1968 und die Popkultur
Popmusik wird seit jeher mit dem Aufbegehren in Verbindung gebracht, wenn schon nicht gegen die Gesellschaft als solche, dann immerhin gegen die Elterngeneration und ihre Regeln. Das fing schon bei Elvis an, der für manche konservative Zeitgenossen seine Hüften doch etwas zu aufreizend kreisen ließ. Diese hatten in den 60er Jahren noch weit mehr Grund zum Kopfschütteln, denn gemessen an dem, was dieses Jahrzehnt an gewagten Frisuren, Experimenten mit freier Liebe und exzessivem Drogenkonsum mit sich brachte, erschien Elvis als reinster Musterknabe.
Man mag von dieser Verbindung von Pop und Rebellion halten, was man will – Fakt ist, dass eben sie einen wesentlichen Teil des Reizes von Popmusik ausmacht. Heute scheint diese Beziehung von Rebellion und Pop fraglich geworden zu sein – Pop scheint sich ins System integriert zu haben. In den späten sechziger Jahren sah das noch anders aus. Da schien die Verbindung von Rock´n´Roll und Revolution so naheliegend, dass etwa Jerry Rubin, ein Sprecher der US-amerikanischen Polit-Hippies (der sogenannten Yippies) sagen konnte: „Die Neue Linke, ein auserwähltes, angekotztes Kind, entsprang dem kreisenden Becken von Elvis“ (1). 1968 schienen symbolisches und ganz reales Aufbegehren, Rock´n´Roll und politischer Protest untrennbar verbunden.
Der Mythos 1968
1968 gilt als gesellschaftliche Aufbruchszeit, als „Kulturrevolution“ oder „nachträgliche Entnazifizierung“ der deutschen Gesellschaft – als Modernisierungsschub also, der den Weg frei machte für unsere heutige „rundum demokratische“ Gesellschaft. Dieses Bild wird – gerade heute zum 40. Jubiläum – von Fernsehen und Presse immer wieder gern bedient. Dabei wird freilich säuberlich getrennt zwischen dem „guten“ und dem „bösen“ ´68: Neue Lebensformen und Frisuren, das Aufbegehren gegen starre Strukturen und den Krieg in Vietnam werden bejubelt, revolutionäre Bestrebungen, Kommunismus und RAF verteufelt.
Nicht, dass es an der RAF viel zu glorifizieren gäbe. Aber dabei wird auch alles andere entsorgt, was über den Status quo hinausweisen könnte. Ehemalige Akteure wie Rainer Langhans, der sich vom Aushängeschild der Kommune 1 zum hirnweichen Esoteriker zurückentwickelt hat, kommen da zu neuen Ehren. Die dahinter stehenden Bedürfnisse sind offensichtlich, schließlich entstammen auch viele Journalisten dieser Generation. So kann man sich wechselseitig auf die Schultern klopfen und sich versichern, dass in der von einem selbst so erfolgreich modernisierten Gesellschaft jede weitere grundsätzliche Opposition überflüssig sei. Indem man „68“ auf flower power, ein bisschen Sex (Uschi Obermaier!), Drugs und Rock´n´Roll reduziert (plus ein paar unverbesserliche Fanatiker, die sich vortrefflich in der Rolle der „bad guys“ machen), verwandelt man es in ein leicht verdauliches Produkt, das nirgendwo für Magengrimmen sorgt.
Dabei ist nicht alles falsch, was da geschrieben wird. Die „Modernisierungsthese“ hat es längst zu akademischen Ehren gebracht. „68“ ist demnach im Zusammenhang mit der sozioökonomischen Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft zu sehen, als eine Bewegung, die nur unter den Bedingungen einer voll entwickelten fordistischen Produktionsweise entstehen konnte. Jedenfalls gewann der Konsumsektor in den westlichen Industriestaaten nach 1945 rapide an Bedeutung. Die zunehmende Rationalisierung und Automatisierung der Arbeit führte zu enormen Produktionszuwächsen. Auf der anderen Seite hatte der Krieg mit seinen Millionen Toten und dem anschließenden Wiederaufbau für weite Teile der Bevölkerung einbeziehendes Wirtschaftswachstum mit geringer Arbeitslosenzahl gesorgt. Hinzu kam der „Kalte Krieg“, der es notwendig machte, die „Arbeiterklasse“ mit „sozialpartnerschaftlichen“ Mitteln ruhig zu stellen. Ein starker Mittelstand bildete sich heraus, traditionelle Klassenverhältnisse wurden aufgeweicht.
Dies äußerte sich in einer enormen Steigerung des Einkommens. Der Freizeit- und Konsumsektor gewann gegenüber der Produktion an Bedeutung. Dies führte zu Konflikten zwischen der jüngeren Generation und den in ihren Werten noch stark der Sphäre der Produktion verhafteten Eltern. Dazu trug auch die rasch wachsende Massenkultur und die aufkommenden Massenmedien bei.
Macht kaputt, was euch kaputt macht
Die wachsende Bedeutung der Massenmedien hatte Adorno schon in den 40er Jahren erkannt. Die positive Sicht der Konsumsphäre als „Reich der Freiheit“ teilte er jedoch keineswegs. Für ihn war die von der „Kulturindustrie“ verwaltete Freizeit nur der Bereich der Reproduktion als notwendiges Gegenstück der Produktion: „Mit der Flucht aus dem Alltag, welche die gesamte Kulturindustrie (…) verspricht, ist es bestellt wie mit der Entführung der Tochter im amerikanischen Witzblatt: der Vater selbst hält im Dunkeln die Leiter. Kulturindustrie bietet als Paradies denselben Alltag wieder an“ (2).
Die französischen Situationisten sahen das ähnlich, widersprachen aber Adornos pessimistischer Einschätzung der Perspektiven. So sahen sie schon 1957 einen „Kampf um die Freizeit“ sich vollziehen, „dessen Bedeutung für den Klassenkampf nicht genügend analysiert wurde. Heute gelingt es der herrschenden Klasse, die Freizeit zu nutzen, die das revolutionäre Proletariat ihr abgerungen hat, indem sie einen breiten industriellen Freizeitsektor entwickelt, der ein unübertreffliches Werkzeug zur Verdummung des Proletariats durch Subprodukte der mystifizierenden Ideologie und des bürgerlichen Geschmacks darstellt“ (3).
Diesen lückenlosen Zusammenhang des „Spektakels“ galt es zu durchbrechen, passive Konsumenten in aktive Gestalter ihres eigenen Lebens umzuwandeln. Im Gegensatz zur vulgärmarxistischen „Verelendungstheorie“ (die Leute machen Revolution, wenn es ihnen schlecht genug geht), sahen die Situationisten gerade im Anwachsen von Konsum und Freizeit die Möglichkeit zur Entstehung potentiell systemsprengender Bedürfnisse. Diese galt es bewusst zu machen und zu stärken.
Die amerikanischen Yippies hauten zehn Jahre später in die gleiche Kerbe: „Sie [die intellektuellen Radikalen] erklären uns, dass nach den Gesetzen des Marxismus Revolution nur aus der wirtschaftlichen Ausbeutung erwächst. Eine Revolution wird es nur dann geben, wenn es zu einer neuen wirtschaftlichen Depression kommt. Für uns – eine revolutionäre Bewegung, die nicht aus der Armut, sondern aus dem Überfluß entstand – bieten ihre Theorien keine Erklärung. (…) Die Yippies betrachten die weiße Mittelstandsjugend als eine revolutionäre Klasse. (…) Der Kapitalismus wird untergehen, weil er seine eigenen Kinder nicht zufrieden stellen kann“ (4). In der situationistischen Theorie einer „Ökonomie der Bedürfnisse“ könnte der Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse liegen.
Gegenkultur
Fakt ist, dass ab Mitte der 60er ein deutliches Anwachsen dissidenter Verhaltensweisen in der Jugend der westlichen Staaten zu verzeichnen war. Popkultur war dabei das Mittel der Wahl, um die Frontstellung zur Elterngeneration deutlich zu machen. Eine „Gegenkultur“ entstand, zunächst in den USA, bald auch in Europa, die sich u.a. mit Undergroundzeitschriften, Comics, Land- und Stadtkommunen usw. eigene Infrastrukturen und Ausdrucksformen schuf. Der Rock´n´Roll spielte dabei eine wichtige Rolle. Diese „Gegenkultur“ verstand sich nicht unbedingt politisch. Es ist auch relativ gleichgültig, ob Musiker wie die Rolling Stones selbst irgendwelche kulturrevolutionären Absichten hegten oder deren jugendliche Hörer z.B. mit dem Tragen langer Haare ein politisches Statement machen wollten – die „Gegenkultur“ definierte sich eher durch einen bestimmten Lebensstil als durch eine Ideologie.
Von der Elterngeneration wurde sie gerade deshalb als Angriff auf ihre hergebrachten Werte verstanden, z.B. auf die gängige Geschlechterordnung. Die Frisur wurde zum Kampfplatz, als hätte man damit den archimedischen Punkt der Gesellschaft getroffen. Die Palette der Reaktionen reichte von Beschimpfungen über Entlassungen am Arbeitsplatz bis zur „pädagogischen“ Körperverletzung vom familiären Patriarchen – und mitunter noch ein Stück weiter. Symptomatisch ist dafür ein Interview, welches geführt wurde, nachdem im Mai 1971 auf dem Campus der Kent State University (Ohio) vier DemonstrantInnen von der Nationalgarde getötet worden waren:
„Mutter: Jeder, der sich in den Straßen einer Stadt wie Kent mit langen Haaren, dreckigen Klamotten oder barfuß blicken lässt, verdient es, erschossen zu werden.
Frage: Ist langes Haar ein Grund, erschossen zu werden?
Mutter: Ja. Wir müssen diese Nation reinigen, und wir werden mit den Langhaarigen anfangen.
Frage: Würden Sie es gutheißen, dass einer Ihrer Söhne erschossen wird, nur weil er barfuß herumläuft?
Mutter: Ja“ (5).
Die Weigerung, sich den gängigen Verhaltensmustern anzupassen, die Haare zu schneiden, einer geregelten Arbeit nachzugehen, usw. wurde als Angriff auf die Grundfesten der Gesellschaft angesehen, eine Bedrohung, der es mit allen Mitteln zu begegnen galt. Da das „Establishment“ selbst harmloseste Regelverstöße mit Repression beantwortete, war es nicht verwunderlich, dass die „Gegenkultur“ sich zunehmend politisierte. Wenn simpler Hedonismus diese Gesellschaft zu solchen Reaktionen veranlasste, musste diese grundlegend verändert werden. Das Glücksversprechen der Konsumgesellschaft sollte real eingelöst werden.
Auch Drogen wie LSD spielten dabei eine wichtige Rolle, eine Entwicklung, zu der der ehemalige Harvard-Professor Timothy Leary einen entscheidenden Beitrag leistete. Das „psychedelische Programm“ könnte man als „Rousseau´sche Revolte“ bezeichnen: Gesellschaft und Erziehung entfremden demnach den Menschen von seinem wahren Selbst, was wiederum zu destruktiven Verhaltensweisen führt. Drogen wie LSD können dazu dienen, diese Konditionierungen rückgängig zu machen und so einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel hervorrufen. Auf lange Sicht führte dieser Ansatz zu einer unpolitischen Neo-Mystik, die das individuelle Bewusstsein als Dreh- und Angelpunkt ausmachte und folglich glaubte, sich mit der Veränderung materieller Strukturen gar nicht erst aufhalten zu müssen.
Eine gewisse Zeit gingen der Konsum psychedelischer Drogen und politische Radikalität aber gut zusammen. Auch in der Musik schlug sich dies nieder, Bands wie Pink Floyd wurden mit ekstatischen Endlos-Soli und neuartigen Soundeffekten zu Aushängeschildern des Psychedelic Rock.
Gegen die Arbeit
Drogenkonsum bedeutete auch eine Verweigerung gegenüber den Leistungsforderungen der Gesellschaft. Dies verband sich gut mit einem Programm der allgemeinen Arbeitsverweigerung, wie es die Antiautoritären praktizierten. Eben dies wurde ihnen von sozialdemokratischen und marxistisch-leninistischen Traditionslinken immer wieder vorgeworfen. Die amerikanischen Yippies hatten für diese Angriffe nur Spott übrig: „Die Yippies werden die Linke erst dann ernstnehmen, wenn sie anfängt, Comic-Hefte zu drucken. Wir müssen Politik so einfach machen wie Rock´n´Roll-Texte. (…) Die Linke macht den Kommunismus zu einer Religion (…) Ein christlicher Trip von vorn bis hinten. Lernen und Opfer bringen für die Revolution. Das Leiden wird dich und die Arbeiterklasse befreien“ (6).
Wahrscheinlich lag das Scheitern der Revolte auch darin begründet, dass die Arbeiterklasse gar nicht befreit werden wollte. Außer in Frankreich, wo sich die Arbeiter_innen mit wilden Streiks und Fabrikbesetzungen dem Protest der Student_innen anschlossen, wurde die Bewegung vorrangig von subproletarischen und (klein)bürgerlichen Gruppen getragen. Ein ernsthafter Angriff auf die Grundlagen der kapitalistischen Ökonomie war so nicht möglich. Auch dies hat der Bewegung von 1968 den Charakter einer „Kulturrevolution“ gegeben – der Revolte blieb als Betätigungsfeld nur die Kultur übrig. Die weitgehende Wiedereingliederung der gegenkulturellen Bestrebungen ins „System“ war somit unvermeidlich.
Allein durch Hedonismus und Verweigerung ließ sich die kapitalistische Gesellschaft nicht überwinden. Diese erwies sich als anpassungsfähiger als erwartet – die Verweigerung wurde ignoriert, vom Hedonismus das übernommen, was für die eigenen marktwirtschaftlichen Zwecke brauchbar war. Dennoch verdient es gerade dieses hedonistische Element der 68er-Revolte, bewahrt und gegen den Irrglauben verteidigt zu werden, die Ernsthaftigkeit einer Haltung beweise sich durch den Grad an Leiden, der damit einhergeht. `68 war auch eine Revolte gegen die Arbeit, für ein lustvolles, selbstbestimmtes Leben – darin liegt ihr emanzipatorischer Gehalt, den es gegen alle Befürworter_innen von „revolutionärer“ Askese und Märtyrertum stark zu machen gilt. Denn (um hier einen situationistischen Slogan zu zitieren, der im Mai 1968 an vielen Pariser Häuserwänden zu finden war) „wir machen die Revolution schließlich nicht, um arm zu bleiben“.
(k.rotte & nils)
(1) zitiert nach Helmut Salzinger, „Rock Power – wie musikalisch ist die Revolution?“, Seite 8, Fischer Taschenbuch Verlag, 1972.
(2) zitiert nach Horkheimer/Adorno „Dialektik der Aufklärung“, S.162, Reclam 1989.
(3) „Rapport über die Konstruktion von Situationen“, zitiert nach „Beginn einer Epoche“, S. 40-41, Edition Nautilus 1995.
(4) Salzinger 1972, S. 127.
(5) zitiert nach Penny Rimbaud, „The last of the hippies“, zuerst erschienen im Booklet der „Christ – The Album“-LP von Crass.
(6) Jerry Rubin, zitiert nach Salzinger 1972, S. 126.