Wie die Internationale Gemeinschaft Konflikte fördert
Der deutsche Bundestag beschloss Ende Mai 2014 die Verlängerung des Mandates der seit 2008 laufenden militärischen EU-Operation „Atalanta“ um ein weiteres Jahr. Zur Legitimation wurden seitens der Bundesregierung u.a. die Ziele des EU-Engagements hervorgehoben: neben der Sicherung der Handelswege am Horn von Afrika vor allem die langfristige Stabilisierung, Befriedung und wirtschaftliche Entwicklung von Somalia (1).
Die Internationale Gemeinschaft meint es also eigentlich nur gut. Für die Somalis, und den (auch wirtschaftlichen) Weltfrieden wird daher kräftig in die Marine investiert. Verschwiegen aber werden dabei nicht nur andere mit dem Einsatz einhergehende Interessen, sondern auch die eigene Rolle, die überhaupt erst zur Entwicklung von Piraterie in Somalia führte. Noch dazu stellen sich die Entscheidungsträger_innen taub, wenn sie hören müssen, dass ihr Engagement vielmehr konfliktverschärfend als stabilisierend auf Somalia wirkt.
Ursachen und Entwicklung der Piraterie
Die Piraterie am Küstenstreifen Somalias begann bereits vor Ende des Kalten Krieges, entwickelte sich aber vor allem ab 1991, nachdem das Barre-Regime gestürzt war. Während in den 90ern eher vereinzelt Schiffe gekapert wurden, um Lösegelder zu erpressen, professionalisierte sich das Geschäft der Piraten ab den 2000er Jahren und hatte neben 2008 – dem Beginn des militärischen Engagements seitens der Internationalen Gemeinschaft – 2011 seinen Höhepunkt mit 214 versuchten Kaperungen (47 davon erfolgreich).
Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren vor allem jene internationalen Wirtschaftsakteure, die sich jetzt auch für ihre Bekämpfung stark machen: die maritime Fischereiwirtschaft. Die Piraterie entwickelte sich nämlich erst, nachdem große Teile der ohnehin relativ armen Küstenbevölkerung ihren Lebensunterhalt nicht mehr durch Fischerei sichern konnten und kaum alternative Einkommensquellen besaßen. Der Regime-Sturz begünstigte ein Ordnungs- und Machtvakuum, welches auch zahlreiche Fischfangflotten aus der ganzen Welt nutzten, um die reichen Fischbestände der somalischen Gewässer zu befischen, ohne für Fischereilizenzen oder Kompensationen zu zahlen (zeitweise bis zu 700 illegale Flotten gleichzeitig). Doch nicht nur das: Zum Teil wurde mit illegalen Fangmethoden gearbeitet, so dass bestimmte Gewässerabschnitte buchstäblich leergefischt und der Bestand nachhaltig dezimiert wurde. Darüber hinaus warfen die international agierenden Trawler ihren für sie minderwertigen Mitfang so billig auf den somalischen Markt, dass auch die verbleibenden Fischer dieser Konkurrenz kaum standhalten konnten.
In Folge dessen und in Ermangelung einer kontrollierten (staatlichen) Lizenzvergabe begannen einige Fischer wiederum gefälschte Lizenzen auszustellen und einige Warlords und andere lokale Führer kassierten Bestechungsgelder von Trawlern und stellten im Gegenzug Schutztruppen, welche die alleinige Nutzung der bezahlten Gebiete sicherten. Es kam zu ersten gewaltvollen Auseinandersetzungen auf dem Meer zwischen illegalen Trawlern, Schutzgruppen und (ehemaligen) somalischen Fischern sowie einer beiderseitigen Bewaffnung. Zunehmend mehr Fischer gingen nun dazu über, Lösegelder als Kompensation für verlorenen Fischfang von den Trawlern zu erpressen.
Ab dem neuen Jahrtausend professionalisierte sich das Pirateriegeschäft zunehmend: durch größere Piratengruppen (1), vermehrte Nutzung technischer Geräte wie GPS, eine räumliche Entfernung vom Küstenstreifen und Operationen mit einem sog. „Mutterschiff“ als Piratenstützpunkt auf hoher See. Auch wurden zunehmend Handelsflotten, die auch für die Dauer der Lösegeldforderung in für die Piraten sichere Häfen transportiert wurden, zum Ziel der Kaperungen.
Seit 2008 und mit dem Beginn der Militäreinsätze der Internationalen Gemeinschaft expandierte und eskalierte auch die Piraterie zunehmend: die Dauer der Verhandlungen stieg von zwei auf bis zu sechs Monate, die Höhe der Lösegeldforderungen stiegen an und es fand eine räumliche Expansion weit in den Indischen Ozean bis hin zu den Seychellen statt. Seit 2012 ist ein Rückgang der versuchten Enterungen zu verzeichnen. Dies liegt sicher sowohl an der militärischen Piratenjagd seitens der Internationalen Gemeinschaft, als auch an der vermehrten Bewaffnung der Crews auf den Handelsflotten selbst. Dennoch ist dieser Rückgang weder ein Zeichen für Stabilisierung noch für die Verbesserung der Situation, sondern lediglich ein Ausdruck erfolgreicher Verdrängung und Verlagerung – welche sich schnell als Boomerang erweisen könnte.
Profiteure der Piraterie
Die ökonomischen Auswirkungen der somalischen Piraterie für den Welthandel sind – im Gegensatz zum Eindruck, den man durch die mediale Berichterstattung gewinnt – vergleichsweise gering. So betrug der Umsatzverlust für den weltweiten Seehandel 0,1% im Jahr 2010. Für die deutsche Schifffahrt verringerte sich der Branchenumsatz um 2% (ca. 422 Millionen Euro) (2). Allerdings landet nur ein Bruchteil davon in den Händen der somalischen Piraten, die pro gekaperten Schiff zwischen 1-3 Mio. US-Dollar erbeuten (im Jahr 2008 kamen so bspw. 30 Millionen US-Dollar zusammen). Der Großteil der Gelder fließt vielmehr an Versicherungen und die private Sicherheitsindustrie im Norden, die v.a. als Wachschutz und bei Lösegeldverhandlungen aktiv wird. Anwaltskanzleien, Waffenhändler und Teile der somalischen Diaspora zählen ebenso zu den Profiteuren der Piraterie im globalen Norden.
Demgegenüber haben die Piraten-Gelder auch erheblichen Einfluss auf die somalische Wirtschaft. Einerseits profitieren davon ca. tausend Familien mit ca. 10.000 Angehörigen finanziell. Außerdem wird der Gewinn an ein breites Netzwerk und Unterstützerumfeld verteilt, da die Piraten auf Infrastruktur bzw. sichere Häfen, umfassende Logistik und Informationen angewiesen sind. Andererseits trägt die Piraterie jedoch auch zur Inflation, zur Verteuerung der Lebenserhaltungskosten und zum Arbeitskraftmangel in der Fischereiwirtschaft bei.
In der Bevölkerung selbst ist Piraterie meist als legitime Einkommensquelle akzeptiert und wird zum Teil unterstützt. Allerdings mögen viele die Piratengruppen in ihrer Gegend nicht, da sie mit Waffen- und Menschenhandel in Verbindung stehen, Drogen und Alkohol in die Region bringen, zur Inflation und zum Werteverfall beitragen, den regionalen Schiffsverkehr behindern, und auch Schiffe ärmerer Länder und Schiffe des World Food Programme (WFP) der UN kapern. Übrigens gibt es zwischen Islamisten bzw. der Al-Shabaab und den Piraten keine belegte Zusammenarbeit, obgleich immer wieder Vermutungen kursieren, dass es Berührungspunkte gibt, oder in Zukunft geben könnte. Die Akzeptanz vieler Somalis gegenüber der Piraterie ist nicht nur damit begründet, dass ein Teil der Lösegelder auch in die somalische Wirtschaft und Familien fließen. Von vielen Somalis wird die Piraterie auch deshalb als legitim erachtet, weil sich die Piraten selbst als Schützer des Meeres vor Überfischung und illegaler Fischerei darstellen. Die noch immer illegal agierenden Trawler verschiedenster Nationen werden als „Fischpiraten“ bezeichnet, welche durch Kaperungen abgeschreckt werden sollen. Das erpresste Lösegeld wird als nachträgliche Pachtlizenz oder als Kompensationszahlung für vergangene Fischausbeutung interpretiert. Tatsächlich decken sich die jährlichen Einnahmen der Piraten ungefähr mit dem Verlust in der eigenen Fischereiwirtschaft. Lösegeldforderungen bei Handelsflotten werden als legitimer Zoll für die Nutzung der somalischen Handelswege betrachtet. Im Gegenzug garantieren die Piraten eine sicherere Durchquerung der Meerespassage und keine weiteren Angriffe durch somalische Piratengruppen – auch bei erneuter Durchquerung in Zukunft.
Das Bedrohungsszenario und seine Konsequenzen
Diese ökonomischen Ursachen und Ursprünge der Piraterie werden gerne außen vor gelassen in der hiesigen Debatte, die bspw. die Operation Atalanta rechtfertigen sollen. Statt dessen wird ein Bedrohungsszenario aufgebaut, um der Bevölkerung und vor allem den entscheidenden Parlamentarier_innen die Notwendigkeit des Einsatzes zu verdeutlichen. So wurde Piraterie auch vom UN-Sicherheitsrat als Bedrohung des internationalen Friedens und als kriegerische Handlung bezeichnet. Sie sei einerseits eine Bedrohung für den freien Handelsverkehr und erzeuge großen volkswirtschaftlichen Schaden. Andererseits werden auch Verbindungen zum Terrorismus hergestellt, um die Piraterie als internationale Bedrohung erscheinen zu lassen. Schlussendlich werden, v.a. in der deutschen Debatte, besonders die Entführungen der Lebensmitteltransporte des World Food Programme der UN hervorgehoben, welche das Wohlergehen der somalischen Bevölkerung bedrohen.
Als Ursache von Piraterie gilt in diesen Diskursen meist Staatszerfall und eine daraus resultierende Gewalt- und Kriegsökonomie. Auf regionale Unterschiede hingegen wird kaum eingegangen, obwohl bspw. Somaliland (3) aufgrund eigener lokaler Ordnungsstrukturen frei von Piraterie ist und Piratenstützpunkte und Rückzugshäfen v.a. auf Puntland und Zentral-Somalia konzentriert sind. Denn die Internationale Gemeinschaft unterstützt lieber den Aufbau zentralstaatlicher Strukturen mit Gewaltmonopol nach westlichem Vorbild.
Durch die Bedrohungs-Argumentation lassen sich weltweit die militärischen Missionen rechtfertigen – obgleich sie finanziell nicht im Verhältnis zum wirtschaftlichen Schaden stehen. Insgesamt sind über 20 Staaten militärisch bei Somalia aktiv, größtenteils off-shore (2008/2009 wurden 40 Kriegsschiffe gezählt). Neben einzelnen Marine-Flotten – bspw. aus China, Indien, Russland, Korea, Japan, Malaysia und dem Iran – gibt es drei multilaterale Militäreinsätze bei Somalia: die Operation Atalanta der EU, Ocean Shield der NATO und die Combined Task Force der USA. Die Piratenjagd auch im staatlichen Hoheitsgewässer Somalias wurde 2008 durch die UN-Resolution 1816 legitimiert. Weitere Resolutionen folgten und legitimierten sukzessive mehr Kriegsschiffe, die Jagd vom Festland aus, Gefangennahmen und Geleitschutz.
Zudem wird auch fleißig in den Aufbau von zentralstaatlichen Strukturen investiert und die somalische Übergangsregierung unterstützt, die innerhalb der Bevölkerung wenig Rückhalt genießt und demzufolge nicht durchsetzungsfähig ist. Bspw. werden deren Sicherheitskräfte vom Westen mit ausgebildet und unterstützt (seit 2010 im Rahmen der EU-Mission EUTM Somalia). Investitionen in zivile Strukturen, Entwicklungshilfe oder ökonomische Anreize für die somalische Bevölkerung finden hingegen kaum statt. So sammelte man bspw. auf einer Geberkonferenz 2009 in Brüssel 213 Mio. Euro für Somalia, von denen lediglich 2% in nicht-militärische Aktivitäten investiert wurden (4).
Die Schifffahrtsindustrie selbst fährt mit Unterstützung ihres jeweiligen Herkunftslandes unterschiedliche Strategien des Selbstschutzes. Sie reichen von defensiven Ansätzen, wie Wachen, Zäune, Schallkanonen usw., über bewaffnete Mannschaften bis hin zur Anwendung offensiver militärischer Gewalt, die gezielte Tötung, Beschuss und Geiselbefreiung einschließt.
Das Karussell der vielen Interessen
Da das kostenintensive militärische Engagement der Internationalen Gemeinschaft bei Somalia in keinem Verhältnis zum wirtschaftlichen Schaden steht und die Bedrohung zwar für die Arbeitnehmer_innen auf den Flotten real ist, jedoch als globales Bedrohungsszenario konstruiert erscheint, drängt sich die Frage auf, warum dann so viel in diese Militäreinsätze investiert wird. Ein Blick auf die vielfältige und komplexe Interessenlage der maritimen Wirtschaft, staatlicher Agenturen und militärischer Akteure, gibt darüber Aufschluss.
Zum einen werden natürlich ökonomische Interessen verfolgt, wie die freie Nutzung der eigenen Handelswege, der Schutz eigener Fischfangflotten und die Verringerung der Kosten, die durch gekaperte Schiffe, zeitliche Verzögerungen oder maritime Umwege entstehen. Bemerkenswert ist zudem, dass viele an der Piratenjagd beteiligte Länder noch immer eigene, auch illegale Trawler in der Region fischen lassen.
Zum zweiten scheint die Beteiligung vieler Länder von geostrategischen bzw. geopolitischen Interessen motiviert zu sein. Der Politikwissenschaftlerin Birgit Mahnkopf zufolge ist der Indische Ozean die „Hauptbühne des globalen Wettbewerbs im 21. Jh.“, und die Kontrolle darüber bedeutet Einfluss und Herrschaft (5). Eine der wichtigsten Handelswaren ist dabei das Rohöl. Geopolitisch scheint es vor allem eine Rivalität zwischen der EU und den aufstrebenden asiatischen Nationen wie China und Indien zu geben. Sie werden mitunter als Bedrohung für westliche Interessen gesehen, weil sie militärisch aufrüsten, einen großen Ressourcenbedarf haben und demzufolge Konkurrenten sind. Darüber hinaus stellen sie den „freien Märkten“ das Modell des „staatszentrierten Kapitalismus“ gegenüber und investieren – vor allem China – viel in afrikanische Länder, bspw. in Entwicklungshilfe, Infrastruktur, Rohstoffe, Handel und Technik. Durch militärische Präsenz können alle Beteiligten ihre Einflusszone ausweiten. Des Weiteren ist der Einfluss auf die somalische Politik von geostrategischem Nutzen – sei es beim Wettlauf um Ressourcenvorkommen in Afrika oder beim Kampf gegen globalen Terrorismus oder bei der erwünschten Kontrolle im Indischen Ozean.
Zugleich ist der Einsatz am Horn von Afrika auch eine Demonstration militärischer Macht und weltpolitischer Handlungsfähigkeit. Beispielsweise kann sich die EU mit der Operation Atalanta als außenpolitisch einflussreicher und handlungsfähiger Akteur profilieren, und auch die NATO hat hier ein neues maritimes Aufgabenfeld. Ebenso können die Länder hier ihre militärischen Kapazitäten testen: Die Marine kann ihre Nützlichkeit demonstrieren, Aufrüstung forcieren und militärische Fähigkeiten erproben, ohne sich dabei großen Gefahren auszusetzen. Beispielsweise hat Japan im Zuge des Einsatzes seine erste Militärbasis in Dschibuti etabliert und China seine Marinekapazitäten ausgebaut. Das gemeinsame militärische Engagement ist darüber hinaus eine Chance, internationale Beziehungen und Kooperationen neu zu gestalten, bspw. zwischen China und den USA, die durch ihre gemeinsame Mission eine neue Verhandlungsbasis haben, und eröffnet auch perspektivisch die Möglichkeit, Seerechtsregelungen neu zu gestalten.
Dagegen haben die somalischen Piraten und die sie unterstützende Bevölkerung keine militärisch oder geostrategisch inspirierten Interessen. Primär verfolgen sie ökonomische Interessen, was auch die Wahrung der Fischbestände einschließt. In politischer Hinsicht fordern sie, dass illegale Fischerei auch international geahndet wird und eine finanzielle Kompensationen stattfindet. Übrigens auch dafür, dass europäische Staaten seit den 80ern ihren Giftmüll vor der somalischen Küste verklappten, was ca. 300 Somaliern das Leben kostete und Krankheiten und Fischsterben hervorbrachte. Die EU weigert sich bisher, Schadensersatz zu leisten und den Müll fachgerecht zu entsorgen, obgleich das Seerechtsabkommen nicht nur Piraterie, sondern auch illegale Fischerei und Müllverklappung verbietet. Auch die Anerkennung von lokalen Ordnungsstrukturen und Autonomie bspw. in Somaliland oder Puntland liegt im Interesse der lokalen Autoritäten – bei den Piraten lässt sich mutmaßen, dass Piraterie auch ein Mittel ist, um die Clan-Souveränität über bestimmte Gewässerabschnitte gegenüber der Internationalen Gemeinschaft zu demonstrieren.
Antipirateriemission als Konfliktverschärfer
Soweit so schlecht. Doch die Bilanz wird noch düsterer, wenn man sich die konfliktverschärfenden Folgen des militärischen Engagements anschaut: Zwar gibt es einen Rückgang der erfolgreichen Piratenangriffe seit 2011 und der generellen Attacken seit 2012, allerdings ist dies kein Beleg für eine Stabilisierung der Region – vor allem nicht, wenn sich Gewalt nur verlagert. So führt der Wissenschaftler David Kersting aus, dass eine Verlagerung des maritimen Aktionsraumes stattfand, bis hin zu den Seychellen, sowie ein Ausweichen auf kleinere Küstenstandorte als Rückzugsraum. Ebenso wird eine Verlagerung der Kriminalität der Piraten hin zu anderen Geschäftsfeldern wie Kidnapping und Diebstahl festgestellt. Gleichzeitig führte das militärische Engagement auch zu Eskalationen in mehrfacher Hinsicht: Die geforderten Lösegelder sind heute wesentlich höher, die Verhandlungsdauer ist um mehrere Monate gestiegen, ebenso hat die Gewaltbereitschaft der Piraten im Zuge zunehmender beiderseitiger Bewaffnung deutlich zugenommen. Beispielsweise gab es über 3.000 entführte Seefahrer zwischen 2008 – 2011, seit 2008 mindestens 61 tote Seefahrer und allein 2011 mindestens 111 tote Piraten. Insgesamt scheint also das bewaffnete Engagement der Internationalen Gemeinschaft die Verlagerung, aber auch Eskalationen im Ablauf der Kaperungen zu fördern. Konfliktverschärfend kommt neben der gestiegenen Gewaltbereitschaft hinzu, dass viele der an der Piratenjagd beteiligten Staaten zeitgleich illegale Fischfangflotten vor Ort belassen oder – wie Kenia und der Jemen – noch offene Grenzkonflikte mit Somalia haben. Das befördert nicht nur das generelle Misstrauen in der Bevölkerung jedweder ausländischer Intervention gegenüber, sondern auch ihre Solidarität und Unterstützung gegenüber den Piraten.
Eine nachhaltige Stabilisierung und Befriedung Somalias durch das internationale Engagement kann hingegen nicht festgestellt werden. Sie ist angesichts der genannten Interessen auch nicht zu erwarten, da diese den Bedarfen und Interessen der somalischen Bevölkerung zuwiderlaufen: Denn zum ersten versucht die Internationale Gemeinschaft – geostrategisch motiviert – den Zentralstaat aufzubauen, statt lokale Ordnungsstrukturen, die Clan-basiert in verschiedenen Teilen Somalias bestehen, zu respektieren, einzubeziehen und zu stärken. Zum zweiten finden kaum Investitionen in die zivile Bevölkerung und alternative Erwerbseinkommen bzw. zum Aufbau ökonomischer Strukturen statt. Das aber entspräche den eigentlichen Bedarfen der Bevölkerung und könnte darüber hinaus auch der Piraterie den Legitimationsboden entziehen. Zum dritten zeigt die Internationale Gemeinschaft keine Bereitschaft, Verantwortung für die praktizierte illegale Fischerei und Giftmüllverklappung zu übernehmen, sprich Kompensationszahlungen zu tätigen und eigene illegale Trawler zu ahnden. Hier stehen die ökonomischen Interessen der Internationalen Gemeinschaft im Widerspruch zu ökonomischen und politischen Interessen der Somalier, sprich die Clan-Souveränität gegenüber den eigenen Fischgründen und Meeresterritorium zu respektieren. Zum vierten wird Piraterie noch mit Terrorismus verknüpft, was wiederum zur Zerstörung von lokalen Strukturen beiträgt, die auch Piraterie bekämpfen, und die Etablierung einer etwaigen Ordnung langfristig verhindert. Zum fünften stehen die geostrategischen Interessen im Indischen Ozean der Beendigung des Militäreinsatzes generell entgegen, da das aufgebaute Bedrohungsszenario ja allen nützlich ist, um geopolitische Spielregeln zu definieren und militärische Kooperationen zu erproben. Allen, außer den Somaliern selbst. Es drängt sich der Eindruck auf, dass ihr Territorium von der Internationalen Gemeinschaft als Spielwiese genutzt wird – legitimiert mit dem Argument, es ginge um die nachhaltige Verbesserung und Stabilisierung der Verhältnisse in Somalia. Zurück bleibt ein zertrampeltes Feld – mitnichten aber ein Boden auf dem Gras stabil und nachhaltig drüberwachsen könnte.
momo
(1) http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014/04/2014-04-30-mandat-atalanta.html
(2) Neben den sog. Subsistenzpiraten, die aus ehemaligen Fischern und Familienangehörigen bestehen, gibt es fünf große Piratengruppen, die mit Ausnahme der Somali Marines anhand von Clan-Strukturen organisiert sind und – in friedlicher Koexistenz zueinander – in verschiedenen Gebieten operieren. Die Somali Marines sind mit 1.500 organisierten Menschen die größte Piratengruppe in Somalia.
(3) Somaliland ist eine Region im Norden Somalias mit eigenen autonomen Ordnungsstrukturen. Sie wird als de-facto-Regime bezeichnet, da sie als unabhängiger Staat vom Großteil der anderen Staaten nicht anerkannt wird.
(4) David Kersting 2013: Piraterie vor der Küste Somalias: Eine kritische Perspektive auf das Horn von Afrika als geopolitische Arena; In: Elliesie, Hatem (Hg.): Multidisziplinary Views on the Horn of Afrika; Studien zum Horn von Afrika Band II, Köln, S. 1-34
(5) Birgit Mahnkopf 2010: Piratenhatz am Horn von Afrika. Zur politischen Ökonomie eines Piratenkonflikts und seiner geopolitischen Bedeutung; IPG 1/2010; S.58-81
weitere Literatur:
* Marchal, Roland 2011: Somali Piracy: The Local Contexts of an International Obsession. Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development Volume 2, Number 1: 31-50.
* Mari, Francisco; Heinrich, Wolfgang 2009: Von Fischen, Fischern und Piraten; In: Wissenschaft und Frieden 2009-2: Ressourcen, Ausbeutung, Krieg, Elend
* Matthies, Volker (2010): „Piraten vor Somalias Küsten: Kanonenbootdiplomatie oder Friedenspolitik?“. In Luedtke, Ralph-M. & Peter Strutynski (Hg.): Kapitalismus, Krise und Krieg: Den Kreislauf durchbrechen. Kassel, S. 68-85.