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Die Großstadtindianer (Folge 0)

Ich erinnere mich noch als wäre es heute. Kalle und ich, wir waren wieder einmal unterwegs auf einem unserer Streifzüge durch die Städtische Bibliothek. Mit einiger Not hatten wir uns an den gestrengen Blicken der bebrillten Damen am Empfang vorbeigedrückt. Kalle war es zuvor gelungen, den Wachmann gleich neben der Eingangstür mit seinem altbewährten Trick abzulenken. Und da standen wir nun, inmitten der unzähligen Regale, die im schmalen Licht der Fenster unter der Last der Bücher gedankenschwer ächzten. Während ich unschlüssig meinen Zeigefinger über die Bücherrücken gleiten ließ, hatte sich Kalle sofort auf das Regal mit den Piratengeschichten gestürzt. Er liebte diese Erzählungen über raubeinige Seeleute. Das Meer als letztes Reservat von Freiheit und Müßiggang, das war Kalles Lieblingsgedanke. Ich blätterte etwas lustlos in Godwins Roman über den Bauernsohn Caleb Williams. Doch konnte ich mich nicht so recht entschließen, es einzustecken, und schob das Buch deshalb zurück ins Regal. Als plötzlich Kalles Warnruf neben meinem Ohr raunte: „Achtung, Aufsicht!“ Blitzschnell verschwanden wir über die nächste Treppe Richtung Keller. Ich spürte Kalles gefaßten Atem hinter mir, stieß die hindernde Tür vor uns mit dem Fuß auf und wir drückten uns hindurch.

„Materiallager“ hatte in fetten Lettern auf der Tür gestanden. Das matt zuckende Licht mehrerer defekter Neonlampen ließ die Ausmaße des Raumes nur schwer erkennen. Über die Regale zogen endlose Schlangen eingestaubter Bücher, auf dem Boden türmten sich Berge von Zeitungen und Papier. „Mann, das ist ja ein richtiger Freibeuterschatz!“, entfuhr es dem staunenden Kalle. Er rammte mir seinen Ellenbogen in die Seite und ging zu einem der Regale, „Sieh dir das an, Finn! Marx, Engels, Lenin, ganze Regale, und ein Haufen Literatur dazu.“ Er drehte sich zu mir: „Warum die das wohl hier horten?“ Ich zuckte etwas ratlos mit den Schultern: „Vielleicht hoffen sie auf bessere Zeiten.“ Kalle schmunzelte: „Mit Marx und Engels? Und Lenin??“ Im Vorbeigehen strich er über die Bücher. Ich folgte ihm und brummte: „Immerhin ein Anfang.“ Dabei blieb mein Fuß an einem der Papierberge hängen, die sich auf dem Boden stapelten, und riß ihn zur Hälfte um. „Paß doch auf!“, zischte Kalle, „Muß ja keiner merken, daß wir hier rumgeschnüffelt haben.“ Ich beugte mich über das lose Papier. Es waren Manuskripte, manche handschriftliche Kopien alter Zeitungen. Einige auch geheftet und gebunden. Beim Überfliegen las ich Titel wie: „Sozialist“, „Der arme Konrad“, oder „Die Revolution“. Als ich tiefer kramte, entdeckte ich zwischen den Seiten einer Ausgabe von 1895 ein kleines, schwarzes Büchlein mit rotgefärbten Seiten. Ich schlug es auf, doch die meisten Seiten waren leer, nur am Anfang waren einige Sätze in feiner Handschrift eingetragen. Ich begann zu lesen: „Für den Finder. Dieses Buch ist kein gewöhnliches. In seiner Entstehungszeit wurden nur wenige Dutzend von ihm angefertigt. Damals, es waren unruhige Zeiten, ging die Sage von einer neuen Zeit, die anbrechen sollte. Die Diener der dunklen Macht sollten endlich geschlagen und vom Erdenball verdrängt werden. Ein jeder mit reinem Herzen wartete auf jene Helden der neuen Zeit, doch sie kamen nicht. Von Jahr zu Jahr geriet jene alte Sage mehr in Vergessenheit, bis nur noch wenige Gelehrte sich an sie erinnerten. Aus jener Zeit stammt dieses kleine Büchlein …“, ein Geräusch ließ mich hochschrecken. Kalle stürzte um die Ecke und fiel beinahe über mich. Er presste hektisch zwischen seinen Zähnen hervor: „Sie haben uns entdeckt! Da hinten! Eins, zwei drei Leute, der Wachmann ist auch dabei. Los schnell! Wir hauen ab!!!“ Schon stob er in wilder Panik Richtung Tür. Schnell stopfte ich das Büchlein zwischen Gürtel und Hüfte und stürmte Kalle hinterher, der zielstrebig, zwei Stufen in einem nehmend, Richtung Hauptausgang flüchtete. Hinter uns hörte ich noch den Wachmann fluchen: „Verdammtes Pack!“ Dann waren wir durch die aufheulenden Kontrollsperren ins Freie gelangt. Die Sonne empfing uns herzlich warm. Es war ein später Frühlingstag im Jahre 1999. Ich lege den Stift beiseite und schlage das kleine, schwarze Buch mit den roten Seiten zu.

(Fortsetzung folgt)

clov

…eine Geschichte

Arbeit macht Spass!

… doch wer kann schon immer Spass vertragen?

Wahlzeit ist Propagandazeit. Und ein Thema steht immer im Vordergrund. Die Arbeitslosigkeit. Doch wenn man sich die Debatten so anschaut, stellt sich die Frage, wo liegt das Problem? Gibt es zu wenig Arbeit oder sind die Arbeitslosen zu faul? Der Herr Schröder sagt, es gibt kein Recht auf Faulheit. Warum eigentlich nicht? Arbeiten wir deshalb, weil wir befürchten, dass es sonst morgen nichts zu kaufen gäbe? Natürlich nicht. Es wird ja allerorten gejammert, das die Leute zu wenig konsumieren, das die Auftragsbücher leer sind und die Umsätze der Konzerne zurückgehen. Es ist eher umgekehrt: wir konsumieren, damit wir arbeiten können! Wo anderenorts die Menschen verrecken weil sie zu wenig zu essen haben, sterben sie in unseren Breiten weil sie sich überfressen. Wozu also arbeiten? Die Sache ist einfach: damit die Miete bezahlt werden kann, damit einem zu Hause die Decke nicht auf den Kopf fällt, damit man nicht als faul und Schmarotzer verachtet wird.

Und irgendwie will man schon einen Teil von der schönen bunten Welt. Es ist doch klar: die Unternehmen wollen, ja sie müssen Profit machen. Es werden nur Leute eingestellt, wenn sie profitabel sind. Und am besten zum Nulltarif! Es ist nie die richtige Zeit für eine Lohnforderung. In der Konjunktur, so wird gejammert, droht sie die Konjunktur abzuwürgen. Und in einer Krise sind Lohnforderungen gleich gar nicht angebracht. Schaut man auf die Börse, so bewirkt eine Lohnerhöhung den Fall einer Aktie. Werden Leute rausgeschmissen so steigt die Aktie. Wohlstand für alle ist ein Witz. Wenn es den Konzernen gut geht, geht es der Mehrheit, die arbeitet keinesfalls gut. Doch woher kommt der Reichtum der Unternehmen? Woher ihre Macht? Aus der Verwertung unserer Arbeit. Je besser und effektiver die Fähigkeit zu arbeiten ausgenutzt wird um so profitabler ist es für das Unternehmen. Die Arbeitspropaganda läuft genau darauf hinaus: länger arbeiten, mehr arbeiten, flexibler arbeiten, für weniger Lohn arbeiten. Möglichst jedes Quentchen Arbeit soll genutzt werden. Denn anscheinend geht es ja um eine gemeinsame Sache: die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Das Renteneintrittsalter soll erhöht werden und die Arbeitszeit soll verlängert werden.

Irgendetwas haut da nicht hin. Es geht darum, unter den Menschen die Bereitschaft zu erzeugen, selbst noch den beschissensten Job für ‘nen Appel und ‘n Ei zu machen. Es geht darum, die Wirtschaft anzukurbeln. Und wer nicht will wird bestraft. Das verlangt die Hartz-Kommision. Und wie der nächste Kanzler auch heißen mag, diesen Vorschlag wird er gern aufnehmen. Es gibt kein Recht auf Faulheit! Und wer hofft schon durch Arbeit je aus dieser Mühle herauszukommen? Wer kann den Montag leiden, wer freut sich nicht auf den Freitag? Nein, Arbeit macht keinen Spaß. Spaß macht es mit Freunden am Strand zu liegen. Doch der Weg zur Arbeit führt nicht zum Strand.

Wie funktioniert der ganze Laden eigentlich? Als Kapital. Das heißt, es wird Geld eingesetzt, um Produktionsmittel und Arbeitskräfte zu kaufen. Die Arbeitskräfte wendet man auf die Produktionsmittel an, läßt sie also arbeiten. Dabei werden sowohl Produktionsmittel als auch Arbeitskräfte verbraucht. Im Ergebnis entstehen neue Produktionsmittel oder Konsumtionsmittel. Diese werden wieder in Geld verflüssigt, also verkauft. Dann kann der Prozess von neuem beginnen. Nun entsteht beim Arbeiten mehr, als für die Wiederherstellung der Produktionsvoraussetzungen vonnöten ist. Also wird die Produktion mit diesem Mehr ausgedehnt. Das heißt es werden mehr Produktionsmittel gekauft und mehr Arbeitskräfte eingestellt und so weiter. So entsteht eine immer größere Warenmasse. Das geht so lange gut, solange jeder der drei Teilprozesse, also Ankauf, Produktion und Verkauf funktioniert. Wenn die lokalen Märkte gesättigt sind, drängt das Kapital über die Grenzen hinaus. Das Kapital breitet sich über die ganze Welt aus. Der Verkauf ist innerhalb des Kapitalprozesses der kritischste Punkt. Wenn die Märkte gesättigt sind kann nichts mehr verkauft werden und der ganze Prozess gerät ins stocken. Produktionsmittel liegen brach, Arbeitskräfte werden rausgeschmissen etc. pp. Das kennen wir ja. Die Arbeiter/innen selbst haben keine Möglichkeit sich ihre Grundlagen fürs Leben selbst zu produzieren, da sie keinen freien Zugang zu den Produktionsmitteln und Ressourcen haben. Sie sind als Produzent/innen von den Produktionsmitteln getrennt. Deshalb sind sie gezwungen, die einzige Ressource zu verkaufen, die sie besitzen und reproduzieren können: ihre Fähigkeit zu arbeiten. Also verkaufen sie diese Fähigkeit und arbeiten. Sie kaufen sich mit dem Geld Konsumtionsmittel und reproduzieren ihre Arbeitskraft um sie wieder verkaufen zu können, etc pp. Das kennen wir ja auch. Was bei der Arbeit tätsächlich konkret gemacht wird ist im Grunde gleichgültig. Wer in einer Panzerfabrik arbeitet, will ebenso wenig auf der Straße landen, wie jemand der/die in einer Schokoladenfabrik oder irgendwo anders arbeitet. Im Kapitalismus haben die Arbeiter/innen ihren Bezug zu ihrem Produkt verloren, ihre Arbeitskraft ist für sie in erster Linie nur insofern von Interesse, als sie verkaufbar – Tauschwert – ist. Möglichst viel Kohle für möglichst wenig Arbeit.

Welchen Sinn hat nun das Ganze? Gar keinen! Es ist ein sich selbst vorwärtstreibender Prozess, der dadurch funktioniert, dass die einzelnen Menschen den Möglichkeiten und Zwängen nachgehen, die sie unmittelbar für sich selbst erkennen. Der Kapitalprozess in seiner Gesamtheit hat nicht mehr Sinn, als das Heranwachsen eines Baumes. Die Folgen sind bekannt: massenhaft sinnlose Schufterei, die krank macht. Eine Schufterei die die Sinne abstumpft und die Muse tötet, die Menschen in gehetzte Tiere verwandelt. Die Zerstörung der Umwelt, Hunger und Kriege erscheinen dagegen als relativ harmlose Nebenwirkung.

Die hier gegebene Darstellung ist natürlich nur eine sehr grobe Skizze. Feierabend! will sich mit dem Thema Arbeit auf eine andere Weise beschäftigen, als es die Politiker aller Parteien tun. Es wird uns darum gehen Zusammenhänge aufzuzeigen; zu schauen, was Leute gegen den Arbeitsirrsinn tun; wo und wie sich Leute wehren. Macht Feierabend!

v.sc.d

Arbeit

Die Bewegung der Piqueteros – Blockierer in Argentinien

Einige glauben in den „Piqueteros“ das "neues historisches Subjekt" oder die "neue Avantgarde" zu sehen; andere, in Unkenntnis der Geschichte der Kämpfe und dem Prozess ihrer Entstehung, der seit etlichen Jahren eng mit den Kämpfen des Landes verbunden ist, behaupten, dass das Phänomen der Piqueteros isoliert und völlig spontan sei.

Aus unserer Sicht (der zweier ehemaliger Studenten der Universität Buenos Aires, die seit einigen Monaten in Leipzig leben) hat es die Bewegung der Piqueteros geschafft, eine unbestreitbar führende Rolle in der politischen Szene Argentiniens zu erobern. Trotzdem ist sie, vor allem in Anbetracht der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse des heutigen Argentinien weit davon entfernt, eine Bewegung zu sein, die die Kapazität hätte, einen revolutionären Wechsel hervorzurufen.

Was ist ein “Piquetero“?

In einem unablässigen Kampf kämpfen sie (in der Mehrzahl Arme aus den Elendsvierteln) ums Überleben und für ihre Rechte, bei der Arbeit, im Bildungsbereich, im Gesundheitswesen, ihrer Lebensweise-, die Arbeitslosen in Argentinien. Sie wandelten sich von „Nichtsen“ zu beachteten sozialen Akteuren, die täglich um einen Platz in einer Gesellschaft, die sie ausstößt streiten.

Die "Piquetes" (Blockaden) – abgesperrte öffentliche Wege, Straßen oder Brücken – sind das elementare Kampfmittel der Piqueteros, dadurch werden sie zu Piqueteros. Unter dieser Bezeichnung finden sich diejenigen, in einem Prozess der Teilnahme, Organisierung und Diskussionen, die in der Störung des Verkehrs eine Form gefunden haben, die ihnen Gehör verschafft und es ihnen ermöglicht, das Produktionssystem anzugreifen und somit in ein neues Verhältnis zur Regierung zu treten. Die Piqueteros etablierten sich in den sozial-politischen Szene Argentiniens kraftvoll als ein neuer sozialpolitischer Akteur.

Das allgemeine Problem in diesem Land – sagt der Soziologe Juan Villareal von der Universität Buenos Aires, – ist, dass die Piqueteros viel mehr machen, als nur das Fehlen von Arbeitsplätzen zu beklagen. Das Bild vom Piqueteros ist eng mit dem verzweifelten Aufschrei, der Forderung nach all jenen Rechten, für die der Staat keine Verantwortung übernimmt verbunden. Es ist jedoch logisch, dass er sie nicht übernimmt, denn er verabschiedete sich davon, die Menschen als „Bürger“ zu betrachten, statt dessen gibt es nun nur noch „Konsumenten“.

Es ist bekannt, das an den letzten Blockaden im Großraum Buenos Aires, wo in der Mehrzahl Arme leben, sich nicht nur Arbeitslose beteiligten, ebenso Mütter, die ihre Kinder nicht mehr zu den öffentlichen Küchen schicken können, da diese geschlossen wurden, Greise, die keine medizinische Hilfe erhalten, Kinder, die von den Schulen aufgrund von Mangel an dem einfachsten, wie Tafeln und Sitzbänken, bis hin zu Lehrern, nicht mehr beherbergt werden können. Sie alle versammeln sich an den Barrikaden und unterstützen die Piqueteros. "Es ist eine neue Art ein imaginiertes Kollektiv zu kreieren. Alle sind Teil eines Ganzen, ihre Bedürfnisse und ihr gemeinsames Agieren, vereint sie bei der Straßenblockade. Dort wo es eine Blockade gibt, gibt es sie wegen des Versagen des Staates", fasst Villareal zusammen.

Die Entstehung der Piqueteros-Bewegung

Die ersten, die begannen aufzubegehren, waren die Rentner, die gegen die Willkür, mit der der Staat ihre Bezüge kürzte protestierten. 1993 begannen sie sich jeden Mittwoch vor dem Nationalkongress zu versammeln und blockierten dabei die Zufahrtsstraßen. Angeführt von Norma Plá, kamen etliche Greise, unter denen einige über 70 sind, aus dem Großraum Buenos Aires in die Hauptstadt um zu demonstrieren und der Abgeordneten die Stirn zu bieten, die für die Kürzungen ihrer Rente gestimmt hatten und erläuterten ihre Motive in einfallsreichen öffentlichen Aushängen.

Während eben dieser Jahre nahmen die Probleme der Arbeitslosigkeit zu, da das oft einzige und meist staatliche Unternehmen der Stadt, durch den Verkauf der Betriebe geschlossen wurde. Der erste Zusammenstoß ereignete sich in Cutral Có und Plaza Huincul, in der Provinz von Neuquén, in Patagonien, am Rand der Gebirgskette der Anden. Die Privatisierung des staatlichen Unternehmen Yacimientos Petrolíferos Fiscales (ypf ) durch irreguläre parlamentarische Praktiken, eilig durchgeführt im Wind des Neoliberalismus, welcher mit der Politik des Präsidenten Menem blies, führte dazu, dass die spanische Firma Repsol entschied, die alte argentinische Firmen für unproduktiv zu erklären und damit zahlreiche Arbeitsplätze zu streichen.

Das Fehlen von Arbeitsplätzen ließ den Konsum schrumpfen, die elementarsten wirtschaftlichen Kreisläufe, die zum Überleben nötig sind, brachen zusammen und verursachten interne Migrationen. Die Schließung des Eisenbahnnetzes, angeblich aufgrund von Rentabilitätsproblemen isolierte die Gemeinschaften und verschlimmerten die Umstände weiter. Die Hausfrauen, die mit ansahen wie ihre Männer ihre Arbeit verloren, ihre Kinder nicht mehr zur Schule gehen konnten und die ganze Familie ohne medizinische Versorgung dastand, ergriffen die Initiative. Die Straßen von Cutral Có und Plaza Huincal wurden von den Einwohnern ganzer Städte, die ihre Existenz in Gefahr sahen gesperrt. Sie verlangten Arbeitsplätze oder Alternativen, die es ihnen erlauben würden, in ihrer Stadt oder auf ihrem Land zu bleiben. Der mehr als ein Jahr dauernde Kampf war gekennzeichnet durch gebrochene Versprechen und der Verweigerung der Verantwortlichkeit seitens der nationalen und provinziellen Regierungen. Ähnliches geschah in der nördlichen Provinz von Salta, in den an Öl reichen Bezirken von San Martin, Tartagal und General Mosconi, dort wurden die privatisierten Ölunternehmen von dem spanischen Konzern Repsiol als unrentabel erklärt. Die Massenentlassungen verwandelten die Dörfer in Geisterstädte.

Sofort wurden Blockaden organisiert um gegen das Fehlen von politischen Alternativen zu protestieren und die Regierung präsentierte einige Jahre später den sogenannten "Arbeitsplan", der einen massiven und rapiden Abbau der Arbeitslosigkeit simulierte. Dieser Arbeitsplan enthielt für einige die einmalige Möglichkeit an einer Beschäftigungsmaßnahme, die drei Monate dauert, teilzunehmen und ein Einkommen von 160 Pesos monatlich (weniger als 45 $) zu verdienen.

Schließlich begannen die großen Blockaden unweit der Hauptstadt, besonders in dem Gebiet von "La Matanza". Dort trafen sich zu jeder Demonstration mehr als 10.000 Menschen, die ihr prinzipielles Recht, die das kapitalistische System nicht garantieren konnte einforderten: das tagtägliche Überleben.

Heutzutage gibt es Blockaden in den meisten Teilen Argentiniens, wobei die Hauptstraßen, Nationalstraßen und den Zugang zur Hauptstadt gesperrt werden. Bei den ersten Aktionen war die grundlegende Forderung der "Streikposten" (Piqueteros) die Umsetzung der sozialen Pläne. Doch mit jeder neuen Eroberung der Straße wuchs die Anzahl der Beteiligten. Dies erlaubte es, die Strukturen der Organisierung zu stärken, wobei in der einen oder anderen Art und Weise, ein Teil der staatlichen Beihilfe aus den Beschäftigungsmaßnahmen an die Organisierung der Piqueteros abgetreten werden muß. Heute stellen die Piqueteros eine Vielzahl von politischeren Forderungen. In der Bewegung der Piqueteros finden sich verschiedene Strömungen, von eher radikalen Positionen wie den Trotzkisten, Marxisten-Leninisten, bis zu den gemäßigteren wie den großen Gewerkschaften CTA und CCC. Das zeigt uns, dass es eine scharfe Trennung im Herzen der Bewegung der Piqueteros gibt: die, die um einen Platz im System kämpfen (um einen Platz in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bitten und um verbesserte soziale Bedingungen) und denen, die für einen fundamentalen Wandel der realen sozialen Existenzbedingungen eintreten.

Im Verlauf der Entwicklungen in Argentinien, als es während des Monats Dezember 2001 in den Straßen zu massiven und generellen Protesten kam, in deren Zuge Präsident Fernando de la Rúa und sein Wirtschaftsminister Domingo Cavallo abtreten mussten, spielten die Piqueteros noch keine bedeutende Rolle. Der entscheidende Faktor bei der Amtsenthebung der Regierung war die Mittelklasse, die mit ihren Protesten in Form von „cacerolazos“ (sogenannte Kochtopfdemonstration) und Pfeifkonzerten die Strassen überschwemmten, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Spontan erhoben sich tausende von empörten Menschen um gegen die Konfiszierung ihrer Vermögen, gegen die steigende Arbeitslosigkeit und die Zunahme der Gewalt in den Städten zu protestieren. Sie verstopften die Verkehrs-Nervenbahnen von Buenos Aires bis in die tiefe Nacht und trafen dann auf dem Plaza de Mayo zusammen um gemeinsam von der Regierung eine Erwiderung zu erzwingen. Die massiven Proteste und die folgende Mobilisation auf dem zentralen Platz, vor dem Regierungsgebäude wurden brutal niedergeschlagen, es gab 48 Tote in ganz Argentinien zu beklagen. Diese Unruhen waren ausschlaggebend für den Sturz der Regierung.

Verantwortlich für den Ausbruch der Revolte im Dezember war also die Mittelklasse und nicht die Bewegung der Piqueteros. Die Ereignisse vom Dezember offenbarten, wie weit die Bewegung der Piqueteros noch davon entfernt ist, ein großes historisches Subjekt zu sein, das die Kapazität hat, einen fundamentalen revolutionären Wandel in Argentinien hervorzurufen.

Juan P. M. & Diego. S. S.

International

Das Kreuz (mit) der Wahl

„Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten.“

(altbekannter Spruch)

„Your vote counts. Nothing!“ (Graffiti in Brixton/London)

Immer rechtzeitig zum Wahlkampf bietet sich die Idee geradezu an, das parlamentarische Possenspiel mit einer Wahlverweigerung zu konterkarieren. Demokratie, in Form des Parlamentarismus, ist für Menschen, denen eine selbstbestimmte Gesellschaft am Herzen liegt, schlicht abzulehnen. Der Einheitsbrei an Parteien, die sich allesamt durch Macht korrumpieren lassen, unterscheidet sich auch bei Gesetzesvorhaben nur in Nuancen (beispielhaft die Debatte um die Zuwanderung) – Vorgegaukelte, und durch sämtliche Medien prima vermittelte Pluralität, Politik als Unterhaltung. Damit sich gute Demokraten auch als solche fühlen können, bleibt ihnen alle vier Jahre die Möglichkeit, mit zwei Kreuzchen, die Dinge im Lande zu gestalten. Viel mehr ist nicht drin! So weit, so gut…

ABER: Neben diesen etwas plakativen Aussagen, denen grundsätzlich zuzustimmen ist, stellt sich doch die Frage, ob es irgendeine auf diesem Wege an die Macht gekommene Regierung wirklich stört, wenn die Wahlbeteiligung auf 50, 40, 30% sänke. Ist es nicht eine paradoxe Vorstellung, wenn gerade diejenigen, die sich für Selbstbestimmung stark machen, die der Gesellschaft kritisch gegenüberstehen, eine Einflussnahme (sei es auch die lächerlichste, unwesentlichste) auf die Verhältnisse rundweg ablehnen? Übrig blieben dann die restlichen Wähler, denen nicht viel Gutes zuzutrauen ist.

Ich kann auch nicht einsehen, warum man denn mit seiner Wahlstimme die Stimme „abgegeben“ haben soll. Nirgendwo steht eine Kontrollinstanz, die mir bei möglicher Opposition gegen dieses System mit erhobenen Zeigefinger erklärte, ich hätte mein Recht zur Kritik bereits am letzten Wahltag verwirkt!!!

Überlegungen zur Wahlentscheidung (Wählen oder Nicht-Wählen) kommen schnell auf das Thema Parteien: Die Fragen, welche sich dann stellen, sind: Wo liegen die Unterschiede ? Ist das ein Programm, mit dem ich etwas anfangen könnte? Sind meine Einstellungen vertreten?

Diese Fragen stellen sich natürlich nicht nur diejenigen Leute, die am Parlamentarismus hängen. Meist leider nur, um sich aufzuregen. Feststellen lässt sich dann nämlich, all das, was im ersten Absatz erwähnt wurde, daneben, dass Wahlversprechen nicht eingehalten werden (selbstverständlich nicht!) und Parteiprogramme das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt sind. Worauf ich aber hinaus möchte, sind die praktischen Unterschiede im alltäglichen Geschäft Politik. Da ist dann auch schnell von „Linken“ zu hören: Wir wollen den Stoiber nicht, nicht den Hardliner Beckstein, und auch nicht die beiden „Musterschwaben“! Guidomobil und Fallschirmspringer kann man auch in den Skat drücken!

Trotzdem Rot/Grün wenig richtig machen, ist da immer noch die schlechtere Option Schwarz/Gelb.

So gibt es also zwei Möglichkeiten, sich diesem Dilemma zu stellen. Die leichtere wäre, in einer Ablehnungshaltung zu verharren, sich nicht auf das ganze Spielchen einzulassen, und die Wahl zwischen Pest und Cholera zu ignorieren. Die schwerere wäre, eigene Prinzipien und ideologische Dogmen über Bord zu werfen, in den sauren Apfel zu beißen und das kleinere Übel zu wählen. Eine zugegebenermaßen widerliche Vorstellung…

Was kann man zur sich als linke Oppositionspartei gerierenden PDS sagen ? Neben dem Dasein als Partei für benachteiligte Ossis darf man der PDS augenscheinlich einen ähnlichen Weg prophezeien, wie ihn die Grünen schon gegangen sind, ein wenig schwerfälliger vielleicht. Schlussendlich gibt es dann ja auch noch das gute Dutzend sogenannter verschenkter Stimmen an Kleinstparteien. Ob Spaßpartei oder Politsekte, ich persönlich halte ein Kreuz an dieser Stelle für nicht verkehrt. Die werden garantiert keinen Unsinn im Parlament verzapfen können und mir gefällt in Hochrechnungen und Wahlstatistiken ein hoher Prozentsatz für andere Parteien immer noch besser als eine nichts aussagende geringe Wahlbeteiligung.

kao

Wahl

Zapatistas ermordet und vertrieben

Dramatische Verschlechterung der Situation in Mexiko

Die Gewalt gegen die zivilen Unterstützerbasen der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee EZLN hat im Juli und August 2002 einen neuen Höhepunkt erreicht. In und um die Region „Montes Azules“ (Bundesstaat Chiapas), die für Regierung und Konzerne wegen ihrer Bodenschätze und Biodiversität äußerst attraktiv ist, ermordeten rechte Paramilitärs mindestens vier EZLN-Unterstützer, verletzten Dutzende und vertrieben Hunderte. Diese Vorfälle stellen endgültig klar, dass vom neuen Präsidenten Fox und vom Gouverneur von Chiapas, Pablo Salazar, kein Schlusstrich unter die Gewalt gezogen wird und die Straflosigkeit weiter anhält. Während Fox weltweit umherreist, um Investoren für sein Modernisierungsvorhaben „Plan Puebla Panama“ anzuwerben, leisten Polizei, Militär und bewaffnete Banden die Terror- und Vertreibungsarbeit gegenüber den Hunderttausenden Zapatistas, die sich vehement gegen jenen kapitalistischen Plan aussprechen und auf ihren Ländereien weiterleben wollen. 1994 hatte sich die EZLN erhoben, um für eine Landreform, Basisdemokratie, indigene Rechte und eine Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik zu kämpfen. Über 50 Organisationen und zahlreiche Einzelpersonen aus der BRD, Österreich und der Schweiz protestierten mit einer Resolution an die mexikanische Regierung gegen die Gewalt im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas. Die Unterzeichner der Resolution solidarisieren sich mit den Zielen der Zapatistas. Auch in vielen anderen Ländern wurde demonstriert.

Oberster Gerichtshof legitimiert skandalöses „Indígena-Gesetz“

Einen herben Rückschlag für die Zapatistas, die Indígena-Bewegung und die linke Opposition bedeutete die am 13. September 2002 geäußerte Weigerung des Obersten Gerichtshofes von Mexiko, die 300 Klagen gegen das umstrittene „Indígena- Gesetz“ zu berücksichtigen.

Rückblick: 1996 hatten Regierung und EZLN ein erstes Teilabkommen über indigene Rechte und Kultur unterzeichnet (Abkommen von San Andrés), das indigene Selbstverwaltung und Bestimmung über die Ländereien garantierte. Die Regierung setzte es nicht um. Auch unter dem neuen Präsident Fox wurde es nicht umgesetzt, sondern nur extrem „verwässert“ verabschiedet, so dass Gemeinden jetzt nur noch „von öffentlichem Interesse“ sind und ihre Rechte nicht kollektiv einklagen können (vgl. GWR 260 – Sommer 2001). Die 300 Klagen waren die letzte Hoffnung, auf friedlichem Wege diese Konflikte zu lösen. Sämtliche progressiven Kräfte Mexikos kritisierten die Entscheidung des Obersten Gerichts scharf und bezeichneten sie als „Tragödie“ oder „Katastrophe“. In Chiapas und Mexiko gab es bereits erste – teils heftige – Proteste, so dass die Situation äußerst gespannt ist.

Gruppe B.A.S.T.A.

aus: graswurzelrevolution 272 – Okt. 2002

International

Die letzte Runde – eine Frage der Macht

Oder: Es kann nur einen geben!

Jetzt ist es endlich soweit, das Sommerloch, mit schlechten Werbespots ausgestopft, ist vorbei. Die ganze Deutschland-Arena, zugepflastert mit überdimensionalen Porträtplakaten, fiebert, diffuse Gefühle im Bauch, jenem Augenblick entgegen, wo ein kleiner Kuli plötzlich zum mächtigsten Hebel repräsentativer Demokratie werden könnte, nachsinnend den zwei winzigen Kreuzchen, die den Blutschwur auf vier Jahre erneuern sollen. Das Wahlhelferheer hat seine letzten Rekrutierungen abgeschlossen, die Urnen geputzt, die Bleistifte gespitzt. Die Medienglocken läuten zur letzten Runde.

Sie sehen in der linken, roten Ecke Garry Holly-Schlodder. Lassen Sie sich nicht von seinem Grinsen irritieren. Die vorhergehenden Runden haben ihm mächtig zugesetzt. Daß er noch immer steht, hat er wohl seiner Beweglichkeit zu verdanken, auch wenn Schlodder das rechte Bein seit der ersten Runde nachzieht.

Seine Gegner in der rechten, schwarzen Ecke haben für den Schlußspurt jenen furchterregenden Veteranenkämpfer Eddie „The Eagle“ Spoiler revitalisiert, nachdem zuvor Angel Morkel und Friedolin Motz Schlodder müde liefen. Spoiler, der trotz ausführlicher Fitnessprogramme durch den Osten und der Reha-Doping-Spezialbehandlung im heimischen Bayern, nicht ganz austrainiert wirkt, lehnt in seiner Ecke, streicht sich das schlohweiße Haar für die Kameras zurecht und popelt an einer Finanzspritze Ost.

Schlodder scheint wutentbrannt über den Tiefschlag aus dem Ende der vergangenen Runde. Mit einem eingesprungenen Springer hatte Spoiler spektakulär in die rot-grüne Flanke geschlagen und damit Koalitionsfluchtwege verstellt.

Schlodder schnauft und macht einige Schritte auf Spoiler zu. Noch ehe der reagieren kann, trifft ihn eine gezielte Hartz-Kommission zwischen Schläfe und Nasenbein. Das recht Brillenglas zerspringt und ein Glasauge wird sichtbar. Fürchterlich erregt stößt der Getroffene bayrisch-katholische Flüche aus und bekommt Schlodders Kopf mit einem 4.000.000-Arbeitslose-Würgegriff zu fassen. Holly-Schlodder, sichtlich beeindruckt, würgt an Fehlinvestitutionen, Aufrüstung und Konsolidierung. Jetzt kommt der Kampf in Gang. „The Roller“ schleicht sich aus dem Schatten der schwarzen Ecke und traktiert Schlodder mit außenpolitischen Zehenschrauben, während Spoiler mit zahlenscharfen Handkantenschlägen auf das Rückmark des am Boden Liegenden eindrischt. Schlodder bleibt nur ein Weg. Der gefährliche Wendehals. Mit einer abrupten 180°-Drehung des Kopfes starrt Holly Schlodder plötzlich Spoiler tief in die Augen und droht mit Spendenskandal und Rüstungslobby. Spoiler ist irritiert, „The Roller“ kramt in seinen Taschen. Schlodder nutzt die Gelegenheit, kommt auf die Beine, holt aus und trifft Spoiler mit einem linken Haken am konservativen Hüftgelenk. Der sackt auf die Knie. Schlodder hat wieder Oberwasser, da auch „The Roller“ vom grünen „Chamäleon“ abgelenkt wird.

Plötzlich rast das „Guidomobil“ zum Ring und ein gelber Clown steigt aus. Gleichzeitig landet ein zweiter mit einem Fallschirm. Nachdem sie nur Schatten boxen, wird klar, daß es sich um die Super-Sonder-Überraschung des Privatfernsehens handeln muß, die unter dem Motto „Ein bißchen Spaß muß sein“ angekündigt war. Doch im Ring ist die Ablenkung schon verflogen. Schlodder schlürft siegessicher, die Hände in den Hosentaschen, Richtung rote Ecke und steigt aufs dritte Seil. Er setzt zu dem gefährlichen Gewerkschaftsknochenbrecher an. Schlodder springt, technisch schlecht gemacht, und landet nur Millimeter neben dem Arbeitgebersteiß Spoilers. „The Eagle“ rafft sich auf und hackt mit kurzen neoliberalen Tritten auf Schlodder ein, stolpert dann über die eigenen Beine, verstrickt sich in seiner Vergangenheit und knallt gegen die juristischen Kanten der schwarzen Ecke. Bewußtlos taumelt Spoiler durch den Ring. Garry Holly-Schlodder will sich gerade aufrappeln, als ein Pfiff ertönt.

Schlodder sinkt wie vom Blitz getroffen zu Boden, Eddie „The Eagle“ Spoiler fliegt über dessen Beine und fällt über ihn. 49%, 50%, 51%. Vorbei. Können Sie das noch ernst nehmen? Die sind doch alle gekauft!

clov

Wahl

Die Großstadtindianer (Folge 1)

Eine Heimat, ein Springer und ein paar Gläser I

„Ist das das Buch aus der Bibliothek?“ Kalle war hereingekommen und hatte sich das kleine, schwarze Büchlein vom Tisch geangelt. „Ja, steht aber nicht viel drin, nur die ersten paar Seiten sind bedruckt.“, ich verdrehte etwas die Augen, „Ziemlich mystisch.“. Kalle blätterte nachdenklich durch die rotschimmernden Seiten: „Merkwürdig!?“ „Ja, der Autor wartete wohl auf irgendwelche Helden, die alles Böse für immer vernichten würden.“ „Hmm.“ „Vielleicht wollte er ja ihre Taten aufschreiben, und die Helden sind nicht gekommen.“, ich lächelte Kalle etwas ungläubig zu, „Komische Vorstellungen hatten die damals – ach, wenn das alles so einfach wäre.“ Er brummte wenig überzeugt und vertiefte sich in die wenigen Zeilen.

Ich ließ ihn lesen, ging zum hinteren Fenster und sah hinaus. Von hier konnte man die Ausmaße unseres kleinen Fleckchens Erde nur erahnen. Der Blick fiel geradewegs auf die langsam vor sich hin bröckelnden Ruinen des zusammengesackten Fabrikgebäudes von Gegenüber. Nur die Backsteine erinnerten noch an den einstigen Reichtum. Davor hatten wir mit viel Mühe einen winzigen Acker aufgeschüttet. Es reichte zumindest für das Notwendigste – Kartoffeln, Mohrrüben, ein paar hochgeschoßene Bohnenranken, allerei Gewürze und einiges mehr. Die Vielfalt ließ den Boden gesund bleiben und der eigene Schweiß sorgte für den doppelten Genuß. Wenn man die Nase an dem Fenster nach links plattdrückte, sah man noch geradeso die Verschläge fürs Holz, das Werkzeug und Anderes. Rechts blies der Wind kraftlos in die Wäsche. Die Sonne lachte. Zwischen den Bohnen tauchte kurz ein rot-schwarzer Haarwuschel auf. Mir fiel ein, daß sich Moni ja heute um die Pflanzen kümmern wollte. Ich spähte nach unserem Gartenengel, aber sie war schon wieder zwischen den Pflanzen verschwunden.

Kalle räusperte sich in meinem Rücken und ich drehte mich zurück zu ihm. Er hielt das Buch mit einer aufgeschlagenen Seite über eine der Kerzen. Mir fiel es schwer, nicht lauthals loszulachen. Mein Glucksen schien ihn ein wenig zu ärgern. „Man kann ja nie wissen, vielleicht hätte sich irgendein Hinweis versteckt, Wachsstifte waren einmal sehr beliebt!“, rechtfertigte er sich vorwurfsvoll. „Du bist aber auch immer auf Schatzsuche“, ich nahm ihm das Buch aus der Hand, „Das wird mein neues Notizbuch.“ Kalle starrte mich kurz an, aber dann gefiel ihm plötzlich die Idee. „Genau Finn, du wirst unser Chronist. Die Schreiberei lag dir ja schon immer nah. Wir reißen die beschriebenen Seiten einfach raus und schreiben unsere eigenen Taten hinein. Unsere Geschichte …“ Seine Augen blitzten auf und glitten über die sieben Weltmeere seiner Phantasie. „Das wird aber dann keine Piratengeschichte.“ Ich versuchte seine aufkeimende Euphorie ein wenig zu bremsen, weil ich mir über die Idee selbst noch nicht ganz im Klaren war, aber Kalle sah schon die Lagerfeuer vor sich, an denen unsere Taten erzählt würden: „Naja, ein kleinwenig wie Piraten sind wir schon. Los, Finn, die Idee ist gut. Schlag ein!“ Er streckte mir die Hand entgegen. „Ich probier mal ein wenig herum, aber versprochen ist nichts, ok.“ Kalle wollte gerade zu einer seiner fünfminütigen Predigten ansetzen, über die Notwendigkeiten, die Dinge beim Schopfe zu packen, Ideen immer sofort in die Tat umzusetzen, den Zweifel zu überwinden … als Boris in eiligem Schritt durch die Tür trat. „Kalle? Finn? Es ist soweit.“ Sein Atem war noch auf dem Weg zu uns. „Der Buggemüller ist losgefahren – das Tuch – das Tuch hängt am Wagen …“ Er verschnaufte kurz. Wenn Buggemüller das Zeichen gegeben hatte, dann blieb uns noch gut eine Stunde, dachte ich, er würde warten. Sein Ehrgeiz war unersättlich. Ich sah zu Kalle. „Du bist unser Mann für die Springerzange.“ Er grinste. „Kein Problem. Den Buggemüller steck‘ ich noch im Halbschlaf weg.“ „Na dann los, wir nehmen den Wagen, die Kiepen und vielleicht noch ein zwei Leute und dann holen wir uns die Gläser!!“ Über unsere Gesichter huschte ein Hauch von Vorfreude und wir stoben in drei Richtungen auseinander, um alles vorzubereiten.

(Fortsetzung folgt.)

clov

…eine Geschichte

Wochennotizen

Eine kleine Hochwasserchronik

Durch die Überflutung von Teilen Europas bekamen die Worte "Stagnation" und "Rückgang" um den 15. August zeitweilig einen hoffnungsfrohen Beiklang. Es klang in den Ohren etwas befremdlich, dass mal nicht ständig "höher, schneller, weiter" propagiert wurde. Wo kamen die Wassermassen her? Die Meteorologen sagen, sie kämen vom Mittelmeer, über Österreich und Tschechien nach Ostdeutschland. An einigen Stellen fiel in drei Tagen die halbe Jahresmenge Wasser vom Himmel. Wer will kann darin die Dringlichkeit von "Internationalismus" sehen.

In den Radionachrichten wurden vor den Aktienkursen die Pegelstände gemeldet und niemand konnte sich über die Tendenz "steigend" freuen. Die "nationale Katastrophe", wie Schröder es nannte, verursachte neben Verzweiflung, Leid und Verlust an Werten und Menschen auch eine Art Generalstreik. Nichts funktionierte mehr, Kommunikationsnetze und die Wasserversorgung, Eisenbahnbrücken brachen zusammen. In Sommerlatschen und Schürze standen die Menschen auf der Straße, die Helfer befanden sich teilweise selbst in Lebensgefahr, in einem Krankenhaus stand das Wasser in der 2. Etage und doch mussten "Katastrophentouristen" und Menschen, die sich weigerten ihre Häuser zu verlassen, bewältigt werden. Land-unter in Sachsen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt,Thüringen, bei Prag, Österreich, Mexiko, China. In China waren rund 500 Dörfer und Städte überflutet, 1000 Menschen kamen um.

Die Wahl und die Arbeitslosigkeit waren kaum noch Thema. Und doch wurden an den Flussdeichen hektisch, bis zur Erschöpfung arbeitende Menschen beobachtet. Was nun benötigt wurde, waren nicht politische Grabenkämpfe, sondern Schaufeln, Eimer und Gummistiefel. Wenigstens brächte, wie ein Politiker meinte, das gemeinsame Sandsackfüllen den Menschen das verloren geglaubte Gefühl der Solidarität zurück, das durch gemeinsames Arbeiten für eine Sache entsteht. Mdr-info verteilte als Hilfsmaßnahme batteriebetriebene Radiogeräte, überhaupt war die Hilfs- und Spendenbereitschaft sehr groß.

In den Vordergrund drängte sich nun die Debatte um Umweltfragen. Energieeinsparungen, die Ökosteuer und „Umweltfreundlichkeit" verloren ihren unverbindlichen Beiklang. Müntefering

äußerte sich sinngemäß: die Prioritäten müssten neu gesetzt werden, die EU solle Gelder geben, es würde alles nötige getan werden, um die Schäden zu beheben, wir dürften aber nicht vergessen, dass eine stabile Haushaltslage von Bedeutung sei. Nebenbei erwähnte er noch, dass wahrscheinlich alle Vorschläge der Hartz-Kommission von der SPD angenommen werden. Schröder drohte damit, im Falle einer Wiederwahl die Vorschläge der Hartz-Kommission komplett zu realisieren. Laut einer Abstimmung bei t-online vom 18.8.02 haben 63% der ca. 28.000 Teilnehmer den Eindruck, dass Politiker die Flutkatastrophe zu Wahlzwecken missbrauchen.

lotte b.

Aktuelles

Leipzig: am Wahlsonntag eine „Demokratische Sperrzone“

Dass "wehrhafte Demokratie" sich auch gegen überzeugte "Basisdemokraten" richten kann, davon mußten sich einige Menschen am 22.9. überzeugen. Doch ein riesiges Polizeiaufgebot und eine "demokratische Sperrzone" in der Innenstadt, die die Bürger vor anderen Meinungen als der eigenen schützen sollte, konnten dennoch kreative herrschaftskritische Aktionen nicht ganz verhindern…

Eine erste Aktion begann am Vormittag. Ein junger Mensch mit einem selbst gebastelten Schild, auf dem gut lesbar stand: "Ich habe heute meine Stimme abgegeben." und der sich den Mund mit einem Kreuz aus schwarzem Klebeband "symbolisch" zugeklebt hatte, wandelte am Vormittag und in den Abendstunden durch die Straßen.

Eine weitere Aktion, bestand darin, öffentlich und kollektiv eine Aussage zur Wahl zu treffen. Fünf Studierende trugen Pappschilder, die mit je einem gut sichtbaren Wahlkreuz versehen waren. Passend dazu hatten auch diese fünf den Mund mit Klebeband zugeklebt, um zu verdeutlichen, dass die Wahl nicht die zwischen SPD und CDU ist, sondern die zwischen realer Mitbestimmung und dem Repräsentativsystem, welches Mitbestimmung für weitere vier Jahre verhindert. Zur Abrundung des Erscheinungsbildes, waren alle Beteiligten durch eine Leine miteinander verbunden, die in eine Wahlurne in Form eines Pappkartons endete und von der personalisierten "real existierenden Demokratie" getragen wurde. Akustisch verstärkt wurde dieser Aufzug durch an die Beine gebundene Blechdosen, die lustig auf dem Leipziger Pflaster Krach schlugen, aber bedauerlicherweise schon nach wenigen Metern den Geist aufgaben.

"Kurz nachdem wir uns in Bewegung gesetzt hatten, berichtete ein Aktivist, stoppten uns schon die ersten neugierigen Ordnungshüter – der Lärm der noch vorhandenen Blechdosen hatte sie wohl angelockt. Nach einer Personalienfeststellung und kurzem Filmdreh aus der Ferne erhielten wir einen Platzverweis für die eigens für den Bundeswahlfasching eingerichtete demokratische Sperrzone – fast die gesamte Innenstadt, wie auch obiges Bild zeigt (ein von der Polizei vorbereiteter Zettel, der uns netterweise ausgehändigt wurde).

Auch wurden wir ‚instruiert‘, einen "demokratischen Sicherheitsabstand" von mindestens 20,00 Metern zu Wahllokalen einzuhalten, da es den gemeinen Wähler überfordern würde, am Wahltag selbst, nach monatelanger Propagandaflut, nochmals mit einer eigenständigen Meinung konfrontiert zu werden. Also bewegten wir uns entlang des Grenzstreifens der demokratischen Sperrzone zum Hauptbahnhof. Unterwegs riefen wir einige Aufmerksamkeit unter den vorbeiflanierenden Passanten hervor, die unsere Aufmachung und deren Sinn in der Mehrzahl zu erfassen schienen. Ganz im Gegensatz zu einigen Polizisten, die sich fast schon aufdringlich oft diensteifrig dem Kontrollieren, Durchsuchen, Platzverweisen und Feststellen unserer Personalien widmeten."

faul

Lokales

Nazis in Leipzig

Schön ist das wirklich nicht.

Mit penetranter Regelmäßigkeit versucht das rechte Fußvolk in Leipzig zu seiner ersten „glorreichen“ Demonstration des neuen Jahrtausends zu kommen. Die „Heldenstadt“ inklusive Völkerschlachtdenkmal scheint in der Selbstinszenierung von Worch und Konsorten einen unverzichtbaren Stellenwert zu haben. Sei es nun dadurch begründet, dass der Versuch am 1. Mai 1998 zu demonstrieren, ein Debakel zur Folge hatte, welchem die „Kameraden“ nun etwas entgegensetzen möchten, sei es die Heraufbeschwörung eines neuen Mythos namens Leipzig – es nervt.

Fielen die letzten Aufmärsche regelmäßig ins Wasser, mal durch antifaschistischen Widerstand, mal durch Bullentaktik oder schlicht eigene Blödheit begründet, sieht es langsam danach aus, als führe die „Steter Tropfen höhlt den Stein-Methode“ zum Erfolg. Am 8. Juni konnten die Nazis ohne nennenswerten Widerstand sogar zwei Demonstrationen durchführen. Gerüchteweise lag dies an der damals gerade laufenden Fußballweltmeisterschaft, doch ist auch ein allgemein stärker werdendes Desinteresse der Leipziger an einer Verhinderung von Naziaufmärschen zu beobachten. Mal ist halt Fußball, mal schönes Wetter und überhaupt: Sollen sie doch laufen… Ignoriert es einfach und denen wird’s von selbst zu langweilig. Leider trifft das aber gar nicht zu und vermittelt lediglich das Bild, dass Nazis halt dazugehören. Eine Akzeptanz dieser „Kameraden“ verschafft diesen aber Erfolgserlebnisse, gibt ihnen eventuell Mut, immer dreister in der Öffentlichkeit zu agieren und zu agitieren und senkt dadurch auch die Hemmschwelle von eventuellen Sympathisanten, endlich wieder in der angenehm bekannten braunen Suppe mitzuschwimmen.

Nun hilft es aber auch niemandem, die Moralkeule schwingend zu sagen, jeder habe seine „Pflicht“ zu erfüllen und bei diesen Demonstrationen auf der Gegenseite präsent zu sein.

Es ist klarerweise auch frustrierend, ständig irgendwelchen Nazis einen ganzen Tag zu schenken, wenn man den mittelbaren Nutzen dieser Art von Widerstand reflektiert.

Es ist ja so, dass auf diese Weise nur „reagiert“ wird und keine wirkliche Änderung der Gesellschaft zu erwarten ist. Fernsehzuschauer und Tageszeitungsleser denken bestenfalls, sollen sich doch Linke und Rechte ruhig bekämpfen. Mir ist’s egal, ich gehöre nicht dazu. Die Frage, wer und was faschistische Einstellungen, „national befreite Zonen“ und die dazugehörenden Übergriffe bedingt, taucht wohl kaum auf. Eine andere häufig anzutreffende Einstellung ist nicht minder gefährlich: Verbote werden’ s richten. Schränkt das Demonstrationsrecht ein und der ganze Spuk hört auf! Eben nicht, jede noch so idiotische Einstellung findet immer ihre Mittel und Wege, sich darzustellen und neu, bzw. anders zu organisieren. Dass gleichzeitig auch eigene Rechte leichtfertig an „Vater“ Staat zurückgegeben werden, fällt wenigen auf. Was der nämlich einmal hat, gibt er so schnell nicht wieder her.

Also, was tun? Selbst handeln, die sich gemäße Form des Aufbegehrens finden, wäre ein Anfang. Sich von der Nazibrut nicht die Laune verderben lassen, ist ungeheuer wichtig, diejenigen, die Opfer von Faschisten oder eines spießbürgerlichen, nationalistischen Umfelds (, das in Deutschland an fast jeder Ecke zu finden ist…) zu unterstützen, ist auf keinen Fall verkehrt.

Ganz verkehrt hingegen ist es, sich von Politikern, die rassistische Politik unter anderen Namen betreiben, vor den Karren spannen zu lassen und dann die eigene Ablehnung von Faschisten und Rassisten in einen merkwürdigen Aufstand der Anständigen kanalisiert und glattgebügelt zu sehen.

kao

NazisNixHier