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JUKss – Experimente der Selbstorganisation

Der Jugendumweltkongreß ist, nach dem großen Jugendumweltfestival ‚Auftakt‘ im Sommer 1993 in Magdeburg, aus den Bundeskongressen von der Naturschutzjugend und der BUNDjugend hervorgegangen. Dabei hat er sich im Laufe der Jahre einiger institutioneller Fesseln entledigt, die ihm von den großen Umweltverbänden auferlegt wurden und wird seit dem 6. JUKss 1999 in Göttingen von einer offenen und ehrenamtlichen Vorbereitungsgruppe organisiert. Auch der Umweltbegriff hat sich verschoben. Denn Umwelt ist im derzeitigen Verständnis die Welt um Dich herum, also nicht nur Natur, sondern auch Soziales, Ökonomisches, etc. Eine folgenschwere Verschiebung, öffnet sich doch so der Fokus auf eine gesamtgesellschaftliche Misere, die sich in verschiedenen Problemfeldern ausdrückt. So gerieten, neben der Umwelt im engeren Sinne, dieses Jahr vor allem Bildung und Selbstorganisation in den Blickpunkt.

Diesmal wurde der JUKss von einer auf zwei Wochen verlängert und fand vom 25.12. bis 7.1. im Oberstufenkolleg in Bielefeld statt, einer Experimentalschule aus den 70ern. Deren Aktionsfläche besteht aus verschiedenen Ebenen, die über „Wälle“ von einander abgegrenzt und mittels Treppen miteinander verbunden sind. Eine der Ebenen besteht aus fünf Glasräumen in denen viele Workshops stattfanden und auch die „ökologische Plattform“ beheimatet war. Auf einem Plateau wurde ein Chill-Out- und Sorgencafe eingerichtet, sowie ein Basteltisch und die „bildungskritische Plattform“, auf der Ausstellungen und Materialien zu Schule und Erziehung und beständig Arbeitskreise zu selbstorganisiertem Lernen, Schulkritik, oder auch ein Workshop zu Anarchosyndikalismus und Bildung stattfanden. Auf einem anderen Plateau fand sich die „antispeziesistische Plattform“, Infostände und ein Postkartenbasteltisch. Auf der dritten Plattform konnten Jonglierbälle gebaut und eigene Buttons hergestellt werden. Daneben gab es die große Cafeteria, in der das Kochkollektiv „Rampenplan“ dreimal täglich veganes Essen ausgab und auch Kaffeepausen eingelegt werden konnten. Zudem gab es ein Areal für Infostellwände, einen Computerpool im Flur, einen Hör- und Kinosaal und last but not least vier Turnhallen zum Übernachten und Duschräume mit „Duschampeln“, wo der/die BenutzerIn einstellen konnte, ob allein geduscht werden wollte, oder nur „männliche“, nur „weibliche“ Personen oder ganz egal wer reinkommen durfte. Es ist naheliegend, dass Menschen da in den Konflikt mit eingeschliffenen Normen kommen. Aber es bietet zumindest die Möglichkeit Verhaltensformen zu ändern und Kategorisierungen ganz praktisch zu überdenken.

Das Spannende am Jukss sind neben der Selbstorganisation und der Inhalte, die kulturrevolutionären Keime, die dort Raum haben zu wachsen. was bedeutet, daß auch die Art des Zusammenlebens ins Zentrum rückt und öfter auch Beziehungen und tieferliegende persönliche Verwerfungen und Funktionsweisen der Beziehungsökonomie in unserer sozialen Umwelt thematisiert werden. Nicht die zehntausendste Kampagne oder das „Militanz-Checkertum“ führt zu Emanzipation, sondern Solidarität in der Lohnarbeit, Erfahrung in Selbstorganisation und die Befreiung vom Beziehungsängstekorsett dieser Gesellschaft, wobei mit Beziehungen nicht nur traditionelle Zweierbeziehungen gemeint sind, sondern die unterschiedlichen und mannigfaltigen Formen sich aufeinander zu beziehen, die Menschen eingehen und die durch die Dominanz der „Komplettpakete“* ihrer Spannung beraubt werden.

Der JUKss bzw. auch die anderen Projekte und Initiativen, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen, sind für mich sehr spannende mit anarchistischen Ansätzen erfüllte Organisierungsversuche, auch wenn der Anarchismusbegriff in der Eigendefinition nicht vorkommt. Das macht aber nix. So hat sich der Anspruch ein Offener Raum, ein Freiraum zu sein, erfüllt, jede und jeder hatte die Möglichkeit das JUKss zu gestalten. Wie hoch der Selbstorganisationsgrad war, darüber dürften die Meinungen auseinandergehen. Zwar löste sich die Orgagruppe zu Beginn auf, dafür übernahmen dann die bekannteren Jukssis die (unfreiwillige) Orga-Funktion, indem sie als AnsprechpartnerInnen hergenommen wurden. Nach der Abschaffung des Plenums auf dem letzten JUKss in Magdeburg, wurde dann von manchen das Fehlen von Möglichkeiten bemängelt, mal alle ansprechen zu können. Hier kommt zum Tragen, daß, wenn das Plenum abgeschafft wird, nicht nur die zentrale Entscheidungsfindung wegfällt, sondern auch der Inforundlauf. Dafür gab es dann die vielen Info-Stellwände und Interessentreffen, die das zentrale Plenum ersetzen sollten. Diese wurden nicht in dem Maße ins Zentrum gerückt, wie das für einen stärkeren Selbstorganisationsgrad wünschenswert gewesen wäre, sind sie doch wichtig um das Jukss als Rahmen aufrecht zu erhalten und allgemeine Interessen zu artikulieren, Grenzüberschreitungen anzusprechen, die Reinigung oder das Kochen zu organisieren, finanzielle Engpässe zu diskutieren. Ist natürlich immer die Frage was bleibt: Beziehungen, die Menschen eingegangen sind, manche Lösungsansätze für Probleme, die Erfahrungen, die es weiterzutragen gilt.

Es lohnt sich die Ergebnisse und die Auswertung zu Gemüte zu führen und andere Sichtweisen zum gelaufenen JUKss kennenzulernen, schließlich waren insgesamt um die 400 Leute vor Ort, die die sozialen Dynamiken und Selbstorganisationsprozesse unterschiedlich wahrgenommen haben.

kater francis murr

www.jukss.de
* festgezurrte„Komplettpakete“ aus Reden, Kuscheln, Sex – Drei Dinge in einem, das geht nun wirklich nicht, wobei bei der Abkehr von solchen Normierung die Kommunikation darüber sehr wichtig ist; mehr dazu u.A. auf www.beziehungsweise-frei.de.vu

Utopie & Praxis

Krieg Um Welt

Welcome all Refugees from capitalist War

Fluchtursachen und ihre „Bekämpfung“

Weltweit sind ganze Regionen zu Kriegsgebieten verkommen. Hier wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen ZivilistInnen und KombattantInnen. Massaker an eben Unbeteiligten dienen der ethnischen Mobilmachung und so der Verlängerung der für die (staatlichen und privaten) Warlords einträglichen Konflikte. Es gibt Zwangsrekrutierungen selbst von Kindern und durch die gewaltsame Zerstörung ziviler Lebensgrundlagen und die allgemeine Unsicherheit und Militarisierung bleibt vielen nichts anderes übrig, als zur Waffe zu greifen und sich einer Miliz anzuschließen. Oder eben die Flucht. In diesen Regionen leben Millionen Menschen in gewaltigen Flüchtlingslagern, die aber zugleich Ziel und Operationsbasis der Milizen sind. Eine weitergehende Flucht wird von den potentiellen, reicheren Zielländern militärisch und durch Zusammenarbeit mit humanitären Organisationen und dem UNHCR (UN-Flüchtlingshilfswerk) unterbunden.

Andere Gebiete und Schichten sind auch ohne blutige Konflikte durch eine anhaltende und wachsende Armut geprägt. Durch die Privatisierung der Grundversorgung und des Landes wird den Menschen die Möglichkeit selbst zur eigenständigen Grundversorgung genommen, sie werden proletarisiert und vertrieben, ohne dass ihnen die Möglichkeit auf ein einträgliches Einkommen gegeben würde. Viele versuchen es dennoch und siedeln in die Vorstädte der nächstgelegenen Großstädte, aus denen gewaltige Slums werden, die teils durch unerträgliche Lebensumstände geprägt sind. Dort fristen sie ihr Dasein oder machen sich auf die Weiterreise dorthin, wo sie bessere Lebensperspektiven sehen. Entweder sie passieren illegal die Grenzen in die Wohlfahrtszonen und führen dort ein Schattendasein das sie sich mit illegaler Arbeit zu Niedrigstlöhnen finanzieren, oder sie treiben irgendwo genug Geld auf, um sich ein Visum zu erkaufen und probieren dann, über Eheschließung, Arbeitsverträge oder ähnliches einen längerfristigen Aufenthaltsstatus zu erlangen.

Zudem gibt es überall auf der Welt bedrohte und diskriminierte Minderheiten oder Bevölkerungsgruppen. Frauen ist in religiös-fundamentalistisch geprägten Gesellschaften ein selbstbestimmtes Leben verwehrt und ihnen drohen drakonische Strafen wie die Steinigung. Wer nicht für seine Rechte kämpfen will oder kann, dem bleibt nur ein Ausweg: die Flucht.

Zahlreiche dieser Fluchtursachen werden mittlerweile als Grund für militärische Interventionen der Großmächte genannt, die aber stets eigene Interessen verfolgen und die Lage der Bevölkerung durch weitere Militarisierung und die Provokation militärischen Widerstands meist noch weiter verschlechtern. Die gute Schwester der militärischen Intervention, die staatliche Entwicklungshilfe, gibt vor, sich mit zivilen Mitteln dieser Probleme annehmen zu wollen. Dies geschieht immer häufiger durch die Finanzierung und den Aufbau neuer Polizeieinheiten, kann die Unterstützung eines Gewaltregimes bedeuten (z.B. EUPOL KINSHASA (1) in der Demokratischen Republik Congo). Oft geht es bei Entwicklungshilfe auch nur darum, Länder und Regionen für die Anbindung an den Weltmarkt vorzubereiten oder internationalen Unternehmen den Aufkauf der zivilen Infrastruktur und der profitträchtigsten Wirtschaftsbereiche zu ermöglichen (So haben BMZ und die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) gemeinsam mit USAID im Windschatten des Afghanistankrieges die Agentur AISA gegründet, die mit Werbung für profitträchtige Anlagen und der Privatisierung von Wasser- und Stromversorgung deutschen und internationalen Konzernen den Ausverkauf Afghanistans ermöglichen soll, siehe aisa.org.af ). Im besten Falle sind Entwicklungshelfer meist kleinerer Organisationen damit beschäftigt, die sozialen Härten der kapitalistischen Globalisierung abzufedern und den Menschen in neu kolonialisierten Gebieten Tipps für das Überleben im globalen Markt zu geben – meist, das soll hier gar nicht geleugnet werden, in bester Absicht und manchmal mit ansehnlichem Erfolg.

Migration ist Entwicklungshilfe – von Unten

Dennoch ist Entwicklungshilfe als Bekämpfung der Fluchtursachen, wie sie gerade v.a. mit Blick auf Afrika propagiert wird – sofern dies ernst gemeint ist – in mehrfacher Hinsicht Paradox. Wenn das Ziel lauten sollte, die globale Ungleichheit an Wohlstand, Sicherheit und Rechten abzumildern, dann müsste zunächst das wesentliche Instrument angegangen werden, welches diese Ungleichheit territorial festschreibt, nämlich die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Menschen aus Armuts- und Konfliktgebieten. Denn wenn Menschen aus unerträglichen Lebensumständen fliehen und wo anders tatsächlich ein besseres Leben finden, dann hilft das nicht nur konkret all diesen Menschen, sondern auch den Regionen, aus denen sie stammen. Nicht nur, dass Migration aus kargen oder überbevölkerten Regionen das Überleben dort schon deshalb erleichtert, weil vom selben Boden weniger Menschen zu ernähren sind und damit auch das Konfliktpotential wesentlich sinkt. Die meisten Migrant- Innen bleiben den Gesellschaften, aus denen sie stammen, die ihnen oft auch die Wegreise ermöglicht haben, weiterhin verbunden. Allein die registrierten Rücküberweisungen von MigrantInnen, sog. Rimessen, an Familien und Freunde im Herkunftsland, übersteigen weltweit die Summe der offiziellen Entwicklungshilfe aller Staaten zusammen – und kommen meist direkter an. Zusätzlich besuchen die MigrantInnen, soweit es ihnen möglich ist, ihre Herkunftsgesellschaften, was dort eine touristische Infrastruktur und den Aufbau von Verkehrswesen begünstigt. Andererseits wollen Viele auch im Land, in dem sie sich gegenwärtig aufhalten, nicht auf traditionelle Lebensmittel und kulturelle Güter verzichten, was dazu führt, dass es in jeder großen Stadt mittlerweile Spezialläden für Produkte aus diesem und jenem Land gibt und dies den Export kultureller Güter (mit enormen Profiten) aus ärmeren Regionen fördert.

Diese „Entwicklungshilfe von Unten“ (2) funktioniert allerdings auch jenseits rein kapitalistischer Dynamiken. So schließen sich in größeren Städten die MigrantInnen aus denselben Gemeinden oder Regionen zusammen und organisieren beispielsweise Kulturveranstaltungen, deren Erlös sie für Infrastrukturprojekte in ihre Herkunftsgemeinden schicken (3). Diese Gelder können bspw. in Projekte wie eine kommunalen Krankenversicherung fließen, die sonst nicht denkbar wären. Vor allem Menschen, die vor Unterdrückung und Krieg geflohen sind, verfolgen hier meist weiter die Lage in ihrem Herkunftsland. Viele übersetzen Artikel und machen so auf die dortige Unterdrückung aufmerksam. Manche organisieren sich in Exil- oder Menschenrechtsgruppen und engagieren sich von hier aus für die Rechte ihrer GenossInnen im Ausland. Das ist die Voraussetzung für internationale Aufmerksamkeit und Solidarität und hat schon so manche Freilassung politischer Gefangener erwirkt, wie es Folter und Steinigungen verhindert hat. Auch weniger politisch engagierte MigrantInnen werden in ihrem Zielland mit anderen Werten konfrontiert sein, als sie es aus ihrer Kindheit und Jugend kennen. Sie werden von diesen das übernehmen, was ihnen sinnvoll erscheint und sie auch in ihre Herkunftsgesellschaften kommunizieren, wo sie dann erörtert, angenommen oder abgelehnt werden. Dies ist eher die Überzeugung beim Familienfest, als die aus dem Gewehrlauf. Wenn nicht nur Europäern zugestanden wird, dass Menschen ihre Werte auf der Grundlage von Vernunft aushandeln, dann müsste diese Form globaler Zivilgesellschaft langfristig zu einer vielfältigen, sich gegenseitig argumentativ herausfordernden Wertelandschaft führen.

MigrantInnen als Arbeitskräfte

Solche Entwicklungen sind jedoch nur Nebeneffekte einer kapitalistischen Dynamik, die seit der Entstehung der Nationalstaaten deren Drang nach Ab- und Ausgrenzung immer wieder aufbricht. Für den globalisierten Kapitalismus ist nicht nur die freie Zirkulation von Kapital und Waren, sondern auch von Dienstleistungen und Arbeitskräften notwendig. Der Nachkriegsboom in den 50er und 60er Jahren hing ebenso vom Zustrom von Arbeitskräften ab, wie zuvor der Aufstieg der USA zur Weltmacht nur durch beständigen Zuzug aus aller Welt möglich war. Auch heute beruht der Wohlstand der „entwickelten“ Staaten (auch der reichen Öl-Staaten) wesentlich darauf, dass Arbeitsprozesse, die nur bei enorm niedrigen Löhnen profitabel sind, sich aber nicht ins Ausland verlagern lassen – namentlich Dienstleistungen wie Gebäudereinigung, Billig-Gastronomie, zunehmend auch Alten- und Krankenversorgung – von migrantischen Arbeitskräften erledigt werden, die niedrigere Löhne in Kauf nehmen. Da vor allem die Macht europäisch geprägter Staaten vom Nationalismus abhängt, der dementsprechend andauernd geschürt werden muss, und es zu ihrem Verständnis von Souveränität gehört, die Grenzen aufrecht zu erhalten und zu kontrollieren, befinden sie sich hier in einem Interessenskonflikt mit ihrer mächtigsten Lobbygruppe, dem Kapital, das generell zur Öffnung der Grenzen, auch für Arbeitskräfte, drängt. Der Kompromiss, von dem beide profitieren, ist die weitgehende Öffnung der Grenzen bei gleichzeitiger rassistischer Diskriminierung der MigrantInnen. Dadurch entsteht ein für die Industrie sehr nützliches entrechtetes Subproletariat, das bei Belieben zu niedrigsten Löhnen angeheuert und wieder gefeuert bzw. deportiert werden kann und, spekulierend auch auf nationalistisch-rassistische Tendenzen innerhalb der Arbeitnehmerschaft, diese spaltet, in die relativ privilegierten einheimischen Arbeiter und eben dieses Subproletariat.

Machtdemonstrationen

Genau dies geschah beispielsweise in Deutschland mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts, der Illegalisierung weiter Teile der MigrantInnen und durch die vielfältige rechtliche Diskriminierung von „Ausländern“: Essenspakete und Residenzpflicht bei Asylbewerbern, biometrische Erfassung, Rasterfahndung, Sicherheitsverwahrung und Gesinnungsprüfung und Kettenduldung, d.h. Die immer nur kurzfristige Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigungen, die die MigrantInnen dauerhaft in einem prekären Schwebezustand hält und langfristige Perspektiven verhindert. Dass die Grenzen gleichzeitig geöffnet würden, mag der alltäglichen Wahrnehmung widersprechen. Werden die Zäune in Melilla und Ceuta nicht eben verstärkt, nachdem dort auf Flüchtlinge geschossen wurde, die versuchten, sie zu überwinden? Finden nicht gegenwärtig völlig sinnlose Abschiebungen von hier geborenen Kindern und ihren Familien in (Bürger-)Kriegsgebiete wie den Kosovo und Afghanistan statt? Entstehen nicht überall in der EU und jenseits ihrer Grenzen Auffang- und Abschiebelager? Wird nicht gar in den Kriegsgebieten selbst Militär eingesetzt, um die Flüchtlinge an der Weiterreise Richtung EU und Deutschland zu hindern?

Doch! Aber zugleich werden die Möglichkeiten für Arbeitgeber beständig erweitert, Arbeitskräfte ins Land zu holen. Die Visabestimmungen für Mittel- und Osteuropäer werden gelockert, und in den Zäunen werden bewusst Löcher gelassen, abgefangene Boat people aus Nordafrika oder dem Mittleren Osten werden freigelassen, während die „Schwarzen“ aus Südafrika deportiert werden. Die Abschottung ist gar nicht möglich, zu vielfältig sind die Möglichkeiten und Wege, in die EU zu gelangen. Die repressive Grenzpolitik ist lediglich der Versuch, diese Migration biopolitisch zu steuern: Lieber Osteuropäer als Afrikaner, lieber Studenten als Flüchtlinge. Dieser offen von den Staaten ausgeübte Rassismus soll nach Innen das Privileg der Staatsbürgerschaft deutlich zum Vorschein bringen. Die offene und symbolkräftige Diskriminierung derer, die nicht zur Nation gehören soll diejenigen, die dazugehören, noch enger an den Staat binden, damit sie immer weitere Einschnitte akzeptieren. Abschiebungen lohnen sich finanziell überhaupt nicht, geben den Bürgen des Staates aber das Gefühl, dass es anderen noch dreckiger geht, dass ihnen das nicht passieren kann. Im übrigen ein Fehlschluss: Denn die Herrschaftstechniken, die zunächst gegenüber MigrantInnen angewandt werden, werden immer schneller auch auf unterprivilegierte Schichten der nationalen Bevölkerung angewandt, freilich bei gleichzeitiger Verschärfung der Schikanen gegenüber den MigrantInnen. So folgte die biometrische Erfassung der gesamten Bevölkerung in Deutschland durch die Einführung neuer Pässe einer Art Probelauf, in dem alle Einreisenden und Asylbewerber erfasst werden sollten. Die Techniken, mit denen seit Hartz IV die Arbeitslosen durch die Bundesagentur verwaltet werden, erinnern stark an die Praktiken, mit denen zuvor Asylbewerber konfrontiert waren.

NO LAGER

Es gibt also keinen Interessengegensatz zwischen „einheimischen“ und migrantischen Lohnabhängigen, sondern gemeinsame Kämpfe. Was heute an Diskriminierung von „Ausländern“ verhindert werden kann, wird langfristig für die gesamte Gesellschaft abgewehrt. In diesem Zusammenhang ist die weltweite Ausdehnung von Lagern zu sehen, die von staatlichen Akteuren als Reaktion auf unkontrollierte Bewegung und nicht-verwertbares Leben vorangetrieben wird. In Krisen- und Kriegsgebieten leben Millionen von Menschen in Lagern, hunderttausende in den Lagern an den Rändern der EU und ebenso viele innerhalb der EU. Lager erlauben die ideale Kontrolle der Insassen und isolieren sie vom Rest der Gesellschaft so wie von den Insassen anderer Lager. Die Menschen werden hier am nackten Leben erhalten, von privaten oder staatlichen Sicherheitsagenturen kontrolliert und gepeinigt, bis sich eine kurz- oder langfristige Verwertungsmöglichkeit ergibt. Eine Vision mit Zukunft. Dass sich diese Herrschaftspraktik auf immer weitere Teile der Weltbevölkerung ausdehnen lässt, zeigt sich daran, wie leicht es den Nationalstaaten stets gefallen ist, per Gesetz Gesellschaften, die alle auf Migration beruhen, in Bürger und Entrechtete zu trennen.

maria

(1) Diese EU-Mission besteht darin, mit Geldern aus dem Europäischen Entwicklungs-Fond neue Polizeieinheiten in Kongo-Kinshasa aufzubauen, welche die „Regierung des Übergangs“ schützen sollen. Diese besteht ausnahmslos aus Warlords und Kriegsverbrechern und sollte im Juni 2005 durch erste freie Wahlen abgesetzt werden. Die Wahlen wurden verschoben, die Proteste niedergeschossen. Die EU dürfte davon nicht überrascht gewesen sein, denn die Mission begann Anfang 2005 und war für mindestens ein Jahr geplant…
(2) Siehe hierzu: APUZ (Aus Politik und Zeitgeschichte) 27/2005: Entwicklung durch Migration
(3) exemplarisch am Fall El Salvador: Helen Rupp: Migration als Wirtschaftsmodell: Die remittances in El Salvador, in Prokla (Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft) Nr. 140

Migration

GENUA 2001 – Geschichte einer Revolte

Ende Juli 2001 demonstrierten rund 300.000 Menschen in Genua gegen die unmenschliche Politik der G8 und artikulierten im Rahmen des Genua Sozial Forums alternative Entwürfe einer gerechteren Welt. Die Repression gegen die Proteste war von einer barbarischen Brutalität, wie es wohl keiner, auch nach den Schüssen von Göteborg, jemals für möglich gehalten hätte. Die Höhepunkte der Gewalt waren die Ermordung von Carlo Guiliani, die Massaker in der Diaz-Schule und die Verschleppung hunderter Menschen in die Bolzaneto-Kaserne. Die Bilder und Berichte über diese Verbrechen haben sich vielen eingebrannt. Doch was bedeutet „Genua“ heute? Schon im Vorfeld des G8-Gipfels im Juli 2001 in Genua, formierten sich einige AnwältInnen zum Genoa Legal Forum (GLF) um den Beschneidungen der Grundrechte, die im Rahmen der Proteste gegen den Gipfel zu erwarten waren, entgegenzustehen.

Nachdem der Nebel von tausenden von CS-Gasgranaten sich aus Genua verzogen hatte, die stählerne Trennmauer, die die Stadt über Wochen teilte abgebaut und die meisten der – häufig illegal – inhaftierten Menschen wieder auf freien Fuß waren, begann die juristische „Aufarbeitung“ der Revolte von Genua. Für Empörung, Verzweiflung und ein Gefühl der Ohnmacht sorgte 2003 der Freispruch für den jungen Carabinieri, der Carlo Guiliani während der Proteste am 20. Juli 2001 auf der Piazza Alimonda in den Kopf schoss. Der Carabinieri Placanica hat bis heute keine Aussage gemacht und plant bei den nächsten Kommunalwahlen für die rechtsextreme Alleanza Nazionale zu kandidieren. Der zweite Prozess, der schon abgeschlossen wurde, ist der gegen die Opfer des Überfalls auf die Diaz-Schule. Er endete mit Freisprüchen.

Im Moment ist die Arbeit des GLF durch drei große Prozesse bestimmt. Zum einen ist dies die bestmögliche Verteidigung von 25 Angeklagten aus ganz Italien, zum anderen die Nebenklage in den Prozessen gegen die Polizisten, die am Angriff auf die Diaz-Schule und die Verschleppung hunderter Demonstranten in die Bolzaneto-Kaserne beteiligt waren.

Die Verteidigung der 25 Menschen, die der „Verwüstung und Plünderung“ angeklagt sind, ist dabei sicherlich eine Hauptaufgabe. Diese Protestteilnehmer sind von massiven Haftstrafen bedroht. Der Strafrahmen beträgt bei einer Verurteilung unter diesem Paragraphen zwischen acht und fünfzehn Jahren. Zum letzten Mal angewandt wurde dieser Paragraph 1945 nach Ende der deutschen Besatzung gegen Plünderer! Jetzt soll er zum ersten Mal gegen Demonstranten angewendet werden. Die italienische Justiz versucht mit diesem abwegig hohen Strafmaß an den 25 Angeklagten ein Exempel zu statuieren, um so die gesamte Linke in Italien zu verunsichern und die Protestbewegung gegen die kapitalistische Globalisierung von weiterem Widerstand abzuhalten. Die Verfahren gegen die 25 scheinen indes nur die Spitze der juristischen Repression nach Genua zu sein. Es gilt als sicher, dass um die 50 weitere Ermittlungsverfahren gegen Protestteilnehmer abgeschlossen in der Schublade der italienischen Justiz liegen und es nur eine Frage der Zeit ist, dass Anklage mit ähnlich schweren Vorwürfen erhoben wird. Die Verjährungsfrist für den Vorwurf der „Verwüstung und Plünderung“ beträgt dabei 50 Jahre! Weitere 200 Prozesse gegen Personen aus Italien und auch dem Ausland, die am Rande der Proteste verhaftet wurden und teilweise monatelang in italienischer U-Haft saßen, werden in nächster Zukunft eröffnet werden. Diesen Personen gilt es in Zukunft solidarisch beizustehen! Die Repression richtet sich nicht nur allein gegen diese Personen sondern gegen uns alle!

Es geht bei der Verteidigung der vielen Angeklagten vor allem auch darum, den Kontext zu betonen, aus dem heraus es zur Revolte des 20. und 21. Julis kam. Anhand der zum Prozess zugelassenen Beweismaterialien wird versucht zu rekonstruieren was zu der Revolte des 20. Juli führte. Das GLF war in der Lage dabei eine Reihe von Erfolgen zu erzielen. Neben die bekannten Thesen des „black bloc“, faschistischer Provokateure seien in der Demo gewesen etc., rückte zum ersten Mal als Erklärungsmöglichkeit für die eskalierten Gewalt auch der massive Angriff verschiedener Polizeieinheiten auf die genehmigte und bis zu diesem Zeitpunkt absolut friedliche Demonstration der Tute bianche. Unter anderem gelang es dem GLF eindeutig zu dokumentieren, dass von Teilen der Polizei bei diesen Angriffen Stahlrohre oder „frisierte“ Schlagstöcke eingesetzt wurden. Die den Angeklagten vorgeworfenen Taten müssen in diesem Kontext bewertet werden. Sie sind als Teil einer Revolte gegen massive Einschränkungen der Menschenrechte bis hin zur versuchten gewaltsamen Unterbindung einer genehmigten Demonstration zu verstehen und zu beurteilen.

In den beiden Verfahren, die gegen Polizisten geführt werden, kämpft das GLF für die Rechte der Nebenklage. Dies ist zum einen der Diaz-Prozess, in dem 29 Personen angeklagt sind. Darunter einige ranghohe Polizisten und Carabinieri so z.B. der Polizeipräsident, der Chef der Antiterrorpolizei und der Vize des Staatsschutzes Digos, die allerdings bis heute in ihren Ämtern sind oder erst nach den Ereignissen von Genua in diese befördert wurden. Ihnen wird vorgeworfen, am Überfall auf die Diaz-Schule in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 2001 beteiligt gewesen zu sein oder diesen befehligt zu haben und Beweise gefälscht zu haben. In dieser Nacht stürmten rund 300 Polizisten die Schule, in der u.a. das Indymedia-Zentrum und eine erste Hilfe Station untergebracht waren und 93 Menschen schliefen. 81 Personen wurden bei dem stattfindenden Massaker verletzt. Drei von ihnen schwebten über Tage in Lebensgefahr, viele wurden ohne medizinische Hilfe in die Kaserne Bolzaneto verbracht. Im Verfahren um die Ereignisse dort, sind insgesamt 47 Angehörige von Polizia und Carabinieri sowie Ärzte angeklagt. Sie müssen sich für die dort stattgefundene Folter, die Misshandlungen und Demütigungen sowie wegen unterlassener Hilfeleistung verantworten.

In den beiden Verfahren scheint die italienische Justiz auf Verschleppung zu setzen. Allerdings gibt es hier ein wenig Hoffnung, dass es zumindest zum Abschluss der Verfahren kommen wird, was bisher durchaus nicht so schien. So waren die Verfahren wegen der Angriffe auf die Diaz-Schule und das Bolzaneto-Verfahren bisher vom so genannten „Lex Previti“ betroffen. Dabei handelt es sich um ein Gesetz, das Silvio Berlusconi auf seine Interessen zuschneidern ließ, und das die Zeitspanne für Strafverfahren nahezu halbierte. Somit könnten lang andauernde Strafverfahren ohne Urteil beendet werden. (1) Trotzdem sieht es so aus, als wolle die italienische Justiz die Prozesse wenn möglich mit Freisprüchen enden lassen. Nicht zuletzt von der Regierung würde dies sehr begrüßt werden. Silvio Berlusconi (FI) und Gianfranco Fini (AN) bezeichneten die angeklagten Polizisten schon mal als Helden.

Das Genoa Legal Forum und seine UnterstützerInnen leisten dabei Arbeit unter schwersten Bedingungen, denn die Verteidigung der vom Staat ausgewählten Delinquenten und vor allem die Berichterstattung aus den Prozessen ist nicht gern gesehen. Seit 2004 wird das GLF unterstützt durch die Arbeit von Supportolegale, einem Zusammenschluss von Menschen, die international für die Gerechtigkeit und die Freiheit aller Protestteilnehmer von Genua kämpfen. Ein wichtiger Punkt dabei ist vor allem die Finanzierung. Die Kosten für die Verfahren der Diaz- und Bolzaneto-Opfer und die Verteidigung der 25, belaufen sich monatlich auf ungefähr 10.000 Euro.

Schon während der Proteste in Genua und direkt danach, zog ein Sturm der Empörung durch alle „links-alternativen“ Zusammenhänge, bei manchen folgte die Wut, spätestens als klar wurde, welches Ausmaß die staatliche Gewalt hatte. In ganz Europa gab es in unzähligen Städten und wahrscheinlich vor den meisten italienischen Botschaften und Konsulaten Demonstrationen und Kundgebungen. Es folgte eine Welle der Solidarität mit den Inhaftierten und von staatlicher Repression Betroffenen. Heute ist das Interesse an den Prozessen innerhalb der Linken in Italien und erst recht außerhalb der italienischen Staatsgrenzen doch sehr gering. Der Unterstützerkreis ist eine personell gleich bleibende Gruppe. Wie konnte es passieren, dass die Erinnerung so schnell verblasste? Eine Erklärung ist sicher die betriebene Spaltungspolitik, der nicht klar genug entgegengetreten wurde! Solidarität nur für „unsere guten“ Demonstranten, die unschuldig misshandelt wurden?

Auf den Straßen Genuas wurde nicht unterschieden zwischen den unterschiedlichen politischen Spektren bevor draufgeschlagen wurde. Es war egal ob Mensch schwarz, weiß oder pinkandsilver trug. Es war ein Angriff auf unser Recht unsereMeinung zu äußern, auf unsere Rechte als Menschen, für den allein die italienische Regierung, Polizia und Carabinieri, als Handlanger der zutiefst undemokratischen Politik der G8 verantwortlich sind. Wir sollten uns nicht fragen, was genau die 25 getan haben, sondern warum sie es getan haben! Wir sind das Gedächtnis an die Ereignisse von Genua. Wir werden es schaffen, dass die Revolte von Genua nicht, wie sich das viele wünschen, die für die Verbrechen verantwortlich sind, in der Geschichtslosigkeit des Kapitalismus versinkt. Sorgen wir dafür, dass es als das was es war, einer Revolte gegen das Aufheben von Menschenrechten, in unsere Geschichte eingeht.

La memoria e` un ingranaggio colletivo! Freiheit für die 25 Menschen vor italienischen Gerichten! Solidarität mit allen Opfern der Repression!

Rote Hilfe Leipzig

(1) “Lex Previti”: www.tagesspiegel.de/politik/index.asp?ran=on&url=http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/09.10.2005/2105805.asp
weitere Infos:
www.supportolegale.de
www.gipfelsoli.org
Spendenkonto: Rote Hilfe Berlin,
Konto: 7189 590 600
BLZ: 100 200 00
Verwendungszweck: Genua
Rote Hilfe Leipzig:
c/o Braustr.15, 04107 Leipzig,
Sprechstunde jeden 1.Do im Monat 19-20Uhr
im Linxxnet

Nachbarn

…und aufsteh´n bei Sonnenaufgang

Proteste, Bewegungen und Streiks in Nicaragua

Streiken…Wer streikt? Für was? Für wen? An wen gerichtet? Und wie?…. Nicaragua, ein Land so fern und doch so nah… eine Streikkultur, die uns nicht fremder und doch vertrauter zugleich erscheinen könnte. Lebensumstände, die so „ganz andere“ sind und der Mensch, der förmlich über die Auswirkungen des Kapitalismus bei jedem Schritt stolpert, auch ohne hinzugucken. Der Alltag ist geprägt vom täglichen Überlebenskampf, in den Zeitungen wird hauptsächlich über die korrupten Machenschaften der Politiker geredet und ab und zu gibt es kollektive Proteste. Während meines Aufenthaltes 2005 beeindruckten mich besonders die Streiks über die ich im Folgenden berichten möchte und in die ich vor allem durch Gespräche mit Betroffenen und Nachrichten in Zeitung und TV einen Einblick bekommen konnte. Die drei Proteste, die jeweils von Lehrer/innen, Landarbeiter/innen, Busfahrer/innen und Studis ausgingen, sind auch ein Spiegelbild unserer eigenen Realität, da es einige Parallelen zu den Protesten und Streiks hier zu Lande gibt. Auch wenn gravierende Unterschiede im Niveau der Ausbeutung bestehen, so ist das systemimmanente Profitstreben doch gleich und auch Probleme, die sich in der Organisierung und Solidarität, der Art des Kampfes, den Forderungen, den Zielen und Reaktionen ergeben, ähneln sich.

Mit langem Atem gegen Vergiftung

Ende Januar brachen über 1000 Landarbeiter/ innen (zum Großteil in der „Asotraexdan“( 1) organisiert) aus Chinandega zu einem tagelangen Fußmarsch in die Hauptstadt Managua auf, ein „marcha sin retorno“ (Marsch ohne Rückkehr), um dort so lange zu verharren, bis ihre Forderungen an die Regierung erfüllt sein würden. Die Bauern aus dem Norden – genauer gesagt die Bananenpflücker/innen – harrten zum Teil 8 Monate aus, um von der Regierung Ausgleichszahlungen für gesundheitliche Schäden zu bekommen, die jahrelang durch das hochgefährliche Pestizid Nemagón (siehe unten) ausgelöst wurden.

Dieses Warten sollte lange dauern. In Zelten aus dünner Plastikfolie campierten sie (z.T. in der Regenzeit) vor dem Regierungsgebäude, schliefen in Hängematten oder auf dem Boden auf engstem Raum und konnten ihr Überleben nur durch die Solidarität der einheimischen Bevölkerung und einiger internationaler NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen) sichern. Die Forderungen, die sie an die Regierung stellten, waren: kostenlose Gesundheitsversorgung für die Geschädigten, Pensionen für Menschen, die durch das Gift keine Erwerbsarbeit mehr ausführen können, Maßnahmen zum Schutz der Natur und Unterstützung durch die Regierung bei Klagen gegen die transnationalen Unternehmen. Durch verschiedene Aktionen und Hungerstreiks versuchten sie zusätzlich Druck auszuüben, obgleich ihr Protest ohnehin nicht ignoriert werden konnte, zumal das mittelgroße Gelände, auf denen in größter Armut 1000 Menschen monatelang campierten, deutlich sichtbar war. Trotzdem dauerte es 3 Monate bis die Regierung einlenkte. Weil es allerdings schon so oft in der Geschichte Nicaraguas bei leeren Versprechungen blieb, harrten einige hundert aus, bis das dortige Parlament, die Nationalversammlung, die Forderungen auch absegnete. Dies geschah dann im August, acht Monate nach dem Beginn des Aufstandes der Betroffenen. Ein Sieg zur Linderung der Qual, wenn auch ein kleiner im Vergleich zu den Toten und Opfern.

Streiken für den Mindestlohn

Anfang des Jahres streikten auch über 80% der Lehrer/innen landesweit für bessere Gehälter, die Schule fiel für ca. 1,2 Millionen Schüler/innen ca. einen Monat lang aus. Aufgerufen dazu hatte die Lehrergewerkschaft ANDEN und durch Protestmärsche, friedliche Straßenaktionen und einer Großdemonstration mit 15 000 Beteiligten versuchten die Lehrer/innen Aufmerksamkeit zu erregen. Der Präsident hatte lange Zeit nur ein müdes Lächeln dafür übrig, wie zum Beispiel bei einer kleinen Spontandemonstration, wo er meinte: „Geht mit Gott, aber geht, Jungs“. Vom Arbeitsministerium diffamiert, wurden ihre Gehälter ab der zweiten Streikwoche einbehalten und man drohte mit Entlassungen. Das Gehalt eines/r Grundschullehrers/in beträgt ca. 1140 Cordoba (69,5 US $) monatlich, deckt nicht einmal 50% der Grundbedürfnisse einer Familie und liegt weit unter dem zentralamerikanischen Verdienstdurchschnitt für Lehrer/innen von ca. 375 US $. Die bereits erkämpften und vielfach zugesagten Gehaltserhöhungen im nicaraguanischen Bildungssystem aber wurden, mit dem Verweis auf die leeren Staatskassen, nie umgesetzt, was letztendlich zum Streik führte.

Eine Einigung wurde dank der Ausdauer der Lehrer/innen schlussendlich dann doch erzielt und man hob den Lohn auf 1820 Cordoba an, mit dem Verweis darauf, dass die versäumten Stunden nachzuholen seien. Obgleich sie ihre Forderungen nicht in vollen Umfang erfüllt sahen und Grundbedürfnisse bei Weitem nicht gedeckt sein würden, traten die ca. 30 000 Lehrer/innen ihren Dienst wieder an, da die Überlebensnotlage, ohne Lohn, bei den meisten über alle Grenzen hinweg ausgereizt war.

Mit Mollys gegen Preiserhöhung

Anders bzw. schneller reagierte die Regierung bei dem dritten großen Streik im Jahr 2005, als Teile von Managuas Straßen eine Woche lang brannten und die Polizei „höchste Alarmstufe“ ausrief. Dem anfangs unbefristeten „friedlichen“ Streik der Busfahrer/ innen (denen sich auch die Vereinigungen der Taxifahrer/innen und die Gewerkschaft FNT(2) anschloss) um die stark erhöhten Erdöl-/ bzw. Benzinpreise, folgten Verhandlungen zwischen der Regierung, dem „Nationalen Rat der Universitäten“ (CNE) und den Busunternehmer/ innen, die jedoch erfolglos blieben. Dadurch radikalisierte sich der Protest und die Studierenden bastelten Bomben und Molotowcoctails, verbrannten Busse und Polizeimotorradräder und brachten die Stadt zum Qualmen. Die extreme Gewalt, die von der Polizei brutal erwidert wurde, brachte dennoch die von den Akteuren geforderte Subvention der Buspreise durch den Staat und die Stadt Managua mit sich, ebenso wie das Versprechen, sich nach günstigeren Energiequellen, wie denen aus Venezuela, umzusehen.

Konkret ging es um von der Regierung festgesetzte Fahrpreise in der Stadt Managua, die aufgrund des verteuerten Benzins nicht mehr gehalten werden konnten, die Menschen allerdings nicht in der finanziellen Lage waren eine Erhöhung zu tragen (umgerechnet sprechen wir von 2,5 Eurocent Fahrpreisaufschlag – 0,5 Cordoba). Neben Solidarisierungsbewegungen gab es aber auch gewaltvolle Auseinandersetzungen zwischen Busfahrer/ innen und Studierenden als letztere die Busse anzündeten und aus den Bussen, als Reaktion darauf, Steine und Bomben auf die Uni flogen. Die (grundlose) sich aufwiegelnde Konfrontation zwischen den eigentlich betroffenen Gruppen schwächte allerdings in dem Moment die Bewegung und die Regierung konnte sich kurze Zeit beruhigt „zurücklehnen“. Nach einer Großdemonstration aber, an der sich unter anderem auch viele Arbeiter/innen der FETSALUD (3) beteiligten, und sowohl den Preisanstieg bei Erdöl, als auch bei den Grundwaren anklagten, wurde der Forderung nach Subventionierung der Fahrkarten durch die Regierung Folge geleistet.

Und nun?

Im Kontext der riesengroßen Armut, Korruption der Regierenden und des offenen Kapitalismus ist mir auf der einen Seite die Machtlosigkeit der Menschen bewusst geworden, zum Anderen aber auch die Energie, durch den Unmut über die bestehenden Verhältnisse, die in jedem/r Einzelnen/r steckt und zu langen Kampf befähigt. Um ohne Essen und Dach über dem Kopf einen so langen Atem haben zu können, braucht es so denke ich, sowohl die eigene, innere Überzeugung das „Richtige“ zu tun, als auch die Solidarität der Bevölkerung. Ein Feuer, das durch Organisierung und Bildung genährt werden kann und somit auch Wirkung erzielt, wenn die Menschen ihre Lage erkennen, sich zusammenschließen und für ihre gemeinsamen Interessen kämpfen.

Parallelen zu „europäischen Verhältnissen“ lassen sich zum Teil in dem Aufbau von scheinbaren Konfliktlinien zwischen der betroffenen bzw. ausgebeuteten Bevölkerungsschicht finden, die immer eine Schwächung der Bewegung zur Folge haben. Auch der Unterschied zwischen gewaltvollen Protesten, die zu schnelleren Ergebnissen führen, und friedlichen, lang anhaltenden Streiks, die nur langsam Mühlen in Bewegung setzen, ist auffällig. Die Trennlinie zwischen der Bevölkerung auf der einen Seite und dem korrupten Staat auf der anderen scheint für viele klar zu sein, obgleich immer wieder Hoffnungen in ihn projiziert werden, was sich vor allem in den Forderungen ausdrückt. Der Adressat ist immer der Staat, vielleicht, weil er ein greifbarerer Angriffspunkt ist, als transnationale Firmen bzw. das kapitalistische System. Vielleicht aber auch, weil es vielen nicht so sehr bewusst ist, dass das herrschende Wirtschaftssystem eben auch Ursache für die miserablen Lebensbedingungen ist.

Schade auch, dass es meist nur in Forderungen endet, wo eigentlich das Potential zu mehr besteht, in Nicaragua wie überall…

Zeiten verändern sich

Ich möchte gern mit einer kleinen Anekdote schließen, die ein wenig verdeutlicht, dass ein gelebter Protest Realitäten verändert. Durch das Potential vieler Menschen, die sich aus Überzeugung kollektiv verweigerten, standen die „Mächtigen“ machtlos da:

Zum zweiten Mal in der Geschichte Nicaraguas sollte im Jahr 2005 die Uhr auf Sommerzeit umgestellt werden, weil die Regierung meinte, dadurch Energie sparen zu können und dachte, dass mit den USA auf einer Zeithöhe zu sein auch von Vorteil wäre. Die Tatsache, dass in Nica die Sonne immer um 6 Uhr auf- und untergeht war dabei eher nebensächlich, ebenso, dass die angrenzenden Nachbarländer Honduras und Costa Rica ihre „alte Zeit“ behielten.

Nun denn, so sollte die Zeit umgestellt werden, leider wusste nur keiner so recht wann. War es nun Sonntag oder Montag? Vor oder zurück? Gesprächsthema war es allemal, weil jeder irgendetwas wusste, egal woher. Als es dann Dienstag zumindest in den städtischen Gebieten einigermaßen klar war wie, hieß das aber noch lange nicht, dass auch so gerechnet wurde. Nun gut, die Busse fuhren ´ne Stunde früher, die Menschen in festen Arbeitsverhältnissen gingen eine Stunde zeitiger zur Arbeit (und schalteten morgens dann eben das Licht ein), aber gerechnet wurde noch lange nicht so. Fragte ich jemanden nach der Zeit, so nannte man sie mir, meistens mit dem Nachtrag „alte Zeit“, denn gewöhnen wollte sich keiner so recht dran, und die Uhr ist bei den meisten auch nie umgestellt worden. Besonders auf dem Land konnte man tollen Kampfesreden lauschen, wenn die Menschen über die Blödsinnigkeit der Zeitumstellung schimpften. Fortan lebte Nica für einige Monate in zwei Zeiten, die meisten in der „alten Zeit“ die „Offizielleren“ in der „neuen Zeit“. Irgendwann war dann auch den Regierenden die Sinnlosigkeit und Wirkungslosigkeit der Zeitumstellung bewusst (zumal der Energieverbrauch sogar anstieg) und man kehrte auch offiziell zur „alten Zeit“ zurück. Eigentlich hätten sie´s besser wissen sollen, denn schon vor fünf Jahren scheiterte der Versuch den Nicaraguaner/innen etwas aufzuzwingen von dem niemand, außer der Regierung, überzeugt ist.

momo

(1) „Asociacion de trabajadores y ex trabajadores del banano afectado por Nemagón“ (Vereinigung der Nemagón-Geschädigten Bananenarbeiter/innen und -exarbeiter/innen)
(2) „Frente Nacional de los Trabajadores“ (Nationale Arbeiterfront), ein, der sandinistischen Partei (FSLN) nahestehender Zusammenschluss von Gewerkschaften
(3) „Federación de Trabajadores de la Salud“ (Gewerkschaft der Arbeiter/innen im Gesundheitssektor)
Quellen:
www.nicaragua-forum.de
www.labournet.de
www.npla.de
www.nicaragua-verein.de
Zahlen und Fakten auf den entsprechenden Seiten widersprechen sich zum Teil aufgrund schwer zugänglicher und widersprüchlicher Berichterstattung vor Ort.

Nicaragua – historische Facts

+ + Ab 1522 spanische Kolonialisierung an der Westküste + + 1633 Besiedlung der Atlantikküste durch die Briten + + ab 1823 Unabhängigkeitserklärungen zentralamerikanischer Staaten + + 1823-63 Bürgerkrieg zwischen Konservativen und Liberalen. Die Verhandlungen über die Rechte für den (die zwei Meere verbindenden) Kanalbau führen zur Intervention der US-Amerikaner, die 1910 Präsidenten Zelaya stürzten und den Präsidenten Díaz einsetzten + + 1927-33 Befreiungskrieg zwischen der Guerilla des General Augustino Sandino gegen die USA + + Nach Abzug der US-amerikanischen Truppen, Mord an Sandino und der Guerilla durch die neu entstandene „Nationalgarde“ + + 1936 Oberbefehlshaber der Nationalgarde, General Somoza García, putscht sich zum Präsidenten, Beginn einer langjährigen Familiendiktatur. Korruption, Repression, Verelendung und Bereicherung der Familie Somoza folgen. Als Partner der USA unterstützt dieser logistisch US-Interventionen in Zentralamerika + + 1961 Gründung der FSLN „Frente Sandinista de liberación nacional“ – sandinistische Befreiungsfront, Guerillatruppe + + 1972 Erdbebenkatastrophe. Ein Großteil der internationalen Hilfsgelder landen in Somozas Taschen + + 1972-79 FSLN gewinnt immer mehr Rückhalt in der Bevölkerung, es folgen: politischer Generalstreik, Volkserhebungen in den Städten, Besetzung des Nationalpalastes und Guerillakampf. Krieg + + 1979 Somoza flieht nach Miami, die Sandinisten ziehen in Managua ein. Auflösung des Staatsapparates und der Nationalgarde, ein kollektiver Staatsrat JGRN „Junta de Gobierno de Reconstrucción Nacional“ wird eingesetzt. Verstaatlichung des Besitzes des Somoza-Clans, der Banken und des Außenhandels und Alphabetisierungskampagne folgen + + Wiederbewaffnung der geflüchteten Nationalgardisten („Contras“), durch Unterstützung der USA + + 1984 trotz zunehmender Contra-Angriffe gewinnen die Sandinisten die Wahl mit absoluter Mehrheit + + 1985-89 Contrakrieg und Wirtschaftsblockade der USA. Durch hohe Opferzahlen, Inflation, Versorgungsnotstand und Elend verlieren die Menschen den Glauben in die sandinistische Revolution + + 1990 FSLN verliert die Wahlen, der Krieg wird beendet + +

Exkurs: Nemagón

Die gesundheitsschädigende Chemikalie Nemagón (DBCP) wurde seit den 60ern von den Bauern auf den Plantagen eingesetzt, obwohl ihre gefährliche Wirkung bereits 1958 festgestellt, und das Mittel in den USA 1979 verboten wurde. Um allerdings aus den Lagerbeständen noch Profit schlagen zu können, verkaufte man sie an zentralamerikanische Staaten weiter, wo sie bis Mitte der 80er Boden, Grundwasser und Unterboden verseuchte. Bis heute sind bereits mehr als 1000 Menschen gestorben, 17000 sind geschädigt, leiden an verschiedenen Tumoren, an Erblindungen, Nervenstörungen und Haar- und Fingernagelausfall. Aber auch Unfruchtbarkeit und Missbildungen bei Neugeborenen sind Folgen des Pestizids, dessen gesundheitsschädigende Wirkung weder von den transnationalen Herstellern (Dow Chemical Company, Shell Oil Company), noch von den Vertreibern (Standard United Fruit Company, Dole Limited, Del Monte, Chiquita Brand) bis heute anerkannt wird. Um öffentliche Aufmerksamkeit zu vermeiden, streben diese transnationalen Firmen eher Vergleiche an, wenn es zu gerichtlichen Prozessen kommt.

Nachbarn

Schlingensief* und der Alkohol

Gedanken zum Animatographen

Was bitte ist das denn? Ein sich drehender überdimensionierter begehbarer Hühnerstall in schulsaalgroßer Blackbox, geschraubt und genagelt aus Gegenständen, die den Charme der Ab­nutzung ausstrahlen.

Eine pflichtgetreu knarrende Tür, beim Übergang vom eigentlichen Museum in diesen dunkel­kammerartigen Kasten verstärkt den Kinoeffekt. Die Augen geblendet, sticht ein beständig summender Basston hervor. Dieses Summen liegt auf einer Frequenz zwischen unangenehm und gewöhnungsmöglich.

Drinnen ist kaum Platz für zwei Menschen nebeneinander zu gehen, eine hölzerne Drehbühne nimmt fast den ganzen Raum ein. Dessen Ecken werden von altmodischen Wohnzimmersteh­lampen und Bildschirmen geschmückt. Letztere befinden sich auch unter der teils verglasten Decke des Kastens. Und aus jedem erschallen mindestens einmal in fünf Minuten tausendfach widerhallende „Heilrufe“.

Sorgsam von einem Museumswächter beäugt, inspiziert der/die Besucher/in die knapp fünf Meter im Durchschnitt messende, sich langsam um sich selbst kreisende Drehscheibe. Diese trägt eine halboffene, verwinkelt kon­struierte Hütte aus Brettern, alten Fensterrahmen, Plexiglasscheiben, knor­rigen Ästen, Styropor und Bauschaum. Einige niedrige Türchen führen zu vier Zimmerchen mit einer kleinen höher­gelegten Terrasse. Manch einer mag sich beim Betreten dieses mit Hühnerfedern übersäten Raumes an „Alice im Wunder­land“ erinnert fühlen.

Aufsteigen und mitkreisen kann man an fast allen Stellen, vor allem aber durch einen alten Wohn- oder Militärcontainer. Dieser führt auf eine kleine Leinwand zu, worauf sich recht verschwommen einige Szenen abspielen.

Insgesamt wird der Raum, wie auch die begehbare, langsam kreisende Kons­truktion von dem beständigen Summton, den überall eingestreuten Bildschirmen, und dem Stimmengewirr von den überall um einen herum laufenden Kurzfilmen dominiert.

Einer davon ist der „Hitler-Stahlin-Porno“ (tatsächlich so geschrieben), der in Leipzig schon für einigen Wirbel sorgte. Der Porno entpuppt sich als ein kleines in einen Winkel verbanntes Filmchen, in dem die beiden genannten Personen sich mit Hilfe von Sahnetorten und einer unterstützenden Frauenhand Befriedigung zu verschaffen suchen. Nur erotisch ist das dann irgend­wie doch nicht – eher mit­leid­erregend.

Fast könnte es leicht behaglich sein: auf einem der Schulstühle ausharrend ins Halbdunkel blickend, lauschend und schauend, die Füße zwischen weichen Federn, über die Aussage des Ani­mato­graphen sinnierend. Wenn, ja, wenn, mensch nicht ständig von Hitler und Heilrufen auf­geschreckt werden würde, die einen Nachgeschmack von abgestandenem Alkohol hinterlassen.

Und doch funktioniert Schlingensiefs Happening-Kunst auf gewisse Weise. Obwohl m.E. die angebliche dem Besucher auferlegte Interpretationsfreiheit nicht gegeben ist und ich mich auch nicht als Teil dieser Aktionskunst gefühlt habe.

Dennoch animiert Schlingensiefs Ani­mato­graph mit dadaistiuschen Elementen zum Zuhören, Zuschauen Aus- und Innehalten. Alt­bekannte Gegenstände bekommen mit neuen Funktionen andere Gesichter. Und er animiert zu einem explizit politischen Zwiegespräch mit sich selbst. Es geht um das letzte Jahrhundert und um das, was das Mainstreamge­dächtnis im 20. Jahr­hundert geprägt hat. Schade nur, dass sich der von mir wahrgenommene geographische Rahmen nicht über den deutschen Sprachraum hinaus erstreckt. Schade auch, dass es von zwei Diktatoren abgesehen, scheinbar so wenig aus dem letzten Jahrhundert zu verhandeln gibt.

Wer jetzt der Ansicht ist, die Autorin hätte kein Kunstverständnis mag damit richtig liegen. Wer Schlingensief begreifen will muss schon mehr machen als bloß Eindrücke zu sammeln….

Heidi Ho aus L.

Der Animatograph ist im Museum der bildenden Künste Leipzig unentgeltlich zu besichtigen.

* Christoph Schlingensief, umstrittener und gern provozierender Regisseur und Aktionskünstler, wurde am 24. 10. 1960 geboren.

LeserInForum

Ein frühes Ostereiersuchen – BUKO 30

Ende September fand das erste bundes­weite Vorbereitungstreffen des BUKO 30 statt, der Ostern´07 in Leipzig sein wird, erstmals in Ostdeutschland und knapp zwei Monate vorm G8-Gipfel in Heiligen­damm. Die „Bundeskoordination Internati­onalis­mus“ mit ca. 130 vernetzten Gruppen gibt es seit knapp 30 Jahren. Nach dem letzten Kongress im Frühjahr in Berlin (FA!#23 berichtete) hat sich ein kleiner Kreis in Leipzig gebildet, der zusammen mit den weiterhin in­­te­­res­sierten BerlinerInnen, der Hambur­ger Geschäftsstelle und weiteren Aktivist­Innen aus ganz Deutschland den 30. Kongress vorbereiten will.

Zunächst wurden inhaltliche und strukturelle Wunsch­vorstellungen zusammengetragen: Landwirtschaft, Energie­sicherheit, Migration, Antimilitarismus, (Frei-) Räume, Prekarisierung und Privati­sie­rung könnten eine Rolle spielen, wie auch die „Querschnittsthemen“ Feminismus und Gender (wozu bereits eine Gruppe besteht), sowie die verschiedenen politischen Anschluss­fähigkeiten, der Widerstand im weitesten Sinn und natürlich der allgegen­wärtige Bezug zur Agenda des G8-Gipfels. Methodisch soll es (auch in der Vorbereitung) statt zuvieler akademischer Konsumsituationen mehr hin zu hierarchiefernen Veranstal­tungs­strukturen und zum Austausch anwendungsorientierten Erfahrungs­wissens gehen.

Erste Arbeitsgruppen haben sich zu den Themen Widerstand, Krieg, Feminismus und Privatisierung gebildet. Neben einem „open space“ gibt es konkrete Workshop-Ideen zu Aktions­training und vor allem lokalen Zielen, denn eins ist klar: Leipzig soll mitgenom­men werden. Regionale Probleme, wie der Ausbau des Flughafens für die NATO, vielleicht aber auch Auseinandersetzungen in der „Linken“, wie die verschiedenen Positionen zu bestimmten Kriegen oder Diskurse um Antiamerikanismus, könnten ange­gan­gen werden.

Organisatorisch wird es jedenfalls aller­hand zu tun geben: Veranstaltungsräume, Schlafplätze, Technik, Verpflegung, Übersetzung, Öffentlichkeitsarbeit, Notfälle aller Art – erfahrungs­gemäß wollen 500 bis 1500 Leute in diesen vier Tagen umsorgt sein. Inhaltliche und infrastrukturelle Hilfe bzw. Mitgestaltung ist nötig und willkommen. Das nächste große Treffen ist vom 3. bis 5.11., Kontakt: buko-leipzig@listi.jpberlin.de

clara

Ein Antifa-Infoticker

Der 3.10. ist Geschichte, Probleme mit Rechtsex­trem­istInnen gibts weiterhin zu Hauf:

… in Leipzig

Kürzlich ist es vor dem „Wild Turkey“ – einer Kneipe am Wiede­bach­platz – zu Bedrohungen gekom­men. Hintergrund waren Beschwerden über die drinnen abgespielte rechtsextreme Musik. Der Inhaber des „Wild Turkey“ reagierte verständ­nis­los, aggressiv und ließ keinen Zweifel daran, dass ihn die menschen­verachtenden Texte nicht stören. In Lindenau wurden Anfang Oktober zwei Punker von Nazis bedroht und verfolgt, bis sie sich in eine inzwischen geschlossene Schreib­werk­statt flüchten konnten, die selbst vorher schon schlechte Erfah­rungen mit dem Nazi­treff­punkt in der Gutsmuth­strasse sammeln musste.

… anderswo

Am 16.9. demonstrierten 200 Nazis unter dem Deckmantel einer ver­meint­lichen Antikapi­talis­mus­kampagne in Plauen und Hof. Am selben Tag gründete sich in Sachsen-Anhalt eine NPD-Frauenorganisation.

Ebenfalls um die 200 Nasen liefen in Göp­pingen am 23.9., in Nordhausen am 7.10. und am 14.10. in Hamburg, während in Nürnberg um die 100 NPD-Anhänger­Innen demon­strier­ten.

… und darüber hinaus

Durch die traurigen Wahl­ergebnisse in MeckPomm können die Nazis nicht nur im nächsten Jahr nun mit großen infra­struk­­turellen „Verbes­ser­ungen“ rechnen, wenn sie etwa gegen „die Globalisierung“ und „den Kapitalismus“ auf dem G8-Gipfel in Heiligen­damm protestieren möch­ten. Dem Unmut gegen diese Heuche­leien kann auch schon davor Luft gemacht werden: Am 28.10. will Christian Worch zum dritten mal in diesem Jahr durch Göttingen oder Celle ziehen. Mehr Unter­stützung ist wahr­schein­lich aber in Bitter­feld gefragt, wo am selben Tag eine Nazidemo angemeldet ist. Zum Schluss was Gutes: Das in Jena oft angekün­digte „Fest der Völker“, eine Konzert­veran­staltung mit europäischen Nazi-Bands, die jährlich stattfinden soll, wird voraussichtlich schon im zweiten Jahr nicht über die Bühne gehen.

„You got to rock, you got to roll!“

rabe

Theater gegen Überwachung

Mit einer Aktion am Connewitzer Kreuz hat die Leipziger Kamera-Initiative gegen Überwachung am 21. 9.06 den zweiten Teil ihrer Kampagne „10 Jahre sind genug!“ eingeläutet. Inspiration dazu kam von den New York City Surveillance Camera Players, einer amerikanischen Aktivistengruppe, die kleine Theaterstücke vor Überwachungskameras aufführt (www.notbored.org). Vor der Polizeikamera am Connewitzer Kreuz kamen zwei Stücke zur Aufführung: „Alles klar, Herr Kommissar“ als Adaption eines Stücks der New Yorker, bei dem die Akteure mit beschrifteten Pappschildern offensiv auf die eigene Harmlosigkeit aufmerksam machen („Ich gehe nur spazieren“ usw.). Bei „Was guckst du?“, einer Eigenkreation der Leipziger Kamera, wurden Fragen an die überwachenden Beamten gerichtet. Die Polizei hielt sich zurück, zwar fuhren zwei- oder dreimal Streifenwagen vorbei, ein weiteres Eingreifen hielt man offensichtlich für unnötig. Die Haltung der Passanten reichten von begeisterter Zustimmung über stilles Amüsement bis hin zu blanker Verständnislosigkeit, die positiven Reaktionen überwogen aber deutlich. So wurde nach rund anderthalb Stunden die Aktion zufrieden beendet – weitere werden in nächster Zeit folgen. Infos unter www.leipzigerkamera.twoday.net

justus

Arbeitsgruppe AntiKa

Im Interview

FA!: Ihr habt im letzten Semester eine Kampagne gegen die Überwachungs­pläne der Universität im Rahmen des Neubaus gestartet. Mit welchen For­derungen seid ihr angetreten?

VdAK: Unsere weitreichendste Forderung ist, die Uni zu einem überwachungsfreien Raum zu machen. Diesem Ziel wollten wir im Rahmen unserer Mittel möglichst nahe kommen.

FA! Wie nah seid ihr denn diesem Ziel gekommen?

VdAK: Naja, der größte Skandal war für uns, dass auch die Hörsäle überwacht werden sollten, daher haben wir das als Auf­­­hänger für die Kampagne „SMASH SURVEIL­LANCE“ genutzt. Und in diesem Punkt haben wir tatsächlich Erfolg gehabt.

FA!: Die Pläne der Unileitung waren ja nun schon ausgemachte Sache. Wie habt ihr es geschafft, sie davon abzubringen?

VdAK: Erst einmal haben wir Öffentlichkeits­arbeit in Form von Infoständen, einer Podiumsdiskussion, Unterschrif­ten sammeln und Pressemit­­teilung­en gemacht. So wichtig das auch war, hat den Ausschlag für die Änderung der Pläne ein Rechtsgutachten von Prof. Degenhardt gegeben (der ironischerweise auch maß­geb­­lich an der Klage gegen die Studien­gebührenfreiheit beteiligt war), das ohne die studentische Initiative wohl aber nicht zu Stande gekommen wäre. Fakt ist, dass Hörsaalkameras dem Grundrecht von Freiheit der Lehre und Forschung derart widersprechen, dass sie juristisch im Prinzip nicht durchsetzbar sind.

FA!: Wie hat die Unileitung auf eure Aktionen reagiert?

VdAK: Zunächst hat sich die Uni­leitung in Person von Kanz­ler Frank Nolden auf unserer Podiumsveranstaltung am 24.04.06 in der Mo­ritz­bastei für die Hörsaalkameras ausgespro­chen, mit den großartigen Argumenten, man müsse Diebstähle verhindern und kontrollieren können, ob das Licht aus sei. Das kam sowohl bei den Anwesenden als auch in der Presse eher schlecht an. Auch der Datenschutz­beauftragte Thomas Braatz, der uns anfänglich nicht einmal In­formationen zu den Plänen geben wollte, hat uns schließ­lich ernst genommen und mit uns zusammen gearbeitet. Mitte des Semesters hat das Studentenwerk die Webcam-Pläne für die Mensen auf unseren Druck hin zurückgenommen. Schließlich erhielt die Unileitung das besagte Rechtsgutachten, hatte an­scheinend wenig Lust auf weitere Aus­einander­setzungen und hat in der Frage der Hörsaalkameras eingelenkt. Das Rektorat sprach dann von einem „Kommunikationsproblem“, was so nicht stimmt, da die Installationspläne zu Beginn der Kampagne „SMASH SURVEIL­LANCE“ bereits beschlossene Sache waren.

FA!: Wie haben die Studierenden darauf reagiert, wieviel Unterstützung habt ihr da erfahren?

VdAK: Es gab erst mal viel Sympathie und Interesse, wir haben einige hundert Unterschriften gesammelt. Konkrete Unterstützung gab es dagegen nur von einer handvoll Studierender. Für eine Kampagne dieser Art reichen ein paar motivierte Leute aber auch aus, man muss eben taktisch arbeiten. Insgesamt hat sich gezeigt, dass erfolg­reiche Basisorganisation nötig und möglich ist, um Vorhaben, die unseren Interessen entgegenstehen, zu verhindern. Nebenbei hat es auch allen sehr viel Spaß gemacht, inklusive der großartigen „Victory Party“ auf dem Baustellencampus.

FA!: Wie soll es denn im nächsten Semester weitergehen. Habt ihr schon Ideen?

VdAK: Solange es Kameras gibt,braucht es eine AntiKa! Wer also Interesse hat mit­zu­machen: www.uni-leipzig.de/-antika

wanst

Arme Hilfssheriffs

Was würden wir bloß tun, wenn wir die Stadtverwaltung und das Arbeitsamt nicht hätten … die denken sich für uns, die Bür­gerInnen dieser Stadt, immer wieder was neues aus, damit es uns besser geht. Anfang Mai hoben die Stadtoberen ein neues Projekt aus der Taufe, um nicht nur die horrende Arbeitslosigkeit, sondern auch das Unsicherheitsgefühl in der Messestadt zu senken: den „Bürgerdienst LE“.

Das klingt erstmal ein bisschen nach Zivildienst, Dienst an der Gemeinschaft. Doch das täuscht. Es handelt sich – aus Perspektive der Macher – um einen Dienst für „den Bürger“, und „den Touristen“. In dunkelblauen Jacken mit dem schmucken Aufdruck „spazieren“ insgesamt 496 ehemals junge und/oder Langzeit-Erwerbslose in Zweier-Teams durch die Stadt, als Ansprechpartner für Fragen, die man sich auf der Straße so stellt: Was is’ das denn für’n Haus? Wie komme ich nach Stötteritz? Wie lange ist die Straße noch gesperrt und wo geht die Umleitung lang? Wie teuer wird eigentlich der City-Tunnel? Wann ist das nächste Feuerwerk auf der Festwiese?

Endlich, mit großen Schritten bewegt sich Leipzig auf die Dienstleistungsgesellschaft zu! Da macht es auch nichts, dass die Umsetzung mit einem alten Instrument – der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme – und alten Partnern – dem Kommunalen Eigenbetrieb Engelsdorf (KEE) – bewerkstelligt wird: das heißt Befristung auf ein Jahr, danach kein Anspruch auf ALG I, aber immerhin 1.100 bis 1.300 Euro in der Tasche. Keine Lösung ist auch eine Lösung, wenn sie das Problem verschiebt.

Polizei des 21. Jahrhunderts?

Diejenigen, die sich da freiwillig zum Bür­gerdienst meldeten, sind nun in „Teams“ zu zwei Leuten auf acht Routen unter­wegs, um dem unwissenden, aber interessieren Mitmenschen eine Hilfe zu sein. Sie sind sogar rund um die Uhr unterwegs, in klassischen Acht-Stunden-Schichten … doch halt: warum das? Ein wichtiges Aufgabenfeld haben wir noch vergessen: Die professionellen Spazier­gängerIn­nen (drei Wochen Weiterbildung!) rücken nämlich nicht nur Informationen heraus, wenn man sie fragt. Sie sind auch Kontrollgänger und leiten, freilich ungefragt, Informationen weiter. „Sie sollen möglichst alles registrieren, was irgendwo im Argen liegt, von Polizei oder Ordnungsamt aber nicht bewältigt wird: Autoeinbrüche, Hundehaufen*, aufgebrochene Türen, schwarz endgelagerte Autos, umgeworfene Grabsteine, demolierte Bushäuschen oder Rempeleien, die auszuarten drohen. Quasi über Nacht bekam die Stadt damit ein flächen­deckendes System an allgegenwärtigen Augen, Nasen und Ohren.“ („Südkurier“, 1.9.06) … Handgreiflichkeiten bleiben weiterhin der Polizei vorbehalten, und wirklich „flächen­deckend“ ist wohl nur ein Blockwartsystem (1 Haus, 1 Spitzel). Dennoch kein Grund zur Beruhigung: Mit dem Bürgerdienst LE wurde Anfang dieses Jahres unter dem Deckmantel eines „Arbeits­markt­projekts“ die Kontrollkapazität der Polizeidirektion Leipzig (1.600 Schergen) um mindestens 25 Prozent ausgeweitet!

„Service und Sicherheit“

Und der Tanz geht weiter: Aufgrund der „guten Erfahrungen“ mit 290 Bürgerdienstlern als Bus- und Bahn-Begleit­personal während der WM, wird die LVB Mitte November ein Pilotprojekt starten, dass dank Verkehrsminister Wolle schon bundesweite Aufmerksamkeit erlangte. Bis Mai 2006 sollen ins­gesamt 300 Erwerbslose freiwillig bei den Verkehrsbetrieben anheuern, um (getreu dem Motto des Bürgerdien­stes) ÖPNV-Verkehrsbera­tung zu leisten, älteren Fahr­gästen zur Hand zu gehen und vor allem Sicherheit zu gewährleisten. „Aktiv Office“** wird getragen vom LVB-Tochterunternehmen LAB und begründet wie die Ein-Euro-Jobs kein Arbeitsverhältnis im eigentlichen Sinne. Die Testphase soll drei Jahre dauern, dann sollen 30 Prozent der Leute in Festanstellung übernommen werden – irgend­wie muss man die Leute bei dem lächerlichen Gehalt von weniger als 150 Euro (+ ALG2) ja bei der Stange halten, und solange solche windigen Verheißungen noch ziehen, warum nicht?! Handfester ist da schon die LVB-Monatskarte, die’s dazu gibt, so dass die Leute nach Feierabend nicht nach Hause laufen müssen. Die Kosten für diese „Vergünstigung“ lassen sich jedoch aus der Portokasse bezahlen, und die ist gut gefüllt: Die jährlichen Kosten belaufen sich nach Angaben der ARGE Leipzig auf knapp 865.000 Euro; die reinen „Lohnkosten“ abgezogen, verbleiben bei den LVB/LAB monatlich 27.000 Euro – nach offiziellen Angaben für Verwaltungs- und Materialaufwendungen. Ein „Klebe-Effekt“ der anderen Art. Damit sind Erwerbslose nicht nur effektiver und flexibler, sondern wohl auch billiger als Videokameras.

Das Schlimmste ist aber wohl nicht, dass die jugendliche Wut sich weniger in der Tram entfalten kann, sie wird andere Wege finden, oder dass damit Personal­einspa­run­gen in den LVB-Werkstätten in den Bereich des Möglichen kommen (gegen Entlassungen kann man kämpfen) – das Schlimmste ist sicherlich die neue Masche von Amts wegen, dass sich die Erwerbslosen freiwillig melden sollen, die einer „sinnvollen Beschäftigung“ nachzugehen wünschen. Dabei scheint von vornherein schon klar, dass es sinnvoll ist, an vor­derster Front, als Menschenmaterial, für einen Hungerlohn, den eigenen Kopf hinzuhalten zum Schutz fremden Eigentums und sich vom gesellschaftlichen Reichtum selbst ausschließen – finanziell stehen sie dann in etwa so gut da wie die Bediensteten der zahlreichen Sicherheitsservices.

Unwillkürlich kommt mir in diesem Zusammenhang ein Vers aus Mühsam’s Internationale-Übersetzung in den Sinn, eine einfache Antwort, die sich schwer umsetzen lässt: „Mag der Reiche selber Diebe greifen,/Mag er selber Kerker baun!/Laßt uns die eig’nen Äxte schleifen./Das Eisen glüht, jetzt laßt’s uns hau’n!“

A.E.

*) siehe FA! #13 zur Polizeiverordnung vom 2004;
**) Anscheinend sitzen in der PR-Abteilung auch nur unbezahlte PraktikantInnen, es lebe die Sabotage! Oder versteht eine/r der Feierabend!-LeserIn­nen den Namen des Projekts???