Am 27.01.2008 dürfen in Leipzig alle allgemein Wahlberechtigten über eine Bürgerinitiative abstimmen und damit möglicherweise den erneuten Verkaufsversuch der Leipziger Stadtwerke durch die Stadtverwaltung Leipzig verhindern. Doch selbst wenn am Wahltag genug Stimmen gesammelt werden können, um die vom Stadtrat geplante Privatisierung der Stadtwerke zu stoppen, was wurde damit wirklich erreicht? Sind Bürgerbegehren und erzwungene Volksentscheide ein Schritt vorwärts und hinaus über die parlamentarisch verfasste Parteienherrschaft? Bedeuten solche „plebiszitären Elemente“ einen Fortschritt an politischer Kultur und ein Mehr an politischer Mitbestimmung? Zwei kontroverse Meinungen seien kurz skizziert.
PRO:
Bürgerentscheide sind ein Schritt in die richtige Richtung, da sie sich weg von der Repräsentantenwahl und hin zur Basisdemokratie bewegen.
Hierzulande entscheiden Wenige über die Interessen der Mehrheit und sind durch unser scheinbar demokratisches System noch dazu legitimiert. Parteien verteilen vor der Wahl Hochglanzbroschüren an die Haushalte; die glänzenden Positionen sollen Wählerstimmen bringen und verschwinden danach, bis zur nächsten Wahl im Aktenschrank. Die Stimme gilt fortan dem Parteirepräsentanten, der damit frei vom Wählergedanken agieren und anderen Interessen frönen kann. Inhaltliche Entscheidungen werden weniger aufgrund einer Auseinandersetzung mit der Sachlage im Interesse der Wähler/innen getroffen, sondern vielmehr von anderen Faktoren abhängig gemacht: Parteidruck, Lobbyismus, finanzielle Verstrickungen oder interne Versprechungen, wie dem „Opernballkompromiss“ (siehe S.1/3f) sind hierbei Gang und Gäbe. Wer Macht hat, hat eben auch Einfluss. Enttäuschte Wähler/innen können dies zwar monieren, ändern können sie es hingegen nicht. So verwundert es kaum, dass viele nicht wählen, die Positionen als heiße Luft enttarnen, über Politiker und ihre Entscheidungen am Stammtisch schimpfen oder sich generell von politischen Themen abwenden.
Bei Bürgerentscheiden sieht das jedoch anders aus: Hier werden alle Betroffenen befragt und eine breite Basis kann ihre inhaltliche Position (sofern sie sich in Frage und Antwort wiederfindet), geltend machen. Nicht die Partei oder der Politiker, sondern ein konkretes inhaltliches Problem ist Gegenstand der Entscheidung, an deren Ergebnis die Politik auch gebunden ist. Hier wird nicht mehr über heiße Luft verhandelt, die dann zugunsten anderer Interessen getrost vergessen werden kann – nein, die Einzelnen treffen ihre Entscheidung im Interesse des eigenen Wohles. Dies mag an mancher Stelle zu kurz gedacht sein, wird aber im Ganzen zu einer wünschenswerteren Politik, da die Menschen unabhängig ihres Status´ oder Geldbeutels selbst Entscheidungen über ihr Zusammenleben treffen können. Für ein vernunftgeleitetes Ergebnis ist es allerdings auch notwendig, dass mit dem Entscheid Aufklärungs- und Informationspolitik einhergeht. Doch auch da hebt sich ein Bürgerentscheid positiv von der Stellvertreterwahl ab: Denn die konkrete Sachfrage animiert mehr Menschen sich mit politischen Fragen inhaltlich auseinanderzusetzen, Informationen zum Thema einzuholen und mit Freunden, Bekannten oder der Familie darüber zu diskutieren. Diese verstärkt praktizierte aktive Meinungsbildung fördert das Politikbewusstsein weitaus mehr, als die Debatten der Politikrepräsentanten, die aus gutem Grunde von den sog. „Politikverdrossenen“ angezweifelt und abgelehnt werden. Zudem wird politisches Engagement gefördert – im Falle der Stadtwerke ist es dem Engagement und der Zusammenarbeit verschiedener lokaler Gruppen zu verdanken, dass die Leipziger überhaupt die Möglichkeit bekommen, über das Privatisierungsvorhaben abstimmen zu können.
Partizipation bedeutet natürlich mehr als ein Kreuz zu machen. Ein Bürgerentscheid widerspricht auch nicht dem deutschen Parlamentarismus mit seiner scheinbaren Demokratie und er trägt aus anarchistischer Perspektive auch sicher nicht zur Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse bei. Trotzdem ist diese Möglichkeit ein Fortschritt und ein Schritt in die richtige Richtung hin zu mehr basisorientierter Teilhabe an politischen Entscheidungen. Er bringt die Menschen wieder mehr dazu sich mit Inhalten statt Partei-Theater auseinander zu setzen und in diesem Fall auf lokaler Ebene als untereinander Gleiche bindend mitzustimmen. Ein Schritt in eine zu fördernde Richtung ist es auch deshalb, weil eine wünschenswerte Gesellschaft auch jeden in Entscheidungen einbeziehen würde und Politik nicht in die Hände anderer verlegt wäre, über die man sich dann am Stammtisch beschwert.
(momo)
CONTRA:
Nimmt mensch die Frage nach dem Für und Wider plebiszitärer Elemente innerhalb der parlamentarischen Demokratie nur abstrakt, scheint die Antwort völlig klar: Dem nationalen Volk als Souverän steht jedes Moment direkter Wahlentscheidungen gut an, da so der ohnehin aufklaffende Spalt zwischen Souverän und repräsentativer Vertreterschaft durch die parteigebundenen Wahlmänner und -frauen zumindest ein stückweit abgemildert wird. Es macht den Eindruck, als hätte der Bürger per Volksentscheid ein zusätzliches Kontrollmoment gegenüber den gewählten Parlamentariern in der Hand. Was soll also so falsch daran sein? Ganz einfach: Diese Kontrolle ist eine Illusion, die jene nur weiter fortschreibt, dass der Bürger mit seinen alljährlichen Wahlentscheidungen Richtung und Inhalt der Politik mitbestimmen könnte. Das dem nicht so ist, kann mensch schon an dem Gezeter abmessen, welches immer dann über die Republik hereinbricht, wenn aus Wahlversprechen und -parolen regelmäßig konkrete Regierungspolitik gemacht wird. Moderne Staatsführung hat eben wenig gemein mit der griechischen Stadtstaatverwaltung in der Antike. Unter den Voraussetzungen der Parteienherrschaft können Volksentscheide gar nicht viel mehr bewirken, als die Bürger zu berauschen am Funktionieren des Systems und damit die Verhältnisse fortschreiben. Sie sind Opium fürs Volk, Politik im Zeitalter einer Gesellschaft des Events. Mit echter Partizipation hat das alles sehr wenig zu tun. Bestes Beispiel hierfür gibt das aktuelle Bürgerentscheids-Verfahren in Leipzig (siehe S.1/3f). Denn die federführende Bürgerinitiative wirbt ja nicht FÜR eine konkrete Alternative sondern lediglich GEGEN die Pläne der Stadt. Da kann die Linkspartei noch soviel ideologische Imagepflege betreiben: Das JA! am 27.01. ist faktisch nur ein NEIN! Die politische Ausgestaltung einer Alternative ist wiederum nur an die regierende Fraktion delegiert. Und dementsprechend kurzatmig ist auch die politische Kultur, die durch das ganze Verfahren ins Leben gerufen wird. Inhaltlich wirklich aufgeklärt sind, wenn überhaupt, dann nur die wenigen Protagonisten der Initiative, das Engagement der meisten JA!- und Amensager dagegen ist auf eingeübtes Unterschriften-Abgeben und das obligatorische Kreuzchen am Wahltag beschränkt. Letztlich funktioniert die Mobilisation der notwendigen Massen wie üblich über das Bedienen der ohnehin vorhandenen Ressentiments. Privatisierung ist ja auch Scheiße! Alles klar?
Letztlich täuschen Volksentscheide nur darüber hinweg, dass im derzeitigen politischen System eine Teilhabe der Betroffenen weder realisiert noch gewünscht ist. Und diese Teilhabe bekäme auch nur dann emanzipatorischen Gehalt, wäre sie die Folge einer politischen Kultur, die tatsächlich die Bedürfnisse der Involvierten zum Gegenstand hätte. Dem ist aber mitnichten so. Einzig befriedigt werden dabei doch die Geltungsbedürfnisse einer außer/parlamentarischen Bürgerfraktion, die den nationalen Konsens der Parteien ja gerade teilt, sonst würde sie nicht zur system-bejahenden Analphabetenwahl aufrufen, sondern bspw. den Widerstand in den Betrieben konkret organisieren. Faktisch wird es aber niemandem besser oder schlechter gehen, egal wie solche Entscheide ausgehen. Entweder-Oder-Wahlen sind eben kein Gestaltungsmittel. Lediglich die Rechtsabteilungen der Parteien bekommen so mehr Arbeit. An den grundsätzlichen Plänen und Interessen ändert sich dabei nichts, sie müssen einzig „umprogrammiert“ werden. Der Bürger geht derweil stolz geschwellter Brust nach Haus und versöhnt sich durch den Schein richtigen Handelns mit den falschen Verhältnissen.
Allerdings ist Ignoranz dem gegenüber auch keine politische Haltung. Und eine solche sollte mensch schon aufbieten, unabhängig davon wie sich Herrschaft akut formiert. Dazu gehört zumindest die kritische Auseinandersetzung mit dem, was sich politisch gerade bewegt. Wenn nötig heißt das auch: Gegenbewegung. Betrachtet mensch den konservativen und teilweise reaktionären Kern der meisten Volksentscheid-Initiativen, so bräuchte es derzeit und hierzulande gerade vernünftige Kampagnen GEGEN die Illusion der Mitbestimmung, die jene suggerieren. Dem aufgeklärten, politischen Bewusstsein bleibt deshalb nach wie vor nur eine Wahl: Den eigenen Stimmzettel ungültig zu machen und eine andere politische Kultur echter Partizipation voranzutreiben. Und das heißt schlussendlich: Den Hemmschuh ‚Volksentscheid’ schnellstens abzustreifen.
(clov)