Eine Auswertung der Repression rund um die Proteste gegen LEGIDA in Leipzig

Seit Herbst 2014 veranstaltete das islamfeindliche und rassistische PEGIDA-Bündnis „Spaziergänge“ in Dresden. Mit dem Jahreswechsel 2014/15 sprangen auch Leipziger Rassist*innen auf den Zug auf und haben seit dem 12. Januar 2015 ein knappes Dutzend Demonstrationen in Leipzig durchgeführt.

Im Rahmen der Gegenproteste zu diesen anfangs wöchentlich stattfindenden LEGIDA-Aufmärschen hat die Einrichtung von Kontrollbereichen immens zugenommen: So wurden wiederholt weiträumige Bereiche um die Routen von LEGIDA und der Gegenproteste zum Kontrollbereich erklärt. Begründet sahen die Cops diese Maßnahmen dadurch, dass nur so „Auseinandersetzungen zwischen gewaltbereiten Personen“ zu verhindern seien, da „insbesondere im Internet von der linken Szene zu Blockaden gegen die Versammlung von LEGIDA aufgerufen wurde“ (Kleine Anfrage im Sächsischen Landtag; Drs.-Nr. 6/802). Durch den tatsächlichen Verlauf der Protestkundgebungen sahen die Cops ihre Prognose bestätigt und hielten daher daran fest.

Die Schaffung von Kontrollbereichen bietet rechtliche Grundlage für haufenweise Identitätsfeststellungen und Durchsuchungen potentieller Teilnehmender. Dadurch können sich die Cops mit geringem Aufwand einen weiten Überblick verschaffen, welche Menschen gewillt sind, an den Gegenprotesten teilzunehmen. So wurden nicht nur die Daten von Beschuldigten im Rahmen von Ermittlungsverfahren erfasst, sondern aufgrund der breiten Gegenproteste auch von studentischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen. Beispielsweise wurden am 12.01.2015 ein Prozent aller Teilnehmenden auf ihre Identität kontrolliert (Kleine Anfrage im Sächsischen Landtag; Drs.-Nr. 6/693) – das waren namentlich 258 Personen.

Doch auch während der Gegenproteste kam und kommt es wiederholt zu polizeilichen Übergriffen, welche die Teilnahme an Aktionen einschränkt oder gar verunmöglicht und auf die Teilnehmenden abschreckend und kriminalisierend wirkt. So gibt es zum Einen, trotz fehlender Gefahrenlage, eine dauernde videographische Erfassung des gesamten Demonstrationsgeschehens durch Einsatzwägen, Handkameras und Helikopter, welche sich einseitig auf die Geschehnisse der Gegenproteste beschränkt. Weiter wird Teilen der Aktivist*innen regelmäßig die Teilnahme an den angemeldeten Protesten durch weiträumige Absperrung der Zugänge oder Platzverweise unmöglich gemacht. Platzverweise werden aber nicht nur im Vorfeld der Versammlungen oder bei angeblichen Gefahrenlagen erteilt, sondern auch gegenüber Zeug*innen von polizeilichen Maßnahmen, da diese für die Cops zumeist unerwünscht sind.

Schon beim ersten LEGIDA-Marsch am 12. Januar, dem mehrere zehntausend Demonstrant*innen entgegentraten, gab es nahe des Mückenschlösschens im Norden von Leipzig einen Blockadeversuch. Gegen mindestens 60 Betroffene wurde im Zuge dessen wegen einer angeblich unerlaubten Ansammlung ein Verfahren eingeleitet. Mehrere Beschuldigte haben in diesem Ordnungswidrigkeitenverfahren mittlerweile Bußgeldbescheide in Höhe von jeweils etwa 130 € bekommen.

In den folgenden Wochen häufen sich die Berichte von polizeilicher Gewalt: So befanden sich Betroffene von Strafverfolgungsmaßnahmen, beispielsweise unter dem Vorwurf des Landfriedensbruchs, bis zu sechs Stunden in polizeilichem Gewahrsam ohne einem*einer Richter*in vorgeführt worden zu sein, obwohl dies obligatorisch ist. Auch wurden Personen bei der Räumung von Sitzblockaden oder bei Festnahmen beleidigt, ins Gesicht geschlagen, sodass sie zu Boden gingen, aber auch Würgen und die Anwendung von Schmerzgriffen kamen wiederholt vor.

Das gewaltsame Vorgehen der Cops steigerte sich fortlaufend. So erlitt eine Person Berichten zufolge nach der Auseinandersetzung mit diesen ein Schädelhirntrauma, mindestens eine weitere Person musste nach Auseinandersetzungen für mehrere Tage ins Krankenhaus. Bis jetzt erreichte das Vorgehen der Cops seinen Höhepunkt, als Blockaden mit Pfefferspray und durch den Einsatz von Pferden „geräumt“ und Aktivist*innen geschlagen wurden, sodass sie anschließend ärztlich behandelt werden mussten. Andere Personen berichten von Angriffen durch Nazis und dem gleichzeitigen Nichteingreifen der Cops vor Ort. Wiederholt wurden einigen Teilnehmer*innen zudem von LEGIDA-Anhänger*innen und Cops eine Anzeige wegen Körperverletzung angedroht.

Darüber hinaus gab es verschiedene Kessel mit mehreren Dutzend Betroffenen, bei denen Platzverweise ausgesprochen und ED-Behandlungen durchgeführt wurden. Den Aktivist*innen wird hier teilweise Landfriedensbruch vorgeworfen.
Im Rahmen von LEGIDA sind manche der Beschuldigungen von den Cops an Absurdität aber auch kaum mehr zu übertreffen: so gab es ein Verfahren wegen eines ACAB-Schildes, diese Abkürzung stand in diesem Zusammenhang für „All Coulors are beautiful“. Der Vorwurf hier: Beleidigung. Auch wurden uns am Rosenmontag polizeiliche Maßnahmen wegen Faschingsschminke gemeldet, hier lautete der Vorwurf Vermummung. Weiter wurde der Vorwurf der Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole mehrfach angeführt, wenn Teilnehmende ihre Ablehnung gegenüber LEGIDA beispielsweise in Form von durchgestrichenen Hakenkreuzen kundtaten. Mehrere Personen wurden zudem mit der Begründung kontrolliert und durchsucht, weil sie einer Gruppe, die eine Woche vorher Steine geworfen haben soll, ähnlich sähen. Dies wurde insbesondere an der schwarzen Kleidung festgemacht.

Bei vielen der hier dargelegten Verfahren gibt es bisher noch keine Ergebnisse, da die Ereignisse noch nicht so lange zurückliegen. Der EA und die Rote Hilfe Leipzig rechnen insgesamt jedoch bisher mit mehreren hundert Strafverfahren.
Sofern ihr von diesen Repressionen betroffen seid, lasst euch nicht abschrecken, denn genau das wollen die Repressionsorgane damit erreichen. Für alle anderen gilt: Solidarisiert euch mit den Betroffenen! Antirepression kostet Geld: veranstaltet Solipartys oder spendet Geld auf das Sonderkonto der Roten Hilfe Leipzig!

[Ermittlungsausschuss Leipzig und Rote Hilfe Leipzig, 30. Juni 2015]

 

Sprechstunde: Jeden 1. Freitag im Monat, 17:30 – 18:30 (Linxxnet)

Spendenkonto: Rote Hilfe e.V. Leipzig
IBAN: DE88 4306 0967 4007 2383 05
BIC: GENODEM1GLS
Verwendungszweck: „Montag”

Ein ganz normaler Tag bei NoLegida

FALLSCHILDERUNG:

Die folgende Zusammenfassung einer betroffenen Person zeigt, wie Gegendemonstrant*innen im Umfeld von LEGIDA schikaniert und verunsichert werden sollen, um damit das Fernbleiben von Gegenprotesten zu erzielen:

Die betroffene Person (S.) wurde am Tag der LEGIDA-Demonstration Ende Januar 2015 von einem zivilen Tatbeobachter angeblich bei einer Straftat beobachtet. Im Folgenden soll S. deswegen über eine Stunde ununterbrochen von diesem und einem weiteren zivilen Tatbeobachter observiert worden sein. Nach etwa einer Stunde folgte eine Festnahme durch die Bundespolizei, welche die Person zunächst intensiv durchsuchte und während der gesamten Maßnahme filmte. Hierbei wurde ihr vorgeworfen, einen Autospiegel beschädigt zu haben. Fast alle mitgeführten Dinge wurden abgefilmt und beschlagnahmt, u.a. ein Handy und zwei Kameras samt Akku und Ladekabel, wogegen die betroffene Person noch vor Ort Widerspruch einlegte. Als S. in Geleit von über zehn Cops in eine Tiefgarage abgeführt wurde, verwehrte die Polizei eine*r Zeug*in, welche*r die Festnahme beobachten wollte, die Beobachtung. Sie*er konnte jedoch erkennen, dass S. zwischen mehreren Polizeiautos umringt von Cops stand und dort weiter abgefilmt und geblendet wurde. Dabei wurde S. aufgefordert in die Kamera zu schauen. Als S. erwiderte, dass das Licht blende, wurde der Kopf kurzerhand gewaltsam durch die Cops in Richtung der filmenden Kamera gedreht. Abermals wurde der*dem Zeug*in seitens der Polizei verbal und durch Abdrängen klar gemacht, dass Außenstehende unerwünscht seien. Die festgenommene Person wurde indes nach der PIN des beschlagnahmten Handys gefragt, worauf diese keine Angaben machte. Dabei wurde seitens der Cops auch untersagt, den Akku zu entfernen oder das Gerät auszuschalten. Eine Liste der beschlagnahmten Dinge, auf der ein Akku sowie ein Ladekabel fehlten, wurde der beschuldigten Person vorgelegt, um diese zu unterschrieben. Dies lehnte S. konsequenterweise ab.
Dieser Vorfall zeigt, dass kleinste Vorwürfe genutzt werden, um fast sämtliche Gegenstände einer Person zu beschlagnahmen, zu durchleuchten und möglicherweise auszuwerten. Erst nach mehreren Monaten ist mit der Rückgabe mancher Sachen zu rechnen. Weiter muss davon ausgegangen werden, dass zurückgegebene Sachen seitens der Polizei und des Staatsschutzes zur Aufzeichnung und Verfolgung manipuliert wurden. Daher raten wir vor allem bei technischen Geräten unbedingt von einer weiteren Nutzung ab.

[Rote Hilfe Leipzig]

15. Januar 2015: Braustraßenkessel

Aktuell verschicken die Cops Anhörungsbögen für das Strafverfahren wegen dem Braustraßenkessel vom 15.01.2015. Schickt die Anhörungsbögen nicht zurück! Auch der Bogen mit den Pflichtangaben muss NICHT! zurückgeschickt werden, da die Cops die Daten eh haben.

Nach unseren Erfahrungen werden Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch oft eingestellt, weil den später vor Ort (d.h. hier: im Kessel) festgestellten Personen keine “Tathandlung” nachgewiesen werden kann.

Es kommt also darauf an, ob die Cops Anhaltspunkte dafür haben, dass ihr euch an den Ausschreitungen beteiligt habt. Wenn ihr nicht einfach abwarten wollt und euch das zutraut, findet ihr das durch eine Einsicht in die Ermittlungsakte heraus, die ihr auch selbst beantragen könnt (Muster am Ende des Artikels). Die Einsicht in die Akte steht euch zu und darf nicht verwehrt werden. Nehmt euch Papier und Stift mit, um die interessanten Sachen rauszuschreiben.

Achtung: Beim Termin der Akteneinsicht können die Cops versuchen, euch in Gespräche zu verwickeln, oder sonst wie an Aussagen von euch zu kommen. Macht von eurem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch! Ihr seid nur dort, um Einsicht in die Ermittlungsakte zu nehmen, sonst nichts. Es ist schon vorgekommen, dass nur aufgrund der eigenen Angaben Anklage erhoben wurde. Also redet nicht mit Cops oder Justiz! Es kann auch sein, dass ihr beim Lesen der Akte beobachtet werdet und eure Reaktionen von geschultem Personal registriert werden.

Wenn ihr Fragen rund um die Akteneinsicht habt, könnt ihr gerne zur Sprechstunde vorbeikommen.

[Rote Hilfe Leipzig]

https://antirepression.noblogs.org/post/2015/08/13/braustrassenkessel-vom-15-januar-2015-2/

 

Musterantrag auf Erteilung der Einsicht in die Ermittlungsakte:

Anna Arthur Trotz

Revoluzzergasse 1

1312 Stadt

 

An: Polizeidirektion Leipzig / Dez. 5

Postfach 100661

04006 Leipzig

In dem Ermittlungsverfahren gegen mich – Vorgangsnummer: (steht im Anhörungsbogen oben rechts) – beantrage ich mir zunächst Akteneinsicht gemäß § 147 Abs. 7 StPO zu gewähren und bitte um Mitteilung wann und wo ich Einblick in meine Akten bekomme.

Bis dahin mache ich von meinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch.

MfG

Anna Arthur Trotz (unterschreiben!)

Januar 2015 – ein Erfahrungsbericht aus Dresden

[Der Autor des folgenden Textes, Mohamed Okasha, ist Beauftragter für ausländische Studierende an der Universität Leipzig. In dieser Eigenschaft wurde er am 14. Januar 2015 von Sachsens Ministerpräsident Tillich zum Neujahresempfang unter dem Titel „Aus aller Welt – zu Hause in Sachsen“ ins Dresdner Albertinum eingeladen (http://www.medienservice.sachsen.de/medien/news/196257). Am 13. Januar 2015 geschah in Dresden der Mord an Khaled Bahray, einem Asylbewerber aus Eritrea. Durch die Fehlannahmen der Polizei, es handele sich um einen Todesfall ohne Fremdeinwirkung, begann die Spurensicherung viel zu spät. Der Fall verursachte internationale Resonanz und die Dresdner Polizei geriet unter starke Kritik. Im folgenden Beitrag gibt der Autor einen subjektiven Erfahrungsbericht im Klima dieser Ereignisse.]

Ein Asylbewerber wurde getötet… Ich gehöre nicht hierher:

Zurück aus Dresden… aus einer der schönsten Städte Deutschlands.. jedoch aber eines der schlimmsten Völker Deutschlands.. Ich habe eine Einladung vom Ministerpräsident von Sachsen bekommen, als Vertreter der ausländischen Studenten der Uni Leipzig. Ich war sehr glücklich und dachte, der Mann wollte wissen, was wir brauchen, oder wie können wir das Problem von Pegida überwinden, oder wie kann man den Integrationsprozess fördern, oder wie sieht es aus mit den Problemen der Flüchtlinge, ausgegangen davon, dass ich mich mit diesem Thema gut auskenne…

Zwei Szenen:

Die erste Szene: Durchaus schöne Halle, geschmückt, am Eingang stehen schöne Frauen mit Gläsern Wein, Saft und Wasser… Alles kostenlos.. Rechts gibt es ein offenes Buffet… Die Halle ist voll von sehr schicken Persönlichkeiten, Leiter von Parteien, VIPs … Eine Tafel mit dem Titel „Sachsen für alle Zuhause“ oder so, der Satz ist auf allen Sprachen geschrieben außer der Arabischen… mmm… nicht schlimm, kein Problem… .. Klassische Live Musik, eine Band aus zehn verschiedenen Nationalitäten.. eine Werbung, in der Schüler aus verschiedenen Nationalitäten zusammen basteln. Der Ministerpräsident bestätigt in seiner Rede, dass er sich für alle Bürger interessiert… Dann taucht eine Tanzgruppe auf, die schöne Bewegungen macht… Ich: Dafür bin ich aus Leipzig gekommen?? Ist das alles?!! Eine draußen rauchen ist besser…

Die zweite Szene:

Vor dem Haupteingang der Halle… Eine Gruppe von armen Menschen, nicht mir fremd, Asylbewerber.. Ich: „Warum demonstrieren sie?“ Ein schicker Mann: „eine Spontan-Demo, nicht gemeldet?“ „Aber wozu?“ „Ein Ausländer wurde gestern abend getötet?“… Ich gehe zu ihnen, ungefähr ein Hundert Asylbewerber,… eine alte Frau jammert… die Verwandte des Toten… ungefähr sieben Deutsche, die mitdemonstrieren, und eine Rede halten, aber auf Deutsch… die Asylbewerber verstehen nicht… einer fragt mich ob ich Arabisch sprechen kann.. ich übersetze die Rede, und ich verstehe nix, was ist los? was ist gestern passiert? wie wurde dieser Typ getötet?… Die Demonstranten wollen mit dem Ministerpräsident reden… ich gehe um ihn darum zu bitten, mit ihnen zu reden,… zufälligerweise finde ich die Integrationsministerin, eine alte nette Frau… sie redet mit ihnen und ich übersetze… Zum ersten Mal hier in Deutschland sehe ich diese Angst… sie können nicht einkaufen gehen, sie können nicht auf der Straße laufen… Ihre Heime werden täglich angegriffen… kein Sicherheitsdienst… die alte Frau hat kein Essen zuhause, da sie Angst hat, auszugehen um einzukaufen.. Die Leute spucken ihnen ins Gesicht… sie fühlen überhaupt keine Sicherheit… sie wollen weg von hier… sie wollen ihre Pässe wieder damit sie von hier weggehen können… sie sind geflohen um sicher zu leben… aber leider keine Sicherheit… sie wollen kein Geld, sie wollen nur Sicherheit…
Die Ministerpräsidentin spricht ihr Beileid aus, verspricht, sich mit den Betroffenen diese Woche zu treffen, um praktische Lösungen zu finden…

Ich gehe zurück zu meinem Treffen… eine völlig andere Welt, die nicht spürt, was draußen passiert… Geräusche der Gläser statt der Rufe… Lachen statt Weinen… Lächeln statt Tränen… Das ist nicht mein Platz… ich gehöre nicht hierher… ich packe meine Sachen ein und gehe zu den Demonstranten… zu meinen Leuten.

[Mohamed Okasha]

Öko-Blockupy im Jahre 2015: Kohlebagger blockieren!

Erlebnisbericht Ende Gelände

Mit über tausend Menschen Kohlebagger zu blockieren, um der Klimakatastrophe vorbei an den Parlamenten etwas entgegenzusetzen, klang für mich gleich nach einer reizvollen Idee. Dass wir dabei noch ein altes „linkes Dogma“ brechen würden, welches uns neue Freiheiten ermöglichen könnte, ahnte ich vorerst nicht. Aber von vorne…

 

Warum gegen Kohleabbau?

Seit den relativen Erfolgen der Anti-AKW-Bewegung erwuchs in den letzten Jahren ein neues Aktionsfeld zu einem immer akuteren Problem: Während die Klimakatastrophe (verharmlosend auch Klimawandel genannt) sich nun auch hierzulande immer deutlicher bemerkbar macht, wird entschieden, von Atomenergie auf Kohlekraft zurückzuschwenken. Die in der Energiegewinnung durch Kohle entstehenden CO2-Schadstoffe machen mit 30% den größten Anteil der klimaschädlichen Abgase aus. Die Kohletagebaugruben im Rheinland bei Köln, mit den darum angeordneten Kohlekraftwerken, sind die größte CO2-Schleudern Europas – und das mitten in Deutschland. Der Energiekonzern RWE ließ hier von seinen Arbeiter_innen für den Tagebau Löcher graben, die eine Gesamtfläche von 84 km² zur öden Mondlandschaft machen und bis zu 400m tief sind. Wälder, Wiesen, Äcker und ganze Dörfer fielen dem Bagger schon zum Opfer; die menschlichen Bewohner_innen wurden umgesiedelt, die Autobahn verlegt (was natürlich mit Steuergeldern finanziert wurde).

Genug Gründe also, um auch hier ähnliche Massenaktionen zu starten, wie sie gegen die Atomkraft seit Jahrzehnten üblich sind. Zudem, und dieser Aspekt sollte nicht vergessen werden, handelt es sich hierbei um einen der vielen Widersprüche, die der Kapitalismus hervorbringt: Das Profitinteresse der Konzerneigner/-anteilhaber steht gegen das Lebensinteresse der Menschen. Heute schon sterben Hunderttausende an Wüstenbildung und dem steigenden Meeresspiegel. Also spielte auch die antikapitalistische Motivation für viele eine Rolle.

Die basisdemokratische Zeltstadt

Ich war ohne großen Zusammenhang (Gruppe oder Organisation) mit meinem Mitbewohner am Donnerstag Abend, den 13. August 2015, auf das Klimacamp gefahren, von wo es losgehen sollte. Die Aktion „Ende Gelände“ war von Freitag den 14. bis Sonntag den 16. angekündigt. Das Klimacamp überzeugte schon bei der Ankunft um 10 Uhr abends mit seinem Flair: eine kleine Zeltstadt mit großen Zirkuszelten für Plena bei Hitze oder Regen und viele kleinere Zelte für die Küche, Infozelt, Pressezelt, Kinderzelt usw., sanft beleuchtet durch Feuer und viele kleine Strahler.

Empfangen wurden wir nicht nur durch einen netten Aktivisten, der uns das nötigste erklärte und noch Vokü-Reste (1) gab, sondern vor allem durch die Livemusik des anarchistischen Violinisten Klaus der Geiger. Die vielen hundert Menschen, die ihre Campingzelte auf dem in Barrios aufgeteilten Zeltplatz stehen hatten, ließen uns erahnen, was wir die letzten Tage verpasst hatten: Bereits seit dem 7. August fand hier das Klimacamp 2015 statt, eine noch recht junge Tradition (2) von Aktions-Camps gegen die Klimakatastrophe. Zusätzlich fand auf diesem Camp dieses Jahr seit dem 9. August die Degrowth-Sommerschule statt. Dort wurde mit hunderten internationalen Teilnehmenden die Wachstumsfrage diskutiert. Wir ließen den Abend mit all diesen Menschen, wovon die meisten zwischen 20 und 40, einige aber auch einiges älter waren, bei einem Ska-Konzert ausklingen.

Vorbereitungstag

Den Freitag nahmen wir als mehr oder weniger reinen Vorbereitungstag wahr. An diesem Tag fanden vier Bezugsgruppen-Findungstreffen statt, damit auch alle Einzelgänger_innen und Kleinstgruppen sich in der Organisierung einfinden konnten. Die Bezugsgruppen sind schließlich nicht nur dafür da, sich auf ein Aktionslevel zu einigen und auf der Aktion nacheinander zu schauen, sondern auch, um mithilfe von Deli-Plena (3) vor und während der Aktion eine Basisdemokratie wirklich werden zu lassen. Dieser basisdemokratische Anspruch wurde nicht „nur“ aus politischer Überzeugung aufgestellt, sondern, so sollte es sich später zeigen, spielt eine wichtige Rolle, um eine solche Aktion überhaupt in dieser Breite umsetzen zu können.

Auf dem Aktionstraining wurden Erfahrungen und Überlegungen für die Aktion geteilt und besprochen, schließlich ging es nicht um eine einfache Demo, sondern darum, Polizeiketten zu „durchfließen“ (4) und in ein von Kohlestaub verseuchtes Loch hinabzusteigen.

Neu und besonders interessant für mich war eine Idee, die häufig angesprochen und diskutiert wurde: auf die Aktion keinen Ausweis mitnehmen und auch bei einer Ingewahrsamnahme den Namen nicht preisgeben. Dies war sehr neu für mich, war es doch zu einer Art „Dogma“ geworden, seinen Ausweis bei jeder Aktion mitzunehmen, um der Ingewahrsamnahme durch die Polizei zu entkommen. Hier wurde als Gegenargument genannt, dass ein solches Handeln das Vorgehen der Polizei enorm beschleunigt und wir, wenn wir uns in großer Zahl weigerten mitzuspielen (also unsere Identität nicht preisgäben): für die Polizei eine solche Belastung sein könnten, dass sie uns ziehenlassen müsste, ohne unsere Identitäten zu kennen. Schließlich darf die Polizei, wie es hieß, in NRW die Aktivist_innen maximal 12 Stunden festhalten und würde mit über tausend Gesetzesübertreter_innen auf einmal völlig überfordert sein.

Demgegenüber lag natürlich die Möglichkeit, dass unsere Rechnung nicht aufgehen und die Polizei die Verweigerer_innen besonderen Schikanen aussetzen könnte. Auf den Plena entschied sich die Mehrheit für das Zuhauselassen des Ausweises, aber akzeptierte natürlich, dass eine nicht unerhebliche Minderheit sich dagegen entschied und den Ausweis mitnehmen wollte.

Im Laufe kamen ständig immer mehr Leute dazu, die wie wir extra für die Aktion angereist kamen. Jeweils über hundert kamen aus den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien. Aber auch viele Sprachen aus fast allen anderen Ländern Europas konnten an allen Ecken und Enden gehört werden. Einige hatten zum Teil noch sehr kleine Kinder dabei, schließlich war die Aktion für sehr breite Beteiligung konzipiert. Die Küche, das erfahrene Aktionskoch-Team Rampenplan aus den Niederlanden, war diesem Ansturm aber gewachsen und präsentierte zu jeder Mahlzeit ein außerordentlich leckeres veganes Gericht, abends schon fast ein Menü mit Salat.

Diesen Abend beendeten wir mit einem großen Plenum und der Spannung: Morgen früh geht’s los… Wird das wohl klappen? Werden wir Knüppel, Tränengas und Gefangenensammelstelle umgehen können?

Im Frühtau zur Grube wir ziehn…

Außer einem Hubschrauber, der uns nachts weckte, schliefen wir gut bis zur Megaphon-Durchsage um 6 Uhr, die alle Zelte weckte. Es war Müsli futtern, in die Kaffeeschlange stellen und Schutzanzug anziehen, der die Haut und Kleider vor Kohlestaub schützen sollte, angesagt. Dazu bekamen alle auch Atemmasken und Wasserflaschen gestellt; wir fühlten uns durch die gute Organisierung also gut vorbereitet. In vier Finger aufgeteilt, marschierten wir mit Transparenten, Strohsäcken und bemalten Regenschirmen „bewaffnet“ los. Einige neue Parolen und Lieder, die sich um Bagger, Grube und Klima drehten, wurden angestimmt, auch bekannte Anticapitalista- und ähnliche Parolen gehörten dazu, bis sich unsere „Finger“ trennten und wir mit einer Gruppe von ca. 250 Leuten einen Feldweg einschlugen. Das erste und vielleicht größte Hindernis war die Autobahn, die uns von der Kohlegrube trennte und deren wenige Unterführungen von der Polizei gut bewacht wurden. Als wir unsere erste sehr enge Unterführung durchwandern wollten, kamen wir durch die Polizeikette am anderen Ende des Tunnels nicht durch und mussten umkehren. Auch an einer zweiten Stelle blieben wir erfolglos. Die anderen Finger waren, so wurde es über Lautsprecher durchgesagt, schon in der Grube. Um in einem Deli-Plenum das weitere Vorgehen zu besprechen, hielten wir an.

Als schon die wildesten Ideen zu sprießen begannen, wie wir die Autobahn überwinden könnten, kam plötzlich eine Durchsage, dass Kletterer sich von Autobahnbrücken abgeseilt hätten und die Polizei deshalb nun die Autobahn sperren müsste. Also stellten wir uns an die Böschung und stiegen beim vereinbarten Signal zur Autobahn herab, um dieses landschaftszerschneidende Monster endlich zu überwinden.

Nicht zu sehr rennen! Keine Hektik! Über die Mittelplanke – die Autobahn ist tatsächlich wie leergefegt – und auf der anderen Seite wieder durchs Gestrüpp in mehreren Reihen hochklettern. Geschafft! Endlich, nachdem die Bezugsgruppen sich wieder geordnet hatten, ging es mit neuem Euphoriegefühl auf zur Grube!

 

Bagger sind zum Spielen da!“ (Parole einer sehr jungen Aktivistin auf einem Transparent)

Von der Autobahn bis zur Grube war es nicht mehr weit. Am Loch angekommen, sahen wir das beeindruckende und doch auch schauerliche Schauspiel: Viele Kilometer lang und breit erstreckt sich vor uns die Kohlegrube, eine in mehreren Schichten abgetragene, geebnete Landschaft. Durchzogen war sie von pfeilgraden, riesigen Förderbändern, auf die die größten Maschinen der Welt, die Schaufelradbagger, Kohlesand schleuderten, den sie mit ihren riesigen Rädern von der Grubenwand schabten; am Horizont einige Kraftwerke, die ihre Abgase und Abwärme zu beachtlichen Wolken in die Atmosphäre pusteten.

Wir liefen ein wenig am Loch entlang, bis zu angemessenen Abstiegsmöglichkeiten. Einige ältere Aktive oder welche mit Kindern blieben an den Rändern stehen, um dem Rest Mut zuzurufen. Während wir abstiegen, überholten uns einige Polizist_innen Typ „Robocop“ und stießen uns grob zur Seite: Ganz klar wollten diese verhindern, dass wir den Abstieg vollendeten. Wie wir in der Vorbereitung besprochen hatten, versuchten wir uns kurz vor Ankunft an der Ebene aber nicht durch diese durchzuzwängen: Wir gingen stattdessen so lange an der Schräge entlang, bis sich die Polizeikette so weit auseinandergezogen hatte, dass sie keine Chance mehr hatte und wir alle unbehelligt „durchfließen“ konnten.

Unten angelangt und im Jogging-Tempo unter einem Fließband durchgerannt, versuchte die Polizei uns erneut zu überholen und zu kesseln. Das gelang ihr dann schließlich auch viele hundert Meter später. RWE-Fahrzeuge, die uns auf gefährlich-wütende Weise überholt und fast angefahren hatten, dienten der Polizei als Verstärkung des Kessels. Wie ich später hörte, hatten die Polizeifahrzeuge im kohlesandigen Loch Schwierigkeiten gehabt und sind teilweise stecken geblieben.

 

Aus dem Kessel, aus der Grube

Da waren wir nun eingekesselt, weit entfernt vom nächsten Bagger. Dennoch hatten zwei Finger es bis zum Bagger geschafft und alle Bagger mussten aus Sicherheitsgründen angehalten werden. Diese Nachricht und der Erfolg stimmten uns trotz der gekesselten Lage positiv. Per Deli-Plenum wurden noch verschiedene symbolische Aktionen für Photos im Kessel entschieden und, nach Einholen der Stimmung aller Gekesselten, über Ausbruchsversuche diskutiert. Letztlich verzichteten die nicht wenigen, die Ausbruchsversuche wagen wollten, darauf, um dem Wunsch einiger Anderer entgegenzukommen, die eine Eskalation der Situation dadurch befürchteten. Hier zeigte sich, wie wichtig basisdemokratische Entscheidungen waren, damit auch die Bedürfnisse derer mit weniger Risikobereitschaft berücksichtigt werden konnten.

Nach einigen Stunden holte die Polizei zwei Personentransportfahrzeuge, um uns abzutransportieren. Die Androhung der Polizei, wer nicht kooperiere würde gewaltsam geräumt und das Versprechen, wer seine Identität preisgäbe, käme mit einem Platzverweis und ohne Ingewahrsamnahme davon, führten in vielen Gruppen zu erneuter Diskussion. Doch wir blieben bei unserem Vorhaben, unsere Namen nicht herauszugeben.

Wenige ließen sich freiwillig mitnehmen, die meisten ließen sich wegtragen, und über das Deli-Plenum wussten wir auch, dass die meisten die Identitätspreisgabe verweigerten. Die Polizei steckte uns – je nachdem, ob wir einen Ausweis hatten oder nicht – in zwei verschiedene dieser Personentransporter. Als wir jedoch Parolen grölend im Fahrzeug das Loch verließen, blieben beide Fahrzeuge an der Landstraße stehen: Auch die Namenlosen und Ausweislosen wurden mit einem mündlich ausgesprochenen Platzverweis einfach entlassen, ohne eine Möglichkeit (5) die von RWE gestellte Strafanzeige auch durchzusetzen. Ein Freudenausbruch bei den meisten von uns begann, die ganz Frechen begannen „Aus dem Kessel, in die Grube“ zu skandieren – da wir aber total fertig waren und teilweise auch Pfefferspray abbekommen hatten, war das wohl aber mehr Provokation als Ernst. Es ärgerten sich natürlich die, die ihren Ausweis dabei hatten oder gar sich nur spontan dazu entschieden hatten, ihre Identität preiszugeben. Die Lehre ist immer wieder dieselbe: Glaube den Bullen nicht, sie lügen dir ins Gesicht, wenn sie etwas davon haben. Auch ihre Einschüchterungsversuche solltest du nicht so ernst nehmen!

 

Entlassungen

Unser Finger war der letzte in der Grube, und wir hörten, dass nicht alle dasselbe Glück gehabt hatten. Über 300 Menschen wurden in Gewahrsam genommen, teilweise bis nach Aachen gebracht. Aber auch dort mussten viele ohne Identitätsfeststellung freigelassen werden. Das Camp konzentrierte sich bis in die Nacht darauf, die Rückkömmlinge von der Gefangenensammelstelle abzuholen, sie wie Held_innen zu empfangen (Jubel über das ganze Camp), ihre Wunden zu versorgen (ich sah eine üble Platzwunde am Kopf, wohl durch Schlagstockeinsatz, sonst aber hauptsächlich das relativ harmlose und doch schmerzhafte Pfefferspray), mit leckerem Essen, Bier, Kartoffelchips zu verwöhnen. An diesem Abend waren wir sehr müde, teilweise von Pfefferspray gebrannt, leicht enttäuscht, dass wir die Bagger nicht selbst blockieren konnten, und doch sehr zufrieden.

[knoti]

(1) Ich überlasse ungern Begriffe den Rechten und benutze deshalb bewusst Begriffe wie Volksküche, um den plebejischen Volksbegriff (die Masse, das Fußvolk, der „Pöbel“, wie pueblo, people oder peuple, also alle, die nicht Herrschende sind) gegenüber dem ethnischen (diese dumme Idee, auf die Nazis so abfahren, es könnte ein „Volk“ von einem anderen unterschieden werden, dabei gibt es nur das Volk) wieder stark zu machen!

(2) Das erste „camp for climate action“ fand 2006 in North Yorkshire, England, statt. In Deutschland war das Klima/Antira-Camp im Hamburg 2008 das erste, welches sich mit der Klimaproblematik intensiv befasste.

(3) Abkürzung für Delegiertenplenum für basisdemokratische Organisierung: Jede Bezugsgruppe bestimmt bei jeder Entscheidung eine_n Delegierten, die dann eine Plenum mit allen anderen Delegierten abhalten und, nachdem mögliche Entscheidungen vorher zurück in den Bezugsgruppen diskutiert wurden, Entscheidungen Treffen können.

(4) „Durchfließen“ nennt sich die Technik, Polizeiketten nicht als Block zu durchbrechen, sondern sich kurz vor der Polizeikette zu zerstreuen und entstehende Lücken in der Kette zu nutzen um „einzeln“ hindurchzukommen. Dabei kommen dann meistens alle durch. Dies hat sich im Anti-Castor-Protest entwickelt und wird seither bei Blockupy und vielen weiteren Aktionen angewendet.

(5) Außer wenn die Polizei inzwischen Bilderkennungssoftware einsetzt, um über biometrische Ausweisbilder die Identität über die Fotos zu ermitteln, die bei der Räumung von jeder_m gemacht wurden, einsetzen könnten und dürften. Das Neue Deutschland berichtete, dass 800 Strafanzeigen gestellt wurden, zumeist gegen Unbekannt.

 

Kasten: Ende Gelände – Eine Aktion nur für Umweltgruppen?

Es waren nicht nur betroffene Anwohner_innen, Öko- und Anti-AKW-Gruppen bei Ende Gelände aktiv, sondern auch viele linke und linksradikale Zusammenhänge. So waren einige Gruppen der Linksjugend Solid, der zugehörigen Partei und der Interventionistischen Linken, aber auch das zu Migration und Migrationsursachen arbeitende Netzwerk Afrique-Europe-Interact (die Wüstenbildung durch die Klimaerwärmung in Afrika ist vermehrt eine Fluchtursache), mehrere No-Lager-Gruppen und auch Tierbefreiungsgruppen mit dabei. Die Vorarbeit für Ende Gelände leistete aber wohl vor allem die Kampagne AusgeCO2hlt und die Waldbesetzer_innen im Hambacher Forst (der ebenfalls für das Kohleloch abgeholzt werden soll), die mit einigen anderen Initiativen schon seit Jahren gegen die finsteren Taten RWEs im Rheinland kämpfen (siehe ausgeco2hlt.de und hambacherforst.blogsport.de)

Ein Interview zur Gemeinsamen Ökonomie

Ich denke, Menschen sind eher dafür gemacht in Gemeinschaft zu leben, als alleine.“

Immer mehr Menschen träumen von einem Leben in Gemeinschaft mit gegenseitiger solidarischer Unterstützung. Einige davon leben diesen Traum, bspw. in Haus- oder Kommuneprojekten. Allerdings hat selbst dort die gegenseitige Hilfe oftmals ihre Grenzen im finanziellen Bereich – nur wenige betreiben auch gemeinsame Einkommens- und Vermögensökonomie. Ein Leipziger Beispiel dafür ist die Luftschlosserei, eine Kommune die zwar noch keinen gemeinsamen Hof besitzt, dennoch seit März 2014 gemeinsam wirtschaftet und ihre gesamten Einnahmen solidarisch miteinander teilt. Aktuell besteht sie aus sieben Kommunard_innen, die zum Teil in einer WG zusammenleben. Welche Erfahrungen sie bisher mit gemeinsamer Ökonomie gemacht haben und wie sie mit dem Spannungsfeld von individuellen Bedürfnissen und Gruppenverantwortung umgehen, ist Gegenstand des folgenden Interviews mit zwei der Kommunard_innen.

FA!: Ihr teilt euer Einkommen, wie funktioniert das in der Praxis?

A: Also einige von uns verdienen Geld, das landet erst mal auf den Konten von den Leuten und wir haben eine gemeinsame Kasse im Haushalt, wo man sich Geld rausnehmen kann. Wir führen darüber Buch: Wieviel hab ich mir rausgenommen und was hab ich verdient diesen Monat und was ist so von Konten abgegangen? Wir versuchen uns einmal im Monat gemeinsam einen Überblick zu verschaffen und fangen jetzt auch an, uns monatlich zusammenzusetzen, um über unsere finanzielle Situation zu sprechen und zu gucken, wo wir Prioritäten setzen müssen. Es gibt bei uns Leute, die weniger arbeiten aber dafür ihre Arbeitszeit der Gruppe zur Verfügung stellen, weil wir gerade dadurch, dass wir einen Hof kaufen wollen, ganz viel Organisationsarbeit haben. Eine Person haben wir dafür sogar freigestellt, d.h. sie muss nicht mehr lohnarbeiten gehen. Das bin ich. Und parallel unterstützen wir mit unserer Arbeitskraft auch noch das KGB-Getränkekollektiv (1).

Wir haben uns quasi noch mal ein soziales Sicherungsnetz geschaffen, was nicht auf die soziale Sicherung Hartz4 angewiesen ist. Das muss dir aber auch erst mal bewusst sein. Diese Existenzangst ist ja nicht einfach weg, du musst dir immer wieder selbst sagen: Es gibt diese Gruppe und wir stehen füreinander finanziell ein im Alltag und du fällst nicht ins Bodenlose, wenn jetzt mal ein Auftrag wegbricht als Freiberufler. Oder bei einem der befristete Job zu Ende geht.

FA!: Plant ihr die Gesamtarbeitszeiten für Gruppe und Lohnarbeit oder funktioniert das eher spontan und organisch?

A: Wir rechnen die Arbeitsstunden nicht gegeneinander auf, sondern gucken, wie sich jeder wohlfühlt mit den Vereinbarungen, die getroffen wurden. In letzter Zeit hatten wir einige längere Treffen, die sich aber spontan aus der aktuellen Situation heraus ergeben haben, als sich die berufliche Situation geändert hat. Da haben wir auch die Entscheidung getroffen zu sagen: Du machst jetzt mehr Arbeit für die Gruppe und versuchst jetzt nicht noch, dir einen neuen Job zu suchen. In Zukunft wollen wir das verstetigen, uns 1x im Monat zusammenzusetzen. Wir haben ja auch Leute in der Gruppe, die in Ausbildung sind, die weder groß Geld einbringen, noch Kapazitäten haben, viel nebenbei zu machen. Und es gibt eine Person, die jetzt vor einer beruflichen Umbruchphase steht und überlegt, eine Ausbildung anzufangen. Das ist sehr stark mit den Zielen der Gruppe verknüpft, so dass wir sagen: Du kannst noch eine Lehre als Elektriker machen, das können wir später mal auf dem Hof sehr gut gebrauchen.

Auf jeden Fall stehen wir noch am Anfang und sind eine sehr kleine Gruppe, was finanziell aktuell herausfordernd ist. Wir versuchen gerade krampfhaft 10% dessen, was wir einnehmen, zu sparen, um den Hofkauf zu ermöglichen. Das ist schwierig im Vergleich zu anderen Kommunen, die es schon länger gibt und die auch Gelder für sechs Monate vorrätig haben. Die wirft so schnell nichts aus der Bahn.

FA!: Kann sich jeder aus eurer Kasse so viel rausnehmen, wie er oder sie will, oder gibt es da finanzielle Grenzen, wo die Gruppe gefragt werden muss?

A: Erstmal kannst du dir nach Selbsteinschätzung Geld rausnehmen und gibst einen allgemeinen Zweck an, wofür es ausgegeben wird, z.B. Lebensmittel oder Mobilität oder Kultur. So, dass wir uns einen Überblick verschaffen können, für was wir Geld ausgeben. Da sehen wir aktuell, dass über die Hälfte für diese klassischen Sachen wie Miete, Strom, GEZ, Krankenkassenbeiträge rausgeht. Und vom anderen Teil geht mindestens die Hälfte für Lebensmittel drauf und der Rest für kleinere Sachen. Und wenn du jetzt eine Einzelausgabe machen willst, also für eine einzelne Sache, die über 150 € kostet, dann haben wir die Regel, dass du das 7 Tage vorher ankündigst, so dass die anderen dich in der Zeit darauf ansprechen können. Da geht es nicht darum, das zu verbieten, sondern in Dialog zu treten. Also wenn du dir jetzt z.B. überlegst, ein Fahrrad zu kaufen, kann man dann überlegen: Hat noch wer ein Fahrrad, was er gerade nicht braucht, oder kennt jemand jemanden, der das preisgünstiger hat. Oder kann man gleich eine größere Gruppenlösung finden, wie z.B. eine Monatskarte. Haben wir relativ selten, diese Einzelausgaben über 150 €. Aber wenn es dann vorkommt, sprechen wir es gemeinsam ab.

Unser Konzept, was wir uns damals erarbeitet haben, haben wir auch nicht einfach übernommen, sondern selbst geschaffen, haben uns die Regeln von anderen angeguckt und überdacht.

 

FA!: Und habt ihr ein Veto-Recht, also wenn jemand beharrt und sagt: Nee ich möchte aber dieses eine Mountainbike für 500 € und da lass ich mich jetzt nicht abbringen?

A: Jein. Also natürlich kann die Gruppe eine Entscheidung treffen und sagen: das können wir jetzt so nicht machen. Das ist aber bei uns kein Veto, sondern wir haben ein Konsens-System ohne Veto. Wir versuchen eher festzustellen, welcher Vorschlag den größtmöglichen Zustimmungsgrad in der Gruppe hat. Und das kann auch ein Vorschlag sein, der bedeutet, diese Ausgabe nicht zu machen. Ist ein bisschen differenzierter, als ein einzelnes Veto.

 

FA!: Ich nehme mal an, das Reden über Geld nimmt viel Raum bei euch aufgrund des Konzepts ein, oder? Wie empfindet ihr das?

A: Ja und Nein. Ich kann jetzt auch nicht sagen, ob es mehr ist, als normalerweise. Also diese Debatten um die Idee der gemeinsamen Ökonomie, die führen wir natürlich regelmäßig. Was vielleicht so zentrale Erkenntnisse für mich sind, ist, dass es oft weniger die Auseinandersetzung ist: Bringst du genug Geld ein oder nicht, sondern eher diese: Sehe ich insgesamt, wenn ich alles zusammenrechne, deinen Beitrag gleichwertig mit meinem Beitrag? Das kann auch anderes sein, Arbeit im Haushalt oder so. Und was hast du überhaupt für einen Anspruch, wie viel Arbeit du am Tag erledigst? Wo wir auch sehr viele Debatten geführt haben, ist die Situation, dauerhaft eher Nehmer oder Geber zu sein. Es ist beides nicht leicht. Wir machen ja auch regelmäßig bei unserem Treffen Sozialplenum und da war das schon oft Thema. Wenn du dauerhaft in dieser Nehmerrolle bist, fühlen sich die Leute oft schlecht und trauen sich nicht mehr, etwas rauszunehmen, obwohl das ja eigentlich keine Rolle spielen soll. Und andersherum, derjenige der mehr reingibt, muss auch lernen, dass dieses eine dauerhafte Geberrolle ist, die jetzt nicht irgendwas Gönnerhaftes hat oder eine besondere Position bringt, sondern einfach normal ist irgendwann. Ich hab dann nicht mehr zu sagen oder mir steht dann kein größeres Stück Pizza zu oder so was. Davon wegzukommen, ist schon nicht einfach.

Als ich eingestiegen bin in die Gruppe, war ich z.B. in einer guten Geberposition – bis mein guter Auftrag zu Ende war. Mir fällt das auch nicht leicht vom Selbstbild her, nicht in so einer gönnerhaften Geberposition zu sein. Und manchen fällt das ganz schwer jetzt in einer Ausbildung zu sein und auf lange Sicht auf die Gruppe angewiesen zu sein. Damit musst du dich dann auseinandersetzen. Aber durch unsere Gespräche ist viel geklärt und jeder weiß, wo der andere steht. Wenn keine Hirngespinste mehr da sind, es könnte jetzt jemand Neid haben oder komisch finden, z.B. dass ich jetzt nicht mehr extern, sondern für die Gruppe arbeite, dann stellt sich auch ein ganz großes Gefühl von Freiheit ein. Denn ich mache was Sinnvolles, ohne mir um Essen und Wohnen Gedanken machen zu müssen. Aber man muss es sich halt immer wieder sagen, es ist nichts, was sich von alleine so anfühlt. Und es hat sich erst eingestellt, als es mit der Gruppe besprochen war.

B: Das eigentliche Ziel der gemeinsamen Ökonomie ist ja, dass das Thema Geld möglichst weniger Stellenwert im Leben bekommt. Das ist der Grund, warum ich das mache. So dass diese Determination der eigenen Persönlichkeit durch Geld aufhört, diese Ungleichheit, die von Geburt mitgegeben wird. Zur Zeit sind wir noch an einem Schritt, wo wir uns eher ein bisschen mehr mit dem Thema auseinandersetzen müssen, als es mir lieb ist. Hoffentlich nur vorübergehend. Und es soll ja nicht dauerhaft aufgerechnet werden, wie viel Geld oder Zeit man in das Projekt steckt oder wie viel man im Haushalt hilft. Auch andere Sachen sollen eine Rolle spielen, z.B. wie viel man die Gemeinschaft bereichert, wie viel Lebensfreude man reingibt. Da gibt es auch viele gar nicht so berechenbare Sachen. Das wäre auch so ein Ideal.

A: Das ist auch interessant, auch ein Spannungsfeld: Für den einen ist die monatliche Abrechnung ein Mehr an Bürokratie zu dem, was wir vorher gelebt haben. Und für andere ist die Beschäftigung mit dem eigenen Konsumverhalten ganz neu und ein Erkenntnisgewinn, der Spaß machen kann.

 

FA!: Was hat denn dieses eine Jahr Erfahrung mit gemeinsamer Ökonomie mit euch gemacht, in eurem persönlichen Umgang mit Geld? Hat sich da im Lebensstil und im Bewusstsein was verändert?

A: Es gibt zum einen ganz schöne Erfahrungen, z.B. war es am Anfang für uns immer wieder ganz spannend zu entdecken, dass es egal ist, wer was bezahlt wenn du in der Gruppe unterwegs bist. Dann gibt es so einige Themen, mit denen wir sonst anders umgehen würden z.B. sorgfältiger Umgang mit Sachen. Also wenn ich jetzt bei dir zu Besuch bin und deine Stereoanlage runterschmeiße, dann wirst du sagen: Bezahl mir das. Wenn jetzt aber jemand von uns die Lieblingsstereoanlage runterschmeißt, dann zahlen wir das alle. Und das macht schon eine andere Verantwortlichkeit, wenn es diesen individuellen Sanktionsmechanismus nicht gibt.

An einem Nachmittag haben wir mal eine Frage bearbeitet: Wie kann ich es ertragen, dass andere Leute Geld für Scheiß ausgeben? Und da geht es um ganz kleine Sachen. Also wenn du abends zum Späti gehst und dir für 1,80€ eine Limo holst. Wenn ein Teil der Gruppe sich jeden Abend 3-4 Limos holt, dann ist das ein ganz schöner Posten. Und dann zu gucken: Ist diese Limo wirklich wichtig? Für andere ist das totaler Scheiß. Da war eben festzustellen: du kannst da kein Maßband anlegen, was gut und was schlecht ist. Aber du bist schon selber stärker am Überlegen,: Ist das jetzt sinnvoll, brauch ich das? Bis hin, dass manche Anschaffungen auch nachhaltiger sind.

Eine andere Sache ist, dass wir zwischendurch auch einen harten Ausstieg hatten, mit jemandem, wo wir dachten, auch eine gute Freundschaft zu haben. Diese Person war nicht bereit, Transparenz über ihre Zahlen herzustellen und hat auch falsche Angaben gemacht. Das war schon ziemlich hart und auch nicht reibungsfrei.

B: Dass die Anfangszeit sehr schön war, mit dem sich gegenseitig einladen, da kann ich beipflichten. Und diese Haltung, anderen bei Engpässen weiterzuhelfen, hat sich weitergetragen und verstärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Schwierig ist aber, dass man eben nicht mehr für sich selber was sparen kann. Neben Kommune gibt es vielleicht noch ein paar andere Ziele, die man so im Leben hat, vielleicht Auslandsaufenthalte machen oder beruflich weiterkommen oder was anderes. Und das ist gerade jetzt in dieser Zeit, wo der Hof gekauft werden soll, schwierig mit den Gemeinschaftsinteressen zu vereinbaren.

 

FA!: Heißt das du steckst dann deine persönlichen Ziele für die gemeinsamen Ziele zurück? Oder wie gehst du damit um?

B: Ich glaube es kommt drauf an, an welchem Punkt man im Leben steht. Und wie wichtig es einem gerade ist, diesen Hof zu kaufen. Ich persönlich möchte gerade die persönliche Seite nicht zu kurz kommen lassen, weil da so viele Fragezeichen sind, die für mich geklärt werden müssen, unabhängig von der Tatsache, dass ich in einer Kommune leben will. Da stehen noch ein paar andere Sachen im Leben an. Denn irgendwie habe ich mich selbst in den letzten Jahren voller WG-Leben völlig vergessen und gar nicht gecheckt, wie sehr ich andere Stränge, wie z.B. meine berufliche Selbstfindung komplett schleifen gelassen habe.

FA!: Und wie gehst du oder ihr als Gruppe damit um, in dem Spannungsfeld zwischen individuellen Zielen, Plänen und Wünschen und der Verantwortung der Gemeinschaft gegenüber?

B: Zur Zeit ist es eben so, dass ich eine Pause mache von der gemeinsamen Ökonomie, weil ein paar persönliche Sachen jetzt Priorität bei mir haben. Danach entscheide ich, ob ich wieder einsteige. Aber das ist jetzt eine individuelle Lösung, da gibt es sicher auch noch eine ganze Palette an anderen Sachen, die man machen kann.

A: Ich denke, dass in der Gründungsgeneration in der Kommune, wo der Hof noch nicht da ist, von uns sehr viel abverlangt wird, Zeit oder Geld in die Gruppe zu stecken, und da wenig Ressourcen für andere Sachen sind. Solche individuellen Geschichten, wie ein Jahr ins Ausland gehen und Geld dafür zurücklegen, ist dann schon schwierig. Natürlich müssen wir da auch gucken, ist das für uns stimmig, was wir auch machen.

Speziell bei B war das finanziell ziemlich herausfordernd. Wir haben dann gemeinsam beschlossen, dass es einfacher ist, wenn B erst einmal aus der gemeinsamen Ökonomie aussteigt. Unsere Lösung ist aber aus meiner Sicht sehr am Solidargedanken orientiert, weil wir gesagt haben: Du steigst jetzt sofort aus dieser gemeinsamen Ökonomie aus, aber wir bezahlen dir noch für drei Monate das Zimmer in der Wohnung und die Verpflegung, wenn du hier mit isst. So dass du diese Auszeit hast, aber wir besser rechnen können als Gruppe.

Es ist schon so, dass wir durch die gemeinsame Ökonomie eine Einstehensgemeinschaft sind. Und ich kann jetzt nicht einfach sagen: Ich nehm mich zurück und arbeite mal ein Jahr nicht. Denn andere Leute haben dann die Konsequenzen zu tragen. Verantwortung bedeutet halt schon, dass du immer dran denkst, dass der andere mit dranhängt. Für mich fühlt sich das relativ selbstverständlich an, deswegen will ich in einer Kommune sein, weil mir das guttut und ich das gern mache. Und für Andere ist das was, wo sie sagen: Das würde ich nur in einer Beziehung mit Kind geben, oder wo ich mich jetzt noch nicht so weit fühle.

B: Ich bin da wahrscheinlich eher in der anderen Position, und würde sagen, dass es leichter ist, das in einer überschaubareren Beziehung zu machen, also in einer Partnerschaft mit Kind oder so. Wenn man selber noch auf der Suche ist, was man eigentlich im Leben will und dann aber Leute hat, die auf einen angewiesen sind, obwohl man selbst noch gar nicht seinen Platz endgültig gefunden hat, ist es natürlich schwierig. Insofern verlangt es von allen ab, dass sie irgendwie wissen, wo sie hinwollen.

Und grundsätzlich ist es schwierig, wenn jemand mit besonderen Bedürfnissen in der Gemeinschaft ist und vielleicht angeschlagen ist und man viel geben muss. Denn gleichzeitig hat man ja selbst auch ganz viele Ideen, was man selber machen will. Zumindest geht es mir so. Und das kann einem schon ziemlich schnell über den Kopf wachsen. Deswegen fühlt es sich für mich jetzt ganz befreiend an, diese Ruhepause zu haben. Und danach zu gucken, was passiert.

Aber grundsätzlich finde ich es total richtig, füreinander da zu sein. Aber man muss auch irgendwo eine Grenze setzen, man kann nicht alle Menschen retten oder für alle immer da sein. Klar, die Gruppe ist mir insofern wichtig, weil es eine ähnliche politische Grundeinstellung gibt, eine ähnliche Sozialisierung und gemeinsame Anknüpfungspunkte durch Politerfahrungen oder andere Lebenserfahrungen, und irgendwie ein bisschen die Verknüpfung von anarchistischen Idealen und dem Streben nach einem besseren Leben, sowohl materiell als auch ideell, was die Verwirklichung von Idealen angeht, als auch kulturell oder vielleicht auch spirituell im weitesten Sinne. So was zu verknüpfen eben, dieses Anarchistische mit dem Wunsch nach etwas Aufstrebendem. Und ein bisschen die Ordnung ohne Herrschaft zu realisieren, das kann die Gruppe auch ganz gut. Das ist so einer der großen Pluspunkte, Sachen die dafür sprechen hier meine Kraft zu investieren.

 

FA!: Ganz ehrlich, ich stell es mir schwieriger vor als kleine Gruppe in gemeinsamer Ökonomie zu leben, als in einer großen Gruppe wie z.B. der Kommune Niederkaufungen, wo 60 Erwachsene leben, weil im kleinen Kreis vielleicht auch dieser soziale Druck stärker ist und die Verantwortung im Kopf präsenter, so dass vielleicht individuelle Wünsche zeitweise auf der Strecke bleiben, aber dann als Konfliktthema zurückkehren. Oder andere zwischenmenschliche Konflikte über die gemeinsame Ökonomie ausgetragen werden, indem man z.B. dem anderen den Klamottenkauf für 80€ missgönnt. Seht ihr denn die Anzahl der Leute als Faktor für das Funktionieren des Konzeptes?

A: Über die Anzahl der Leute haben wir uns schon viele Gedanken gemacht und sind der Meinung, dass so 12 Leute eine Mindestanzahl ist. Da hast du eine Stabilität, wo auch mal 1-2 Leute wegbrechen können und es immer noch funktioniert. Die haben wir noch nicht erreicht. Aktuell ist es so, dass wir, wenn eine Person wegbricht, gucken müssen, wie es funktioniert. Bisher klappt es und ich habe den Eindruck, dass es uns auch mehr zusammengeschweißt hat. Unsere Optimalzahl liegt so zwischen 12 und 24 Leuten plus Kinder.

Ich habe es aber noch nicht erlebt, dass Konflikte über die gemeinsame Ökonomie ausgetragen werden. Alle Leute haben klar, dass sie anderen keine Basalbedürfnisse verweigern, nur weil sie gerade mit einem nicht können. Wir haben vielleicht aus der gemeinsamen Ökonomie heraus Konflikte miteinander gehabt, aber nicht, dass wir andere Konflikte über die gemeinsame Ökonomie ausgetragen haben. Das würde auch gar nicht funktionieren, wie will man dem anderen verwehren, dass er sich Geld herausnimmt?

Wir kriegen uns halt sehr intensiv mit, aber ich habe nicht erlebt, dass das besonders spannungsreich ist.Wenn mir was nicht passt, sprech ich das auch an, statt Bilder im Kopf zu haben oder es einfach laufen zu lassen. Das hat aber nichts mit Bewertungen zu tun, sondern auch mit positiver Anerkennung dem gegenüber, was der andere macht.

Ich denke auch, wenn du eine Kommune machen willst, dann ist es eine Voraussetzung, eine Mitte zwischen gelebter solidarischer Gemeinschaft und individueller Selbstverwirklichung zu finden. Du kannst weder dich komplett für eine Gruppe aufopfern und dich dabei vergessen. Das tut dir nicht gut, das hältst du nicht lang durch. Noch kannst du in so einer Gruppe sein und nur an dich denken und dich selbst verwirklichen, dann wird dir die Gruppe ziemlich schnell auf den Sack gehen.

Aber es ist nicht eine endliche Menge, wo du was wegnimmst, also Gruppe oder Individualität. Sondern du kannst schon, wenn du das selber gut in Einklang bringen kannst, bei beiden Sachen mehr haben. Du kannst ganz viel mehr Gruppe und Gemeinschaft haben und ganz viel mehr individuelle Selbstverwirklichung in der Kommune. Aber du musst selbst die Kompetenz mitbringen, dir das zu schaffen. Und dann ist das ganze übersummativ, also die Summe mehr als die Teile.

 

FA!: Was müssen denn eurer Meinung nach Leute an Grundverständnis und Idealen mitbringen, um in so einem Projekt wie eurem glücklich zu werden?

A: Das ist ganz schwierig zu beantworten. Es gibt so einen Spruch zum Thema: Wenn du in eine Gemeinschaft gehst, solltest du eher jemand sein, der geben kann, als darauf angewiesen sein zu nehmen. Du solltest Verantwortung übernehmen können für andere. Und du brauchst eine gewisse Affinität mit Gruppen umzugehen. Also dich selber zu vertreten, dich selber auch klar zu haben, zu wissen was du möchtest, es artikulieren zu können. Ich sag mal diese ganzen sozialen Fähigkeiten. Wir haben auch öfter Diskussionen darüber, wir wollen ja so offen wie möglich sein, trotzdem sind das Sachen, die du brauchst, wie sich immer wieder zeigt.

B: Ja und so eine Art Freude am Lernen durch die Interaktion mit den konkreten Menschen in der Gruppe. Was ein ganz anderes Lernen ist, als aus Büchern.

A: Ja, das ist auch persönliches Wachstum, eines unserer gemeinsamen Ziele. Und das passiert auf jeden Fall. Du wirst herausgefordert durch so eine Gruppe und du entwickelst dich auch weiter.

Und was sich immer wieder zeigt, bei allen von uns: Egal wieviel du reingibst, dass du dir mehr rausnimmst, als du reingegeben hast, das fällt allen unheimlich schwer. Geld für irgendwas ausgeben ist wesentlich herausfordernder in einer gemeinsamen Ökonomie, als wenn du da alleine für verantwortlich bist.

Was wir auf jeden Fall irgendwann auch haben wollen, so 5 Jahre nachdem wir einen Hof gekauft haben, ist für Rentenansprüche zu sorgen. Sodass, wenn du mal rausgehst, die Lebenszeit nicht „verloren“ ist, weil ja in der Kommune auch für dich gesorgt worden wäre. Aber gerade jetzt in der ersten Zeit ist es schon ein Projekt, wo du auch Lust haben musst, Zeit und Geld reinzustecken, was aufzubauen. Und das ist schon so die Frage, ob das gut ist oder nicht, wenn es wirklich die produktivsten Jahre deines Lebens sind. Das sollte man sich gut überlegen. Das ist auch was, was uns immer wieder beschäftigt, gerade wenn wir Kennnenlernentreffen machen.

FA!: Was ist so euer Fazit nach einem Jahr gelebter gemeinsamer Ökonomie?

B: Ich bin da eher der Falsche der quakt, eigentlich sollte ich zuhören. Also mein Fazit ist, eher noch mal ein Stück zurück rudern und überlegen, mit wem und wie vielen Leuten so was gehen kann. Und v.a., wie kann es auch gehen, ohne dass es organisatorisch sehr viel Zeit und Gedankenkapazität wegnimmt, die man auch für was anderes gebrauchen kann. Weil, Muße ist auch ein Wert, der auch zu kurz kommt, wenn man als Kommune sehr viel Wert auf das Ökonomische legt. Auf der anderen Seite sind mir aber viele spirituelle Kommunen auch zu diffus. Muße wäre aber auch für mich was Wichtiges, wo ich bisher noch keinen Weg gefunden habe, wie es sich vereinbaren lässt. Aber grundsätzlich im Leben ist es natürlich ganz wichtig zu teilen. Da will ich auch hin.

A: Wir haben gemeinsame Ökonomie ja gestartet auf dem Weg zur Kommune. Und ich musste irgendwann realisieren: Eigentlich sind wir ja schon eine Kommune. Wir entscheiden basisdemokratisch und teilen unser Geld. Wir sind ja jetzt auch Mitglied im kommuja-Netzwerk, dem Netzwerk der politischen Kommunen in Deutschland. Aber für mich ist es gefühlt immer noch ein „auf dem Weg sein“. Deshalb ist es auch schwierig ein Fazit zu ziehen. Was ich merke: es erfüllen sich immer mehr Aspekte und ich begreife immer mehr. Aber was mir natürlich noch fehlt, ist dieses Bleibende zu schaffen, der Hofkauf wäre so ein Schritt. Das gemeinsame Arbeiten und die gemeinsame Ökonomie bringt eine Pflanze hervor, die wächst. Das ist was, was mir Spaß macht. Ziel ist es, irgendwann Kollektivbetriebe aufbauen und einen Hof haben, den wir ausbauen, so dass das Gemeinsame etwas hervorbringt, was größer ist als die Gruppe. Wenn wir irgendwann mal aufhören Miete zu bezahlen, sondern einen Kredit abbezahlen und mit der gemeinsamen Anstrengung jeden Monat was schaffen, das würde sich noch besser anfühlen. Insofern fühlt es sich für mich immer noch wie eine Übergangsphase an, zu dem, was wir eigentlich wollen. Obwohl wir schon eine Kommune sind.

FA!: Danke für das Interview!

[momo]

 

Wer mehr von der Luftschlosserei wissen mag oder mitmachen will: http://luftschlosserei.org/. Einfach mal Kontakt aufnehmen.

(1) KGB-Getränkekollektiv: http://kgb-leipzig.blogspot.de

Freiheit und Versicherheitlichung

Von der Doppelmoral der EU oder über die Praxis, Roma an der mazedonischen Grenze an ihrer Ausreise zu hindern. Ein Testfahrt-Bericht.

Skopje, April 2015. Moses und ich sitzen in einem mazedonischen Linienbus, der jeden Samstag von Skopje über Dortmund nach Brüssel fährt. 30 Stunden für 110 Euro. Wir sind die einzigen Passagiere an Bord, die nicht mit nach Westeuropa wollen. Unser Ziel liegt nicht einmal eine Stunde von Skopje entfernt: Tabanovce, die Grenzstation, die an Serbien grenzt. Eigentlich werden die Tickets nur pauschal für Deutschland und Belgien verkauft, ohne Zwischenhalt. Aber die Busfahrer haben eine Ausnahme für uns gemacht. Sie wissen, dass wir „Testfahrer” sind, dass wir an Bord sind, um die Kontrollmethoden der mazedonischen Grenzer zu beobachten.

Unzähligen Aussagen von Betroffenen und Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge werden seit vier Jahren tausende mazedonischer Staatsbürger an der Ausreise gehindert, weil sie als „falsche Asylbewerber“ identifiziert werden. Allein im Jahr 2013 zählte FRONTEX 6.700 Personen. Die überwiegende Mehrheit von ihnen bezeichnet sich selbst als Angehörige der Roma. Die Grenzer nehmen sie als solche wahr, weil sie dunkelhäutig sind oder in einer Nachbarschaft leben, die von staatlichen Autoritäten als ‚einschlägig‘ im Bezug auf die Zahl der „falschen Asylbewerber“ gelabelt wird.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, schrieb der Frankfurter Philosoph Adorno in den 1940er Jahren im amerikanischen Exil unter dem Eindruck des faschistischen Terrors in Europa in seiner „Minima Moralia“. Ich möchte wissen, wer festlegt, wie „falsch“ das Leben für Roma aus Mazedonien ist, um es später als „falsches“ Asyl zu labeln; wer ein Interesse daran hat, dass sie kein „richtiges“ Leben leben; wer sie wie an der Ausreise hindert und weshalb.

 

Der Mensch aus Papier

„Wohin willst Du?“, fragt der Grenzbeamte, als er in Tabanovce vor Elvis steht und kritisch seine Frau und die zwei Kinder beäugt. „Nach Düsseldorf.“ „Was willst du dort?“ „Wir besuchen meine Familie.“ „Deinen Pass und die Garantie!“

Der Grenzer durchbohrt Elvis mit seinem Blick, als wäre in seine Retina ein Lügendetektoren-Scanner eingebaut, der „Betrüger“ per Instant-Scan identifiziert. Elvis reicht dem Beamten die geforderten Dokumente, zusammen mit den Pässen seiner Frau und der Kinder. Die Augen des Grenzers fliegen über die Pässe und die „Garantie“, eine vom Einwohnermeldeamt beglaubigte Einladung eines EU-Bürgers, der rechtlich und finanziell für die Familie während ihres Aufenthaltes bürgt, auch dann, wenn die Familie länger als gestattet bleiben und abgeschoben werden sollte.

„Wieviel Geld habt ihr dabei?“ Elvis schaut seine Frau an. Sie murmelt etwas. „Genug“, sagt Elvis. „700 Euro.“ „Aufstehen! Zeigt mir Euer Gepäck!“

Zögernd erhebt sich Elvis vom Sitz, seine Frau schaut den Grenzer unverwandt an. Als die beiden wiederkommen, führt der Grenzbeamte seine Kontrolle weiter. Vor den Personen mit dunkler Hautfarbe bleibt er länger stehen und stellt ihnen die selben Fragen wie Elvis. Einer von ihnen ist Moses, ein langjähriger Freund, selbst ein Rom aus Mazedonien, auch er wohnt in einer „einschlägigen“ Nachbarschaft. Er begleitet mich um mir beim Übersetzen zu helfen. Auch ihn fragt der Grenzer, wohin er will. „Nach Serbien“, sagt Moses und gibt dem Grenzer seinen Personalausweis, denn ein Pass ist nicht nötig, um als mazedonischer Staatsbürger nach Serbien zu reisen. Der stechende Blick des Grenzbeamten straft schon seine Worte: „Der Bus fährt nur nach Westeuropa.“ „Es ist mit den Busfahrern abgesprochen“, sagt Moses. „Dein Pass und die Garantie.“ „Für Serbien?“ „Ja.“ „Serbien ist nicht in der EU…“ Sein bohrend-drohender Blick erstickt den Rest des Satzes. Moses gibt dem Grenzer seinen Pass.

In den letzten Jahren wurden tausende Pässe von angeblichen „Asylbetrügern“ mit einem Stempel versehen, dessen obere Ecke von zwei handgezogenen Strichen durchkreuzt worden ist. Bis vor kurzem gab es zu diesem Labeling oft die Buchstaben AZ (für „Azil“). Die Striche bedeuten eine verhängte 24h-Ausreisesperre für ihre Träger. In der Regel werden Reisende mit diesem Label auch nach Verstreichen der 24-Stunden-Frist nicht aus dem Land gelassen. Begründet werden die verweigerten Ausreisen nur selten. Manchmal sagen Grenzer Sätze wie: „Das ist eine Anordnung vom Innenministerium“, oder: „Ihr habt nicht genug Geld dabei“.

Weil ich Moses potentielle und zukünftige Ausreisen nicht gefährden will, oute ich mich gegenüber dem Grenzer, sage ihm, weshalb wir hier sind, in der Hoffnung, dass er seinen Pass mit dem berüchtigten Label verschont. Er wird wütend, sagt, dass ich für solche Zwecke nicht ohne Genehmigung an die Grenze kommen dürfe.

Letzten Endes wird Moses Pass weder gestempelt noch gelabelt. Tatsächlich wird wider Erwarten keiner der Passagiere gezwungen wieder nach Hause zu fahren. Die Busfahrer sagen, es sei das erste Mal seit Jahren, dass alle durchkämen. Sie sind erleichtert, endlich eine Fahrt zu haben, bei der alle weiterfahren dürfen und sie keinem der Passagiere die Tickets zurückerstatten müssen. Sie sagen, es sei wegen mir. Sie sagen, die Grenzer befürchten schlechte Presse. Später stellt sich heraus, dass der Reise-Agenturleiter, mit dem ich die Fahrt abgesprochen hatte, die Grenzer über mein Kommen informiert hatte. Er sagte ihnen, dass eine Journalistin aus Deutschland mit an Bord sitze, die über die Kontrollen in der Mainstream-Presse berichten würde. Seine Strategie hatte Erfolg, auch für seine Reise-Agentur.

Als ich später eine Grenzerin frage, weshalb hier nur Menschen mit dunkler Hautfarbe nach „Garantien“ und ausreichend finanziellen Mitteln befragt werden würden, während weiße Reisende unbehelligt passieren könnten, erklärt sie unmissverständlich: „Wir handeln hier auf Anweisung der EU! Wir bekommen regelmäßig Berichte von Deutschland, dass es immer noch zu viele Roma-Asylbewerber gibt.”

Die Daten zur ethnischen Kategorie „Roma“ unter Asylbewerbern in der BRD werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gesammelt, das die Asylbewerber aus dem Balkan anhört und über ihre Asyl-Gesuche entscheidet. Viele Roma begründen ihr Asylgesuch mit der ökonomischen und politischen Diskriminierung, die sie als Minderheit erfahren. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sind über die verheerende Lage vieler Roma in Mazedonien informiert. Sie benennen sie in den Fortschrittsberichten, bezeichnen sie als „unzureichenden Minderheitenschutz“ des Staates. Gleichzeitig identifiziert FRONTEX in seinen letzten Western-Balkan-Risk-Analysis-Berichten das „common profile“ derjenigen, die ihrer Meinung nach Asyl-Missbrauch betreiben würden. Wiederholt werden hier einzig und allein „Roma“ benannt, „die oft mit ihren Familien anreisen“.

Wie hat es die EU geschafft, „die Roma“ als europäisches Problem zu konstruieren?

 

Zuckerbrot und Peitsche aus Schengenland

Ein Jahr nachdem die EU als Anreiz eines potentiellen EU-Beitritts Mazedonien, Serbien und Bosnien-Herzegowina von der Liste der schwarzen Schengen-Staaten befreit und „weiß“ gepinselt hat, so dass die jeweiligen Staatsbürger für drei Monate als Touristen ohne Schengen-Visa in die EU einreisen dürfen, mehrten sich Beschwerden der Innenministerien, vor allem aus Belgien und Deutschland, über zu viele „Asyl-Betrüger“. Zeitgleich kursierten Begriffe wie „Wohlfahrtstourismus“, „Asylmissbrauch“ und „Masseneinwanderung“ im öffentlichen Diskurs. „Allein 30.000 Asylanten aus dem Balkan“, kreischten die Medien, ohne die Zahl in irgendein Verhältnis zur Gesamtzahl der Antragsteller in der BRD zu setzen. Es scheint, als könne die Gated Community EU es nicht ertragen, dass sie nun auch noch mit Binnen-Flüchtlingen fertig werden muss. Der Feind, so die Konstruktion im öffentlichen Diskurs, kommt jetzt auch aus Europa. Aus der Perspektive der EU müssen die Grenz- und Kontrollregime deshalb nicht nur an den EU-Außengrenzen, sondern auch an den Grenzen der Drittstaaten (1) und Transitländer intensiviert werden. Die Rechte der EU-Bürger – damit sind vor allem die gewinnbringenden Reisenden gemeint, also Geschäftsleute, Studenten und Touristen – sollen geschützt werden. Wenn zu viele „andere“ reingelassen würden, könnte sich die Elite schließlich in ihren Rechten beschnitten, ausgenutzt fühlen. Mehr noch: Die Sicherheit der einzelnen Mitgliedstaaten könnte gefährdet sein. Mit der Strategie der Versicherheitlichung setzt die EU Mazedonien die Pistole auf die Brust, nach dem Motto: „Wenn ihr nichts aktiv gegen den Asyl- und Visa-Missbrauch unternehmt, führen wir das Schengen-Visum wieder ein!“ Im EU-Sprech heißt die Drohgebärde „Sicherheitsklausel“. Um zu zeigen, wie ernst ihnen damit ist, fahren EU-Ministerialvertreter eigens in das kleine Balkanland, um die „einschlägigen“ Nachbarschaften der „Betrüger“ und Regierungsvertreter zu besuchen. Schon zu Beginn schlug die Nachricht ein wie eine Bombe.

Ohne zu zögern, erweiterte die Regierung den Reisedokumente-Gesetzeskanon, stellte die Ausreise von „falschen Asylbewerbern“ unter Strafe, filzte und briefte Reise-Agenturen und sponsorte Visa-Liberalisierung-Aufklärungsworkshops in den „einschlägigen Nachbarschaften“. Diese Nachbarschaften/Adressen wurden fortan in den Computersystemen der Grenzer gespeichert und bei den Kontrollen abgeglichen. Das hatte zur Folge, dass zunächst die Pässe der „Betrüger“ für ein Jahr einbehalten wurden.

„Warum stellen sie uns Pässe aus, die wir nicht benutzen dürfen?“, fragten damals viele zu Recht, die das erste Mal in ihrem Leben einen (biometrischen) Pass kauften, nachdem die EU im Rahmen der Beitrittsverhandlungen Druck auf die Westbalkanländer ausübte und sie aufforderte, alle Bürger endlich registrieren zu lassen. Nachdem das Einbehalten der Pässe an der Grenze vom mazedonischen Verfassungsgericht als illegal eingestuft worden war, wurden die Pässe zwar nicht mehr zurückgehalten, dafür aber mit den 24h-Ausreisesperre-Strichen versehen. Vollkommen unabhängig davon, ob die Reisenden nur nach Serbien zu Verwandten oder zum Einkaufen oder in die EU reisen woll(t)en.

Trotz Klagen vor dem Ombudsmann, dem Antidiskriminierungs-Kommitee und einigen niederen Gerichten änderte sich nichts an der Praxis. Auch Roma-Repräsentanten unter den politischen Entscheidungsträgern konnten nichts gegen das Racial Profiling (2) ausrichten. Das Gros der Roma-Politiker, die für die Regierung arbeiten, kritisieren das Vorgehen erst gar nicht. Ihre Gegner sind dagegen überzeugt, dass sie die Praxis gutheißen, um wertvolle Wählerstimmen im Land zu behalten. Die Roma, die in der Opposition arbeiten, haben landesweite Proteste organisiert. Mobilisieren konnten sie nicht viele. Die meisten haben Angst vor noch mehr Diskriminierung. Ein Rom sagte mir: „Vor allem die paar wenigen, die einen Job haben, wollen ihn nicht wieder verlieren.“ Viele Familien kämpfen ums Überleben. Die Sozialhilfe (Euro 30/Monat) reicht für viele nicht einmal aus, um die Stromrechnung zu bezahlen.

Anfang 2015 wurde nun zusätzlich ein Gesetz erlassen, das es Beziehern von Sozialhilfe verbietet, Western-Union-Überweisungen aus dem Ausland zu beziehen. Die Daten des internationalen Geldtransfers durch Western Union werden dazu von Staats wegen her überprüft. Sozialhilfebezieher, die dennoch WU-Gelder beziehen, werden von der „Wohlfahrtsliste“ gestrichen und verlieren damit ihren Anspruch auf Sozialhilfe.

 

Abschottungspolitik made in Germany

Auch die sogenannten Aufnahmeländer verschärften indes ihre Gesetze. Auf Empfehlung der EU ernannte Deutschland letztes Jahr die drei „bedrohlichen“ Balkan-Staaten kurzerhand zu „sicheren Herkunftsländern“ um, also zu Ländern, in denen politische Verfolgung durch den Staat ausgeschlossen ist und in denen der Staat Menschen, die durch nicht staatliche Akteure verfolgt werden, nicht schützen kann. Doch diese Maßnahme galt einzig dem Versuch, die Zahl der Asylbewerber einzuschränken, und nicht etwa der Erkenntnis, dass die Staaten sich in den letzten Jahren zu sicheren Regionen entwickelt hätten. Das Ziel der Gesetzesverabschiedung sah vor, dass politisches Asyl für Menschen aus diesen Ländern verunmöglicht werden sollte. Den „Betrügern“, die sich dennoch trauten, sollte ein beschleunigtes Verfahren drohen, das sie schnell wieder aus dem Land befördert. Verstärkte Einreisesperren und Abschiebeinhaftierungen sollen in Zukunft laut dem neuen Bleiberecht ihr übriges tun. Doch auch schon in den Jahren vor der Sicheren-Herkunftsland-Regelung lag die Anerkennungsrate für Asylbewerber aus Mazedonien, die sich in Deutschland bewarben, laut Eurostat unter 0,5 Prozent.

Besonders „engagierte“ Politiker – wie schon der ehemalige Innenminister Friedrich oder jetzt unlängst der Leiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmidt – drohten damit, die Beitragsleistungen für Personen aus „sicheren Herkunftsländern“ zu senken. Ähnliche Empfehlungen kommen bis heute auch direkt aus Brüssel. Im jüngsten Western Balkan Monitoring Report empfiehlt das European Asylum Support Office (EASO) der Europäischen Kommission u.a., Sozialleistungen für Asylbewerber, wie beispielsweise Taschengeld und Rückkehrhilfe, zu reduzieren. Im gleichen Bericht wird an anderer Stelle. Der erschwerte Zugang von Roma in Mazedonien zum Bildungs-, Wohn- und Gesundheitssektor bemängelt. Doch diejenigen von ihnen, die dem Teufelskreis der Armut und der Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder sexuellen Orientierung entkommen möchten, werden nicht aus dem Land gelassen. Die EU und die BRD helfen mit, indem sie Mazedonien weiter kräftig unter Druck setzen, die Grenzen stärker zu kontrollieren.

Dass LGBT‘s und Roma in den „sicheren Herkunftsländern“ in der Regel behandelt werden wie Bürger dritter Klasse und der „sichere“ Staat eben wenig bis nichts tut, um sie zu schützen, um sie zu gleichberechtigten Bürgern zu machen, interessierte damals wie heute die Gesetzesgeber wenig. Der Bundestag organisierte zwar eine öffentliche Anhörung, die die politischen, ökonomischen und sozialen Missstände klar benannte. Der zweite Asylkompromiss mit der Schaffung der „sicheren Herkunftsländer“ und der Einteilung in „gute“ bzw. „ehrliche“ und „schlechte“ bzw. „falsche“ Asylbewerbern wurde aber dennoch durchgewunken. Die Tatsache, dass in Mazedonien seit Jahren auf Empfehlung der EU an der Grenze aussortiert wird und bereits um die zwanzigtausend Roma wiederholt an der Ausreise gehindert wurden, ist zwar auch schon länger bekannt, wird aber in der Konsequenz begrüßt, auch wenn hier Behörden eines „sicheren Herkunftslandes“ sowohl gegen die eigene Verfassung als auch gegen EU-Recht verstoßen. FRONTEX schreibt in seinem Western Balkans Annual Risk Analysis 2014 Report zu den operativen Maßnahmen in Mazedonien:

Im Jahr 2013 verstärkte Ausgangskontrollen: Überprüfung der notwendigen finanziellen Mittel, die Durchführung von Interviews in Bezug auf ihr Ziel, den Zweck und die Motive der Reise. Sollte es Anzeichen dafür geben, dass die eigentliche Absicht des Reisens ist, das Recht auf Asyl zu missbrauchen, wird der Person die Ausreise in Einklang mit Artikel 15 des Gesetzes über die Grenzkontrolle verweigert.
2. Verbessertes Profiling von Personen, die das Asyl in der EU missbrauchen: Dazu gehören die Identifizierung von Gemeinden, aus denen die meisten abgelehnten Asylbewerber kommen (…) Im Jahr 2013 konnte die Zahl der Personen, die an der Ausreise gehindert wurden, auf 6.700 erhöht werden. 41 Prozent mehr im Vergleich zum Jahr 2012.
3. Verstärkung der repressiven Maßnahmen: Im Jahr 2013 stellten Behörden dreimal mehr Straftaten von ‚Missbrauch der Visa-Freiheit mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und des Schengen-Abkommen‘ fest. Die Zahl der verurteilten Täter verdoppelte sich.“
(Eigene Übersetzung aus dem Englischen).

 

Gated Community EU

Freiheit und Sicherheit sind in der EU zu Synonymen geworden, zumindest für die wohlhabende Klasse der EU-Bürger. Für die Drittstaatler und Menschen aus „sicheren Herkunftsländern“ gibt es Freiheit oft nur als Freizügigkeit – unter bestimmten Bedingungen. No freedom of movement made by EU: Die Warnung der EU an die Westbalkanländer, die „falschen“ Asylbewerber zu stoppen, hat dazu geführt, dass sich die Katze in den Schwanz beißt. Mazedonien verstößt gegen sein eigenes nationales Recht, einschließlich seiner Verfassung, die EU wiederum gegen ihren eigenen fundamentalen (Menschen-)Rechtskanon und internationales Recht. Dem nicht eingehaltenen Minderheitenschutz gegenüber Roma, den die EU in ihren Fortschrittsberichten gegenüber dem kleinen Balkanland immer wieder bemängelt, wirkt der supranationale Staatenbund in keiner Weise entgegen. Die Verantwortung wird auf die politischen Entscheidungsträger des kleinen Balkanlandes abgewälzt, das indes von einer Reihe politischer Skandale gebeutelt wird und sich mit „ganz anderen“ Problemen konfrontiert sieht, als der Minderheit entgegenzukommen, die das Bild der „guten“ Mazedonier im Ausland „beschmutzt“. Konkrete Empfehlungen, die die EU gegenüber Mazedonien macht, der sozio-ökonomischen Situation von Roma gerecht zu werden, werden nur selten oder gar nicht überprüft. Finanzielle Mittel sickern kaum zu lokalen Projekten durch; die Situation bleibt die gleiche verheerende. In den Berichten an die Kommission zieht Mazedonien trotzdem eine positive Bilanz, um nicht allzu schlecht wegzukommen und die Beitrittsgespräche nicht zu stören. Da sich in der Realität indes kaum etwas geändert hat, versuchen die Menschen weiterhin ihrer Misere zu entfliehen, doch die Schlaufe um ihren Hals wird immer enger: denn die Drohgebärden der EU gegenüber Mazedonien werden deutlicher, die Grenzkontrollen schärfer, die Grenzübertritte von Roma werden stärker „illegalisiert“ und für die Betroffenen dadurch gefährlicher und teurer.

Aus Menschen, die mit ihren Familien nicht vor Krieg fliehen, sondern vor dem Leben in einem „sicheren“ Staat, der ihnen weder ökonomische Perspektiven noch politischen Schutz bietet, werden Täter. Aus Menschen, die kurzzeitig ihre Verwandten in einem EU-Land besuchen wollen, werden Täter – oft auch dann noch, wenn sie eine offizielle Einladung vorweisen können. Aus Menschen, die von ihrem Menschenrecht, ihr Land zu verlassen, Gebrauch machen, werden Täter, menschliche Bedrohungen, potentielles Sicherheitsrisiken für die öffentliche Ordnung und Sicherheit der EU, eine Wirtschafts- und Wertegemeinschaft die erst unlängst mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde – für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa. Witz komm raus, du bist von unsichtbaren Grenzen umzingelt.

Ein Beispiel für die Doppelmoral der EU, die sich nach außen mit ihrer liberalen, menschenrechtsorientierten Politik brüstet und nach innen eine Abschottungspolitik betreibt, zu der sie auch die Staaten ermuntert, die um eine EU-Anwerberschaft buhlen. Die Visa-Liberalisierung war das erste Leckerli – jetzt müssen sie zeigen, dass sie sich das auch verdient haben. Ansonsten wird die Schengen-Mauer wieder errichtet, der EU-Beitritt weiterhin verweigert werden. Wer aber zieht die EU zur Verantwortung, wenn sie (Anwerber-)Staaten ermutigt, gegen ihre eigenen Gesetze zu verstoßen?

Europäische Gerichtshöfe? Um eine Klage wegen Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft an der Grenze gegen einzelne Mitgliedstaaten vor den Europäischen Menschrechtsgerichtshof in Straßburg zu bringen, müsste erst erfolglos durch alle Instanzen im Herkunftsland geklagt werden. Bislang sind die Klagen von Betroffenen in Mazedonien nicht über die erste Instanz hinausgekommen.

Politische Akteure in den einzelnen Mitgliedsstaaten, die die binationalen Beziehungen in den Herkunftsländern stricken? Als ich bei der deutschen Botschaft in Skopje um eine Stellungnahme zum Racial Profiling an der mazedonischen Grenze bat, wurde ich an die politische Abteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin verwiesen. Als ich das anschrieb, hieß es aus Berlin: „Wir betonen, jedwede diskriminierende Kontrollpraktiken abzulehnen, doch können wir Ihrer Bitte um eine Stellungnahme leider nicht nachkommen, da uns zu diesem spezifischen Thema keine verlässlichen Daten vorliegen. Gerne verweisen wir Sie auf die Expertise der Kollegen im BAMF.“ Als ich ihnen die entsprechende verlässliche Daten bzw. wissenschaftliche Berichte in Peer-review-Journalen und Berichte internationaler NGOs schicke, erhalte ich keine Antwort mehr. Aber auch die Leiterin der Außenstelle des BAMF in Sachsen entschuldigt sich aufgrund derzeitiger Arbeitsüberlastung.

Von der Grenze aus fährt kein öffentlicher Verkehr zurück in die nächstgelegene Stadt Kumanovo. Menschen, die von hier wieder zur Umkehr nach Hause gezwungen werden, müssen sich abholen lassen. Meistens erledigen das informelle Taxifahrer. Auch Moses und ich fahren nach unserer „Testfahrt“ mit einem informellen Taxi zurück. Unser Taxifahrer erzählt uns, dass er aufgehört habe, die Zurückgeschickten zu zählen, dass er jeden Tag hierherkommen könne und Kunden bekäme. Das Geschäft läuft gut, denn aufgrund der ungewöhnlichen Strecke, erheben die Taxifahrer eine extra Pauschale. Unser Taxifahrer diskreditiert die Rückschiebepraxis trotzdem: „Wenn ihr meine Meinung wissen wollt, darüber was hier an der mazedonischen Grenze gerade passiert, dann sage ich: Hier werden zur Zeit Roma gekidnappt. Sie werden so stark ihrer Rechte beraubt, dass sie aufhören als Person zu existieren.“

Der Taxifahrer bringt es auf den Punkt: Indem „Wir“ (EU-Bürger) und „die Anderen“ (Drittstaatler) konstruiert werden, werden eben nicht nur „die Rechte der Anderen“ konstruiert, sondern auch eine „Entrechtlichung der Anderen“ legitimiert, indem sie kollektiv diskriminiert und kriminalisiert werden. Das Recht des Individuums, das hohe Gut des aufgeklärten Abendlandes, bleibt so exklusiv bei den Angehörigen einer „EU-Wertegemeinschaft“.

[Lotte Rie]

 

(1) Als Drittstaaten oder Drittländer werden Staaten bezeichnet, die nicht Mitgliedsstaat eines gegenseitigen Abkommens mindestens zweier anderer Staaten oder eines Suprastaates wie der EU sind. (Quelle: Wikipedia)

(2) Als Racial Profiling oder „ethnisches Profiling“ wird das Handeln von Polizei-, Sicherheits-, Einwanderungs- und Zollbeamten bezeichnet, wenn dieses Handeln auf allgemeinen Kriterien wie ‚Rasse‘, ethnischer Zugehörigkeit, Religion und nationaler Herkunft einer Person basiert.

Literatur: Katrin Simhandl (2007). „Der Diskurs der EU-Institutionen über die Kategorien ‚Zigeuner‘ und ‚Roma‘: Die Erschließung eines politischen Raumes über die Konzepte von ‚Antidiskriminierung‘ und ‚sozialem Einschluss‘“, Nomos Verlag

Die Redaktion zieht…

… einen Schlussstrich

Schluss mit dem Gejammer, Schluss mit dem Selbstmitleid. Schluss mit der Grübelei um verpasste Chancen, verbunden mit der Angst sie kämen nicht wieder. Schluss mit der Trauer um unerfüllte Träume. Schluss mit dem Zweifel am eigenen Lebensweg.

Ich ziehe einen Schlussstrich hinter all die selbstgezüchteten grauen Hirnzermarterer. Sie kommen einfach nicht mehr über die Rote Linie. Denn Ich bin mein eigener Gott, kann selbst bestimmen, was mich prägen soll.

Ich zieh die Zügel selbst, setz meine rosa Brille auf und reite auf meinem lila Pferd namens Aufbruch erneut der Sonne entgegen. Will leben, lieben, lachen, lustig sein. Geh meinen eigenen Weg. Verfolge meine Ziele und werde dadurch unweigerlich neue Türen finden, die sich mir öffnen. Ich hab mein Leben in der Hand, bin Schmiedin meines eigenen Glücks. Zeit dieses Handwerk richtig zu beherrschen. Ich fange mit dem roten Schlussstrich an und lass meine trübe Tasse dahinter stehen.

Jedem Ende wohnt ein Anfang inne. Und jedem Anfang ein neuer Zauber. An meinem Anfang steht der Wille. Solang der bei mir ist, ist alles möglich.

[momo]

 

… die Schublade auf

während sie am endlosen Schrank entlangstürzt, drin sind Stimmen, die nicht raus können, zwischen den Funken in der Schublade, die Flammen sein wollen.

[schlecki]

 

… von c2 nach c4

Von Rubinstein abgeguckt. Also Akiba, dem größeren Genie, nicht Artur.

Viel zu selten allerdings, dass ich überhaupt mal noch Figuren ziehe. Das Schachproblem im Feierabend! ist schon seit Jahren leider der einzige Anlass, mich an‘s Brett zu setzen. Dabei lobpreise ich bei jeder Gelegenheit die meditativen Möglichkeiten des Schachspiels und gerade die Entspannung, die sich beim Lösen eines Problems einstellen kann. Doch damit nicht genug, ist Schach immer auch Lebenshilfe. So wie man zieht, so steht man. Klingt wie eine beliebige Binsenweisheit, ist jedoch als eine von vielen Schachmetaphern auch eine kleine Stütze im Trubel der Gesellschaft. Denn ob man nun umzieht, es einen zu jemandem hinzieht, man sich auszieht, jemanden abzieht, was krasses durchzieht oder jemanden erzieht. Zug um Zug ändert sich die eigene Position und auch die anderer.

[shy]

 

Ich ziehe…

… mir mal wieder warme Socken an, ziehe dabei an einem Faden, der sich zieht und zieht bis die Socke dahingezogen ist. Ich ziehe mit dem Faden los. Ziehe dabei ein mürrisches Gesicht, denn ohne Socken zieht es an den Füßen. Meine Oma zieht den Faden wieder auf, nach links, nach rechts, nach links, nach rechts, sie zieht und zieht, damit ich mir wieder warme Socken anziehen kann.

[mv]

 

hier niemanden durch den Kakao

Dazu ist die Metapher einfach zu altbacken. Außerdem ist es interessanter und relevanter, Dinge und Zustände als Personen durch den Kakao zu ziehen. Aber so große Kakaogefäße finden sich auch eher selten. Und besser werden die Dinge durch zuckrige Schmierschichten sowieso nicht. Also Dinge und Zustände lieber kritisieren und den Kakao der betreffenden Person ins Gesicht schütten. Oder eben einfach trinken – besonders empfehlenswert in Hinsicht auf den sich nähernden Winter.

[wasja]

Vom Denken in schwierigen Zeiten

Über Johannes Agnolis „Die Subversive Theorie“

Ein kluger Mensch – ich glaube, es war Christian Riechers – hat den Marxismus mal als eine „Theorie der Niederlage“ bezeichnet. Der Gedankengang dahinter ist so schlicht wie einleuchtend: In einer revolutionären Situation, wenn die Leute massenhaft revolutionär handeln, ergibt sich das entsprechende revolutionäre Denken von selbst. Schwieriger sind die Flauten zwischen solchen Zeiten, die oft mehrere Jahrzehnte dauern, wo zwar die Verhältnisse genauso elend sind, wie sie es den größten Teil der Menschheitsgeschichte über waren, aber jeder Widerstand fast aussichtslos erscheint – und gerade dann braucht es die Theorie, wenn mensch sich von der schlechten Realität nicht vollends blöd machen lassen will.

In diesem Sinne verstand auch Johannes Agnoli seine „Subversive Theorie“, oder, um die Sache mal aufzudröseln, die Aufgabe der Subversion wie der Theorie – als Gegenmittel für schlechte und Vorarbeit für bessere Zeiten. Oder, in seinen eigenen Worten, gerade dann, wenn „die Revolution gezwungen ist zu überwintern, [ist] ein Impuls zu Subversion notwendig […], sei es, um die soziale Spannung, oder sei es, um die Hoffnung auf eine radikale Änderung aufrechtzuerhalten.“ Die entsprechenden Gedankengänge entwickelte Agnoli in einer Vorlesungsreihe, die im Oktober 1989 begann – also in schöner Parallelität zu den weltgeschichtlichen Ereignissen, in denen der östliche „real existierende Sozialismus“ sein keineswegs bedauerliches Ende fand.

Nun ist die „Subversion“ als Begriff in den letzten Jahrzehnten schon arg geschunden und überdehnt worden – wenn irgendwer sich irgendwo ein irgendwie revoluzzerhaft-widerständiges Ansehen geben will, dann muss fast immer die arme Vokabel „subversiv“ dafür herhalten. Agnoli benutzte den Begriff allerdings anders, im präzisen, hergebrachten Sinne: „subvertere, das Unterste nach oben kehren, umstülpen“, also ganz im Sinne des von Marx formulierten kategorischen Imperativs, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ Das ist nicht neu, aber die Klassengesellschaft ist ja auch eine jahrtausendealte abgeranzte Scheiße – solange uns dermaßen alte Probleme belästigen, bleiben die alten Forderungen aktuell.

Freilich ist die Klassengesellschaft von den sozialen Klassenkämpfen, von „oben“ wie von „unten“, stetig neu geprägt und verändert worden. So gibt es logischerweise auch nicht die Subversion, die eine Subversion schlechthin als irgendwie außergeschichtliche Größe, sondern vielmehr viele Formen der Subversion – und diese versuchte Agnoli in seinen Vorlesungen, durch die (europäische) Geschichte hinweg zu verfolgen und nachvollziehbar zu machen. Ein einigermaßen ambitioniertes Unterfangen, das aber in seiner Durchführung keineswegs so trocken ausfällt, wie mensch vielleicht befürchten könnte. Dafür sorgen nicht nur Agnolis Humor und seine lockere Vortragsweise. Vielmehr zeigt er in seiner Untersuchung immer wieder auf, dass die Konflikte „von früher“ auch heute noch nicht erledigt sind, und verdeutlicht, wie weit wir uns heute noch in den Fluchtlinien vergangener Klassenkämpfe bewegen.

Dabei ist der gespannte Bogen denkbar groß: Von Eva angefangen (wobei Adam eher schlecht wegkommt), geht es weiter über die griechische Sophistik, die Auseinandersetzungen zwischen Plebs und Patriziern im alten Rom, die millenaristischen Sekten des Mittelalters bis in die Neuzeit hinein, zu den Levellers und Diggers der englischen Revolution und zu den französischen Enzyklopädisten. Agnoli widmet sich also nicht nur den Bewegungen „an der Basis“, sondern macht – fast im Vorübergehen – deutlich, welche gesellschaftlichen Konflikte sich hinter vielen philosophischen und theologischen Debatten der Vergangenheit verbargen. Auch die Geschichte der Religion ist eben eine Geschichte von Klassenkämpfen, und die Geschichte der Philosophie sowieso.

Nun sind die ausgeteilten Denkanstöße zu zahlreich, als dass sich hier im Einzelnen auf sie eingehen ließe. Als Anregung zum kritischen Gebrauch des eigenen Hirns – als Mittel also, um sich den herrschenden Verhältnisse gegenüber wenigstens ein Stück gedankliche Freiheit zu erarbeiten – taugt diese „Subversive Theorie“ jedenfalls allemal sehr gut. In der Provinz Deutschland wird es wohl noch etwas länger dauern, bis sich wieder eine revolutionäre Situation ergibt. In der Zwischenzeit lohnt es sich, dieses Buch zu lesen.

[justus]

 

Johannes Agnoli: „Die Subversive Theorie. ‚Die Sache selbst’ und ihre Geschichte“, Schmetterling Verlag 2014, 266 Seiten

Mein Gott, mein Staat, mein Niemandsland

Frei nach dem Motto „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, bild‘ ich einen Staatsraumkreis“, gibt es weltweit immer wieder Menschengruppen, die ihren eigenen Staat ausrufen. Wahlweise finden sie dafür ein noch staatenfreies Fleckchen Erde oder erkennen bestehende Staaten nicht als rechtmäßig an. Durchaus ernst gemeint und mit verschiedenen Motiven ausgestattet.

Ein Beispiel dafür ist der im April ausgerufene Staat mit dem vielversprechenden Namen Freie Republik Liberland und seinem Motto „Leben und Leben lassen“. Das bisherige Niemandsland erstreckt sich zwischen Kroatien und Serbien auf einer sieben km² langen Sumpflandschaft mit Wald und Wiesen.

Eine subversive anarchistische Aktion, um die auf Nationalstaaten basierte politische Elite zu provozieren, das Staatenwesen vor und ad absurdum zu führen? Ein Freiraum für Unterdrückte, die in solidarischer Gemeinschaft ohne Herrschaft leben wollen? Leider nein.

Dieser im April 2015 ausgerufene Staat beansprucht zwar weitestgehende Freiheit für sich, definiert diese jedoch vorzugsweise wirtschaftlich. Ganz anarchokapitalistisch geht es dem Gründer und Präsidenten Vít Jedlicka um eine Steueroase. Privateigentum ist das höchste schützenswerte Gut. Will man Staatsbürger von Liberland werden, muss man diesen Grundsatz teilen und darf zudem „keine kommunistische, extremistische oder Nazivergangenheit“ haben. Ansonsten wird mensch laut Homepage nicht für „vergangene kriminelle Handlungen“ zur Rechenschaft gezogen, ist jedoch angehalten „andere Menschen und deren Meinungen unabhängig von ihrer Herkunft & Orientierung zu respektieren“.

Auch wenn es die Liberländler vielleicht gern anders hätten: International erregt ihr neues Staatsgebiet bisher wenig Aufsehen, sondern wird ignoriert oder als vermeintliche Satire-Aktion heruntergespielt. Sicher nicht ohne Kalkül, schließlich sollen doch die Bürger ihre zu versteuernden Gelder im eigenen Land lassen. Und erst recht nicht auf die Idee kommen, weitere Ministaaten auszurufen, in der jenseits der Staaten-basierten (Un-)Ordnung – aber dennoch unter deren Label – eigene Gesetzte herrschen.

Ignoranz ist jedoch noch eine der harmloseren Reaktionen auf derlei Neustaaten. Denn wenn es Gruppen gibt, die ihren neuen Staat auf bereits vergebene Staatsräume legen, wird meist härter durchgegriffen. Am bekanntesten ist hierzulande wohl die sog. Reichsbürgerbewegung, die zumeist aus rechten Ideologen oder Verschwörungstheoretiker_innen besteht, welche die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Grundgesetz rechtlich für völker- und verfassungswidrig halten. Dies wird als Argumentationsgrundlage ausgebaut, um Menschen zur Unterstützung eigener Machtansprüche zu gewinnen, wahlweise in Form von sog. Reichsregierungen, Fürstentümern oder Königreichen.

Ein Beispiel dafür ist der „Imperator Fiduziar“ Peter Fitzek mit dem Königreich Deutschland, das er bereits 2012 auf einem acht Hektar großen Gelände in der Lutherstadt Wittenberg ausrief. In Anlehnung an die Reichsbürgerbewegung erkennt auch er die staatliche Souveränität Deutschlands nicht an, weil die Verfassung fehlt. Allerdings will er nicht die Alte zurück samt der Grenzen von 1937, sondern lieber eine „lupenreine Monarchie“. Seit der neue König mit dem Aufbau einer eigenen Krankenkasse, Versicherung und Währung begann, zudem noch eigene Autokennzeichen anfertigen ließ und von königlicher Steuererhebung träumt, wird er jedoch nicht mehr von der Staatsgewalt ignoriert. Sondern staatsrechtlich verurteilt.

Kurzum, so einfach ist es also doch nicht mit den neuen Staaten. Stellen sie die Alten in Frage oder werden sie wirtschaftlich und politisch gefährlich, ist Schluss mit Lustig. Vielleicht hat sich Liberland auch deshalb dieses Motto gegeben, weil es hofft, dass man es „leben lässt“?

Wie sehr kann mensch wollen, dass solche Konstrukte am Leben bleiben? Gar nicht. Denn so sympathisch vielleicht die Aushöhlung der auf Nationalstaaten basierten Weltordnung ist, das macht den Gründungsgrundgedanken einfach nicht besser. Weder im Hardcorekapitalismus noch mit selbsternannten Monarchen lässt es sich solidarisch und gerecht in Gemeinschaft leben und leben lassen. Erst recht nicht mit den Nazis der Reichsbürgerbewegung. Abgesehen davon ist die Macht der bestehenden Staatenwelt gegenüber allerlei separatistischen Bewegungen ausgesprochen hoch.

Doch wenn nur Pippi Langstrumpf in der Lage ist, sich ihre Welt so zu gestalten, wie sie ihr gefällt, was bleibt dann uns? Neben ganz kleinen, selbstgebauten Nischen zumindest ein lauter Ruf in die Welt: Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland!

[momo]

Interims-Homepage für libertäres Heft aus Leipzig