Präventiverfassung von politischen AktivistInnen – Ein deutscher Exportschlager

Seit den Gipfelprotesten von 2001 in Genua und Göteborg sind Polizei und Strafverfolgung auf der Hut vor „schwerbewaffneten Gipfelgegnern“. Über etliche bilaterale Zusammenarbeit wurden und werden Informationen auf europäischer Ebene ausgetauscht, ausgewertet und gespeichert. Diesen EU-Flickenteppich will das „Stockholmer Programm“ in den nächsten Jahren zusammenfügen – und Deutschland will sich seine Vorreiterrolle in Sachen Überwachung von AktivistInnen dabei nicht streitig machen lassen.

Vor dem EU-Innenministertreffen Ende April 2010 hat die EU-Kommission einen umfangreichen Vorschlag zur Ausgestaltung des „Stockholmer Programms“ vorlegt. Dieser Vorschlag zielt in den nächsten fünf Jahren auf eine weitreichende Reform verschiedener Bereiche ab, angefangen beim VerbraucherInnenschutz über die gegenseitige Anerkennung rechtsverbindlicher Dokumente bis hin zur stärkeren Zusammenarbeit von Polizei und Strafverfolgungsbehörden zur Bewältigung „gestiegener grenzüberschreitender Herausforderungen“.

Dabei wird von der Kommission ein generalisiertes System zum Datenaustausch zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten angestrebt, welches als grundlegende Priorität „Anti-Terror-Maßnahmen“ besitzen soll. Begleitend soll dazu der Datenaustausch der bereits bestehenden Agenturen Europol, Eurojust und Frontex verstärkt werden. Zwar stockt die technische Umsetzung bestimmter Informationssysteme für den angestrebten Datenaustausch, so steht das Großprojekt SIS II (Schengener Informationssystem) mehr oder weniger kurz vor dem Scheitern, allerdings werden Alternativprojekte weiterhin parallel verfolgt.

Im Kontext der gesammelten Erfahrungen der meist bilateralen Zusammenarbeit bei Großereignissen wie Fußballwelt- und Europameisterschaften sowie internationalen Politik- oder Wirtschaftsgipfeln, fordert Deutschland dabei die Einrichtung einer europäischen Datei für GipfeldemonstrantInnen. Damit will es seine bisher nur auf nationaler Ebene gepflegte Datei „IgaSt“ (International agierende gewaltbereite Störer) auf die europäische Bühne hieven – neben Deutschland führt bisher nur Dänemark eine vergleichbare Datei von politischen AktivistInnen.

Die Inhalte der „IgaSt“-Datei werden dabei auf äußerst willkürliche Weise gesammelt. Um als potentiell gewaltbereiteR StörerIn an der Ausreise gehindert zu werden, können schon die häufige Teilnahme an Gipfelprotesten, das Besuchen von Info-Veranstaltungen oder intensive politische Betätigung in den entsprechenden Kreisen genügen – lieber zu viel als zu wenig Daten ist, wie auch bei anderen Sammeldateien [z.B. der „LiMo“ (linksmotivierte Gewalt) oder der „Gewalttäter Sport“], die Devise. Eine Löschung aus diesen Dateien ist meist nur sehr schwer zu bewerkstelligen, meistens wissen die Betroffenen nichts über ihre Erfassung.

Bei entsprechenden Großereignissen werden die gespeicherten Informationen dann im Zusammenspiel etwa mit dem Aussetzen des Schengener Abkommens (und damit dem zeitweiligen Wiedereinführen von Grenzkontrollen) genutzt, um politische AktivistInnen an der Ausreise in Richtung Gipfel zu hindern. Desweiteren gehören Meldeauflagen und sogenannte Gefährderansprachen im Vorfeld zum repressiven Repertoire von Polizei und Justiz.

Ein Hoffnungsschimmer bezüglich der Datensammelwut stellten im Verlauf des Jahres 2009 Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg sowie des Verwaltungsgerichts Karlsruhe dar, die eine Speicherung von persönlichen Daten in der bundesweiten Datei „Gewalttäter Sport“ als rechtswidrig angesehen haben. Da viele andere Dateien nach dem gleichen Muster gestrickt sind, bestand die Hoffnung, dass auch diese auf den Prüfstand kommen. Im Vorfeld der Fußball-WM 2010 in Südafrika sowie des heimischen „Public Viewings“ drückte das Bundesinnenministerium jedoch am 04.06.2010 per Eilverfahren einen Entwurf durch den Bundesrat, welches Sammeldateien wie „Gewalttäter Sport“ oder „IgaSt“ auf eine rechtliche Grundlage stellten. Laut des verabschiedeten Entwurfs können somit eine ganze Palette von personenbezogenen Daten, angefangen von Namen und Geburtsort bis hin zu Stimm- und Sprachmerkmalen, in Dateien gespeichert und von Polizeistellen abgerufen werden. Den Schritt zur verstärkten Repression auf europäischem Level stellen die ebenfalls durch den Entwurf des Bundesinnenministeriums abgedeckten Anpassungen bezüglich des SIS II-Projekts dar – die aufgebaute Vorreiterrolle will man sich schließlich nicht streitig machen lassen.

Eure Rote Hilfe
OG Leipzig

weitere Texte und Infos:
Antwort zur Anfrage der Linksfraktion im Bundestag zu vom BKA geführten Dateien: dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/135/1613563.pdf

Entwurf des BI zur neuen Rechtsgrundlage:
www.bundesrat.de/cln_161/SharedDocs/Drucksachen/2010/0301-400/329-10,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/329-10.pdf

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