Schlagwort-Archive: 2012

Nüchterne Wiesen

Was wäre eine Großstadt ohne eine zünftige Trinkwiese? In der Leipziger Innenstadt hat sich z.B. die Thomaswiese neben dem Hugendubel schon seit Jahren als Treffpunkt für meist jugendliche Wiesentrinker_innen etabliert, die sich dort im Sommer auf dem Rasen lümmeln, dröhnende Beatmusik auf mitgebrachten Kassettenrekordern hören und dabei ihr Dosenbier verzehren.

Der Leipziger CDU-Ortsgruppe ist diese Stätte des urbanen savoir vivre allerdings ein Dorn im Auge. Mitte November stellte diese deshalb einen Antrag: Der Stadtrat soll nun prüfen, ob man den öffentlichen Alkoholkonsum nicht einfach per Polizeiverordnung verbieten könne. Erst mal testweise vom 1. April bis zum 31. Oktober 2012, um bei Erfolg die Maßnahme dann auch in den Folgejahren fortzuführen. Das Trinkverbot soll nicht nur für die Thomaswiese gelten, sondern auch auf dem Bahnhofsvorplatz und am Weißeplatz in Stötteritz. Letzterer steht schon seit längerem im Fokus einer Ein-Mann-Kampagne, die ein besorgter Bürger gegen die ansässige Alkoholikerszene betreibt und nun offenbar auch die harten Herzen der Union erreicht hat.

Für vernunftbegabte Lebewesen ist so ein dreister Vorschlag allerdings einfach indiskutabel! Hoffen wir also mal, dass die Leipziger CDU die verdiente Schlappe einfährt, wenn am 14. Dezember über den Antrag entschieden wird. Denn: Wiesentrinken is not a crime!

justus

Lokales

Editorial FA! #45

Alle reden vom Wetter, wir schreiben drüber. Keine Angst, nur in diesem Editorial muss der Sommer als Einstieg herhalten. In der #45, die Du gerade in den Händen hältst und Dir über das Sommerloch helfen soll, geht es sonst recht inhaltlich zur Sache. Wir berichten über den sehr unterschiedlichen Umgang von Leipziger_innen mit „ihren“ Flüchtlingen, schauen auf den „Graffiti-Krieg“, der gerade tobt, beleuchten prekäre Arbeitsverhältnisse in Halle sowie das deutsche Streikrecht, widmen uns ausführlich der Occupy-Bewegung, stinken ein wenig gegen Facebook an, rezensieren fleißig und haben sogar noch schnell ein einseitiges Comic in diese Ausgabe gepinselt. Alles in allem trotz wiedermal abgespeckter Redaktion ein fettes Heft. Viel Vergnügen beim Schmökern!

Eure Feierabend!-Redax

PS: Unsere Verkaufsstelle des Monats ist das Skorbut in Lindenau, dessen Be­treiber_innen wir im letzten Heft interviewt haben.

Nach der Kampagne ist vor der Kampagne

Die antifaschistische Kampagne Fence Off gibt es nicht mehr. 16 Monate lang organisierten Leipziger Anti­fa­schist_innen den Widerstand gegen das sog. Nazizen­trum in der Odermannstraße. Das Lin­denauer Bürgerbüro der NPD existiert seit nun­mehr fast vier Jahren. Unzählige Störak­tionen, Kundgebungen und Demonstrationen konnten jedoch nicht verhindern, dass die Odermannstraße 8 wei­ter­hin als überregionalen Veranstaltungsort und Treffpunkt von Nazis genutzt wird.

Die Kampagne zieht also eine durchwachsene Bilanz. Obwohl sehr erfolgreich in der Mobilisierung und einzelnen Aktionen, wurde das versprochene Hauptziel leider verpasst.

Nach dem Tod des NPD-Landtagsabgeordneten Winfried Petzold, der die Odermann 8 als Bürgerbüro eröffnete, sah es Anfang des Jahres für einen Moment so aus, als würde sich das „Nationale Zentrum“ selbst abwickeln. Doch die NPD mochte ihren Sitz im Leipziger Westen nicht aufgeben, und so nutzen die beiden Leipziger Stadträte Rudi Gerhard und Klaus Ufer das Objekt jetzt of­fi­ziell als Stadt­ver­ord­ne­tenbüro. Wie es her­innen jedoch um die Kräf­te­verteilung aussieht, ist weiter­hin recht unklar. Dem Streit der straff organisierten NPD-Leute mit den Freien Kräften folgte angeblich ein Rauswurf der jungen autonomen Meute. Fakt jedoch ist, dass weiterhin Musik- und Vortragsveranstaltungen mit hochkarätigen Gästen stattfinden, zu denen die äußerst rechte Szene in der ganzen Bandbreite anrückt. Sänger wie Frank Rennicke, SS-Veteranen oder gestandene Holocaustleugner_innen wie Ursula Haverbeck-Wetzel ziehen Hooligans und NPD-Kader gleichermaßen an. Wobei letztere nicht zu ihrem Vortragstermin am diesjährigen Führergeburtstag erschien.

Das könnte durchaus an den massiven Störungen von Antifaschist_innen gelegen haben. Diese und anderes Aktionen werden nun ebenso wie das gesamte Kam­pag­nenkonzept von den Akteuren noch ein­mal näher unter’s Licht genommen. Es war neu in Leipzig, sich auf ein konkretes Ziel zu konzentrieren und so auch Leu­te einzubinden, die sonst eher faul sind, wenn es um antifaschistisches Engagement geht.

Die Reflexion soll neue Möglichkeiten eröffnen, wie Kritik an und Widerstand gegen die Nazis aussehen kann, soll und erfolgsorientiert auch sein muss. Denn das Nationale Zentrum gibt es immer noch.

(shy)

No Name, No Fame, No Game?

Über den Leipziger Krieg der Farben

Leipzig hat einen neuen Aufreger – Graffiti. Jetzt werdet Ihr sagen: Aber das ist doch nicht neu! Graffiti gibt es in Leipzig schon ewig, jeder Hampelmann schmiert hier die Wände mit unverständlichen Kürzeln voll! Aber dann habt Ihr wahrscheinlich nicht mitbekommen, dass jetzt in Leipzig Krieg herrscht. Ein Graffiti-Krieg. Graue Wände zu bemalen war ja schon immer schlimm, aber nun zittert die ganze Stadt unter den rücksichtslosen Aktionen der Sprüher-Crews. Die neue Qualität zeichnet sich jedoch nicht durch Mord- und Totschlag aus, wie man es von einem Krieg erwarten könnte. Nein, schlimmer. Hier zählt doch tatsächlich, wer wo das extremste Bild macht. Die Größe und Lage der be­malten Flächen ist derart alarmierend, dass die üblichen Verdächtigen aus Stadt, Wirt­schaft und Medien panisch aufschreien.

Die sich laut SpiegelTV bekriegenden Crews sind die Radicals alias RCS und die ORG-Crew. Manch Witzbold behauptet ja, ORG – das stehe für „Organisierte Radicals Gegner“. Und die Radicals – das sind laut den Witzbolden von SpiegelTV ja wieder­um die Gegner der ORG-Crew im „Graffiti-Krieg“ Leipzigs. (1)

Seit Jahren bestimmen sie mehr und mehr das Stadtbild – die Bombings der sich battlenden Crews in Burner Chrom mit Bitumen-Black-Outlines aus den 600er Cans der Underground-Writer, die an den Walls der LE-City swaggen, ohne jedoch eine Message zu spreaden, die conscious wäre.

Oder für die Nicht-HGB-Student_innen unter Euch: Gemeint sind die übergroßen Kürzel der klandestinen Künstlerkollektive in meist minimalistischem Silberchrom mit pechschwarzen Außenlinien, aus den genau auf illegale Bedürfnisse abgestimmten Fabrikaten spezialisierter Sprühdosenhersteller, gesprüht auf den Wänden der Kulturstadt Leipzig mit der eindeutigen Botschaft: Ich hab’ den Größten.

Gemeint sind eben nicht die „Tags“, die kleinen Filzstiftschmierereien, die Szenekneipen ihren alternativen Charme verleihen, sondern die richtig großen, nicht einfach dahingeschmierten, eben „gebombten“ Kürzel. Wobei die laut SpiegelTV „sich bekriegenden Crews“ oft peinlich darauf achten, die Bilder der „Gegner“ nicht zu crossen, zu übersprühen. (2) Was für Außenstehende wie die Genfer Konventionen des Graffiti erscheinen mag, ist jedoch wichtiger Bestandteil des hochkriminellen Wettstreits um die Vorherrschaft auf Leipziger Straßen. Nach unzähligen Bombings an immer prominenteren Stellen eskalierte der Krieg vor einigen Wochen. Das mehrere Jahre eingerüstete Ring-Messehaus gegenüber der Blechbüchse sollte wieder im morbiden Charme seiner unsanierten Fassade erstrahlen. Zum Vorschein kamen jedoch drei riesige chromfarbene Buchstaben – RCS. (3) Darüber noch ein zweistöckiges SNOW. Gemalt über die Weihnachtszeit kam es nun plötzlich zum Vorschein. Die Entrüstung des Hauses führte so freilich zur größeren selbigen von Medien und städtischen Vertretern. Nur ORG nahmen die Radicals-Kriegserklärung wirklich ernst und schlugen erbarmungslos zurück – zwei Wochen später prangte am nicht weit entfernten und ebenso zentral gelegenen Robotron-Haus ein noch riesigeres ORG-Bombing. (4)

Damit nahm der „Krieg um das größte Graffiti“ in Leipzig sein vorerst schreckliches Ende. Die Kriegsparteien allerdings laufen weiter unbehelligt auf den Straßen herum und nutzen die Zeit zur Aufrüstung. Und so bleibt die Angst vor dem, was da kommen mag.

Historischer Exkurs

Dabei war es nicht immer so gefährlich auf Leipzigs Straßen. Noch in letzten Jahrtausend standen Sprüher_innen Schulter an Schulter bspw. in Plagwitz und malten im friedlichen Wettstreit. Nachdem im Oktober 2003 mit der „Streichung“ dieser größten geduldeten „Wall of Fame“ die neue harte Linie der Stadt gegen Graffiti begann, änderte sich einiges. Der Verlust der über 250 Meter langen Wand machte Leipzigs Sprüher_innen derart traurig, dass sich etwa 200 von ihnen knapp einen Monat später in einem Trauerzug am Ort des Geschehens einfanden und Blumen und Kränze niederlegten. Die Trauer jedoch wandelte sich schnell in Wut und die Stadt wurde in einer ersten Welle mit tausendfachen „Meine Wand?“-Schriftzügen zugebombt. Die Botschaft und der dahinterstehende Diskurs wurde unübersehbar – Wem gehören eigentlich die vielen Wände? Den Eigentümer_innen oder denen, die sich das Recht heraus nehmen, ihre Umwelt so zu gestalten, wie sie es wollen? Die Frage konnte nicht abschließend geklärt werden und so verbreitete sich der Slogan in den folgenden Monaten bis nach Halle und dank Zug-Kultur weit in die deutsche Graffitilandschaft.

Peter Sodann – Hallenser Theaterinten­dant, ehemaliger Tatort-Kommisar und Spießbürger erster Güte – ließ es sich damals nicht nehmen, die Graffitikultur als „ganz normalen Faschismus“ zu bezeichnen und wurde in der Folge mit Hitlerbärtchen per Schablonengraffiti selbst als Faschist verunglimpft. Auch sonst gab es allerlei kreative Aktionen der Sprüher_innen, die im Kontext der Leipziger Olympia-Bewerbung (siehe FA! #12) und der Fast-Aberkennung der Gemeinnützigkeit des Conne Island den Diskurs um illegale und alternative Jugendkultur vs. sauberes Stadtimage antrieben.

Flatrate für den Frieden

Treibende Kraft hinter den damaligen städtischen Säuberungen war ein „Zusammenschluss von Leipziger Unternehmen, Immobilieneigentümern, Stadtverwaltung, der Sparkasse, den Verkehrsbetrieben, Gebäudedienstleistern, Handwerkern, und zahlreichen Privatpersonen“, das im März 2003 gegründete Aktionsbündnis STATTbild e.V., oder auch „Das Bündnis gegen illegale Graffiti in Leipzig“. (5)

Der Verein hat mit Institutionen wie dem Bundesgrenzschutz Leipzig und der Bundespolizei höchst sympathische Partner, betreibt in Zusammenarbeit mit dem Regionalschulamt und der Bildungsagentur Leipzig „Aufklärungsarbeit“ unter Schüler_innen und veranstaltet allerlei Fachberatungen mit Immobilienfirmen und Gewerbetreibenden rund um das Thema illegale Graffiti.

Neuerdings bietet der STATTbild e.V. zusammen mit Graffiti-Reinigungsfirmen, die selbst Mitglieder des Vereins sind, eine selbstentwickelte „Graffiti-Flatrate“ an. Hausbesitzer_innen zahlen einen monatlichen Pauschalpreis für die stete Beseitigung ungewünschter Farbe. Dass das die Sprüher_innen eher weiter anstachelt, als im Zaum hält, könnten die Wächter der Reinheit dabei sehr wohl im Hinterkopf haben. Mehr Graffiti bedeutet schließlich auch mehr Reinigungsaufträge, Profilierungsmöglichkeiten und CDU-Wählerstimmen. Nach außen hin geben sie sich aber nach wie vor naiv. Dass bspw. die Zahl der illegalen Graffiti in Leipzig maßgeblich durch ihre Initiative in der Zeit seit 2003 über 50% anstieg, während sie in anderen ostdeutschen Städten teilweise stagnierte, davon lassen sich die Flitzpiepen nicht beirren.

Aber ob durch Kalkül oder bürgerliche Naivität befördert – der Krieg um Leipzigs Wände geht weiter. RCS, ORG, SNOW, und wie sie sonst noch alle heißen, werden sich mit ihren eigenen Graffiti-Flatrates am Stadtbild beteiligen. Und so bleibt wohl vorerst alles, wie es ist. Schwarz und Chrom. Und manchmal bunt.

(shy)

 

(1) youtube/HQ8MwlyVZ_c

(2) ilovegraffiti.de/blog/2010/09/17/determined/

(3) www.welikethat.de/2012/04/18/einfach-mal-800-quadratmeter-illegal-bemalen/

(4) streetfiles.org/photos/detail/1412367/

(5) www.stattbild.de/

Das Leben der Anderen

Eine Kontroverse um die dezentralisierte Unterbringung von Flüchtlingen in Leipzig

Grünau, 11. Juni 2012. Mehrere hundert aufgebrachte Bürger_innen stehen vor der Tür des Kulturhauses Völker­freund­­schaft. Die meisten von ihnen sind im Rentenalter. Sie warten ungeduldig darauf, Einlass zur Stadtbezirksbeiratsitzung zu bekommen, um ihrem Ärger gegen das zweite geplante große Flüchtlingsheim in ihrem Stadtteil Luft zu machen. Auf ihren Mobilisierungsplakaten steht: „Grünau = Berlin-Kreuzberg. Wir Grünauer sagen NEIN!“ Sie haben genug von der Völkerfreundschaft. Die müsse sich schließlich nicht immer in ihrem Viertel abspielen. Ein Flüchtlingsheim sei genug, es gebe schon genug soziale Probleme, Alkoholmissbrauch und Kriminalität. Das und vieles mehr wollen sie dem Leipziger Sozialbürgermeister Thomas Fabian (SPD) heute während der Stadtbeiratssitzung sagen. Fabian ist heute gekommen, um den Grünauer_innen zu vermitteln, dass die Weißdornstraße 102 derzeit das einzige Objekt in der Stadt ist, das die nötige Kapazität für 180 Flüchtlinge aufbringt. Er möchte ihnen erklären, dass die Zahl der Flüchtlinge im letzten Jahr wieder angestiegen ist (1), dass Leipzig im nächsten Jahr eventuell mit über 400 Flüchtlingen mehr rechnen muss, und dass es sich dabei um eine Weisung des Freistaates Sachsen handelt.

Stimmen aus Grünau

Die aufgebrachten Gäste vor der Völkerfreundschaft warten immer noch darauf in den Saal gelassen zu werden. Einige beginnen unruhig an der Tür zu rütteln. In der Hoffnung, endlich gehört zu werden, rufen sie: „Wir sind das Volk!“ Später werden sie sagen, sie fühlen sich übergangen, weil sie niemand in den Entscheidungsprozess mit einbezogen hat. Unter Dezentralisierung verstünden sie nicht, dass die Mehrzahl der Leipziger Flüchtlinge in Grünau lebt, sondern bitte schön verteilt über die ganze Stadt. Ein Redner wird während der hitzigen Bürgerdiskussion zum bereits bestehenden Flüchtlingsheim in der Liliensteinstraße kommentieren: „Ich bemüh mich schon seit zwölf, dreizehn Jahren, dass in diesem Heim Ordnung einkehrt (Gelächter aus dem Publikum). […] Da wird an kirchlichen Feiertagen orientalische Musik abgeleiert. Ruft man de Polizei an: Ich bin nicht zuständig. Ruf ich das Ordnungsamt an: Ich bin nicht zuständig. Das Sozialamt […] und es tut sich gar nichts (tosender Beifall und Johlen aus dem Publikum). Aber so geht das nicht, dass hinterher der Bürger dann alleine gelassen wird. Und ich bin froh, dass diese Diskussion nun entsteht. Bis jetzt war ich ein Einzelkämpfer. Ich wurde seit 1998 als rechts in die Ecke gestellt“. (Aus dem Publikum johlt ein Mann: „Du bist nicht allein!“, daraufhin tobender Applaus und Johlen) (1). Als ein anderer Redner vorsichtig äußert: „die Menschen kommen auch her, weil sie Angst haben“, ertönt aus dem Publikum höhnisches Gelächter.

Stimmen aus der Torgauer Straße

Eine der Bewohner_innen des Flüchtlingsheimes in der Torgauer Straße ist Rashida (2). Alleine ist sie aus Pakistan geflohen, weil sie der Ahmadi-Minderheit angehört, deren Angehörige von der pakistanischen Mehrheitsbevölkerung nicht als Mus­li­me anerkannt werden. „Wenn ich einkaufen war, haben die Leute in meinem Dorf mir den Schleier vom Kopf gerissen, weil sie unseren Propheten nicht akzeptieren“, erzählt sie und zieht den locker um ihren Kopf geworfenen Schal straff über das Kinn. Tatsächlich ist die Ahmadiyya in Pakistan seit 1994 verboten. Angehörigen dieser Glaubensrichtung ist die Begrü­ßungs­formel „Salám“ untersagt, sie wird mit Geldbußen und Haftstrafen geahndet. Wie sich die Verfolgung auf Ahmadis in Pakistan auswirken kann, zeigte der Anschlag auf zwei Ahmadiyya-Moscheen in Lahore am 28. Mai 2010, zu der sich pakistanische Taliban-Milizen bekannten, bei dem während eines Freitagsgebetes 86 Ahmadis getötet wurden.

Eigentlich wollte Rashida mit ihrem Ehemann kommen, doch die pakistanische Regierung stellte ihm bislang keine Ausreisepapiere aus. Rashida sagt, sie fühle sich alleine, verbringe die meiste Zeit auf ihrem Zimmer. Nach sieben Uhr verlasse sie das Haus nicht mehr. Die junge Frau kam nach Deutschland, weil sie Angst hatte, aber auch hier lebt sie in Angst. Dabei hat sie von den Bürgerprotesten in Grünau, Wahren und Portitz noch gar nichts mitbekommen. Ihr reiche schon, was sie im Heim erlebe. Da ist ein Heimbewohner, der regelmäßig an ihre Türe klopft und etwas zu ihr sagt. Sie spreche seine Sprache nicht. Sie sagt zu ihm, er solle verschwinden, aber er klopft immer wieder. Rashida ist eine von einer Handvoll Frauen unter 200 Männern in der Torgauer Straße. Die anderen Frauen sprechen ihre Sprache nicht. Jetzt hat sie einen Antrag gestellt, um nach Grünau in die Liliensteinstraße umziehen zu dürfen. Dort hat sie Freundinnen, die wie sie Muslima sind und aus Pakistan kommen.

Eine junge Mutter aus Grünau, die einen Bericht über die dezentralisierte Unterbringung von Asylbewerber_innen auf leipzig-fernsehen.de kommentiert, glaubt zu wissen, weshalb die Flüchtlinge wirklich kommen: „Ich habe nix gegen Ausländer, aber wieso sollen wir sie hier aufnehmen, wo sie selbst ein eigenes Land haben. Sie nehmen den Deutschen hier Arbeitsplätze weg oder kassieren schön Hartz IV, leben da schon auf Staatskosten und dann noch die Unterbringung. Das kann es nicht sein […]“

Fremdenfeindliche Evergreens wie diese aus der Mitte unserer Gesellschaft können tatsächlich nicht sein und lassen sich schnell entkräften. Zum Beispiel das Arbeitsplatz-Vorurteil: Asylbewerber_innen werden schon per Gesetz diskriminiert, sie dürfen frühestens nach einem Jahr arbeiten und werden nur dann angestellt, wenn kein_e deutsche_r, EU-Bürger_in diese Stelle annehmen will. Das verdeutlicht auch die statistische Arbeitslosenrate, die unter Migrant­_innen mehr als doppelt so hoch ist wie unter der Mehrheitsbevöl­kerung (3). Um über das zugewiesene Taschengeld hinaus zu verdienen, nehmen viele dann Jobs an, in denen sie vor allem ausgebeutet werden. Arbeitgeber_innen nutzen die prekäre Situation der Flüchtlinge/Migrant­_innen oft schamlos aus und beschäftigen sie ohne Versicherungen und Sozialabgaben zu Niedriglöhnen. Es kommt nicht selten vor, dass der Lohn gar nicht ausgezahlt wird. Daher müssen grundsätzlich Gesetz- und Arbeit­ge­­ber­_innen verantwortlich gemacht werden.

Wie in Grünau dieser Tage deutlich wird, wäre es zu kurz gegriffen die Protestierenden einfach als Rassisten zu bezeichnen. Vielmehr verschränken sich hier oftmals diskriminierende Einstellungen: „Wenn 150 deutsche Obdachlose in die Unterkunft kämen, würden wir auch dagegen protestieren!“, rechtfertigt ein Grünauer Bürger seine Wut. Allein in diesem kurzen Satz durchkreuzen sich frem­den­feindliche, klassenorientierte und sozialdarwinistische Weltanschauungen. Ob Obdachlose, „Asoziale“ oder „Asylanten“, die Kategorien werden beliebig ethnisch oder sozial auf- und abgeladen.

Ajmal ist ein Bewohner aus der Torgauer Straße. Vor fünf Monaten flüchtete der Innenarchitekt vor dem Regime im Iran nach Deutschland. Über das Heim in der Torgauer Straße und die neuen Entwicklungen sagt er: „Keiner von uns wohnt gerne in diesem Gefängnis. Aber seit wir wissen, dass wir aus der Torgauer Straße gehen müssen, haben viele von uns auch Angst zu gehen. Wir wissen nicht, wo die neuen Häuser stehen. Einige haben gehört, dass es Proteste gegen uns gibt. Wir würden gern mit unseren Gegnern ins Gespräch kommen. Aber viele von uns haben keine Kontakte nach draußen. Wir wissen nicht, was passieren wird.“

Stimmen aus Plagwitz

13. Juni 2012. Plagwitz, Schule am Adler. Rund 200 junge, bunte Menschen füllen den Saal bei der Stadtbezirksbeiratssitzung, bei der das Objekt in der Mar­kran­städterstraße 16-18 im Stadtteil vorgestellt wird. Das Haus ist für rund 45 Menschen ausgelegt. Gleich, ob von Stadtbezirks­beirät_innen oder Anwoh­ner_innen, im Saal findet das Konzept trotz vieler konstruktiv kritischer Anmerkungen als „ein Schritt in die richtige Richtung“ eine so breite Zustimmung, dass dem Sozialbürgermeister und der Sozialamtsleiterin Martina Kador-Probst zum Schluss die Tränen in den Augen stehen.

Tatsächlich ist eine idealere sozio-(sub)kul­tu­relle Einbindung der dezentralisierten Unterbringung wie in der Markranstäder Straße kaum vorstellbar. Die unmittelbare junge und alternative Nachbarschaft – die Zollschuppen-Häuser, der Bauspielplatz Wilder Westen, die Meta Rosa und der Wagenplatz Karl Helga bekunden nicht nur Freude über die Entscheidung, sondern bieten den Flüchtlingen mit Volxküchen, Zirkusprojekten, Umsonstladen und politischen Veranstaltungen einen potentiell abwechslungsreichen Alltag.

Bei genauerem Hinsehen erscheint das Objekt in Plagwitz nicht nur einzigartig in seiner sozio-kulturellen Einbindung, sondern auch in seiner Symbolik. Dafür sorgt Siemens, ein Global Player in der Rüstungsindustrie, der in der unmittelbaren Nachbarschaft angesiedelt ist. Es ist kein Zufall, dass das Rüstungsgerät zufälligerweise in die Länder exportiert wird, aus denen das Gros der Flüchtlinge kommt. Damit wird der gewählte Standort in der Mar­kran­städter Straße unfreiwillig zum dreidimensionalen Schaubild der Konsequenzen neokolonialer Praxis – und unserer eigenen Verwicklung in die Fluchtgeschichten der Flüchtlinge.

Unsere Stimmen

Komplexe Themen wie Krieg und Mas­sen­­unter­bringung wurden bei der Sitzung in Plagwitz allerdings ausgespart. Es schien als wollte mensch an den gegebenen Umständen arbeiten und keine neuen Grund­satzdiskussionen vom Zaun brechen. Kritisiert wurde beispielsweise die 0,8 Sozial­ar­beiter_innen-Stelle, die für die Flüchtlinge in der Unterbringung vorgesehen ist.

Tatsächlich ist dieser Schlüssel schon seit Jahren Standard in Leipziger Flüchtlingsheimen, ohne dass das bislang auf öffentlichen Sitzungen kritisiert wurde. Stattdessen arbeiten wir – im heterogenen linken Spektum verortet – uns am liebsten, wie andere Wir-Gruppen auch, an den geglaubten Anderen ab. So lautet der Tenor auch in Plagwitz an diesem Tag: Der gutgemeinte Versuch der politischen Befür­wor­­­ter_innen, die Flüchtlinge in Leipzig zu integrieren, scheitert womöglich nicht an dem Verhalten der Flüchtlinge, sondern an der Unfähigkeit der Mehrheitsgesellschaft die Flüchtlinge zu integrieren. Eine Rednerin fragt deshalb: „Wäre es nicht langsam an der Zeit die Bürger und Bürgerinnen Leipzigs, die so gegen die Flüchtlinge hetzen, zu demokratisieren?“ Ist es womöglich an der Zeit Integrationskurse für die deutsche Mehr­heitsgesell­schaft anzubieten?

Schuldzuweisungen á la „Du behinderst die Integration“ helfen jetzt niemandem. Ge­nauso wenig, wie einfach nur Rassisten zu entlarven und sich und seinen eigenen Aktionismus dafür zu mögen. Wichtig ist jetzt mehr denn je auf­ein­ander zuzugehen. Sowohl von Seiten der Flüchtlinge, als auch von Seiten ihrer Geg­ner_innen wurde der Wunsch geäußert miteinander ins Gespräch zu kommen. Ein eben solches Gespräch zu koordinieren, könnte unsere Aufgabe sein. Wir können nicht das Sprachrohr von Flüchtlingen sein. Dazu fehlt uns sowohl ihre Erfahrung als auch ihre Bevollmächtigung. Wir können ihnen aber auf ihren Wunsch hin die Plattformen und Hilfestellungen geben, die es ihnen ermöglichen, selbst die Stimme zu erheben – nicht nur auf dem Papier. Es geht nicht nur darum, das böse System zu bekämpfen, sondern die Menschen und Lebensumstände, für die mensch sich engagiert, kennenzulernen und Freundschaften zu schließen, im Sinne einer face-to-face-Gesellschaft.

(Klara Fall)

Infokasten: Wie alles begann

Angefangen hatte alles mit Am­a­zon. Als das Versandhaus vor rund drei Jahren offiziell Interesse an dem Gelände der Torgauer Straße 290 bekundete, begann in der Stadtverwaltung die Diskussion um die alternative Unterbringung der dort lebenden Flüchtlinge. Der Stadt Leipzig kam der Wunsch von Amazon nach Expansion gelegen, denn sie suchte händeringend nach Investoren, um nicht nur die maroden Häuser, sondern auch die marode Ar­beitsmarktlage zu sanieren. Gleichzeitig musste nun für die Flüchtlinge ein neuer Ort her. Im Sinne der politischen Entscheidungsträger ein Ort „nicht unmittelbar in einem Wohngebiet, insbe­sondere entfernt von Schulen, Kindergärten, Spielplätzen“*. Als die Stadt ihren Vorschlag bekannt gab – ein Containerwohnheim für 300 Personen in der Wodanstraße, nahe der Autobahn im Norden der Stadt – machten sich lautstarke Proteste in der Zivilgesellschaft und in einigen Fraktionen des Stadtparlamentes breit. Im Dezember reichten DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen ein erstes Konzept ein, in dem sie eine weitestgehend dezentrale Unterbringung von Asyl­be­wer­ber_innen und Geduldeten forderten. Das Konzept, das im Juni 2010 angenommen wurde, sah eine Mitbestimmung von Initiativen und Vereinen vor, die die SPD und CDU damals ablehnte. Am 8. Mai 2012 stellte die Stadt ihr Konzept „Wohnen für Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Leipzig“ vor. Danach soll das Heim in der Torgauer Straße bis Ende 2013 durch sechs kleinere und ein größeres Objekt – letzteres in Grünau – ersetzt werden.

 

weitere Infos: www.menschen-wuerdig.org

 

* 2011 stieg der Zahl der in Leipzig angekommenen Asylsuchenden von 198 auf 278, eine Steigerung um 31 Prozent. Quelle: jule.linxxnet.de/index.php/2012/06/burgerinnen-gegen-asylsuchende/

 

(1) agdezentralisierungjetzt.blogsport.eu/2012/06/13/bericht-von-der-stadtbezirksbeiratssitzung-west-grunau-am-11-juni-2012/

(2) Alle Namen der Bewohner_innen des Heimes wurden von der Redaktion anonymisiert.

(3) Im März 2011 waren in Westdeutschland 14, 5 Prozent Ausländer gegenüber 5,2 Prozent Deutschen arbeitslos gemeldet. In Ostdeutschland 24,6 Prozent Ausländer gegenüber 11,9 Prozent Deutschen. Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2011: statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Statistische-Analysen/Analytikreports/Zentrale-Analytikreports/Monatliche-Analytikreports/Generische-Publikationen/Analyse-Arbeitsmarkt-Auslaender/Analyse-Arbeitsmarkt-Auslaender-201103.pdf

Des Widerstands Zähmung

Erneut forcieren Politik und Unternehmer die Forderung nach Einschränkung des Streikrechts

Ein Funke genügte, das PR-Feuerwerk zu zünden: Deutschland brauche eine Regulierung des Streikrechts, sonst sei die Wirtschaft den Splittergruppen einer neuen Arbeiteraristokratie hilflos ausgeliefert. So der Tenor der „Streik-Debatte“ im Frühjahr 2012. Anlass war ein Ausstand der Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) im Bereich der Vorfeldarbeiter auf dem größten deutschen Flughafen in Frankfurt/Main. Während die GdF, die erkennbar eine Eskalationstaktik verfolgte, den Streik bis Mitte Februar zunächst hinauszögerte und dann auf wenige Stunden beschränkte, forderte Hundt, der Chef des Bundes Deutscher Arbeitgeber (BDA) eine gesetzliche Regelung des Streikrechts. Der Lobbyist der Bosse schwadronierte von Missbrauch, Erpressungspotenzial und „großen volkswirtschaftlichen Schäden“. Diese Schallplatte spielte Hundt bereits 2010 zugunsten der sogenannten „Tarifeinheit“. Nach dem Motto „ein Betrieb, ein Tarif“ heißt das nämlich Friedenspflicht für alle (siehe Kasten). Die gemeinsame Kampagne von Unternehmerverband BDA und Zentralverband DGB für die gesetzliche Verankerung der Tarifeinheit ist im vergangenen Jahr am innergewerk­schaft­lichen Protest gescheitert. Dass nun jede Gelegenheit ergriffen wird, eine Einschränkung des Streikrechts und des gewerkschaftlichen Spielraums zu fordern, zeigt: Es handelt sich bei der Debatte nicht um ein Strohfeuer, sondern um einen Schwelbrand.

Das Graffiti der Bosse: der Teufel an der Wand

Zurück nach Frankfurt im Februar 2012. Da die Tarifrunde im Öffentlichen Dienst noch bevorstand, hielt es wohl auch die Vereinigung kommunaler Arbeitgeber (VkA) für geboten, mit zu zündeln: „zügellose Splittergewerkschaften“ müssten per Gesetz gebändigt werden. In der Tat hatten die Beschäftigten auf dem Frankfurter Vorfeld ihre Gewerkschaft frei gewählt und sich bewusst an die Spartengewerkschaft GdF gewandt, nachdem sie sich von ver.di nicht vertreten gefühlt hatten. Sie nutzen das hohe Gut der Koalitionsfreiheit. Aber als die GdF in ihrer kontrollierten Eskalation schließlich die Fluglotsen zum Solidarstreik aufrief, lief die Betreibergesellschaft Fraport zu Gericht. „So ein Streik ist für die Gewerkschaft nicht mehr anstrengend“, lamentiert Jens Bergmann, der Geschäftsführer der Deutschen Flugsicherung, Anfang Juni in der FAZ. Inzwi­schen reiche schon die „Androhung der Androhung“, um Forderungen durchzusetzen. Das deutsche Arbeitsrecht, ein Arbeiterparadies!

Tatsächlich erwirkte die Fraport zwei einstweilige Verfügungen, die sowohl den Kampf auf dem Vorfeld als auch den Unterstützungsstreik verboten. Am 21. März kam es schließlich zu einer Einigung, über die bisher immer noch keine Details vorliegen. Am selben Tag erklärte Wirt­schaftsminister Rösler (FDP), „auf­grund der Ereignisse im letzten Monat“ seien die Arbeiten an einem Tarifeinheits-Gesetz wieder aufgenommen worden. Dass die Bundesregierung noch kein Gesetz präsentiert hat, ist sicherlich der komplizierten verfassungsrechtlichen Lage und dem Justizministerium geschuldet. Ob diese Hürden allerdings hoch genug sind, ist fraglich: Die SPD verkündet im Bundestag, „Tarifautonomie und Tarifeinheit gehören zusammen“ (H. Heil) und fordert, den Entwurf der Lobbyisten zur Gesetzesgrundlage zu machen. Auch für die CDU stellt die Tarifeinheit einen „hohen Wert“ (P. Weiß) dar: „im Interesse einer Befriedung der Tariflandschaft … und im Interesse einer verlässlichen Sozial­part­nerschaft“.

Unerheblich ist bei der ganzen Debatte offenbar, dass die diffusen Horrorszenarien, die seit der Abschaffung der Tarifeinheit durch das Bundesarbeitsgericht 2010 lautstark verbreitet werden, reine Fantasie geblieben sind: keine andauernde „Streikwelle“, kein Ins-Kraut-Schießen weiterer Spartengewerkschaften wie etwa der Feuerwehrleute, kein wirtschaftlicher Absturz, nichts. Die Streikaktivitäten erreichten dem WSI-Institut zufolge auch 2011 nicht das Vorkrisenniveau. Aber die Unternehmerverbände ficht das nicht an. In einer Münchner Erklärung erheben sie die Tarifeinheit neben Staatsschulden, Energiewende und Fachkräften zu einer von vier „Weichen für die Zukunft“.

Freiheit und Recht – immer umkämpft

Für emanzipatorische Bestrebungen ist das Streikrecht, sind seine Existenz und seine Wahrnehmung elementar. Dem dürfte auch der Jurist und ehemalige Vorsitzende der IG Medien (heute ver.di) Detlef Henschel zustimmen. Henschel betonte im Mai bei einer Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung über „Politische Streiks im Europa der Krise“ den grundlegend demokratischen Charakter dieser Aktionsform. Schließlich setze man damit ein kollektives Gegenrecht gegen die täglichen Einschränkungen durch abhängige Arbeit. Der Streik sei eine Grundlage für zivilgesellschaftliche Kompetenz und Kapazität. Etwas volkstümlicher fasste das Tom Adler, linker Metaller bei Daimler, mit Blick auf die jüngsten Warnstreiks der IG Metall: Sollte es zu Streiks kommen, wäre das „ein Szenario, das politisch hochinteressant wäre“, denn das seien immer Momente, in denen „die Köpfe aufgehen“. Man könnte ergänzend hinzufügen, dass ein solcher Ausbruch aus Alltag und Normalität durch den ökonomischen Hebel, den er kollektiv in Anschlag bringt, zu den schweren Geschützen im Arsenal emanzipatorischer Hand­lungs­optionen gehört.

Betroffen von den Bondage-Gelüsten der Bosse und von der Knebelung durch bestehendes Recht sind keineswegs nur die Spartengewerkschaften. Das hob Henschel bei der Tagung der Luxemburg-Stiftung hervor: Derzeit kämpfen insbesondere ver.di und die GEW für Beamten- und kirchliches Streikrecht. Die Vorgehensweise zur Änderung und Liberalisierung der herrschenden Rechtsprechung sei der kalkulierte Gesetzesverstoß durch die tatsächliche Streikpraxis. Das birgt durchaus Risiken: Zuletzt verneinte das Oberverwaltungsgericht NRW im März 2012 ein Streikrecht von Beamten. Insgesamt aber scheint sich der DGB nur aus taktischem Kalkül von der gemeinsamen Initiative mit den Bossen zurückgezogen zu haben. So warf DGB-Chef Sommer Anfang Mai in einem Interview abermals alles in einen Topf und erklärte als sei dies ein und dasselbe: „Auch die Tarifein­heit und die Tarifautonomie müssen wie­der gestärkt werden. … Ich erwarte von der Politik, dass sie sich endlich dazu durchringt, die Arbeitswelt klaren Regeln zu unterwerfen.“ Anfang Juni immerhin gibt man sich zerknirscht. Auf einer Veranstaltung der neoliberalen Regulierer bezweifelte man, dass noch vor der nächsten Bundestagswahl ein entsprechendes Gesetz verabschiedet werde: Derzeit bestehe „kein politischer Wille, dies umzusetzen“.

Die Geisterbahn geht weiter

Unterstützung im Kampf für die „halb tote Idee“ (Tagesspiegel) der Tarifeinheit erhielten ihre Anhänger derweil durch die Carl-F.-Weizsäcker-Stiftung. Mit Hilfe dreier Professoren legte die Stiftung im März einen weiteren Gesetzesentwurf vor, der das Streikrecht der Beschäftigten und Gewerkschaften ebenfalls einschränken und dabei bei den „Unternehmen der Daseinsvorsorge“ ansetzen will. Dass sich die „Da­seins­­vorsorge“ dabei vom Gesundheits- und Bildungswesen über Energiever­sorgung und Müllabfuhr bis hin zu Telekommunikation und Bargeldversorgung erstreckt, macht deutlich, dass es sich um einen Frontalangriff handelt, der keines­wegs nur gegen Spartengewerk­schaften gerichtet ist, sondern gegen starke Sektoren der Klasse, gegen potenzielle Speerspitzen der Gewerkschaftsbewegung. Die Professoren fordern eine Vorwarnfrist von vier Tagen, einen Min­destbetrieb im Streikfall sowie eine verpflichtende Teilnahme an einem staat­­lichen Schlich­tungsver­fah­ren. Be­rufs­gewerk­schaften müsst­­­­en für min­des­tens 15% der Belegschaft eintreten, wenn sie streiken. Insbesondere die Warnfrist und den Mindestbetrieb haben die Herren wohl aus dem französischen Gesetzbuch abgeschrie­ben. Würde der Entwurf hier­zulande Gesetz werden, würden die Rech­te der Beschäftigten deutlich stärker beschnitten als jenseits den Rheins. Denn nach Auffassung deutscher Arbeitsgerichte ist das nicht verbriefte Streikrecht kein Grundrecht der ArbeiterInnen, sondern an Gewerkschaften gebunden. Bereits darin sieht etwa die FAU eine schwerwiegende Verletzung des Rechts auf Streik, das als „ein grundsätzliches Menschenrecht aufzufassen [ist], auch wenn es effektiv nur kollektiv ausgeübt werden kann“, wie es 2011 in einem Positionspapier hieß. In die gleiche Richtung zielt ein – nicht unumstrittener – Wiesbadener Appell mit seinem Plädoyer für ein „umfassendes Streikrecht“ und für den politischen Streik. Umstritten u. a. deshalb, weil der Aufruf mit dem Tenor, in der Bundesrepublik gelte „weltweit das rückständigste und restriktivste Streikrecht“, effekthascherisch ein allzu düsteres Bild von den tatsächlichen Rah­men­bedingungen für Arbeit­erIn­nen­be­we­gungen zeichnet – und damit wie nebenbei die zurückhaltende Politik des DGB entschuldigt: Solange die Politik untätig bleibe, seien den Gewerkschaften die Hände gebunden. Soweit zum Hintergrund.

Unabhängig von der inhaltlichen Kritik des Aufrufs lässt die politische Großwetterlage jedoch nichts Gutes erwarten, sollte ein Streikrecht derzeit in Gesetzesform gegossen werden. Dies gilt auf Landesebene wie auf europäischer. So bedeutet der aktuelle Entwurf der sog. Monti-II-Verordnung über das „Recht auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und der Dienst­leistungs­frei­heit“ eine Einschränkung des Streik­­rechts. Ende Mai wurde der Entwurf der EU-Kommission, der eigentlich arbeit­neh­mer­feind­liche Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes hatte korrigieren sollen, vorerst von zwölf Landes­par­la­menten formaljuristisch abgelehnt – der Bundestag war bezeichnender Weise nicht unter diesen kritischen Stimmen zu vernehmen. Es geht jedoch noch schlimmer: In der Türkei, die immerhin eine Beitrittspartnerschaft mit der EU verbindet, verabschiedete das Parlament Ende Mai ein Gesetz, so berichtet die taz, wonach Luftfahrt-Beschäftigten ein Streik ganz verboten werden soll, um „übergeordnete Interessen des Landes zu schützen“. Einig sind sich die Gegner und die Befürworter eines liberalen Streikrechts wohl in einer Grundannahme, die Detlef Henschel so formulierte: „Jeder Streik ist politischer Natur.“

(A.E.)

Weitere Infos: www.fau.org/streikrecht & www.direkteaktion.org & www.rosalux.de

Infokasten 1: Streikrecht und Tarifeinheit

In der Bundesrepublik ist Streikrecht Tarifrecht, denn eine Arbeitsniederlegung darf nur mit dem Ziel eines Tarifvertrags organisiert werden. Der „Grundsatz der Tarifeinheit“ besagte seit 1957, dass in einem Unternehmen nur ein Tarifvertrag gelten könne. Die vertragliche Friedenspflicht schränkte somit auch die Handlungsfreiheit anderer Gewerkschaften ein. Seit 2010 ist mit der juristischen Absicherung dieses Platzhirsch-Effektes vorbei (Bundesarbeitsgericht, Aktenzeichen: 10 AS 2/10).

Infokasten 2: Schadensersatz abgelehnt

Eine Schadensersatzklage im Nachgang eines Streiks der Gewerkschaft der Flugsicherung im April 2009 wies das Arbeitsgericht Frankfurt Ende März ab. Zur Begründung wies die Richterin auf die Bedeutung der Gewerkschaften in modernen Gesellschaften hin: Sollten Gewerkschaften durch zu hohe Haf­tungsrisiken zu sehr behindert werden, könne „eine Lähmung der Entwicklung des sozialen Lebens“ eintreten (Aktenzeichen: 10 Ca 3468/11).

Vom Seminar zur Kasse

Über die Bedingungen im Nebenjob und die Möglichkeiten zur Gegenwehr

„Karriere-Machen bei REWE!“ steht auf dem riesigen Plakat neben dem Eingang des REWE-Marktes am Steintor in Halle (Saale). Dies denkt sich auch Tina, als sie sich beim Filialleiter vorstellt. Neben dem BWL-Studium will sie ihr spärliches BAFöG-Auskommen aufbessern. Sie wird eingestellt, und am nächsten Tag fängt sie nach einer kurzen Einarbeitung an der Kasse an zu arbeiten.

Kassieren und das Einräumen neuer Waren in die Regale gehört zu ihren Aufgaben. An einem Mittwoch Nachmittag schaut sie auf den Schichtplan und sieht, dass der Chef sie für nächste Woche vormittags eingeteilt hat, obwohl er weiß, dass sie zu dieser Zeit eine Pflichtveranstaltung an der Uni hat. Im Einstellungsgespräch hatte Tina den Chef ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie nur nachmittags arbeiten kann.

Sie geht in das Büro vom Chef und fragt ihn, was das zu bedeuten hat. Darauf angesprochen, antwortet der Patron, dass er nichts von ihren Wunschzeiten weiß, und überhaupt könne sie ja auch gehen, wenn sie nicht arbeiten wolle. Dieses willkürliche Verhalten des Arbeitgebers führt bei Tina zu einem Gefühl der Hilflosigkeit.

Diese Querelen und der mickrige Stundenlohn von 6,50 Euro sind nur der Anfang. Jeden Arbeitstag muss sie vor Schichtbeginn im Laden sein und regelmäßig eine halbe bis ¾-Stunde länger da bleiben. Diese Stunde unbezahlte Arbeit wird von ihr stillschweigend verlangt. Doch sie ist auf die Lohnarbeit angewiesen, um die Miete für ihre WG in der Innenstadt zu bezahlen, denn ihre Eltern können sie finanziell nicht unterstützen.

Mit der Ungewissheit im Minijob kommt ihre Kollegin Silvia auch nicht mehr zurecht. Die geringen Beiträge zur Rentenversicherung bereiten ihr Bauchschmerzen. Durch den Stress im Betrieb und die ständige Unsicherheit, dass ihr Vertrag nicht verlängert wird, bekommt die Vierzigjährige psychische Probleme. Die einzige Möglichkeit, die sie sieht, um die Qualen kurzfristig zu beenden, ist die Kündigung. Eine Betriebsgruppe oder ein kämpferischer Betriebsrat, die sie unterstützen könnten, existieren in dieser Filiale nicht. Somit wird sie das Arbeitsverhältnis sang- und klanglos beenden.

Doch das interessiert den Chef nicht, denn Tag für Tag erreichen ihn neue Bewerbungen von unerfahrenen jungen Studierenden, die ihr Studium mit einem Aushilfsjob finanzieren müssen.

Nach fünf Monaten hat auch Tina genug von ihrem Job bei REWE und reicht ihre Kündigung ein. Der Filialleiter ist erstaunt, dass sie es so lange in seinem Laden ausgehalten hat, und setzt seine Unterschrift unter die Entlassung. Nach einem Job bei Kaufland, im Callcenter und im Discounter REWE ist Tina jetzt wieder vollständig auf ihr BAFöG und das Kindergeld ihrer Eltern angewiesen. So­l­l­te sie ihren nächsten Minijob neben dem Studium beginnen, wird sie sicher­lich mehr mit ihren Kollegen sprechen und solidarische Beziehungen knüpfen. Denn nur durch den Austausch über die Arbeitsbedingungen kann ein kollektives Bewusstsein über Missstände entstehen, welches die Voraussetzung für Selbstorganisation am Arbeitsplatz ist.

Festangestellte ersetzen

Jeden Samstag sitzt Hans neun Stunden hinter der Kasse im Kaufland in Halle-Neustadt, wo er Waren einscannt und das Geld der Kunden entgegen nimmt.

Die 400 Euro, die er im Monat bekommt, spart er, um sich seinen Auszug aus der elterlichen Wohnung zu finanzieren. Sein Bachelorstudium „Management Natürliche Ressourcen“ hilft ihm an der Kasse nicht weiter, aber in ein paar Jahren wird er hier nicht mehr arbeiten. Die Durchgangsstation im Kaufland stellt für ihn eine interessante Erfahrung dar, doch er merkt schon, dass er und seine Kommilitonen an der Kasse für die Festangestellten eine ernsthafte Bedrohung darstellen. 60% aller Angestellten haben Teilzeitverträge und nur 40% sind Festangestellte, mit diesen hat sich Hans aber noch nicht wirklich auseinander gesetzt: „…ich weiß nur, dass die teilweise so viel verdienen, wie wir als Pauschalkräfte, also an die 400 € ungefähr im Monat…“

Die vielen Teilzeitkräfte sind für den Filialleiter günstiger, als die erfahrenen Festangestellten mit ihren hohen Lohnnebenkosten (Arbeitslosen-, Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung). Diese Relikte einer vergessenen Zeit stellen ein Wachstumshemmnis dar und können durch Teilzeitverträge mit deutlich geringeren Sozialabgaben ersetzt werden.

Hans findet diese Entscheidungen ungerecht, dennoch muss er nicht sein Gehalt durch ALG 2 aufstocken wie seine älteren Kollegen, sondern verdient sich lediglich etwas dazu, damit er sich ab und zu mal etwas leisten kann und um etwas unabhängiger von seinen Eltern zu werden. Aber nach sechs Monaten kündigt Hans selber bei seinem Chef, da er es nicht gut findet, dass alleinerziehende Mütter gekündigt werden, um durch junge besser ausbeutbare Teilzeitkräfte ersetzt zu werden.

Die Studierenden, die anderen Job­berInnen und die Festangestellten werden gegen­einander ausgespielt. Wer den Job nur als vorübergehende Geldbeschaffung sieht, denkt sich vielleicht auch, dass er wenig mit den festangestellten Kollegen zu tun hat. Und akzeptiert auch öfter die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der alteingesessenen KollegInnen. Wer die Auf­weichung des Arbeitsrechts nicht hinnehmen will, steht oft alleine da.

Solidarität entwickeln

Durch die hohe Fluktuation am Arbeitsplatz kann ein ruhiger Austausch zwischen den Kollegen nur schwer stattfinden. Die vielen verschieden Arbeitsverträge (Festangestellte, Teilzeitkräfte, Leiharbeit, Praktika,…) sorgen für eine Verwirrung über die Anstellungsverhältnisse.

Außerdem gibt es auch Unterschiede zwischen den studierenden JobberInnen, häufig wollen sich Studierende etwas dazu verdienen, um unabhängig von ihren Eltern zu werden oder auch um einfach erste Erfahrungen im Arbeitsleben zu machen. Aber einige KommilitonInnen sind auf das Einkommen aus dem Nebenjob angewiesen, um wie Tina ihre Miete zu bezahlen.

Ein Student mit neun Wochenstunden identifiziert sich wahrscheinlich weniger mit seinem Arbeitsplatz und seinen KollegInnen, als eine Kassiererin, die 40 Stunden in der Woche im Betrieb ist. Wenn diese Frau gegen die Verschlechterung ihrer Arbeitsverhältnisse kämpft, so kann es durchaus vorkommen, dass die Pau­schal­kräfte sich nicht solidarisieren oder überhaupt gar nicht wissen, dass in ihrem Betrieb ein Arbeitskampf statt findet. Die Arbeitsbedingungen des Festangestellten nähern sich auch immer mehr denen der 400-€-Jobber an. Doch gegen diese Verschlechterungen einen effektiven Widerstand aufzubauen, kann nur gelingen, wenn die imaginäre Grenze zwischen den verschiedenen Statusgruppen eingerissen wird.

Hilfe kann man sich auch von außen holen. So bietet beispielsweise das Hochschulinformationsbüro (HIB) des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Halle Arbeitsrechtsberatungen für studentische JobberInnen an und kann auch Kontakte zu DGB-Gewerkschaften und Betriebsräten im Discounterbereich herstellen. Allerdings wird die Beratung wohl kaum über individualarbeitsrechtliche Fragen hinauskommen, und für klassenkämpferische Positionen sind die DGB-Gewerkschaften ohnehin nicht bekannt.

Anders hingegen verhält sich die Anar­cho­syndikalistische Jugend (ASJ) Berlin mit ihrer Kampagne „Jung und Billig“. Auf ihrer Website findet man brauchbare Hinweise, wie man einen Austausch im Betrieb organisieren kann. Wer neben dem Studium einen Minijob in einem Supermarkt macht, findet dort allerhand rechtliche Tipps und kann auch seine Erfahrungen auf der Seite hochladen, damit andere Leidens­ge­noss­Innen nicht die selben Fehler begehen.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass eine breite Diskussion über studentische Arbeitskräfte mehr als nötig ist, denn Studierende werden oft genug als billige Arbeitskräfte ausgenutzt, da sie wenig Erfahrungen in Sachen Arbeitsrecht aufweisen können. Viele Unternehmen in Universitätsstädten sind auf die kostengünstigen und handzahmen Hilfskräfte angewiesen, um auf deren Kosten Profit zu erwirtschaften. Eine Organisierung von Studierenden am Arbeitsplatz und eine Solidarisierung mit erfahrenen ArbeiterInnen im Betrieb könnte dem Niedriglohnsektor in Deutschland eine wichtige Stütze nehmen.

(Willi Kufalt)

Die „Jung und Billig“-Kampagne der ASJ-Berlin im Internet:
www.minijob.cc

Lokales

Go, Horst, go!

Manche Ideen sind viel zu naheliegend… Im Januar 2013 sind wieder OBM-Wahlen. Da braucht auch der örtliche CDU-Anhang einen Kandidaten. Und wer wäre dafür besser geeignet als der notorische Horst Wawrzynski? Die CDU und der Polizei­prä­sident – passt wie der Schlagstock aufs Auge.

Zum Glück kann Horst nicht nur die Dirty-Harry-Pose, sondern zur Not auch ultrabrutal menscheln: „Ich kenne die sozialen Brennpunkte, die Sorgen der ‘kleinen Leute’ und die schlechten Straßen. Ich weiß von den Schulruinen, den fehlenden Kitas und vielen anderen drängenden Problemen. Als Polizeipräsident konnte ich das nicht ändern – als Oberbürgermeister werde ich es ändern!“ Wackere Worte. Aber die Sorgen der kleinen Leute lösen sich vermutlich nicht in Luft auf, wenn man mal ordentlich draufhaut…

Aber wenigstens wissen wir jetzt, was diese ständigen „Kom­plex­kontrollen“ sollen. Großrazzien und flächendeckendes Filzen – wenn das keine clevere Werbestrategie ist! Als frischgebackener OBM-Kandidat muss man sich eben um Bürgernähe bemühen. Oder in Wawrzynskis eigenen, erfrischend ungelenken Worten: „Der Dienstleistungsgedanke für den Bürger liegt mir wirklich am Herzen“. Manch Bürger hat sich bei so viel Nähe schon üble Platzwunden zugezogen. Aber Schwamm drüber, „ein Oberbürgermeister ist kein Schönwetterkapitän“, sondern muss „Entscheidungen fällen und Verantwortung übernehmen“. Genau! Knüppel oder Pfefferspray, das ist hier die Frage…

justus

Occupy in deutschen Landen

Ein Blick in und über den Tellerrand der Blockupy-Protesttage in Frankfurt  

Die Welt kennt eine neue Bewegung: Occupy. Angestoßen durch die Aufstände in Tunesien und anderen arabischen Staaten, emporgestiegen während der spanischen, griechischen und israelischen Sozialproteste 2011 und populär geworden durch die US-ameri­kanische Occupy-Wall-Street-Bewegung, ist Occupy zum Sammelbegriff für soziale Proteste und Bewegungen rund um den Globus geworden. Occupy wurde zum Label, es steht sowohl für die Besetzung öffentlicher Plätze in den verschiedensten Städten und Weltregionen, als auch für die Empörung verschiedenster Menschen. Sie prangern soziale Missstände an, wollen etwas in Politik und Wirtschaftsausrichtung grundlegend ändern. Sie werden laut. Auch in Deutschland – ein wenig.

Offenheit zeichnet die Bewegung aus – Vielfalt wird da zum Programm: Nicht nur die Ausgangslage und die darauf aufbauenden Protestausrichtungen sind in den jeweiligen Staaten sehr unterschiedlich. Auch auf lokaler Ebene zeichnet sich das Spektrum der Aktivist_innen vor allem durch seine Unterschiedlichkeit in Kritik und Utopie aus.

Diese Offenheit und Diversität ist auch ein Grund, weshalb viele politisch aktive Menschen hierzulande meist skeptisch reagieren, wenn vom deutschen Ableger der Occupy-Bewegung die Rede ist. Befremdlich wirkt es, wenn die deutschen Proteste mit den Revolutionen im arabischen Raum oder der US-amerikanischen Protestbewegung in Zusammenhang gebracht werden. Ist das hierzulande denn eine soziale Bewegung? Welche aktuellen Missstände werden wie thematisiert? Welchen Anspruch an gesellschaftliche Veränderung haben die? Und wer sind die überhaupt? An Skepsis und Vorurteilen mangelt es uns sicher allen nicht, beim Versuch, sich die Occupy-Proteste im deutschen Lande vorzustellen. Mitte Mai 2012 gab es die Gelegenheit einen direkten Einblick zu bekommen und die eigene Kurzschlüssigkeit kritisch zu hinterfragen – bei den Blockupy-Protesttagen in Frankfurt am Main.

Die Aktionsplanung zu den drei Protesttagen klang vielversprechend: Zurückeroberung des öffentlichen Raumes durch vielfache Camps und Platzbesetzungen. Einen Tag später die Blockade des Bankenviertels, bei der vor allem die europäische Zentralbank (EZB) bestreikt und blockiert werden sollte. Parallel sollte die Innenstadt mit politischen Inhalten und kreativen Aktionen „geflutet“ werden. Die Aktivist_innen waren angehalten sich anhand verschiedener Themenfelder zu organisieren: Ökologie, Militarisierung, Prekarisierung, Migration, Recht auf Stadt, Care-Work, Krieg und Krise, Rechtspopulismus und Soziale Revolution. Eine Großdemonstration am dritten Tag sollte dann die Aktionstage vorerst abschließen.

Bankfurt blockieren

Ein breiter Zusammenschluss aus Gruppen und Aktivist_innen organisierte das Happening. Sie kamen aus der Occupy-Bewegung, Erwerbsloseninitiativen, Krisenbündnissen, Gewerkschaften, Attac, Studierendenorganisationen, linken Parteien sowie diversen Initiativen mit antirassistischer, antifaschistischer, migrantischer, umwelt- und friedenspolitischer Ausrichtung. Zentraler logistischer Angelpunkt für die Aktivitäten sollte v.a. das Occupy-Camp sein – ein seit Oktober 2011 bestehendes Zeltlager direkt vor der EZB. Die Stadt Frankfurt machte jedoch diesem Plan einen kräftigen Strich durch die Rechnung. Sie ließ nicht nur das Camp ein paar Tage vorher räumen (wenn auch die Besetzer_innen nach den Aktionstagen zurückkommen durften), sondern reagierte gleich mit einem umfassenden Verbot aller Aktivitäten rund um die Aktionstage. Obendrein wurde jede Menge Angst geschürt und Ablehnung von der Frankfurter Bevölkerung forciert. Die medial gemalten Horrorszenarien führten sogar so weit, dass einige Läden vorsorglich ihre Schaufensterware beiseite schafften. Obendrein wurden 15.000 Polizist_innen aus der ganzen Bundesrepublik geordert, um den sog. „Extremist­_innen“ aus ganz Europa das erwartete Steinewerfen zu versauern. Zwar wurde schlussendlich das Verbot der Großdemonstra­tion am dritten Tag zurückgenommen, dennoch waren die Ausgangsbedingungen für die Protesttage äußerst schwierig. Als Sammelort für die Aktivist_innen blieb fast nur der Unicampus in Bockenheim, und die Versuche, am ersten Tag weitere innenstadtnahe Plätze zu besetzen, scheiterten an rigorosen Kesselungen, Räumungen und Ingewahr­samnahmen (an allen drei Tagen wurden zusammen ca. 1500 Menschen für gewisse Zeit weggesperrt).

Auch lagen die Erwartungen bei der Zahl der aktiven Blockupierer höher, als die Realität zeigte. Während am ersten Tag mehrere hundert Menschen versuchten Plätze zu besetzen, wuchs die Anzahl am Bankenbesetzungstag auf ca. 2000 (einige Busse wurden von der Polizei an der Einfahrt in Frankfurt gehindert). Insgesamt viel zu wenig, um eine solche Blockade wirklich umsetzen zu können. So endete auch der zweite Tag für Hunderte mit Kesselungen und Gewahrsamnahmen. Allerdings gelang es ca. 50-200 Menschen für kurze Zeit vor der EZB-Absperrung auszuharren. Auch wenn die Aktion intern insgesamt als Erfolg gewertet wurde, da die EZB ja durch die Polizei schon abgesperrt war und im Bankenviertel auch ohne Blockade kein Normalzustand herrschte, scheiterte die eigentliche Besetzung. International und innerhalb der EZB hat sie wenig Aufsehen erregt.

Mehr Aufmerksamkeit gab es hingegen für jene Aktivist_innen, die im Zentrum inhaltliche Aktionen machten, zum Beispiel zum Thema Landraub im globalen Süden. Allerdings war die Innenstadt ob der angekündigten Proteste weitaus menschenleerer als an anderen Tagen (der Einzelhandel beklagte sich übrigens im Nachhinein über einen Umsatzverlust in Höhe von ca. 10 Millionen Euro). Von und für die Blockupierer und andere Interessierte wurden zudem einige inhaltliche Workshops und Veranstaltungen angeboten, auf denen sich bspw. mit verschiedenen sozialen Bewegungen in Europa, dem sog. Arabischen Frühling, der Schuldenproblematik und dem Fiskalpakt sowie der Occupy-Bewegung an und für sich auseinandergesetzt wurde. Auch die bekannten Gesellschaftskritiker und Buchautoren Michael Hardt („Empire“) und David Graeber („Inside Occupy“) füllten den Saal am Bockenheim-Campus und philosophierten über die systemische Krise und das Potential der neuen globalen sozialen Bewegung.

Insgesamt verdeutlichte die Staatsmacht in diesen ersten zwei Tagen vor allem eines: Ihren Willen, das reibungslose Funktionieren der Banken zu schützen. Die Blockupy-Organisator_innen hingegen verdeutlichten sowohl ihren inhaltlichen Anspruch und die Entschlossenheit, was das Blockadevorhaben betraf, als auch ihr Verständnis von Selbstorganisation und Basisdemokratie. Die Aktivist_innen wurden eingebunden, ohne auf starre Hierarchien und Organisationsdominanzen zu stoßen.

Ein rundes Bild der Protesttage lässt sich jedoch nur unter Einbeziehung des dritten Tages malen. Dieser wirft ein ganz anderes Licht, zumal die letztlich doch ge­nehmigte Demonstration ca. 25.000 Menschen aus ganz Europa anlockte.

Größe demonstrieren

Die Demonstration am Samstag wirkte wie eine kleinformatige Mischung aus Protestmärschen, die mensch vom G8-Gipfel in Rostock oder den ersten Berliner Hartz4-Protesten 2004 kennen mag. Die Veranstalter_innen zeigten sich zufrieden, dass so viele Menschen dem Aufruf folgten und – entgegen der medial verbreiteten Prognosen – vollkommen friedlich durch Innenstadt und Bankenviertel zogen. Die Assoziation mit vergangenen globalisierungskritischen und sozialen Protesten war vor allem auch dem extrem breiten Spektrum geschuldet, das sich in verschiedenen bunten Blöcken formierte. Während in den ersten zwei Tagen die Organisationszugehörigkeit der jeweiligen Aktivist_innen kaum erkennbar war, kam sie nun stärker zum Vorschein. Mit entsprechenden Fahnen, Plakaten, Transparenten, Lautis, Sprechchören und Flyermaterial machten die Gruppen auf sich aufmerksam und verbreiteten ihre Kritik an der Krisenpolitik und dem kapitalistischen System sowie ihre Utopie einer „besser“ organisierten Gesellschaft. Der gemeinsame Nenner Aller bestand in der Ablehnung der derzeitigen europäischen Finanzpolitik insbesondere des Fiskalpaktes (1). Die Politik der sog. Troika (2) wurde scharf kritisiert, da von dieser lediglich Banken und transnationale Unternehmen profitieren, während den Griechinnen und Griechen rigorose soziale Kürzungen aufgezwungen werden. Ein verbindendes Ziel bestand in der Demonstration von Solidarität mit den Sozialprotesten, die in Griechenland und in anderen Weltregionen stattfinden. Dabei wurde vielfach auch der hiesige Sozialabbau scharf kritisiert.

Ansonsten war die Diversität bei der inhaltlichen Problemanalyse, den Lösungsrezepten und den Vorstellungen einer „besseren“, „gerechteren“ oder „befreiten“ Gesellschaft so hoch wie das organisationale Spektrum breit war: Man konnte zahlreiche antikapitalistische (Splitter-)Gruppierungen entdecken, die wahlweise sozialistisch, kommunistisch, marxistisch-leninistisch-maoistisch oder anarchistisch orientiert waren, mal auf die LINKE Partei oder andere, sog. revolutionäre Parteien als Lösung setzten oder den Parlamentarismus ganz abschaffen wollten. Das gewerkschaftliche Spektrum erstreckte sich von der anarchosyndikalistischen FAU über ver.di, IG Metall bis hin zur IG BCE. Während erstere ihre hohe Mobilisierungsfähigkeit zu dieser Thematik durch einen eigenen Demoblock verdeutlichten, traten die DGB-Aktivist_innen eher durch vereinzelt auftauchende Fähnchen in Erscheinung. Darüber hinaus demonstrierten auch zahlreiche Gruppen, deren originäres politisches Handlungsfeld eher in anderen Themenfeldern liegt, wie bspw. Stuttgart-21-Gegner_innen, das Tierbefreiungs-Aktionsbündnis, das Befreiungstheologische Netzwerk und Friedensbewegte. Relativ großen Raum nahm neben Attac der selbsternannte „antikapitalistische Block“ ein, zu dem die Interventionistische Linke und Ums Ganze aufgerufen hatten. Hier war der Großteil der Leute eher „individuell“ unterwegs und machte v.a. mit inhaltlichen Plakaten, Sprechchören und Transparenten auf Themen aufmerksam. Auch der so genannte Schwarze Block fehlte nicht und wurde – zum Ärgernis aller Anwesenden – von hoch ausgerüsteten und behelmten Beamt_innen umrahmt und provoziert.

Neben der „Grup­­pen­­­zu­ge­hö­rig­keit“ spie­gel­­­ten v.a. Sprech­­chöre und unzählige Flyer das breite und zum Teil widersprüchliche Spektrum wider. Während dem Großteil der Protestierenden wohl die Ablehnung gegenüber dem kapitalistischem Wirtschaftssystem als Ganzes unterstellt werden kann, gab es auch Flugschriften, die lediglich die Bändigung des sog. „Raubtiers“ – sprich die entkoppelte Finanz- und Spekulationswelt – mittels staatlicher Regelungen forderten, um zu einer sozialeren Marktwirtschaft zurückzukehren. Einigkeit hingegen bestand darin, dass die Proteste nicht von Rechten vereinnahmt werden dürfen – dementsprechend häufig wurde auch in Flyern auf die Gefahr einer Verkürzung der Kapitalismuskritik auf die „Gier“ einzelner Unternehmer aufmerksam gemacht. Statt zu personifizieren und damit die Tür für Verschwörungstheorien, nationalem Ausschluss von Menschen und Antisemitismus zu öffnen, wurde auf vielen Flyern das Wirtschaftssystem in seiner Funktion kritisiert.

Noch deutlicher wurde das Spannungsfeld der Positionen, wenn es um die Problematisierung der Rolle der politischen Akteure bzw. das parlamentarische Politiksystem in der Krise ging. Nahezu alle Facetten waren vertreten: angefangen von der Meinung, dass lediglich die „falschen Köpfe“ an der Macht seien, weil sie sich von den Banken bevormunden ließen, bis hin zu anarchistischen Positionen, in denen der Parlamentarismus als Herrschaftssystem für die Ausbeutungsverhältnisse mitverantwortlich gemacht und abgelehnt wird. Dem entgegengesetzt wird eine gesellschaftliche Organisation, die auf direkte politische Partizipation und Mitbestimmung setzt. Wie sehr das nationalstaatliche Konstrukt als solches kritisch betrachtet wurde, verdeutlichten die Demon­strant­_innen z.B. indem sie wahlweise ein Hoch auf die antinationale oder internationale Solidarität im Chor skandierten.

Eine Besonderheit der Demonstration war die hohe Präsenz von Menschen aus anderen vorwiegend europäischen Ländern und die explizite Verortung in einen globalen (Occupy-) Protestzusammenhang. Zudem zeichnete die Demo die Verbindung und Gleichzeitigkeit von globalen und lokalen Themen aus – im Unterschied zu bekannten globalisierungskritischen Protesten.

Da das hohe Polizeiaufgebot, die umfassenden juristischen Verbote und die negative Stimmungsmache so unverhältnismäßig zu den friedlich verlaufenden Protesttagen stand, musste die Stadt Frankfurt im Nachhinein einiges an Kritik einstecken. Dies könnte vielleicht künftige Aktionstage in Frankfurt zumindest logistisch erleichtern.

Teil einer globalen sozialen Bewegung?

Soweit so gut. Doch was verdeutlichen die Blockupy-Protesttage für den Stand der deutschen Occupy-Bewegung? Kann mensch hier von einer neuen sozialen Bewegung sprechen? In welchem Verhältnis steht sie zu den globalen Protesten?

Zunächst muss unterschieden werden, zwischen den Blockupy-Protesttagen, die als Mobilisierungskampagne angelegt waren, und der „Occupy-Bewegung“, die in Deutschland v.a. durch Demonstrationen in verschiedenen Städten am 15. Oktober 2011 und dabei entstandene Protestcamps auf öffentlichen Plätzen in Erscheinung trat. Zwar nimmt die Blockupy-Kampagne ausdrücklich Bezug zur Bewegung und das Occupy-Camp in Frankfurt war maßgeblich in die Organisation eingebunden. Während das eine jedoch als punktuelle Kampagne erscheint, haben die Occupierer deutschlandweit den Anspruch, durch dauerhafte Präsenz im öffentlichen Raum auf die soziale Ungleichheit aufmerksam zu machen. Dabei versteht sich die Bewegung als offen – offen für alle Menschen und offen für verschiedene Vorstellungen, wie der Reichtum der Gesellschaft gerecht verteilt werden könnte. Die 99%, für die die Occupierer (medienwirksam) stehen wollen, bezeichnen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die weitgehend leer ausgeht bei der Verteilung des Kuchens. Gemein ist den Occupy-Aktivist_innen, dass sie sich basisdemokratisch organisieren, echte politische Partizipation und Teilhabe fordern und den Neoliberalismus bzw. Finanzkapitalismus als ungerecht kritisieren. Statt dessen stehen sie für eine „ethische Wende“, die den Menschen und die Natur in den Mittelpunkt rückt. Ein festes politisches Programm vertreten sie nicht. Ebenso wenig stellen sie eine feste Organisation dar, starre Hierarchien werden abgelehnt. Allerdings haben die einzelnen Aktivist_innen ihre jeweiligen politischen Visionen und auf lokaler Ebene wird oft bündnisorientiert zusammengearbeitet. Auf der organisatorischen Ebene zeichnen sich die Occupierer und Campierer v.a. durch partizipative Kommunikationsstruk­turen aus: Entscheidungen werden konsensorientiert in öffentlichen Versammlungen getroffen, die in Anlehnung an die spanischen Sozialproteste Asamblea genannt werden. Miteinander gehört zur Occupy-Identität, auch in der Kommunikationspraxis (siehe Artikel S.18f). Neu ist vor allem die Verortung als globale Bewegung und die fortwährende Bezugnahme und So­li­­da­ri­täts­bekundungen zu weltweit stattfindenden Sozialprotesten. Die mediale Vernetzung, u.a. über soziale Netzwerke ist auch ein wesentliches Kennzeichen dieser neuen Bewegung.

Die deutsche Occupy-Bewegung teilt all diese Ansprüche und in sechs Städten gab (und z.T. gibt) es öffentliche Protestcamps – wie bspw. in Frankfurt seit dem 15. Oktober 2011 vor der EZB. Dort gab es vor allem vor den kalten Wintertagen auch wöchentliche Diskussionsveranstaltungen, um mit möglichst vielen Menschen aus der Bevölkerung in Kontakt zu kommen. Zwar hat sich die Außenwirkung des Zeltlagers im Laufe der Zeit vom Protestcharakter zum Campcharakter gewandelt und inhaltliche Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen mitwirkenden Gruppen trugen zu Spaltungen bei. Dennoch haben die Blockupy-Protesttage bei vielen dort wieder für Motivation gesorgt, die lokalen sozialen Kämpfe mit neuem Schwung anzugehen.

Im Vergleich zu anderen Weltregionen fallen die Proteste hierzulande jedoch recht klein aus. So waren die größten Demonstrationen, die zwischen 100.000 und 500.000 Menschen anzogen, in Madrid, Barcelona, Rom und Valencia. An der Demo in Oakland (USA) nahmen ca. 50.000 Menschen teil, glatt doppelt so viele wie Mitte Mai in Frankfurt. Unter diesem Licht betrachtet bewegt sich relativ wenig in Deutschland. Zwar kann man von einer Bewegung sprechen, da noch keine Institutionalisierungen stattfinden, allerdings erscheint die Anzahl, Entschlossenheit und Ausdauer der Aktivist_innen hierzulande derzeit nicht ausreichend, um sie als neue soziale Bewegung zu bezeichnen. Dazu fehlt es vor allem an einem gemeinsamen Bezugspunkt, um den sich die Menschen der verschiedensten Lebens- und Einkommenswelten sammeln und gemeinsam kämpfen können. Notwendig wäre eine konkrete inhaltliche Basis, was für Veränderungen angestrebt werden und wie eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus funktionieren sollte. Eine auf Ausdauer ausgerichtete Bewegung benötigt einen gemeinsamen „politischen Korridor“ (3) der zu einem Ak­tions­konsens führt und dennoch viel Raum für eine Vielfalt an Positionen lässt. Zudem würde ein aktueller Anlass, wie er bspw. bei den extremen Sozialkürzungen in Griechenland und Spanien besteht, die Formierung einer solchen sozialen Bewegung begünstigen. Diese Art der Kürzungen sind in Deutschland allerdings schon vor 10 Jahren mit der Agenda 2010 und den Hartz4-Gesetzen beschlossen wurden. Leider reichte schon damals die Empörung hunderttausender Menschen nicht aus, um die Reformen zu kippen. Die sozial prekären Biographien werden sich selbst überlassen, Probleme sind individualisiert. Außenpolitisch wird den Deutschen zudem medial suggeriert, ihre Steuergelder würden massenhaft in die Taschen „fauler Griechen“ fließen. Demzufolge hält sich auch die Empörung über den geplanten Fiskalpakt in Grenzen. All das sind schlechte Ausgangsbedingungen für einen Protest, der einerseits eigene soziale Missstände und andererseits auch die problematische Rolle der deutschen Wirtschaft als Krisengewinner anprangern will. Es scheint, als komme die Bewegung in Deutschland aus der Tradition der globalisierungskritischen Bewegung, die unter dem Occupy-Label nun versucht auch deutsche soziale Missstände thematisch zu integrieren und die Menschen inhaltlich gegen den Kapitalismus zu radikalisieren. Zu kämpfen hat sie dabei zudem mit Spaltungstendenzen zwischen „Bürger_innen“, wahlweise „Arbeiter_innen“ und „Linken“. Die Gräben wirken zu groß, um über symbolische Großdemonstrationen hinaus (wie sie in Frankfurt stattfanden) gemeinsam gegen herrschende Verhältnisse aktiv zu werden. Dieses altbekannte Problem haben überhaupt nur die „echten“ neuen sozialen Bewegungen überwinden können – in Deutschland z.B. die Anti-Atomkraft-Bewegung. Diese zeichnet sich außerdem durch vielfältige Aktivitäten verbunden mit einem langem Atem aus.

Aktivitäten sollten dabei auch über die symbolische Wirkung hinaus gehen, um wirklich zu bewegen – z.B. durch gemeinsame Streiks. Den sich als Occupy-Bewegung verstehenden Aktivist­_innen in Deutschland mangelt es sicher nicht an Willen und Plänen, ihre Bewegung zu einer neuen sozialen Bewegung werden zu lassen. Die Protestcamps, die regelmäßigen Demos und Veranstaltungen, die Offenheit gegenüber allen Bevölkerungsgruppen und der Versuch der direkten Aktion mittels einer Blockade der EZB sind Beispiele dieser Bestrebungen. Ihr Erfolg jedoch wird davon abhängen, wie viele Menschen bereit sind, mit ebenso großer Entschlusskraft auf diesen Zug aufzuspringen. Im Moment scheint diese Bereitschaft zu wachsen – auch wenn sie im internationalen Vergleich betrachtet relativ gering ist. Nimmt man hingegen Occupy in seinem Anspruch ernst, eine globale soziale Bewegung zu sein, dann erscheinen die Proteste hierzulande als Teil eines großen Ganzen. Unter dieser veränderten territorialen Brille ist Occupy gleichwohl eine soziale Bewegung – schließlich ist die Anti-Atomkraft-Bewegung in Bayern auch nicht so stark wie im Wendland. Vielmehr noch ist sie eine neue globale soziale Bewegung, und der Anteil in Deutschland ist durchaus wichtig, gerade weil hier auch die Profiteure des globalen Kapitalismus sitzen.

Wer nicht kämpft, hat schon verloren

Auch wenn die deutsche Occupy-Bewegung im Vergleich zu anderen Weltregionen noch nicht so recht in Schwung gekommen ist, so hat sie dennoch Potential, im Rahmen einer neuen transnationalen Bewegung in die Geschichte einzugehen. Dafür jedoch bedarf es hier einerseits mehr Partizipation und Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen und andererseits einer gemeinsamen politischen Agenda. Die Offenheit der Bewegung ist dafür Hindernis und Chance zugleich. Sie sollte nicht als Beliebigkeit oder Profillosigkeit vorschnell abgetan werden. Denn sie ist Programm, um eine kritische Mehrheit der Menschen darunter zu vereinen. Dieser Mehrheit dann einen gemeinsamen politischen Rahmen zu geben und konkrete Inhalte festzulegen für die langfristig zusammen gekämpft wird, wäre der zweite notwendige Schritt (3).

Dass es für tatsächliche Umbrüche gegen diese herrschenden Verhältnisse immer das Zusammenwirken einer sonst sehr gespaltenen Menschenmasse braucht, sowie Kräfte, die sowohl innerhalb etablierter Systemstrukturen als auch von außen gegen diese aktiv werden, ist nicht neu und hat die Geschichte auch schon etliche Male bewiesen. Ebenso lehrt uns die Geschichte, dass erst nach dem Durchbruch einer sozialen Bewegung absehbar wird, welche der Kräfte und Strömungen sich durchsetzen und was sich genau verändert. Aber impliziert das, dass sich das Engagement in sozialen Bewegungen von vornherein nicht lohnt, weil die Menschen in ihren Utopien so unterschiedlich sind? Wohl kaum – allerdings sollte es zu kritischer Achtsamkeit sensibilisieren, welche Kräfte versuchen sich an die Spitze etwaiger Bewegungen zu stellen. Allgemein gesprochen ist diese Kontroverse sogar äußerst fruchtbar, weil daraus Menschen erwachsen, die ihre eigenen Positionen kritisch reflektieren und weiterentwickeln. Eine wirklich herrschaftsfreie Gesellschaft kann nur aus einem Nährboden erwachsen, der von einer politischen Kontroverse zeugt, und in dem die politisch bewussten Menschen auch das Recht haben, sich in ihren Einstellungen zu unterscheiden. Eine „rebellierende Demokratie“ ist nicht homogen, wohl aber radikal gegen das staatliche Herrschaftssystem gerichtet (4). Die Occupy-Bewegung kann solch ein Nährboden sein und werden, sofern ihre Offenheit nicht für reformistische Schönheitskorrekturen ausgenutzt wird. Die wirkliche Herausforderung der Occupy-Bewegung besteht in ihrer glokalen Verortung – gleichwohl ist es auch ihre große Chance.

(momo)

(1) Im Fiskalpakt werden finanzpolitische Entscheidungen von Nationalstaaten an die EU-Ebene abgetreten. Damit einher geht v.a. eine Neuverschuldungsobergrenze, die an hohe Strafen gekoppelt wird und finanzschwache Ökonomien zu Sozialkürzungen verpflichtet. Der Fiskalpakt wird als Notwendigkeit argumentiert, um die europäische Staats­schuldenkrise in den Griff zu bekommen. Ausschlaggebend für diese Schuldenkrise waren v.a. die Rettungspakete an die Banken. Denn diese gerieten 2007 weltweit in Geldnot, als die Finanzspekulationsblase platzte. Die Immobilienkrise in den USA und die Spekulation mit schlecht gedeckten Krediten waren Auslöser der globalen Finanzkrise.

(2) Troika: Im Zusammenhang mit der Schuldenkrise wird das entscheidungsführende Dreiergespann, bestehend aus der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfond als Troika bezeichnet.

(3) Ein interessanter Aufruf zur „Wendlandisierung“ der antikapitalistischen Proteste in Frankfurt, verbunden mit Überlegungen zu inhaltlichen und organisatorischen Notwendigkeiten: antinazi.wordpress.com/2012/06/09/frankfurt-wendland-und-zuruck-ein-vorschlag-fur-blockupy-2-0/ .

(4) Prof. Miguel Abendsour philosophiert in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ 05/2012 über die ursprüngliche Bedeutung einer „rebellierenden Demokratie“. Diese wird von einer politischen Gemeinschaft getragen, die sich in all ihrer Heterogenität und Konfliktivität gegen die staatliche Herrschaft richtet. Sie steht als „beständiger Kampf für das Handeln und gegen das Herstellen“.

Editorial FA! #44

Die Tage vergehen, und ehe mensch sich’s versieht, klopft der Frühling an die Tür…

F: „Ey, gute Laune! Ich bin der Frühling!“

(allgemeiner Jubel und Applaus in den FA!-Redaktionsräumlichkeiten)

F: „Ey, danke, danke, ey! Aber sagt mal, wo bleibt denn das neue Heft?“

k.mille: „Fast fertig. Siehste ja… Muss bloß noch hier das Interview abtippen.“

F: „Wow, krass! Na dann dran bleiben, Alter! Wollte ja schon immer wissen, wie das bei euch läuft! Was gibt´s denn diesmal so für Inhalte?“

momo: „Voll der bunte Frühlingsstrauß: ALG II und GMF, Schule…“

justus: „China, queere Kneipen, Nazis und Gemüse…“

F: „Wow, ich platz gleich vor Spannung!“

wanst: „Wird’s dann noch wärmer hier?“

teckla: „Dann hol ich mir lieber ‘n Bier.“

F: „Au ja, Bier wär toll! Und wo kann man das Heft kaufen?“

gundel: „Oh, da gibt´s viele Möglichkeiten. Aber Verkaufsstelle des Monats ist diesmal der Infoladen in der Gieszer16.“

F: „Das merk ich mir gerne! So, muss jetzt aber los. Wir sehen uns dann draußen in der Sonne wieder!“