Proteste in London

Englische Studierende gegen Erhöhung der Studiengebühren

Der November 2010 war, was Großbritannien angeht, heiß und kalt zugleich. Kalt aufgrund des Wintereinbruchs, der die bri­tischen Transportunternehmen alljährlich über­raschend trifft und Verkehrschaos und Schulschließungen bewirkt.

Als heiße Luft erwies sich ein zentrales Wahl­ver­­sprechen der seit den Wahlen im Mai 2010 re­­gierenden Koalition aus Konservativen und Liberal-demokraten(„Con-Dem“): die Verringerung bis Abschaffung der Studiengebühren. Die­­ses gebrochene Wahlversprechen stieß den eng­lischen StudentInnen ziemlich sauer auf. Nicht nur dass u.a. der liberal-demokratische Par­teivorsitzende Nick Clegg vor Kameras da­mit auf Stimmenfang ging, er hatte auch un­auf­gefordert ein derartiges Versprechen unter­zeichnet.(1) Einige Monate später hörte sich das schon leicht anders an: „Natürlich bedauere ich, dass ich mein gemachtes Versprechen nicht halten kann – aber wie auch im Le­ben – ist man manchmal nicht in der Lage diese einzuhalten“.(2) Was er meint ist, dass das Brechen von Wahlversprechen eben eine Art natürlicher Nebeneffekt von Koalitionen sei. Oder anders ausgedrückt, wird hier den Wählern gesagt, selber schuld zu sein, da sie den derzeit schwächeren Koalitionspartner nicht zum Wahlsieger gemacht haben.

Was war geschehen?

Der im März 2009 (also noch unter der damaligen Labour Party Regierung) ins Leben gerufene sog. „Browne Review“ übergab seine gewonnenen Erkenntnisse im Oktober diesen Jahres der Öffentlichkeit. Die Ergebnisse der Kommission unter der Leitung von Edmund John Philip Browne, Baron Browne of Ma­ding­ley, ehemaliger Vorsitzender von Britisch Patrol (BP), wurden von der derzeitigen Koalition mit kosmetischen Abänderungen zur Regierungspolitik erhoben.

Ab September 2012 soll es Universitäten erlaubt sein, statt der bisherigen maximalen £3.290 jährlich bis zu £9.000 Studiengebühren einzufordern. Universitäten die mehr als £6.000 verlangen, sollen dies mit Mehraufwand begründen müssen. Angesichts der desolaten britischen Haushaltslage kann mensch also davon ausgehen, dass sich die meisten Universitäten wohl um die £6.000 Marke einpendeln werden, denn bis dahin sind die Gebühren rechtfertigungsfrei.

„Stop the Cuts!“

Diese Entwicklung erhitzte die Gemüter der Studierenden und entfachte bei einigen Zerstörungswut. In wohl unbewusstem Rückgriff auf den Ausdruck, eine Koalitionsregierung käme einem erhängten („hung“) Parlament gleich, wurden mancherorts zur Guy Fawkes Nacht(3) gar Strohpuppen von Nick Clegg erhängt.

Guter Geschmack hin oder her, was alle einte, war die simple Forderung nach keiner Studiengebührenerhöhung! Aufsehen erregte dieser Ruf am 10. November, als etwa 50.000 Studierende durch den Londoner Stadtteil West­minster demonstrierten. Interessant für die Nachrichten wurde es erst, als einige das Haupt­quartier der Konservativen Partei (im Bü­rokomplex Millbank), das auf dem Weg lag, stürmten, Fenster einschlugen und sich etwa 50 DemonstrantInnen bis auf das Dach durchschlugen. Von dort und anderswo wurden bald Wurfgeschosse auf die überrumpelte, völlig unterbesetzte Polizeieskorte geworfen. Rasch waren alle Beteiligten sauer und es kam zu 32 Festnahmen, sowie einigen unschönen Gewaltszenen, auch von Sei­ten der Staatsmacht. Dieser war das Ganze vor allem peinlich, da sie eher die üblichen zahmen Stu­dent­Innen erwartet hatte.

Am 24. November 2010 ging es dann in die zweite Straßenprotest-Runde: Erneut fanden sich mehrere Zehntausend – diesmal neben Studierenden auch Schüler, Eltern oder schlicht SymphatisantInnen – zum Stimme und Plakat erheben gegen die Bildungskürzungen ein. Der als Karneval angekündigte Protestmarsch durch das Re­gierungs­viertel Whitehall nahm auch erstmal einen fröhlich-lauten Verlauf. Als jedoch der Trafalgar Square erreicht wurde, machte sich diesmal die Polizei den Überraschungseffekt zu nutze und kesselte schlicht alle, die vor Ort waren. Die nun folgenden Provokationen von innerhalb und außerhalb des Kessels (u.a. die „Eroberung“ eines in der Menge vergessenen Polizeiautos, welches als Leinwand und Tanzfläche genutzt wurde) lieferte den Staatsdienenden nachträglich die Rechtfertigung für ihr Vorgehen. Insgesamt zog sich die ganze Veranstaltung bis in den frühen Abend und wer Pech hatte, saß bis zu 9 Stunden im Kessel. Zu Essen oder zu Trinken gab es nichts und gewärmt wurde sich an einem brennenden Bushäuschen.

Und noch etwas war anders als das letzte Mal: hatte die Mehrzahl der Demonstrant­Innen bei den Krawallen von Millbank der Minderheit noch wohlwollend zugesehen, häuften sich diesmal die abschätzigen Kommentare der GewaltverachterInnen.

Keine sechs Tage später, am 30. November 2010 fand eine weitere Protestdemonstration durch die Londoner Innenstadt statt. Mehrere Tausend trotzten auch diesmal der Kälte. Was als 1,5 km Route geplant war, endete als Katz- und Mausspiel. Wann immer die Polizei einen Weg abschnitt, um die Demonstration davon abzuhalten, das Parlament zu erreichen, machte diese kehrt und joggte in eine andere Richtung bis die Polizei wieder vorne war und absperrte…

Am Nachmittag dann spaltete sich die Menge, einige gingen fort, andere versammelten sich am Trafalgar Square, wo sie sich im Schneegestöber Scharmützel mit der Polizei lieferten. Statistische Bilanz aller drei Demonstrationen: 263 Verhaftungen.

Besetzung

Andernorts sah mensch wohl zumindest den Wär­mevorteil der Protestform Besetzung und griff zu dieser, anstatt sich draußen an Plakatfeuern die Hände zu reiben. Ungefähr 25 Uni­ver­sitäten landesweit waren oder sind besetzt, einige erfolgreich, andere erfolglos beendet, wieder andere dauern noch an. Be­zeich­nen­der­weise erhalten die Besetzer­Innen weit weniger mediale Aufmerksamkeit. Dies mag u.a. daran liegen, dass diese unspektakulärer sind: Gutgekleidete junge Menschen sitzen an Computern, twittern, hängen den neuesten Brief der Uni-Autoritäten aus, entwerfen Zeittafeln und auch der linke Intellektuelle Noam Chomsky applaudierte online. Besetzung, die aussieht wie eine Revolution, die hinterher noch durchsaugt, ist sozialer Protest oder Lobbying im Internet aus besetzten Büroräumen heraus, begleitet von alternativen Vorlesungen mit „Essen, Trinken, Toiletten, Küche und Wi-Fi“.(4)

Dagegen mit Facebook und Twitter, dies ist der Punkt, in dem die aufgebrachte Stu­die­ren­­denschaft sich einig ist. Teils unhinterfragt wer­den Internetportale, soziale Online-Netz­wer­ke völlig selbstverständlich als Kommuni­ka­tions- und Mobi­li­sierungs­mittel genutzt. Dies kann zwar praktisch sein, aber auch den Staatsorganen als Informationsquelle dienen.

Es geht jedoch eine Spaltung durch die StudentInnen, die sich in ihren Aktionsformen manifestiert. Ein Teil der AktivistInnen setzt auf Besetzung, ein anderer auf Protest und Tumult auf der Straße.

Erstere rekrutieren sich vornehmlich aus wohltemperierten Mittelklasse-Studis, die ihren Foucault und Harry Potter gelesen haben und Vollversammlungen und andere nicht-hierarchische Organisationsformen bevorzugen. Diese scheinen jedoch den Nachteil der Behäbigkeit zu bergen, mit wenigen aktiv Beteiligten und einer schweigenden Mehrheit.

Letztere dagegen setzen sich eher aus der Polizei-aus-Erfahrung-mißtrauenden Arbeiterklasse oder Unterschicht zusammen. Meist 15-16jährig, spiegelt diese Gruppe eher die bunt gemischte multi-ethnische Bevölkerung wieder. Hier hält mensch wenig von Versammlungen und Debatten.

Beliebter sind Aktivitäten, wie den Protest auf die Straße zu tragen, die Polizei zu foppen und sich als Teil einer Revolte zu fühlen. Was auch immer den/die Einzelne/n bewegen mag, sich zu engagieren, ausgestattet mit nur vagem Mut, sich ideologisch zu verorten, ist es schwierig an jegliches Ziel zu kommen…

Abstimmung

Am 9. Dezember 2010 wurde die Studiengebührenreform im Parlament mit knapper Mehrheit durchgewunken. Wenn die Vorlage nun noch das House of Lords passiert, kann sie noch vor Weihnachten Gesetz werden.

Zeitgleich demonstrierten vor dem Parlament 25.000 Menschen eben dagegen. Erneut kam es zu Einkessellungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der teils berittenen Polizei. 49 Protestierende und 12 Polizisten brauchten ärztliche Versorgung und auch Prinz Charles und Camilla kamen nicht ungeschoren davon. Als sie im Rolls-Royce durch die aufgebrachten Studierenden kutschieren, wurde die hoheitliche Limousine umzingelt, mit Farbbomben beworfen und deren Rückfenster eingeschlagen.

„Anarchy in the UK“

hieß es bald in der Sensationspresse. Würde man nicht daran erinnert, dass es hier um Studiengebühren geht, könnte man meinen, die Hauptfrage sei: Wer hat den ersten Stein geworfen und wer hat die bessere Taktik: Demonstrant­Innen oder Polizei?

…und das Spektakel zieht weiter…

(hana)

 

(1) Über 1000 aufgestellte Kandidaten (Labour und Liberal-Demokraten) haben während der Wahlkampagne 2010 ein Versprechen unterzeichnet, gegen jede Erhöhung der Studiengebühren zu stimmen. Darin heißt es: „Ich verspreche, gegen jede Erhöhung von Studiengebühren im nächsten Parlament zu stimmen und die Regierung darauf zu drängen, eine faire Alternative einzuführen.“ www.nus.org.uk/cy/News/News/Lib-Dem-and-Labour-MPs-would-vote-together-to-oppose-tuition-fee-rise/

(2) „I regret of course that I can’t keep the promise that I made because – just as in life – sometimes you are not fully in control of all the things you need to deliver those pledges. www.independent.co.uk/news/uk/politics/clegg-massively-regrets-tuition-fees-increase-2142627.html

(3) Der Gunpowder Plot („Schießpulververschwörung“) war ein Versuch von britischen Katholiken, am 5. November 1605 den protestantischen König von England, Jakob I., seine Familie, die Regierung und alle Parlamentarier zu töten. Die Verschwörung wurde von Robert Catesby geplant und sollte vom Sprengstoffexperten Guy Fawkes ausgeführt werden.

(4) Blog zu Besetzungen: www.wearelondonmet.wordpress.com

 

Hintergrund der Studienreform

Laut den Reformplänen sollen die Studiengebühren weiterhin als Darlehen von der Regierung übernommen werden. Bisher setzte der Rückzahlungsprozess bei einem Einkommen von £15,000 pro Jahr ein, dies soll auf £21.000 erhöht werden. Zurückzuzahlen wären dann monatlich 9% vom Gehalt über erwähnten £21.000 Einkommen. Wer also £23.000 verdient, zahlt somit 9% von £2000 monatlich zurück. Das kann sich bis zu 30 Jahre ziehen, bevor es abgeschrieben wird. Vorher geschah dies nach 25 Jahren.

Zur Orientierung: das Mindesteinkommen, mit einem Stundenlohn von £5.93 führt zu einem Jahresgehalt von £11.385. Das statistische Durchschnittseinkommen liegt zwar bei £23.000, allerdings befinden sich die Löhne im freien Fall und so mancher wird sich den 7,7% Arbeitslosen anschließen. Damit wäre zu vermuten, dass das erklärte Sparziel der Regierung zumindest so nicht erreicht wird.

Wieso: die Regierung erhöht die potentiellen Schulden der StudentenInnen und bleibt darauf sitzen, wenn die Studierenden offiziell unter der Einkommensgrenze verdienen. Soziale Umverteilung auf britisch: staatliche Förderung der Universitäten kürzen, deren Einnahmen durch Staatsdarlehen der StudentenInnen erhöhen. Und hoffen, dass es die globale Wirtschaftssituation den graduierten Studis erlaubt, diese auch zurückzuzahlen. Mensch hofft, sie wissen was sie tun…

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