versuch einer thematischen Klassifizierung: Neben den eindeutig politisch motivierten Stickern vor allem von links (Antifa, Refugees Welcome, Linksjugend etc.) existieren vielfältige weitere Formen, wie etwa ‚sportlich‘ motivierte, wobei eine trennscharfe Abgrenzung häufig nicht möglich ist. Überspitzt formuliert: Wo hört z. B. der Ausdruck der Unterstützung des FC Lok auf und wo beginnt rechtsradikale Propaganda? Besonders am Beispiel des Fußballs vermischen sich die Motivationen. (Ein seit einiger Zeit besonders kontrovers diskutiertes Beispiel seht ihr im zweiten Kasten.) So intendiert ein Sticker der BSG Chemie neben dem Support des Vereins auch immer ein politisches Statement gegen rechts – unabhängig davon, ob das dem einzelnen Betrachter/Anbringer des Stickers bewusst ist oder nicht. Oder ob der zufällige Betrachter das erkennt. Deutlicher ist das beim Fußballverein ‚Roter Stern Leipzig‘, wo häufig auch eindeutige politische Statements auf den Aufklebern zu finden sind. Als weiteres Beispiel aus dem Bereich Sport wäre etwa noch der Support des Handballvereins DHFK zu nennen.

Abgesehen davon gibt es viele Formen eher ‚ästhetisch-motivierter‘ Stickertypen, die vermutlich vor allem der ‚unpolitischen‘ Graffitiszene entspringen (LE-Sticker Vandals). Hinzu kommen noch Sonderfälle wie etwa die derzeit präsenten Mandala-Sticker der Lina-Leute, die ich persönlich einer verhipsterten Eso-Richtung zuordnen würde. Und dann gibt es natürlich noch die bereits erwähnten Sticker, die nur Reklame sind. Aber die beiden letztgenannten sind derzeit eher Randphänomene. Prototypisch unterscheiden lassen sich daher: a) politisch, b) sportlich und c) ästhetisch motivierter Sticker. Überschneidungen sind gängige Praxis und die systemische Ausnahme sind Sticker des Guerilla-Marketings.

Aufkleber sind Medium und Spiegelbild eines Meinungsaustauschs. Dabei kann es um Politik, Sport, Musik, künstlerische Freiheit oder einfach darum gehen, die neusten Sneaker im hippsten Store anzupreisen. Dieses Spiegelbild ist häufig unpräzise oder verzerrt – aber dennoch ein konkretes Abbild der gegensätzlichen Meinungsfraktionen in einem begrenzten urbanen Raum. Und außerdem macht es zumindest mir persönlich ein bisschen – zugegeben pubertären – Spaß, immer wieder an selbstplatzierten Stickern vorbeizulaufen. Optische Präsenz ist ein wichtiges Mittel in jedem Meinungsstreit. Also überlegt euch beim nächsten Besuch in einer von euch präferierten Lokalität, die auch Sticker zum Mitnehmen rumliegen hat, ob ihr nicht ein paar von denen mitnehmt und platziert. Und im besten Fall eine Spende dafür da lasst. Falls ihr eigene Beobachtungen zum Thema Aufkleber im öffentlichen Raum oder insbesondere Kritik zu den bisherigen Ausführungen beizusteuern habt, fühlt euch frei, die Feierabendredaktion damit zu behelligen. Die freut sich darüber!

[wasja]

 

* LSB = Leipziger Service Betriebe – u.a. zuständig für die Instandhaltung von Haltestellen; JCDecaux = in Leipzig marktführende Firma für Stadtmöblierung, baut/vermietet u.a. Haltestellen und Werbeflächen.

 

Exkurs 1: Sticker-Diskurs am Beispiel Merseburg

Ein etwas breiteres und rein politisches Beispiel für Manifestationen des Stickerdiskurses begegnete mir bei einem (touristisch motivierten) Besuch der Stadt Merseburg (Nähe von Halle, knapp 35.000 Einwohner). Im Stadtbild der Innenstadt finden sich erfreulicherweise ausschließlich Aufkleber politisch linker Gruppierungen (Antifa, Refugees Welcome, Anti-Homophobie-Gruppe), die zur guten Hälfte auch intakt sind. Eine beträchtliche Anzahl (vorsichtige Schätzung nach zwei Stunden Spaziergang durch die Stadt mit offenen Augen: 30-40%) der Sticker wurden beschädigt. Derartige Beobachtungen müssen naturgemäß extrem unpräzise bleiben, zumal einem nicht klar sein kann, wie viele Sticker komplett entfernt wurden und daher gar nicht mehr sichtbar sind. Außerdem lassen sich erkennbare Rückstände meist nicht mehr ihrer ursprünglichen diskursiven Stoßrichtung nach identifizieren. An einigen Stellen waren jedoch überklebte/stark beschädigte Nazisticker (gewohnte rechte Propaganda: ‚Überfremdung stoppen – Heimat schützen‘ inkl. der schwarzen Autonome-Nationalisten-Fahne) erkennbar. Auch in anderer Form ist rechte Meinungsäußerung sichtbar – so zum Beispiel in Gestalt von Eddingschriftzügen, wenn auch nicht übermäßig frequent. Fazit für die derzeitig Situation in Merseburg: linke Gruppierungen sind im Stickerdiskurs derzeit dominant. Es gibt vermutlich deutlich weniger Nazis, die sich dazu am Diskurs eher destruktiv als durch optische Präsenz durch eigene Aufkleber beteiligen.

Exkurs 2: Kritik an RB in Stickerform

Exemplarisch nachvollziehen lässt sich der Stickerdiskurs in seinen vielen Facetten am Beispiel des Umgangs mit dem Fußballverein Red Bull Leipzig. Mittlerweile existiert ein beachtliches Spektrum von Pro-RB-Stickern, vor allem von Fanclubs bzw. -gruppierungen. (Ich habe allerdings noch nie einen DIY-Aufkleber oder Vergleichbares aus diesem Lager gesehen.) Zumindest im Westen von Leipzig halten sich diese Sticker im öffentlichen Raum nicht lang. Derzeit weniger häufig sichtbar sind professionell gefertigte Anti-RB-Sticker. Am häufigsten sieht man noch den ‚Nein-zu-RB-Aufkleber‘. In Halle hingegen fiel mir bei meinem letzten Besuch im Juli diesen Jahres die massive Präsenz von professionell gefertigten Anti-RB-Stickern auf, die sich in ihren Motiven stark von den in Leipzig sichtbaren unterschieden.

Besonders das Logo einer Anti-RB-Facebookgruppe erlangte jedoch (auch in Stickerform) einiges an Aufmerksamkeit, als Herr Schöler als Redakteur des mittlerweile eingestellten Stadtteilmagazins ‚Dreiviertel‘ hier ‚strukturellen Antisemitismus‘ zu identifizieren suchte (http://3viertel.de/Inhalte-Artikel-491). In seinem Artikel kritisiert Schöler, wohl nicht ganz zu Unrecht, die Gestaltung des Logos. Diese stellt eine Parodie auf das RB-Wappen dar: die beiden symmetrischen Stiere sind durch Ratten ersetzt, welche sich an eine Euromünze klammern (s. Bild). Ja, Ratten sind eine antisemitisch vorbelastete Metapher, die insbesondere in Verbindung mit dem negativen Bezug auf Geld die Interpretation des ‚Finanzjudentums‘ heraufbeschwören kann. Andererseits legt aber auch die marketingtaugliche Namenskonstruktion des Vereins ‚Rasenball‘ die Verballhornung zu ‚Rattenball‘ relativ nahe. Dass Kapitalismuskritik auch von Antisemiten argumentativ genutzt wird – geschenkt. Aber die Kritik an einem Marketinginstrument wie RB Leipzig mit unreflektierter Kapitalismuskritik gleichzusetzen und simultan mit ‚strukturellem Antisemitismus‘ zu betiteln, erscheint dann doch ziemlich abstrus. Was genau Herr Schöler mit seinem Artikel auch immer bezwecken wollte – man kann durchaus kritisch gegen den Verein RB Leipzig eingestellt sein und dies auch mit dessen astronomischem Etat begründen, ohne Antisemit zu sein. Dann sollte man aber auch konsequenterweise den gesamten Profifußball mit seinem unrealistischen und unverhältnismäßigem Finanzgebahren in diese Kritik einschließen.

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