Schwarzfahren, das letzte Abenteuer der Kavaliere?

Schon der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, hat vor der Fraktion der SPD zum Thema „Agenda 2010 für Wirtschaft und Arbeit“ am 08. April 2003 in Berlin uns alle gemahnt, dass wir „keine andere Wahl [haben], als Ernst zu machen mit dem ‚aktivierenden‘ Sozialstaat. Das mag schmerzhaft klingen, aber es wird erträglicher, wenn wir das Ziel dahinter wieder in den Vordergrund rücken: Unser Land bis zum Ende des Jahrzehnts zur Vollbeschäftigung zurück zu führen.“

Das Schöne beim „aktiven Sozial­staat“ ist, dass jeder mitmachen kann, auch mit kleinem Geldbeutel. Und das geht beispielsweise so:

Man könnte ohne Fahrschein mit Bus oder Straßenbahn fahren, was eigentlich kaum weiter auffallen würde. Dann wür­de man von zwei als Kontrolleure ange­stellten Menschen erwischt. Es würde ein Zettel ausgefüllt werden, den man für 40 Euro der LVB zurück­geben soll. Falls man aber unbelehrbar ist und die Frechheit hat, ständig oder öfters knapp bei Kasse zu sein, oder aber partout nicht einsehen will, dass alles was kosten muss – dann hört der Spaß auf. Dann wird erneut ein Zettel ausgefüllt, der (zur An­zeige gemausert) mehrere Polizeibeamte beschäftigt.

Nun wächst sich die Anzeige zu einer Anklageschrift aus und damit befasst sich die Staatsanwaltschaft. Wenn es zu einem Gerichtsverfahren kommt, sind noch einmal eine handvoll mehr Leute mit der Affaire befasst. Gefängnisstrafen von bis zu einem Jahr sind vorgesehen, aber auch deftige Geldstrafen, die man dann z.B. als Kontrolleur abarbeiten kann.

Mit nur zwei oder drei Mal Schwarz­fahren sorgt man dafür, dass die Arbeits­losenrate nicht noch weiter steigt. Und ganz nebenbei hat man auch noch den Kontrolleuren zu Sinnhaftigkeit verholfen.

Um eben diesen Sektor am Laufen zu halten, haben sich seit einiger Zeit Poli­zei, Staatsanwaltschaft und Leipziger Ver­kehrsbetriebe (LVB) zu einer großangeleg­ten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zusammengeschlossen:

Vor einigen Wochen war in der LVZ zu lesen, dass die Anzahl der Straftäter ge­stiegen sei. Bei den Justiziaren stapele sich das Papier und das Polizeirevier Süd rich­te gar eine Extra-Arbeitsgruppe von sieben Be­amten ein. Bei Bedarf würden auch wei­tere Reviere herangezogen. Die Polizei fährt selbst schwarz und sorgt für die Mas­sen an Schwarzfahrern? Nun, soweit sind wir noch nicht. Dieses Arbeitsgebiet wur­de ja erst neu entdeckt.

Die Zahl der „Straftaten“ stieg dras­tisch, das heißt, von den Erwischten wur­den mehr Übeltäter angezeigt: 1440 (2000), 2088 (2001), 5775 (2002), in den ersten sechs Monaten diesen Jahres 3842. Nicht die Anzahl der Schwarzfahrer/innen ist gestiegen, auch wurden nicht mehr Kontrolleure eingesetzt. Lediglich mehr Beamte müssen ihre Zeit mit Sachen zu­bringen, die sonst die Praktikanten erle­digen. Staatsanwälte schreiben Anklagen im Akkord und Richter stöhnen über Atemnot aufgrund der Papierberge.

Nun soll Schwarzfahren noch heraus­fordernder werden, denn die Kontrolleur/innen erhalten seit kurzem eine neue tech­nische Ausrüstung. Der Sprecher der LVB, Rheinhard Bohse, kam zu der Schluß­folgerung: „Die Fahrt ohne Ticket wurde schon zum Sport.“ Na dann, freie Fahrt bis Olympia!

Sehr viel gefährlicher für Leib und Leben scheint das Fahren ohne Fahrschein in der Hauptstadt zu sein seit die BVG private Sicherheitsdienste als Kontrolleu­re engagieren. Eine 54-jähige Frau wurde mit einem seit zehn Minuten abgelaufe­nen Fahrschein erwischt und brutal abge­führt. Wäre sie von den Beamten der BVG ertappt wurden, wäre die Sache wahr­scheinlich sanfter abgelaufen. Scheinbar dienen die privaten Kontrolleure zum Durchgreifen, während die Festangestellten eher auf das Firmenimage achten müssen.

hannah

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom Mittwoch, 16. Juli 2003 Morgenpost.berlinl.de

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