Schlagwort-Archive: 2012

Nüchterne Wiesen

Was wäre eine Großstadt ohne eine zünftige Trinkwiese? In der Leipziger Innenstadt hat sich z.B. die Thomaswiese neben dem Hugendubel schon seit Jahren als Treffpunkt für meist jugendliche Wiesentrinker_innen etabliert, die sich dort im Sommer auf dem Rasen lümmeln, dröhnende Beatmusik auf mitgebrachten Kassettenrekordern hören und dabei ihr Dosenbier verzehren.

Der Leipziger CDU-Ortsgruppe ist diese Stätte des urbanen savoir vivre allerdings ein Dorn im Auge. Mitte November stellte diese deshalb einen Antrag: Der Stadtrat soll nun prüfen, ob man den öffentlichen Alkoholkonsum nicht einfach per Polizeiverordnung verbieten könne. Erst mal testweise vom 1. April bis zum 31. Oktober 2012, um bei Erfolg die Maßnahme dann auch in den Folgejahren fortzuführen. Das Trinkverbot soll nicht nur für die Thomaswiese gelten, sondern auch auf dem Bahnhofsvorplatz und am Weißeplatz in Stötteritz. Letzterer steht schon seit längerem im Fokus einer Ein-Mann-Kampagne, die ein besorgter Bürger gegen die ansässige Alkoholikerszene betreibt und nun offenbar auch die harten Herzen der Union erreicht hat.

Für vernunftbegabte Lebewesen ist so ein dreister Vorschlag allerdings einfach indiskutabel! Hoffen wir also mal, dass die Leipziger CDU die verdiente Schlappe einfährt, wenn am 14. Dezember über den Antrag entschieden wird. Denn: Wiesentrinken is not a crime!

justus

Lokales

Editorial FA! #45

Alle reden vom Wetter, wir schreiben drüber. Keine Angst, nur in diesem Editorial muss der Sommer als Einstieg herhalten. In der #45, die Du gerade in den Händen hältst und Dir über das Sommerloch helfen soll, geht es sonst recht inhaltlich zur Sache. Wir berichten über den sehr unterschiedlichen Umgang von Leipziger_innen mit „ihren“ Flüchtlingen, schauen auf den „Graffiti-Krieg“, der gerade tobt, beleuchten prekäre Arbeitsverhältnisse in Halle sowie das deutsche Streikrecht, widmen uns ausführlich der Occupy-Bewegung, stinken ein wenig gegen Facebook an, rezensieren fleißig und haben sogar noch schnell ein einseitiges Comic in diese Ausgabe gepinselt. Alles in allem trotz wiedermal abgespeckter Redaktion ein fettes Heft. Viel Vergnügen beim Schmökern!

Eure Feierabend!-Redax

PS: Unsere Verkaufsstelle des Monats ist das Skorbut in Lindenau, dessen Be­treiber_innen wir im letzten Heft interviewt haben.

Nach der Kampagne ist vor der Kampagne

Die antifaschistische Kampagne Fence Off gibt es nicht mehr. 16 Monate lang organisierten Leipziger Anti­fa­schist_innen den Widerstand gegen das sog. Nazizen­trum in der Odermannstraße. Das Lin­denauer Bürgerbüro der NPD existiert seit nun­mehr fast vier Jahren. Unzählige Störak­tionen, Kundgebungen und Demonstrationen konnten jedoch nicht verhindern, dass die Odermannstraße 8 wei­ter­hin als überregionalen Veranstaltungsort und Treffpunkt von Nazis genutzt wird.

Die Kampagne zieht also eine durchwachsene Bilanz. Obwohl sehr erfolgreich in der Mobilisierung und einzelnen Aktionen, wurde das versprochene Hauptziel leider verpasst.

Nach dem Tod des NPD-Landtagsabgeordneten Winfried Petzold, der die Odermann 8 als Bürgerbüro eröffnete, sah es Anfang des Jahres für einen Moment so aus, als würde sich das „Nationale Zentrum“ selbst abwickeln. Doch die NPD mochte ihren Sitz im Leipziger Westen nicht aufgeben, und so nutzen die beiden Leipziger Stadträte Rudi Gerhard und Klaus Ufer das Objekt jetzt of­fi­ziell als Stadt­ver­ord­ne­tenbüro. Wie es her­innen jedoch um die Kräf­te­verteilung aussieht, ist weiter­hin recht unklar. Dem Streit der straff organisierten NPD-Leute mit den Freien Kräften folgte angeblich ein Rauswurf der jungen autonomen Meute. Fakt jedoch ist, dass weiterhin Musik- und Vortragsveranstaltungen mit hochkarätigen Gästen stattfinden, zu denen die äußerst rechte Szene in der ganzen Bandbreite anrückt. Sänger wie Frank Rennicke, SS-Veteranen oder gestandene Holocaustleugner_innen wie Ursula Haverbeck-Wetzel ziehen Hooligans und NPD-Kader gleichermaßen an. Wobei letztere nicht zu ihrem Vortragstermin am diesjährigen Führergeburtstag erschien.

Das könnte durchaus an den massiven Störungen von Antifaschist_innen gelegen haben. Diese und anderes Aktionen werden nun ebenso wie das gesamte Kam­pag­nenkonzept von den Akteuren noch ein­mal näher unter’s Licht genommen. Es war neu in Leipzig, sich auf ein konkretes Ziel zu konzentrieren und so auch Leu­te einzubinden, die sonst eher faul sind, wenn es um antifaschistisches Engagement geht.

Die Reflexion soll neue Möglichkeiten eröffnen, wie Kritik an und Widerstand gegen die Nazis aussehen kann, soll und erfolgsorientiert auch sein muss. Denn das Nationale Zentrum gibt es immer noch.

(shy)

No Name, No Fame, No Game?

Über den Leipziger Krieg der Farben

Leipzig hat einen neuen Aufreger – Graffiti. Jetzt werdet Ihr sagen: Aber das ist doch nicht neu! Graffiti gibt es in Leipzig schon ewig, jeder Hampelmann schmiert hier die Wände mit unverständlichen Kürzeln voll! Aber dann habt Ihr wahrscheinlich nicht mitbekommen, dass jetzt in Leipzig Krieg herrscht. Ein Graffiti-Krieg. Graue Wände zu bemalen war ja schon immer schlimm, aber nun zittert die ganze Stadt unter den rücksichtslosen Aktionen der Sprüher-Crews. Die neue Qualität zeichnet sich jedoch nicht durch Mord- und Totschlag aus, wie man es von einem Krieg erwarten könnte. Nein, schlimmer. Hier zählt doch tatsächlich, wer wo das extremste Bild macht. Die Größe und Lage der be­malten Flächen ist derart alarmierend, dass die üblichen Verdächtigen aus Stadt, Wirt­schaft und Medien panisch aufschreien.

Die sich laut SpiegelTV bekriegenden Crews sind die Radicals alias RCS und die ORG-Crew. Manch Witzbold behauptet ja, ORG – das stehe für „Organisierte Radicals Gegner“. Und die Radicals – das sind laut den Witzbolden von SpiegelTV ja wieder­um die Gegner der ORG-Crew im „Graffiti-Krieg“ Leipzigs. (1)

Seit Jahren bestimmen sie mehr und mehr das Stadtbild – die Bombings der sich battlenden Crews in Burner Chrom mit Bitumen-Black-Outlines aus den 600er Cans der Underground-Writer, die an den Walls der LE-City swaggen, ohne jedoch eine Message zu spreaden, die conscious wäre.

Oder für die Nicht-HGB-Student_innen unter Euch: Gemeint sind die übergroßen Kürzel der klandestinen Künstlerkollektive in meist minimalistischem Silberchrom mit pechschwarzen Außenlinien, aus den genau auf illegale Bedürfnisse abgestimmten Fabrikaten spezialisierter Sprühdosenhersteller, gesprüht auf den Wänden der Kulturstadt Leipzig mit der eindeutigen Botschaft: Ich hab’ den Größten.

Gemeint sind eben nicht die „Tags“, die kleinen Filzstiftschmierereien, die Szenekneipen ihren alternativen Charme verleihen, sondern die richtig großen, nicht einfach dahingeschmierten, eben „gebombten“ Kürzel. Wobei die laut SpiegelTV „sich bekriegenden Crews“ oft peinlich darauf achten, die Bilder der „Gegner“ nicht zu crossen, zu übersprühen. (2) Was für Außenstehende wie die Genfer Konventionen des Graffiti erscheinen mag, ist jedoch wichtiger Bestandteil des hochkriminellen Wettstreits um die Vorherrschaft auf Leipziger Straßen. Nach unzähligen Bombings an immer prominenteren Stellen eskalierte der Krieg vor einigen Wochen. Das mehrere Jahre eingerüstete Ring-Messehaus gegenüber der Blechbüchse sollte wieder im morbiden Charme seiner unsanierten Fassade erstrahlen. Zum Vorschein kamen jedoch drei riesige chromfarbene Buchstaben – RCS. (3) Darüber noch ein zweistöckiges SNOW. Gemalt über die Weihnachtszeit kam es nun plötzlich zum Vorschein. Die Entrüstung des Hauses führte so freilich zur größeren selbigen von Medien und städtischen Vertretern. Nur ORG nahmen die Radicals-Kriegserklärung wirklich ernst und schlugen erbarmungslos zurück – zwei Wochen später prangte am nicht weit entfernten und ebenso zentral gelegenen Robotron-Haus ein noch riesigeres ORG-Bombing. (4)

Damit nahm der „Krieg um das größte Graffiti“ in Leipzig sein vorerst schreckliches Ende. Die Kriegsparteien allerdings laufen weiter unbehelligt auf den Straßen herum und nutzen die Zeit zur Aufrüstung. Und so bleibt die Angst vor dem, was da kommen mag.

Historischer Exkurs

Dabei war es nicht immer so gefährlich auf Leipzigs Straßen. Noch in letzten Jahrtausend standen Sprüher_innen Schulter an Schulter bspw. in Plagwitz und malten im friedlichen Wettstreit. Nachdem im Oktober 2003 mit der „Streichung“ dieser größten geduldeten „Wall of Fame“ die neue harte Linie der Stadt gegen Graffiti begann, änderte sich einiges. Der Verlust der über 250 Meter langen Wand machte Leipzigs Sprüher_innen derart traurig, dass sich etwa 200 von ihnen knapp einen Monat später in einem Trauerzug am Ort des Geschehens einfanden und Blumen und Kränze niederlegten. Die Trauer jedoch wandelte sich schnell in Wut und die Stadt wurde in einer ersten Welle mit tausendfachen „Meine Wand?“-Schriftzügen zugebombt. Die Botschaft und der dahinterstehende Diskurs wurde unübersehbar – Wem gehören eigentlich die vielen Wände? Den Eigentümer_innen oder denen, die sich das Recht heraus nehmen, ihre Umwelt so zu gestalten, wie sie es wollen? Die Frage konnte nicht abschließend geklärt werden und so verbreitete sich der Slogan in den folgenden Monaten bis nach Halle und dank Zug-Kultur weit in die deutsche Graffitilandschaft.

Peter Sodann – Hallenser Theaterinten­dant, ehemaliger Tatort-Kommisar und Spießbürger erster Güte – ließ es sich damals nicht nehmen, die Graffitikultur als „ganz normalen Faschismus“ zu bezeichnen und wurde in der Folge mit Hitlerbärtchen per Schablonengraffiti selbst als Faschist verunglimpft. Auch sonst gab es allerlei kreative Aktionen der Sprüher_innen, die im Kontext der Leipziger Olympia-Bewerbung (siehe FA! #12) und der Fast-Aberkennung der Gemeinnützigkeit des Conne Island den Diskurs um illegale und alternative Jugendkultur vs. sauberes Stadtimage antrieben.

Flatrate für den Frieden

Treibende Kraft hinter den damaligen städtischen Säuberungen war ein „Zusammenschluss von Leipziger Unternehmen, Immobilieneigentümern, Stadtverwaltung, der Sparkasse, den Verkehrsbetrieben, Gebäudedienstleistern, Handwerkern, und zahlreichen Privatpersonen“, das im März 2003 gegründete Aktionsbündnis STATTbild e.V., oder auch „Das Bündnis gegen illegale Graffiti in Leipzig“. (5)

Der Verein hat mit Institutionen wie dem Bundesgrenzschutz Leipzig und der Bundespolizei höchst sympathische Partner, betreibt in Zusammenarbeit mit dem Regionalschulamt und der Bildungsagentur Leipzig „Aufklärungsarbeit“ unter Schüler_innen und veranstaltet allerlei Fachberatungen mit Immobilienfirmen und Gewerbetreibenden rund um das Thema illegale Graffiti.

Neuerdings bietet der STATTbild e.V. zusammen mit Graffiti-Reinigungsfirmen, die selbst Mitglieder des Vereins sind, eine selbstentwickelte „Graffiti-Flatrate“ an. Hausbesitzer_innen zahlen einen monatlichen Pauschalpreis für die stete Beseitigung ungewünschter Farbe. Dass das die Sprüher_innen eher weiter anstachelt, als im Zaum hält, könnten die Wächter der Reinheit dabei sehr wohl im Hinterkopf haben. Mehr Graffiti bedeutet schließlich auch mehr Reinigungsaufträge, Profilierungsmöglichkeiten und CDU-Wählerstimmen. Nach außen hin geben sie sich aber nach wie vor naiv. Dass bspw. die Zahl der illegalen Graffiti in Leipzig maßgeblich durch ihre Initiative in der Zeit seit 2003 über 50% anstieg, während sie in anderen ostdeutschen Städten teilweise stagnierte, davon lassen sich die Flitzpiepen nicht beirren.

Aber ob durch Kalkül oder bürgerliche Naivität befördert – der Krieg um Leipzigs Wände geht weiter. RCS, ORG, SNOW, und wie sie sonst noch alle heißen, werden sich mit ihren eigenen Graffiti-Flatrates am Stadtbild beteiligen. Und so bleibt wohl vorerst alles, wie es ist. Schwarz und Chrom. Und manchmal bunt.

(shy)

 

(1) youtube/HQ8MwlyVZ_c

(2) ilovegraffiti.de/blog/2010/09/17/determined/

(3) www.welikethat.de/2012/04/18/einfach-mal-800-quadratmeter-illegal-bemalen/

(4) streetfiles.org/photos/detail/1412367/

(5) www.stattbild.de/

Das Leben der Anderen

Eine Kontroverse um die dezentralisierte Unterbringung von Flüchtlingen in Leipzig

Grünau, 11. Juni 2012. Mehrere hundert aufgebrachte Bürger_innen stehen vor der Tür des Kulturhauses Völker­freund­­schaft. Die meisten von ihnen sind im Rentenalter. Sie warten ungeduldig darauf, Einlass zur Stadtbezirksbeiratsitzung zu bekommen, um ihrem Ärger gegen das zweite geplante große Flüchtlingsheim in ihrem Stadtteil Luft zu machen. Auf ihren Mobilisierungsplakaten steht: „Grünau = Berlin-Kreuzberg. Wir Grünauer sagen NEIN!“ Sie haben genug von der Völkerfreundschaft. Die müsse sich schließlich nicht immer in ihrem Viertel abspielen. Ein Flüchtlingsheim sei genug, es gebe schon genug soziale Probleme, Alkoholmissbrauch und Kriminalität. Das und vieles mehr wollen sie dem Leipziger Sozialbürgermeister Thomas Fabian (SPD) heute während der Stadtbeiratssitzung sagen. Fabian ist heute gekommen, um den Grünauer_innen zu vermitteln, dass die Weißdornstraße 102 derzeit das einzige Objekt in der Stadt ist, das die nötige Kapazität für 180 Flüchtlinge aufbringt. Er möchte ihnen erklären, dass die Zahl der Flüchtlinge im letzten Jahr wieder angestiegen ist (1), dass Leipzig im nächsten Jahr eventuell mit über 400 Flüchtlingen mehr rechnen muss, und dass es sich dabei um eine Weisung des Freistaates Sachsen handelt.

Stimmen aus Grünau

Die aufgebrachten Gäste vor der Völkerfreundschaft warten immer noch darauf in den Saal gelassen zu werden. Einige beginnen unruhig an der Tür zu rütteln. In der Hoffnung, endlich gehört zu werden, rufen sie: „Wir sind das Volk!“ Später werden sie sagen, sie fühlen sich übergangen, weil sie niemand in den Entscheidungsprozess mit einbezogen hat. Unter Dezentralisierung verstünden sie nicht, dass die Mehrzahl der Leipziger Flüchtlinge in Grünau lebt, sondern bitte schön verteilt über die ganze Stadt. Ein Redner wird während der hitzigen Bürgerdiskussion zum bereits bestehenden Flüchtlingsheim in der Liliensteinstraße kommentieren: „Ich bemüh mich schon seit zwölf, dreizehn Jahren, dass in diesem Heim Ordnung einkehrt (Gelächter aus dem Publikum). […] Da wird an kirchlichen Feiertagen orientalische Musik abgeleiert. Ruft man de Polizei an: Ich bin nicht zuständig. Ruf ich das Ordnungsamt an: Ich bin nicht zuständig. Das Sozialamt […] und es tut sich gar nichts (tosender Beifall und Johlen aus dem Publikum). Aber so geht das nicht, dass hinterher der Bürger dann alleine gelassen wird. Und ich bin froh, dass diese Diskussion nun entsteht. Bis jetzt war ich ein Einzelkämpfer. Ich wurde seit 1998 als rechts in die Ecke gestellt“. (Aus dem Publikum johlt ein Mann: „Du bist nicht allein!“, daraufhin tobender Applaus und Johlen) (1). Als ein anderer Redner vorsichtig äußert: „die Menschen kommen auch her, weil sie Angst haben“, ertönt aus dem Publikum höhnisches Gelächter.

Stimmen aus der Torgauer Straße

Eine der Bewohner_innen des Flüchtlingsheimes in der Torgauer Straße ist Rashida (2). Alleine ist sie aus Pakistan geflohen, weil sie der Ahmadi-Minderheit angehört, deren Angehörige von der pakistanischen Mehrheitsbevölkerung nicht als Mus­li­me anerkannt werden. „Wenn ich einkaufen war, haben die Leute in meinem Dorf mir den Schleier vom Kopf gerissen, weil sie unseren Propheten nicht akzeptieren“, erzählt sie und zieht den locker um ihren Kopf geworfenen Schal straff über das Kinn. Tatsächlich ist die Ahmadiyya in Pakistan seit 1994 verboten. Angehörigen dieser Glaubensrichtung ist die Begrü­ßungs­formel „Salám“ untersagt, sie wird mit Geldbußen und Haftstrafen geahndet. Wie sich die Verfolgung auf Ahmadis in Pakistan auswirken kann, zeigte der Anschlag auf zwei Ahmadiyya-Moscheen in Lahore am 28. Mai 2010, zu der sich pakistanische Taliban-Milizen bekannten, bei dem während eines Freitagsgebetes 86 Ahmadis getötet wurden.

Eigentlich wollte Rashida mit ihrem Ehemann kommen, doch die pakistanische Regierung stellte ihm bislang keine Ausreisepapiere aus. Rashida sagt, sie fühle sich alleine, verbringe die meiste Zeit auf ihrem Zimmer. Nach sieben Uhr verlasse sie das Haus nicht mehr. Die junge Frau kam nach Deutschland, weil sie Angst hatte, aber auch hier lebt sie in Angst. Dabei hat sie von den Bürgerprotesten in Grünau, Wahren und Portitz noch gar nichts mitbekommen. Ihr reiche schon, was sie im Heim erlebe. Da ist ein Heimbewohner, der regelmäßig an ihre Türe klopft und etwas zu ihr sagt. Sie spreche seine Sprache nicht. Sie sagt zu ihm, er solle verschwinden, aber er klopft immer wieder. Rashida ist eine von einer Handvoll Frauen unter 200 Männern in der Torgauer Straße. Die anderen Frauen sprechen ihre Sprache nicht. Jetzt hat sie einen Antrag gestellt, um nach Grünau in die Liliensteinstraße umziehen zu dürfen. Dort hat sie Freundinnen, die wie sie Muslima sind und aus Pakistan kommen.

Eine junge Mutter aus Grünau, die einen Bericht über die dezentralisierte Unterbringung von Asylbewerber_innen auf leipzig-fernsehen.de kommentiert, glaubt zu wissen, weshalb die Flüchtlinge wirklich kommen: „Ich habe nix gegen Ausländer, aber wieso sollen wir sie hier aufnehmen, wo sie selbst ein eigenes Land haben. Sie nehmen den Deutschen hier Arbeitsplätze weg oder kassieren schön Hartz IV, leben da schon auf Staatskosten und dann noch die Unterbringung. Das kann es nicht sein […]“

Fremdenfeindliche Evergreens wie diese aus der Mitte unserer Gesellschaft können tatsächlich nicht sein und lassen sich schnell entkräften. Zum Beispiel das Arbeitsplatz-Vorurteil: Asylbewerber_innen werden schon per Gesetz diskriminiert, sie dürfen frühestens nach einem Jahr arbeiten und werden nur dann angestellt, wenn kein_e deutsche_r, EU-Bürger_in diese Stelle annehmen will. Das verdeutlicht auch die statistische Arbeitslosenrate, die unter Migrant­_innen mehr als doppelt so hoch ist wie unter der Mehrheitsbevöl­kerung (3). Um über das zugewiesene Taschengeld hinaus zu verdienen, nehmen viele dann Jobs an, in denen sie vor allem ausgebeutet werden. Arbeitgeber_innen nutzen die prekäre Situation der Flüchtlinge/Migrant­_innen oft schamlos aus und beschäftigen sie ohne Versicherungen und Sozialabgaben zu Niedriglöhnen. Es kommt nicht selten vor, dass der Lohn gar nicht ausgezahlt wird. Daher müssen grundsätzlich Gesetz- und Arbeit­ge­­ber­_innen verantwortlich gemacht werden.

Wie in Grünau dieser Tage deutlich wird, wäre es zu kurz gegriffen die Protestierenden einfach als Rassisten zu bezeichnen. Vielmehr verschränken sich hier oftmals diskriminierende Einstellungen: „Wenn 150 deutsche Obdachlose in die Unterkunft kämen, würden wir auch dagegen protestieren!“, rechtfertigt ein Grünauer Bürger seine Wut. Allein in diesem kurzen Satz durchkreuzen sich frem­den­feindliche, klassenorientierte und sozialdarwinistische Weltanschauungen. Ob Obdachlose, „Asoziale“ oder „Asylanten“, die Kategorien werden beliebig ethnisch oder sozial auf- und abgeladen.

Ajmal ist ein Bewohner aus der Torgauer Straße. Vor fünf Monaten flüchtete der Innenarchitekt vor dem Regime im Iran nach Deutschland. Über das Heim in der Torgauer Straße und die neuen Entwicklungen sagt er: „Keiner von uns wohnt gerne in diesem Gefängnis. Aber seit wir wissen, dass wir aus der Torgauer Straße gehen müssen, haben viele von uns auch Angst zu gehen. Wir wissen nicht, wo die neuen Häuser stehen. Einige haben gehört, dass es Proteste gegen uns gibt. Wir würden gern mit unseren Gegnern ins Gespräch kommen. Aber viele von uns haben keine Kontakte nach draußen. Wir wissen nicht, was passieren wird.“

Stimmen aus Plagwitz

13. Juni 2012. Plagwitz, Schule am Adler. Rund 200 junge, bunte Menschen füllen den Saal bei der Stadtbezirksbeiratssitzung, bei der das Objekt in der Mar­kran­städterstraße 16-18 im Stadtteil vorgestellt wird. Das Haus ist für rund 45 Menschen ausgelegt. Gleich, ob von Stadtbezirks­beirät_innen oder Anwoh­ner_innen, im Saal findet das Konzept trotz vieler konstruktiv kritischer Anmerkungen als „ein Schritt in die richtige Richtung“ eine so breite Zustimmung, dass dem Sozialbürgermeister und der Sozialamtsleiterin Martina Kador-Probst zum Schluss die Tränen in den Augen stehen.

Tatsächlich ist eine idealere sozio-(sub)kul­tu­relle Einbindung der dezentralisierten Unterbringung wie in der Markranstäder Straße kaum vorstellbar. Die unmittelbare junge und alternative Nachbarschaft – die Zollschuppen-Häuser, der Bauspielplatz Wilder Westen, die Meta Rosa und der Wagenplatz Karl Helga bekunden nicht nur Freude über die Entscheidung, sondern bieten den Flüchtlingen mit Volxküchen, Zirkusprojekten, Umsonstladen und politischen Veranstaltungen einen potentiell abwechslungsreichen Alltag.

Bei genauerem Hinsehen erscheint das Objekt in Plagwitz nicht nur einzigartig in seiner sozio-kulturellen Einbindung, sondern auch in seiner Symbolik. Dafür sorgt Siemens, ein Global Player in der Rüstungsindustrie, der in der unmittelbaren Nachbarschaft angesiedelt ist. Es ist kein Zufall, dass das Rüstungsgerät zufälligerweise in die Länder exportiert wird, aus denen das Gros der Flüchtlinge kommt. Damit wird der gewählte Standort in der Mar­kran­städter Straße unfreiwillig zum dreidimensionalen Schaubild der Konsequenzen neokolonialer Praxis – und unserer eigenen Verwicklung in die Fluchtgeschichten der Flüchtlinge.

Unsere Stimmen

Komplexe Themen wie Krieg und Mas­sen­­unter­bringung wurden bei der Sitzung in Plagwitz allerdings ausgespart. Es schien als wollte mensch an den gegebenen Umständen arbeiten und keine neuen Grund­satzdiskussionen vom Zaun brechen. Kritisiert wurde beispielsweise die 0,8 Sozial­ar­beiter_innen-Stelle, die für die Flüchtlinge in der Unterbringung vorgesehen ist.

Tatsächlich ist dieser Schlüssel schon seit Jahren Standard in Leipziger Flüchtlingsheimen, ohne dass das bislang auf öffentlichen Sitzungen kritisiert wurde. Stattdessen arbeiten wir – im heterogenen linken Spektum verortet – uns am liebsten, wie andere Wir-Gruppen auch, an den geglaubten Anderen ab. So lautet der Tenor auch in Plagwitz an diesem Tag: Der gutgemeinte Versuch der politischen Befür­wor­­­ter_innen, die Flüchtlinge in Leipzig zu integrieren, scheitert womöglich nicht an dem Verhalten der Flüchtlinge, sondern an der Unfähigkeit der Mehrheitsgesellschaft die Flüchtlinge zu integrieren. Eine Rednerin fragt deshalb: „Wäre es nicht langsam an der Zeit die Bürger und Bürgerinnen Leipzigs, die so gegen die Flüchtlinge hetzen, zu demokratisieren?“ Ist es womöglich an der Zeit Integrationskurse für die deutsche Mehr­heitsgesell­schaft anzubieten?

Schuldzuweisungen á la „Du behinderst die Integration“ helfen jetzt niemandem. Ge­nauso wenig, wie einfach nur Rassisten zu entlarven und sich und seinen eigenen Aktionismus dafür zu mögen. Wichtig ist jetzt mehr denn je auf­ein­ander zuzugehen. Sowohl von Seiten der Flüchtlinge, als auch von Seiten ihrer Geg­ner_innen wurde der Wunsch geäußert miteinander ins Gespräch zu kommen. Ein eben solches Gespräch zu koordinieren, könnte unsere Aufgabe sein. Wir können nicht das Sprachrohr von Flüchtlingen sein. Dazu fehlt uns sowohl ihre Erfahrung als auch ihre Bevollmächtigung. Wir können ihnen aber auf ihren Wunsch hin die Plattformen und Hilfestellungen geben, die es ihnen ermöglichen, selbst die Stimme zu erheben – nicht nur auf dem Papier. Es geht nicht nur darum, das böse System zu bekämpfen, sondern die Menschen und Lebensumstände, für die mensch sich engagiert, kennenzulernen und Freundschaften zu schließen, im Sinne einer face-to-face-Gesellschaft.

(Klara Fall)

Infokasten: Wie alles begann

Angefangen hatte alles mit Am­a­zon. Als das Versandhaus vor rund drei Jahren offiziell Interesse an dem Gelände der Torgauer Straße 290 bekundete, begann in der Stadtverwaltung die Diskussion um die alternative Unterbringung der dort lebenden Flüchtlinge. Der Stadt Leipzig kam der Wunsch von Amazon nach Expansion gelegen, denn sie suchte händeringend nach Investoren, um nicht nur die maroden Häuser, sondern auch die marode Ar­beitsmarktlage zu sanieren. Gleichzeitig musste nun für die Flüchtlinge ein neuer Ort her. Im Sinne der politischen Entscheidungsträger ein Ort „nicht unmittelbar in einem Wohngebiet, insbe­sondere entfernt von Schulen, Kindergärten, Spielplätzen“*. Als die Stadt ihren Vorschlag bekannt gab – ein Containerwohnheim für 300 Personen in der Wodanstraße, nahe der Autobahn im Norden der Stadt – machten sich lautstarke Proteste in der Zivilgesellschaft und in einigen Fraktionen des Stadtparlamentes breit. Im Dezember reichten DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen ein erstes Konzept ein, in dem sie eine weitestgehend dezentrale Unterbringung von Asyl­be­wer­ber_innen und Geduldeten forderten. Das Konzept, das im Juni 2010 angenommen wurde, sah eine Mitbestimmung von Initiativen und Vereinen vor, die die SPD und CDU damals ablehnte. Am 8. Mai 2012 stellte die Stadt ihr Konzept „Wohnen für Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Leipzig“ vor. Danach soll das Heim in der Torgauer Straße bis Ende 2013 durch sechs kleinere und ein größeres Objekt – letzteres in Grünau – ersetzt werden.

 

weitere Infos: www.menschen-wuerdig.org

 

* 2011 stieg der Zahl der in Leipzig angekommenen Asylsuchenden von 198 auf 278, eine Steigerung um 31 Prozent. Quelle: jule.linxxnet.de/index.php/2012/06/burgerinnen-gegen-asylsuchende/

 

(1) agdezentralisierungjetzt.blogsport.eu/2012/06/13/bericht-von-der-stadtbezirksbeiratssitzung-west-grunau-am-11-juni-2012/

(2) Alle Namen der Bewohner_innen des Heimes wurden von der Redaktion anonymisiert.

(3) Im März 2011 waren in Westdeutschland 14, 5 Prozent Ausländer gegenüber 5,2 Prozent Deutschen arbeitslos gemeldet. In Ostdeutschland 24,6 Prozent Ausländer gegenüber 11,9 Prozent Deutschen. Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2011: statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Statistische-Analysen/Analytikreports/Zentrale-Analytikreports/Monatliche-Analytikreports/Generische-Publikationen/Analyse-Arbeitsmarkt-Auslaender/Analyse-Arbeitsmarkt-Auslaender-201103.pdf

Des Widerstands Zähmung

Erneut forcieren Politik und Unternehmer die Forderung nach Einschränkung des Streikrechts

Ein Funke genügte, das PR-Feuerwerk zu zünden: Deutschland brauche eine Regulierung des Streikrechts, sonst sei die Wirtschaft den Splittergruppen einer neuen Arbeiteraristokratie hilflos ausgeliefert. So der Tenor der „Streik-Debatte“ im Frühjahr 2012. Anlass war ein Ausstand der Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) im Bereich der Vorfeldarbeiter auf dem größten deutschen Flughafen in Frankfurt/Main. Während die GdF, die erkennbar eine Eskalationstaktik verfolgte, den Streik bis Mitte Februar zunächst hinauszögerte und dann auf wenige Stunden beschränkte, forderte Hundt, der Chef des Bundes Deutscher Arbeitgeber (BDA) eine gesetzliche Regelung des Streikrechts. Der Lobbyist der Bosse schwadronierte von Missbrauch, Erpressungspotenzial und „großen volkswirtschaftlichen Schäden“. Diese Schallplatte spielte Hundt bereits 2010 zugunsten der sogenannten „Tarifeinheit“. Nach dem Motto „ein Betrieb, ein Tarif“ heißt das nämlich Friedenspflicht für alle (siehe Kasten). Die gemeinsame Kampagne von Unternehmerverband BDA und Zentralverband DGB für die gesetzliche Verankerung der Tarifeinheit ist im vergangenen Jahr am innergewerk­schaft­lichen Protest gescheitert. Dass nun jede Gelegenheit ergriffen wird, eine Einschränkung des Streikrechts und des gewerkschaftlichen Spielraums zu fordern, zeigt: Es handelt sich bei der Debatte nicht um ein Strohfeuer, sondern um einen Schwelbrand.

Das Graffiti der Bosse: der Teufel an der Wand

Zurück nach Frankfurt im Februar 2012. Da die Tarifrunde im Öffentlichen Dienst noch bevorstand, hielt es wohl auch die Vereinigung kommunaler Arbeitgeber (VkA) für geboten, mit zu zündeln: „zügellose Splittergewerkschaften“ müssten per Gesetz gebändigt werden. In der Tat hatten die Beschäftigten auf dem Frankfurter Vorfeld ihre Gewerkschaft frei gewählt und sich bewusst an die Spartengewerkschaft GdF gewandt, nachdem sie sich von ver.di nicht vertreten gefühlt hatten. Sie nutzen das hohe Gut der Koalitionsfreiheit. Aber als die GdF in ihrer kontrollierten Eskalation schließlich die Fluglotsen zum Solidarstreik aufrief, lief die Betreibergesellschaft Fraport zu Gericht. „So ein Streik ist für die Gewerkschaft nicht mehr anstrengend“, lamentiert Jens Bergmann, der Geschäftsführer der Deutschen Flugsicherung, Anfang Juni in der FAZ. Inzwi­schen reiche schon die „Androhung der Androhung“, um Forderungen durchzusetzen. Das deutsche Arbeitsrecht, ein Arbeiterparadies!

Tatsächlich erwirkte die Fraport zwei einstweilige Verfügungen, die sowohl den Kampf auf dem Vorfeld als auch den Unterstützungsstreik verboten. Am 21. März kam es schließlich zu einer Einigung, über die bisher immer noch keine Details vorliegen. Am selben Tag erklärte Wirt­schaftsminister Rösler (FDP), „auf­grund der Ereignisse im letzten Monat“ seien die Arbeiten an einem Tarifeinheits-Gesetz wieder aufgenommen worden. Dass die Bundesregierung noch kein Gesetz präsentiert hat, ist sicherlich der komplizierten verfassungsrechtlichen Lage und dem Justizministerium geschuldet. Ob diese Hürden allerdings hoch genug sind, ist fraglich: Die SPD verkündet im Bundestag, „Tarifautonomie und Tarifeinheit gehören zusammen“ (H. Heil) und fordert, den Entwurf der Lobbyisten zur Gesetzesgrundlage zu machen. Auch für die CDU stellt die Tarifeinheit einen „hohen Wert“ (P. Weiß) dar: „im Interesse einer Befriedung der Tariflandschaft … und im Interesse einer verlässlichen Sozial­part­nerschaft“.

Unerheblich ist bei der ganzen Debatte offenbar, dass die diffusen Horrorszenarien, die seit der Abschaffung der Tarifeinheit durch das Bundesarbeitsgericht 2010 lautstark verbreitet werden, reine Fantasie geblieben sind: keine andauernde „Streikwelle“, kein Ins-Kraut-Schießen weiterer Spartengewerkschaften wie etwa der Feuerwehrleute, kein wirtschaftlicher Absturz, nichts. Die Streikaktivitäten erreichten dem WSI-Institut zufolge auch 2011 nicht das Vorkrisenniveau. Aber die Unternehmerverbände ficht das nicht an. In einer Münchner Erklärung erheben sie die Tarifeinheit neben Staatsschulden, Energiewende und Fachkräften zu einer von vier „Weichen für die Zukunft“.

Freiheit und Recht – immer umkämpft

Für emanzipatorische Bestrebungen ist das Streikrecht, sind seine Existenz und seine Wahrnehmung elementar. Dem dürfte auch der Jurist und ehemalige Vorsitzende der IG Medien (heute ver.di) Detlef Henschel zustimmen. Henschel betonte im Mai bei einer Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung über „Politische Streiks im Europa der Krise“ den grundlegend demokratischen Charakter dieser Aktionsform. Schließlich setze man damit ein kollektives Gegenrecht gegen die täglichen Einschränkungen durch abhängige Arbeit. Der Streik sei eine Grundlage für zivilgesellschaftliche Kompetenz und Kapazität. Etwas volkstümlicher fasste das Tom Adler, linker Metaller bei Daimler, mit Blick auf die jüngsten Warnstreiks der IG Metall: Sollte es zu Streiks kommen, wäre das „ein Szenario, das politisch hochinteressant wäre“, denn das seien immer Momente, in denen „die Köpfe aufgehen“. Man könnte ergänzend hinzufügen, dass ein solcher Ausbruch aus Alltag und Normalität durch den ökonomischen Hebel, den er kollektiv in Anschlag bringt, zu den schweren Geschützen im Arsenal emanzipatorischer Hand­lungs­optionen gehört.

Betroffen von den Bondage-Gelüsten der Bosse und von der Knebelung durch bestehendes Recht sind keineswegs nur die Spartengewerkschaften. Das hob Henschel bei der Tagung der Luxemburg-Stiftung hervor: Derzeit kämpfen insbesondere ver.di und die GEW für Beamten- und kirchliches Streikrecht. Die Vorgehensweise zur Änderung und Liberalisierung der herrschenden Rechtsprechung sei der kalkulierte Gesetzesverstoß durch die tatsächliche Streikpraxis. Das birgt durchaus Risiken: Zuletzt verneinte das Oberverwaltungsgericht NRW im März 2012 ein Streikrecht von Beamten. Insgesamt aber scheint sich der DGB nur aus taktischem Kalkül von der gemeinsamen Initiative mit den Bossen zurückgezogen zu haben. So warf DGB-Chef Sommer Anfang Mai in einem Interview abermals alles in einen Topf und erklärte als sei dies ein und dasselbe: „Auch die Tarifein­heit und die Tarifautonomie müssen wie­der gestärkt werden. … Ich erwarte von der Politik, dass sie sich endlich dazu durchringt, die Arbeitswelt klaren Regeln zu unterwerfen.“ Anfang Juni immerhin gibt man sich zerknirscht. Auf einer Veranstaltung der neoliberalen Regulierer bezweifelte man, dass noch vor der nächsten Bundestagswahl ein entsprechendes Gesetz verabschiedet werde: Derzeit bestehe „kein politischer Wille, dies umzusetzen“.

Die Geisterbahn geht weiter

Unterstützung im Kampf für die „halb tote Idee“ (Tagesspiegel) der Tarifeinheit erhielten ihre Anhänger derweil durch die Carl-F.-Weizsäcker-Stiftung. Mit Hilfe dreier Professoren legte die Stiftung im März einen weiteren Gesetzesentwurf vor, der das Streikrecht der Beschäftigten und Gewerkschaften ebenfalls einschränken und dabei bei den „Unternehmen der Daseinsvorsorge“ ansetzen will. Dass sich die „Da­seins­­vorsorge“ dabei vom Gesundheits- und Bildungswesen über Energiever­sorgung und Müllabfuhr bis hin zu Telekommunikation und Bargeldversorgung erstreckt, macht deutlich, dass es sich um einen Frontalangriff handelt, der keines­wegs nur gegen Spartengewerk­schaften gerichtet ist, sondern gegen starke Sektoren der Klasse, gegen potenzielle Speerspitzen der Gewerkschaftsbewegung. Die Professoren fordern eine Vorwarnfrist von vier Tagen, einen Min­destbetrieb im Streikfall sowie eine verpflichtende Teilnahme an einem staat­­lichen Schlich­tungsver­fah­ren. Be­rufs­gewerk­schaften müsst­­­­en für min­des­tens 15% der Belegschaft eintreten, wenn sie streiken. Insbesondere die Warnfrist und den Mindestbetrieb haben die Herren wohl aus dem französischen Gesetzbuch abgeschrie­ben. Würde der Entwurf hier­zulande Gesetz werden, würden die Rech­te der Beschäftigten deutlich stärker beschnitten als jenseits den Rheins. Denn nach Auffassung deutscher Arbeitsgerichte ist das nicht verbriefte Streikrecht kein Grundrecht der ArbeiterInnen, sondern an Gewerkschaften gebunden. Bereits darin sieht etwa die FAU eine schwerwiegende Verletzung des Rechts auf Streik, das als „ein grundsätzliches Menschenrecht aufzufassen [ist], auch wenn es effektiv nur kollektiv ausgeübt werden kann“, wie es 2011 in einem Positionspapier hieß. In die gleiche Richtung zielt ein – nicht unumstrittener – Wiesbadener Appell mit seinem Plädoyer für ein „umfassendes Streikrecht“ und für den politischen Streik. Umstritten u. a. deshalb, weil der Aufruf mit dem Tenor, in der Bundesrepublik gelte „weltweit das rückständigste und restriktivste Streikrecht“, effekthascherisch ein allzu düsteres Bild von den tatsächlichen Rah­men­bedingungen für Arbeit­erIn­nen­be­we­gungen zeichnet – und damit wie nebenbei die zurückhaltende Politik des DGB entschuldigt: Solange die Politik untätig bleibe, seien den Gewerkschaften die Hände gebunden. Soweit zum Hintergrund.

Unabhängig von der inhaltlichen Kritik des Aufrufs lässt die politische Großwetterlage jedoch nichts Gutes erwarten, sollte ein Streikrecht derzeit in Gesetzesform gegossen werden. Dies gilt auf Landesebene wie auf europäischer. So bedeutet der aktuelle Entwurf der sog. Monti-II-Verordnung über das „Recht auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und der Dienst­leistungs­frei­heit“ eine Einschränkung des Streik­­rechts. Ende Mai wurde der Entwurf der EU-Kommission, der eigentlich arbeit­neh­mer­feind­liche Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes hatte korrigieren sollen, vorerst von zwölf Landes­par­la­menten formaljuristisch abgelehnt – der Bundestag war bezeichnender Weise nicht unter diesen kritischen Stimmen zu vernehmen. Es geht jedoch noch schlimmer: In der Türkei, die immerhin eine Beitrittspartnerschaft mit der EU verbindet, verabschiedete das Parlament Ende Mai ein Gesetz, so berichtet die taz, wonach Luftfahrt-Beschäftigten ein Streik ganz verboten werden soll, um „übergeordnete Interessen des Landes zu schützen“. Einig sind sich die Gegner und die Befürworter eines liberalen Streikrechts wohl in einer Grundannahme, die Detlef Henschel so formulierte: „Jeder Streik ist politischer Natur.“

(A.E.)

Weitere Infos: www.fau.org/streikrecht & www.direkteaktion.org & www.rosalux.de

Infokasten 1: Streikrecht und Tarifeinheit

In der Bundesrepublik ist Streikrecht Tarifrecht, denn eine Arbeitsniederlegung darf nur mit dem Ziel eines Tarifvertrags organisiert werden. Der „Grundsatz der Tarifeinheit“ besagte seit 1957, dass in einem Unternehmen nur ein Tarifvertrag gelten könne. Die vertragliche Friedenspflicht schränkte somit auch die Handlungsfreiheit anderer Gewerkschaften ein. Seit 2010 ist mit der juristischen Absicherung dieses Platzhirsch-Effektes vorbei (Bundesarbeitsgericht, Aktenzeichen: 10 AS 2/10).

Infokasten 2: Schadensersatz abgelehnt

Eine Schadensersatzklage im Nachgang eines Streiks der Gewerkschaft der Flugsicherung im April 2009 wies das Arbeitsgericht Frankfurt Ende März ab. Zur Begründung wies die Richterin auf die Bedeutung der Gewerkschaften in modernen Gesellschaften hin: Sollten Gewerkschaften durch zu hohe Haf­tungsrisiken zu sehr behindert werden, könne „eine Lähmung der Entwicklung des sozialen Lebens“ eintreten (Aktenzeichen: 10 Ca 3468/11).

Vom Seminar zur Kasse

Über die Bedingungen im Nebenjob und die Möglichkeiten zur Gegenwehr

„Karriere-Machen bei REWE!“ steht auf dem riesigen Plakat neben dem Eingang des REWE-Marktes am Steintor in Halle (Saale). Dies denkt sich auch Tina, als sie sich beim Filialleiter vorstellt. Neben dem BWL-Studium will sie ihr spärliches BAFöG-Auskommen aufbessern. Sie wird eingestellt, und am nächsten Tag fängt sie nach einer kurzen Einarbeitung an der Kasse an zu arbeiten.

Kassieren und das Einräumen neuer Waren in die Regale gehört zu ihren Aufgaben. An einem Mittwoch Nachmittag schaut sie auf den Schichtplan und sieht, dass der Chef sie für nächste Woche vormittags eingeteilt hat, obwohl er weiß, dass sie zu dieser Zeit eine Pflichtveranstaltung an der Uni hat. Im Einstellungsgespräch hatte Tina den Chef ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie nur nachmittags arbeiten kann.

Sie geht in das Büro vom Chef und fragt ihn, was das zu bedeuten hat. Darauf angesprochen, antwortet der Patron, dass er nichts von ihren Wunschzeiten weiß, und überhaupt könne sie ja auch gehen, wenn sie nicht arbeiten wolle. Dieses willkürliche Verhalten des Arbeitgebers führt bei Tina zu einem Gefühl der Hilflosigkeit.

Diese Querelen und der mickrige Stundenlohn von 6,50 Euro sind nur der Anfang. Jeden Arbeitstag muss sie vor Schichtbeginn im Laden sein und regelmäßig eine halbe bis ¾-Stunde länger da bleiben. Diese Stunde unbezahlte Arbeit wird von ihr stillschweigend verlangt. Doch sie ist auf die Lohnarbeit angewiesen, um die Miete für ihre WG in der Innenstadt zu bezahlen, denn ihre Eltern können sie finanziell nicht unterstützen.

Mit der Ungewissheit im Minijob kommt ihre Kollegin Silvia auch nicht mehr zurecht. Die geringen Beiträge zur Rentenversicherung bereiten ihr Bauchschmerzen. Durch den Stress im Betrieb und die ständige Unsicherheit, dass ihr Vertrag nicht verlängert wird, bekommt die Vierzigjährige psychische Probleme. Die einzige Möglichkeit, die sie sieht, um die Qualen kurzfristig zu beenden, ist die Kündigung. Eine Betriebsgruppe oder ein kämpferischer Betriebsrat, die sie unterstützen könnten, existieren in dieser Filiale nicht. Somit wird sie das Arbeitsverhältnis sang- und klanglos beenden.

Doch das interessiert den Chef nicht, denn Tag für Tag erreichen ihn neue Bewerbungen von unerfahrenen jungen Studierenden, die ihr Studium mit einem Aushilfsjob finanzieren müssen.

Nach fünf Monaten hat auch Tina genug von ihrem Job bei REWE und reicht ihre Kündigung ein. Der Filialleiter ist erstaunt, dass sie es so lange in seinem Laden ausgehalten hat, und setzt seine Unterschrift unter die Entlassung. Nach einem Job bei Kaufland, im Callcenter und im Discounter REWE ist Tina jetzt wieder vollständig auf ihr BAFöG und das Kindergeld ihrer Eltern angewiesen. So­l­l­te sie ihren nächsten Minijob neben dem Studium beginnen, wird sie sicher­lich mehr mit ihren Kollegen sprechen und solidarische Beziehungen knüpfen. Denn nur durch den Austausch über die Arbeitsbedingungen kann ein kollektives Bewusstsein über Missstände entstehen, welches die Voraussetzung für Selbstorganisation am Arbeitsplatz ist.

Festangestellte ersetzen

Jeden Samstag sitzt Hans neun Stunden hinter der Kasse im Kaufland in Halle-Neustadt, wo er Waren einscannt und das Geld der Kunden entgegen nimmt.

Die 400 Euro, die er im Monat bekommt, spart er, um sich seinen Auszug aus der elterlichen Wohnung zu finanzieren. Sein Bachelorstudium „Management Natürliche Ressourcen“ hilft ihm an der Kasse nicht weiter, aber in ein paar Jahren wird er hier nicht mehr arbeiten. Die Durchgangsstation im Kaufland stellt für ihn eine interessante Erfahrung dar, doch er merkt schon, dass er und seine Kommilitonen an der Kasse für die Festangestellten eine ernsthafte Bedrohung darstellen. 60% aller Angestellten haben Teilzeitverträge und nur 40% sind Festangestellte, mit diesen hat sich Hans aber noch nicht wirklich auseinander gesetzt: „…ich weiß nur, dass die teilweise so viel verdienen, wie wir als Pauschalkräfte, also an die 400 € ungefähr im Monat…“

Die vielen Teilzeitkräfte sind für den Filialleiter günstiger, als die erfahrenen Festangestellten mit ihren hohen Lohnnebenkosten (Arbeitslosen-, Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung). Diese Relikte einer vergessenen Zeit stellen ein Wachstumshemmnis dar und können durch Teilzeitverträge mit deutlich geringeren Sozialabgaben ersetzt werden.

Hans findet diese Entscheidungen ungerecht, dennoch muss er nicht sein Gehalt durch ALG 2 aufstocken wie seine älteren Kollegen, sondern verdient sich lediglich etwas dazu, damit er sich ab und zu mal etwas leisten kann und um etwas unabhängiger von seinen Eltern zu werden. Aber nach sechs Monaten kündigt Hans selber bei seinem Chef, da er es nicht gut findet, dass alleinerziehende Mütter gekündigt werden, um durch junge besser ausbeutbare Teilzeitkräfte ersetzt zu werden.

Die Studierenden, die anderen Job­berInnen und die Festangestellten werden gegen­einander ausgespielt. Wer den Job nur als vorübergehende Geldbeschaffung sieht, denkt sich vielleicht auch, dass er wenig mit den festangestellten Kollegen zu tun hat. Und akzeptiert auch öfter die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der alteingesessenen KollegInnen. Wer die Auf­weichung des Arbeitsrechts nicht hinnehmen will, steht oft alleine da.

Solidarität entwickeln

Durch die hohe Fluktuation am Arbeitsplatz kann ein ruhiger Austausch zwischen den Kollegen nur schwer stattfinden. Die vielen verschieden Arbeitsverträge (Festangestellte, Teilzeitkräfte, Leiharbeit, Praktika,…) sorgen für eine Verwirrung über die Anstellungsverhältnisse.

Außerdem gibt es auch Unterschiede zwischen den studierenden JobberInnen, häufig wollen sich Studierende etwas dazu verdienen, um unabhängig von ihren Eltern zu werden oder auch um einfach erste Erfahrungen im Arbeitsleben zu machen. Aber einige KommilitonInnen sind auf das Einkommen aus dem Nebenjob angewiesen, um wie Tina ihre Miete zu bezahlen.

Ein Student mit neun Wochenstunden identifiziert sich wahrscheinlich weniger mit seinem Arbeitsplatz und seinen KollegInnen, als eine Kassiererin, die 40 Stunden in der Woche im Betrieb ist. Wenn diese Frau gegen die Verschlechterung ihrer Arbeitsverhältnisse kämpft, so kann es durchaus vorkommen, dass die Pau­schal­kräfte sich nicht solidarisieren oder überhaupt gar nicht wissen, dass in ihrem Betrieb ein Arbeitskampf statt findet. Die Arbeitsbedingungen des Festangestellten nähern sich auch immer mehr denen der 400-€-Jobber an. Doch gegen diese Verschlechterungen einen effektiven Widerstand aufzubauen, kann nur gelingen, wenn die imaginäre Grenze zwischen den verschiedenen Statusgruppen eingerissen wird.

Hilfe kann man sich auch von außen holen. So bietet beispielsweise das Hochschulinformationsbüro (HIB) des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Halle Arbeitsrechtsberatungen für studentische JobberInnen an und kann auch Kontakte zu DGB-Gewerkschaften und Betriebsräten im Discounterbereich herstellen. Allerdings wird die Beratung wohl kaum über individualarbeitsrechtliche Fragen hinauskommen, und für klassenkämpferische Positionen sind die DGB-Gewerkschaften ohnehin nicht bekannt.

Anders hingegen verhält sich die Anar­cho­syndikalistische Jugend (ASJ) Berlin mit ihrer Kampagne „Jung und Billig“. Auf ihrer Website findet man brauchbare Hinweise, wie man einen Austausch im Betrieb organisieren kann. Wer neben dem Studium einen Minijob in einem Supermarkt macht, findet dort allerhand rechtliche Tipps und kann auch seine Erfahrungen auf der Seite hochladen, damit andere Leidens­ge­noss­Innen nicht die selben Fehler begehen.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass eine breite Diskussion über studentische Arbeitskräfte mehr als nötig ist, denn Studierende werden oft genug als billige Arbeitskräfte ausgenutzt, da sie wenig Erfahrungen in Sachen Arbeitsrecht aufweisen können. Viele Unternehmen in Universitätsstädten sind auf die kostengünstigen und handzahmen Hilfskräfte angewiesen, um auf deren Kosten Profit zu erwirtschaften. Eine Organisierung von Studierenden am Arbeitsplatz und eine Solidarisierung mit erfahrenen ArbeiterInnen im Betrieb könnte dem Niedriglohnsektor in Deutschland eine wichtige Stütze nehmen.

(Willi Kufalt)

Die „Jung und Billig“-Kampagne der ASJ-Berlin im Internet:
www.minijob.cc

Lokales

Ausschluss für Europa

Bundesregierung verweigert EU-Ausländer_innen die Sozialleistungen

Bundeskanzlerin Merkel hat das Ziel der deutschen Krisenpolitik schon vor längerer Zeit benannt: „Es geht darum, dass es Deutschland gelingt, aus der Krise stärker hervorzugehen, als es hineingegangen ist“. Da gibt es immer was zu tun. Nachdem die Bundesregierung in den letzten Monaten immer neue Sparprogram­me durchgesetzt und damit die Lebensbedingungen für viele Menschen in Europa beträchtlich verschlechtert hat, sorgt sie sich derzeit, die frisch Verarmten könnten nun massenhaft nach Deutschland einwandern und das hiesige Sozialsystem belasten.

Dieser vermeintlichen Gefahr will sie jetzt entgegensteuern. So werden die Hartz-IV-Anträge von in Deutschland lebenden EU-Bürger_innen momentan fast durchweg abgelehnt, bislang gewährte Sozialleistungen werden den Betroffenen verweigert. Besonders betroffen sind – passend zur gegenwärtigen medialen Stimmungsmache – vor allem Zuwanderer_innen aus den krisengebeutelten PIIGS-Staaten wie Italien, Griechenland oder Spanien.

Vorbeugende Vorbehalte

Die deutschen Jobcenter handeln dabei nicht aus eigener Initiative. Sie folgen vielmehr einer entsprechenden Geschäftsanweisung, die das Arbeitsministerium am 23. Februar 2012 der Bundesagentur für Arbeit erteilte. Die Anweisung kam so unvermittelt, dass man im ersten Moment sogar bei der Arbeitsagentur selbst verwundert war: Es gebe eigentlich keinen Handlungsbedarf, hieß es in einer offiziellen Stellungsnahme der Bundesagentur für Arbeit. Es handele sich wohl um eine rein vorbeugende Maßnahme von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen.

Wo deutsche Krisen- und Sparpolitik, die auf den Ämtern übliche Gängelei von Hartz-IV-Empfänger_innen und ein latenter Rassismus zusammentreffen, da kommt natürlich nichts Gutes heraus. Die Vorbeugemaßnahme hat für die Betroffenen drastische Auswirkungen. Ihnen werden damit Sozialleistungen verweigert, auf die sie nicht nur zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind, sondern die ihnen auch zustehen.

Als angebliche Rechtsgrundlage für diese Maßnahme dient der so genannte Leis­tungs­ausschluss, der in §7, SGB II geregelt ist. Dort heißt es, „Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen“ seien von den Leistungen ausgenommen.

Juristisch ist das alles andere als wasserdicht: Diese Klausel kann aus mehreren Gründen nicht auf in Deutschland lebende EU-Ausländer_innen angewendet werden.

So verstößt die Leistungsverweigerung u.a. gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA), das 1953 geschlossen wurde und an dem mittlerweile 18 Staaten beteiligt sind (*). Mit der Unterzeichnung dieses Abkommens verpflichtete sich die Bundesregierung, in Deutschland lebenden Bürger_innen der anderen Vertragsstaaten die gleichen sozialen Rechte und Leistungen wie den deutschen Staatsbürger_innen zu gewähren. Umgekehrt haben auch deutsche Staatsbür­ger_innen, die sich in einem der anderen Vertragsstaaten niederlassen, dort Anspruch auf Sozialleistungen.

Die Verweigerung der Leistungen ist also rechtswidrig – aufgrund des EFA-Vertrags haben die meisten der in Deutschland lebenden EU-Bürger_innen einen legitimen Anspruch auf Unterstützung. Die einzige Einschränkung bestand jahrzehntelang in einer dreimonatigen Sperrfrist für neu zugezogene EU-Ausländer_innen. Aber auch dieser für die ersten drei Monate des Aufenthalts geltende „Leistungsausschluss“ für Bürger_innen der EFA-Vertragsstaaten ist rechtswidrig, wie das Bundessozialgericht in einem Urteil vom Oktober 2010 entschied.

Aber man kann´s ja trotzdem mal probieren… So erklärte die Bundesregierung am 19. Dezember 2011 einen so genannten „Vor­behalt“ gegen das Fürsorgeabkom­men, um EU-Bür­ger­_innen von den Sozialleistungen ausschließen zu können.

Nun wären internationale Verträge reichlich überflüssig, wenn man nach der Unterzeichnung alle stö­renden Bestimmungen nach Belieben ignorieren könnte. Dementsprechend ist so ein Vorbehalt nur dann zulässig, wenn er im Voraus erklärt wurde – dann können die Vertragsstaaten bestimmte, noch nicht bestehende Verpflichtungen umgehen. Ein nachträglich erklärter Vorbehalt ist dagegen nur dann gültig, wenn dies als Möglichkeit im Vertrag selbst ausdrücklich festgelegt wurde.

Nun ließe sich der „Vorbehalt“ mit etwas gutem Willen als Teilkündigung des Abkommens auffassen. Eine solche wäre nach EFA-Artikel Nr. 24 durchaus möglich, es scheint aber fraglich, ob die Bundesregierung dies im Sinn hatte. Nicht nur hätte eine solche Kündigung europapolitisch unabsehbare Folgen – es wäre dann zu erwarten, dass auch die anderen Mitgliedsstaaten das Abkommen kündigen. Zudem hätte die Kündigung, um bis Mitte 2012 wirksam zu werden, spätestens zum 11. Dezember ausgesprochen werden müssen. Der am 19. Dezember erklärte Vorbehalt kam dafür also eine gute Woche zu spät.

Willkürliche Winkelzüge

Der „Leistungsausschluss“ für EU-Bürger­_in­nen verstößt aber zusätzlich auch gegen Europäisches Gemeinschaftsrecht – genauer gesagt gegen die „Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“, die im April 2004 von Europa-Rat und Europa-Parlament verabschiedet wurde und seit Mai 2010 in Kraft ist. EU-Bürger_innen, die in Deutschland Arbeit suchen, haben demnach einen Anspruch auf völlige Gleichbehandlung, auch was den Zugang zu Sozialleistungen anbelangt.

Auch der Bundesregierung war zweifellos bewusst, dass ihre Entscheidung rechtlich gesehen auf wackeligen Beinen steht. Das Kalkül könnte dennoch aufgehen, wenn die Betroffenen auf Widerspruch verzichten und lieber wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren, statt sich auf einen Rechtsstreit mit scheinbar unabsehbarem Ausgang einzulassen.

Dabei haben sie gute Chancen, auf juristischem Wege ihr Recht und ihr Geld zu bekommen. So erklärte das Sozialgericht Berlin in mehreren Fällen die Verweigerung der Leistungen für rechtswidrig. Auch die Klage eines griechischen Staatsbürgers beim Sozialgericht Leipzig war von Erfolg gekrönt.

Der Anwalt des Betroffenen, Dirk Feiertag, erläutert, welche juristischen Möglichkeiten es gibt: „In jedem Fall sollten die Betroffenen innerhalb eines Monats gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch einlegen, und wenn dieser Widerspruch abgelehnt wird, wie es leider zu erwarten ist, dann beim Sozialgericht Klage einreichen – auch das binnen Monatsfrist. Außerdem empfiehlt es sich, gleich bei Erhalt des Ablehnungsbescheides ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren beim Sozialgericht anzustrengen. Das ist wichtig, damit die Betroffenen schnellstmöglich ihr Geld bekommen. Über diesen einstweiligen Rechtsschutz kann das Jobcenter innerhalb weniger Wochen gezwungen werden, die streitigen SGB-II-Leistungen vorläufig weiter zu zahlen, so lange das Gerichtsverfahren läuft.“

Es wäre zu wünschen, dass möglichst viele der Betroffenen sich auf diesem Weg gegen die behördliche Willkür zur Wehr setzen. Denn umso eher werden die Job­center wohl wieder von ihrer derzeitigen Praxis abrücken. Und umso eher dürfte auch die Bundesregierung zum Umlenken bereit sein, die wohl ohnehin nur eine zeitlich begrenzte Willkürmaßnahme im Sinn hatte – einen kalkulierten Regelverstoß, um potentielle Leistungsempfänger_innen abzuschrecken und die staatlichen Kassen zu entlasten. Wenn der Standort Deutschland stärker aus der Krise herauskommen soll, als er hineingegangen ist, dann darf man eben auch vor unorthodoxen Mitteln nicht zurückschrecken.

(hans)

Weitere Infos unter:

www.fsn-recht.de

efainfo.blogsport.de

(*) Namentlich sind das Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien und die Türkei.

„Kita-Kürzungen stoppen“

Die Stadt Leipzig hat beschlossen für das Jahr 2012 bei Kindergärten, Krippen und Horten kräftig zu sparen. Davon betroffen sind vor allem Einrichtungen in privater Trägerschaft, die in Leipzig mehr als 70 Prozent der Kitaplätze stellen. Dagegen regte sich bereits im November heftiger Pro­test. Viele Eltern nahmen an der Ju­gend­hil­feaus­schuss­­­sit­zung des Stadtrates am 07. November teil und äußerten ihren Unmut über die Kürzungen. Zur Stadtratssitzung am 17. November kamen sogar mehr als 700 Menschen zu einer bunten und lautstarken Demonstration zusammen. Die Rats­mit­glieder wurden in der Wandelhalle mit Rasseln, Sprech­chören und Trans­­parenten lautstark begrüßt.

Nur geholfen hat das fast nichts. Die Stadt nahm an ihrem Spar­kurs nur marginale Än­derungen vor. Die Initiative „Kita-Kürzungen-stoppen“ startete daher am 15. No­vember das gleichnamige Bür­ger­begehren, welches genau genommen aus vier sepe­raten Bürgerbegehren be­steht. „Wir benötigen 22.000 gültige Un­ter­schriften von LeipzigerInnen über 18 Jahre. Ziel ist daher, bis spätestens 15. Januar 30.000 Unterschriften zusammen zu be­kommen. Jeder kann helfen zu sammeln“, so Rechtsanwalt Dirk Feiertag, einer der Organisatoren des Bürgerbegeh­rens.

Die Bürgerbegehren haben vier wesentliche Ziele: Als Erstes sollen die von der Stadt gekündigten Verträge mit den Freien Trägern der Jugendhilfe über den Betrieb und die Finanzierung der Kitas zu ungeänderten Bedingungen fortgesetzt werden. Die Stadt hatte die Verträge gekündigt, um die Zuschüsse in den nun neu vorliegenden Verträgen drastisch reduzieren zu können.

Als Zweites hat die Stadt beschlossen, 800 bestehende Krippenplätze in Kinder­gartenplätze umzuwandeln. Diese Umwandlung soll gestoppt werden. Denn nach dem Willen der Initiative sollen Kindergartenplätze nicht auf Kosten von Krippenplätzen geschaffen werden. Es müsse vielmehr beides ausgebaut werden. Schon jetzt kommen in Leipzig nur 5.000 Krippen- und Tagespflegeplätze auf 15.000 Kinder im Krip­pen­alter. Die Streichung von 800 Krippenplätzen verschärft den Versor­gungs­notstand in diesem Bereich noch mehr.

Damit erweist sich die Stadt zudem einen Bärendienst. Denn nach der Streichung der Krippenplätze haben Klagen von Eltern, die einen Krippenplatz von der Stadt fordern, schon jetzt sehr gute Erfolgsaussichten. Und das, obwohl die sogenannte Krippenplatzgarantie normalerweise erst ab 2013 gelten würde. Denn die Krippenplatzgarantie greift nach dem Gesetz ( § 24a SGB 8) schon jetzt, wenn die Stadt in Teilbereichen Krippenplätze kürzt. „Ich bereite bereits die ersten Klagen für Krip­penplätze vor und bin zuversichtlich, mit Eilverfahren schnell Plätze für die betroffenen Eltern erstreiten zu können“, so Rechtsanwalt Feiertag.

Als Drittes wird gefordert, die Zuschüsse an die Freien Träger um den Betrag zu erhöhen, die die Eltern für einen normalen Kinder- bzw. Krippenplatz als Elternbeitrag nächstes Jahr mehr zahlen müssen. Andernfalls würde die Erhöhung der Elternbeiträge nur die Stadt entlasten, sagt Florian Teller, ein Mitorganisator des Begehrens.

Die kostenintensivste Forderung dürfte wohl das letzte Anliegen der Initiative darstellen. Es fordert gleiche Löhne für gleiche Arbeit. Denn die ErzieherInnen der Freien Kitas bekommen nicht selten mehrere hundert Euro weniger Lohn pro Monat als ihre KollegInnen in den staatlichen Einrichtungen. Mit den Geldern, die die Stadt für den Kitabetrieb zur Verfügung stellt, ist eine tarifliche Entlohnung auf dem Niveau des öffentlichen Dienstes einfach nicht machbar. „Wir fordern daher, dass die Stadt den Freien Trägern Verträge anbietet, in denen sich die Freien Träger zur tariflichen Entlohnung verpflichten und hierfür im Gegenzug von der Stadt die notwendigen finanziellen Mittel in die Hand bekommen“, so Feiertag weiter.

Ob das Bürgerbegehren die angepeilten 30.000 Unterschriften tatsächlich bis zum Jahresende zusammen bekommen hat, stand bis zum Redaktionsschluss noch nicht fest. Die Initiative kündigte für diesen Fall aber bereits an, bis zum 17. Januar weiter sammeln zu wollen.

(hans)

Aufwerten oder abwerten?

Leipziger Gentrifizierungsdebatte

Die Aufwertung von Stadtvierteln und die folgende Verdrängung ärmerer Einwohner_innen ist nicht nur in Hamburg und Berlin ein Thema. Auch in Leipzig wird gerade eifrig über Gentrifizierung diskutiert.

Um ihren Wohnraum fürchten der­zeit z.B. die Mieter_innen eines Hauses in der Windmühlenstraße, nahe dem Wilhelm-Leuschner-Platz. Dieses gehörte bis vor kurzem noch der LWB, wurde aber im August an einen neuen Eigentümer, Casa Concept, veräußert. Und der will jetzt das Gebäude sanieren, wodurch voraussichtlich die (bislang sehr günstigen) Mieten steigen. Zudem soll im Erdgeschoss ein Supermarkt einziehen, die Grünflächen im Hinterhof müssten dann u.a. für Parkplätze verkleinert werden. Nach Protesten der Mie­ter_in­nen und Debatten im Stadtrat hat der Investor seine Pläne mitt­lerweile geändert: Der Supermarkt wird verkleinert, und auch die Läden im Erdgeschoss sollen erhalten bleiben, heißt es. Wie sich die Sache weiter entwickelt, bleibt abzuwarten.

Das eigentliche Epizentrum der Debatte ist aber Connewitz, wo in den letzten Monaten wiederholt Häuser mit Farb- bzw. Teerbomben beworfen wurden – Zielobjekte waren dabei u.a. das Bürgeramt und der Kindergarten in der Biedermannstraße, aber auch einige der Stadthäuser, die seit 2002 im Viertel gebaut wurden. Im Zentrum des Konflikts steht jedoch ein neu saniertes Haus in der Mathildenstraße, das bis vor kurzem der Immobilienfirma Hildebrand & Jürgens gehörte, die in Leipzig mehrere hundert Wohnungen verwaltet. Neben den üblichen Farbbeutelwürfen gingen hier auch Scheiben zu Bruch, und bei einer Hausbesich­tigung kreuzte gar eine Gruppe von Vermummten auf, um die potentiellen Mieter_innen zu verschrecken.

Der wiederholten Aktionen wegen wurde ein privater Sicherheitsdienst engagiert, was aber nicht zur Beruhigung, sondern nur zur weiteren Eskalation beitrug: So wurden am 22. Oktober einige Security-Männer, die in einem Auto vor dem Gebäude parkten, von einer Gruppe Schwarzgekleideter mit Steinen angegriffen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Am folgenden Abend wurden vier Jugendliche, die die Hausfassade mit einer Schablone besprüht hatten, von der Security aufgegriffen, zusammengeschlagen und dann der Polizei übergeben.

Für den 27. Oktober riefen deswegen „besorgte AnwohnerInnen“ per Flyer zu einer Spontandemo auf, um den Security-Leuten „gewaltlos und unvermummt“ zu zeigen, „dass solche Zustände hier unerwünscht sind“. Der Plan scheiterte aber an der großen Resonanz. Etwa hundert Personen fanden sich am Treffpunkt ein – bei dieser Menge ließ sich natürlich keine Se­curity blicken.

Aber auch an anderer Stelle gab es Knatsch. Schließlich war auch das frisch renovierte Vorderhaus des Conne Island von Farbbeutelwürfen betroffen. Dort reagierte man erwartungsgemäß verärgert. In einem Statement (1) warf das Ladenplenum den „KiezkämpferInnen“ hohlen Aktionismus vor, der radikal daherkomme, aber letztlich unpolitisch sei: „Eine inhaltliche Auseinandersetzung spielt für sie keine Rolle, militantes Auftreten und Radikalität sind wichtiger als politische Ziele.“ Um dann messerscharf zu schließen: „Der Farbbeutelanschlag aufs Conne Island kann nur einen Grund haben: Die AngreiferInnen können sich nicht anders artikulieren. Es wird sich nicht die Mühe gemacht, Kritik beispielsweise im Conne-Island-Plenum zu äußern oder es per Text mit seinen vermeintlichen Fehlern zu konfrontieren.“

Der letzte Vorwurf wurde von den Verantwortlichen schnell widerlegt: Sie konterten mit einem anonymen Flyer (2) und konfrontierten das Conne Island mit seinen vermeintlichen Fehlern. Der Inhalt ist nicht weiter überraschend: „Auch ihr fördert die Gentrifizierung in einem Stadtteil, in dem ihr schon längst mehr als entbehrlich seid […] Niemand hat Lust für eure Schicki-Micki-Yuppie-Partys in euren Lokalitäten 20 Euro oder mehr auszugeben.“ Mit der Renovierung versuche auch das Island sich für eine zahlungskräftige Klientel attraktiv zu machen. Drum trügen „jeder Farbbeutel und jeder Stein gegen solche Objekte […] zur Abwertung bei. Wir wollen unkommerzielle Freiräume für alle und keine hippen, trendigen, teuren und apolitischen Locations für Yuppies, die sich alternativ fühlen!“ Und zum Schluss noch eine Extraportion Pathos: „Stadtteilkampf ist Klassenkampf!“

Okay. Dass die Eintrittspreise im Conne Island eher zu hoch als zu niedrig sind, ist keine neue Erkenntnis. Und natürlich ist das Island nach 20 Jahren seines Bestehens kein Politikum mehr, sondern ein weitgehend „normaler“ Konzertort. Dasselbe ließe sich aber auch, niedrige Eintrittspreise hin oder her, über das Zoro oder die LiWi sagen. Und die Connewitzer Szene hat sich mittlerweile insgesamt weitgehend entpolitisiert. Die ehemals besetzten Häuser mögen eine gemütliche subkulturelle Nische bieten, aber letztlich sind sie eben auch nur das – eine Nische. Die wilden 90er sind unwiderruflich vorbei. Daran werden auch ein paar Farbbeutel nichts ändern.

(justus)

(1) www.conne-island.de/nf/190/3.html

(2) dokumentiert unter einkesselbuntes.blogsport.de/2011/11/03/gentrifidingsda-in-leipzig/