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Freiheit und Versicherheitlichung

Von der Doppelmoral der EU oder über die Praxis, Roma an der mazedonischen Grenze an ihrer Ausreise zu hindern. Ein Testfahrt-Bericht.

Skopje, April 2015. Moses und ich sitzen in einem mazedonischen Linienbus, der jeden Samstag von Skopje über Dortmund nach Brüssel fährt. 30 Stunden für 110 Euro. Wir sind die einzigen Passagiere an Bord, die nicht mit nach Westeuropa wollen. Unser Ziel liegt nicht einmal eine Stunde von Skopje entfernt: Tabanovce, die Grenzstation, die an Serbien grenzt. Eigentlich werden die Tickets nur pauschal für Deutschland und Belgien verkauft, ohne Zwischenhalt. Aber die Busfahrer haben eine Ausnahme für uns gemacht. Sie wissen, dass wir „Testfahrer” sind, dass wir an Bord sind, um die Kontrollmethoden der mazedonischen Grenzer zu beobachten.

Unzähligen Aussagen von Betroffenen und Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge werden seit vier Jahren tausende mazedonischer Staatsbürger an der Ausreise gehindert, weil sie als „falsche Asylbewerber“ identifiziert werden. Allein im Jahr 2013 zählte FRONTEX 6.700 Personen. Die überwiegende Mehrheit von ihnen bezeichnet sich selbst als Angehörige der Roma. Die Grenzer nehmen sie als solche wahr, weil sie dunkelhäutig sind oder in einer Nachbarschaft leben, die von staatlichen Autoritäten als ‚einschlägig‘ im Bezug auf die Zahl der „falschen Asylbewerber“ gelabelt wird.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, schrieb der Frankfurter Philosoph Adorno in den 1940er Jahren im amerikanischen Exil unter dem Eindruck des faschistischen Terrors in Europa in seiner „Minima Moralia“. Ich möchte wissen, wer festlegt, wie „falsch“ das Leben für Roma aus Mazedonien ist, um es später als „falsches“ Asyl zu labeln; wer ein Interesse daran hat, dass sie kein „richtiges“ Leben leben; wer sie wie an der Ausreise hindert und weshalb.

 

Der Mensch aus Papier

„Wohin willst Du?“, fragt der Grenzbeamte, als er in Tabanovce vor Elvis steht und kritisch seine Frau und die zwei Kinder beäugt. „Nach Düsseldorf.“ „Was willst du dort?“ „Wir besuchen meine Familie.“ „Deinen Pass und die Garantie!“

Der Grenzer durchbohrt Elvis mit seinem Blick, als wäre in seine Retina ein Lügendetektoren-Scanner eingebaut, der „Betrüger“ per Instant-Scan identifiziert. Elvis reicht dem Beamten die geforderten Dokumente, zusammen mit den Pässen seiner Frau und der Kinder. Die Augen des Grenzers fliegen über die Pässe und die „Garantie“, eine vom Einwohnermeldeamt beglaubigte Einladung eines EU-Bürgers, der rechtlich und finanziell für die Familie während ihres Aufenthaltes bürgt, auch dann, wenn die Familie länger als gestattet bleiben und abgeschoben werden sollte.

„Wieviel Geld habt ihr dabei?“ Elvis schaut seine Frau an. Sie murmelt etwas. „Genug“, sagt Elvis. „700 Euro.“ „Aufstehen! Zeigt mir Euer Gepäck!“

Zögernd erhebt sich Elvis vom Sitz, seine Frau schaut den Grenzer unverwandt an. Als die beiden wiederkommen, führt der Grenzbeamte seine Kontrolle weiter. Vor den Personen mit dunkler Hautfarbe bleibt er länger stehen und stellt ihnen die selben Fragen wie Elvis. Einer von ihnen ist Moses, ein langjähriger Freund, selbst ein Rom aus Mazedonien, auch er wohnt in einer „einschlägigen“ Nachbarschaft. Er begleitet mich um mir beim Übersetzen zu helfen. Auch ihn fragt der Grenzer, wohin er will. „Nach Serbien“, sagt Moses und gibt dem Grenzer seinen Personalausweis, denn ein Pass ist nicht nötig, um als mazedonischer Staatsbürger nach Serbien zu reisen. Der stechende Blick des Grenzbeamten straft schon seine Worte: „Der Bus fährt nur nach Westeuropa.“ „Es ist mit den Busfahrern abgesprochen“, sagt Moses. „Dein Pass und die Garantie.“ „Für Serbien?“ „Ja.“ „Serbien ist nicht in der EU…“ Sein bohrend-drohender Blick erstickt den Rest des Satzes. Moses gibt dem Grenzer seinen Pass.

In den letzten Jahren wurden tausende Pässe von angeblichen „Asylbetrügern“ mit einem Stempel versehen, dessen obere Ecke von zwei handgezogenen Strichen durchkreuzt worden ist. Bis vor kurzem gab es zu diesem Labeling oft die Buchstaben AZ (für „Azil“). Die Striche bedeuten eine verhängte 24h-Ausreisesperre für ihre Träger. In der Regel werden Reisende mit diesem Label auch nach Verstreichen der 24-Stunden-Frist nicht aus dem Land gelassen. Begründet werden die verweigerten Ausreisen nur selten. Manchmal sagen Grenzer Sätze wie: „Das ist eine Anordnung vom Innenministerium“, oder: „Ihr habt nicht genug Geld dabei“.

Weil ich Moses potentielle und zukünftige Ausreisen nicht gefährden will, oute ich mich gegenüber dem Grenzer, sage ihm, weshalb wir hier sind, in der Hoffnung, dass er seinen Pass mit dem berüchtigten Label verschont. Er wird wütend, sagt, dass ich für solche Zwecke nicht ohne Genehmigung an die Grenze kommen dürfe.

Letzten Endes wird Moses Pass weder gestempelt noch gelabelt. Tatsächlich wird wider Erwarten keiner der Passagiere gezwungen wieder nach Hause zu fahren. Die Busfahrer sagen, es sei das erste Mal seit Jahren, dass alle durchkämen. Sie sind erleichtert, endlich eine Fahrt zu haben, bei der alle weiterfahren dürfen und sie keinem der Passagiere die Tickets zurückerstatten müssen. Sie sagen, es sei wegen mir. Sie sagen, die Grenzer befürchten schlechte Presse. Später stellt sich heraus, dass der Reise-Agenturleiter, mit dem ich die Fahrt abgesprochen hatte, die Grenzer über mein Kommen informiert hatte. Er sagte ihnen, dass eine Journalistin aus Deutschland mit an Bord sitze, die über die Kontrollen in der Mainstream-Presse berichten würde. Seine Strategie hatte Erfolg, auch für seine Reise-Agentur.

Als ich später eine Grenzerin frage, weshalb hier nur Menschen mit dunkler Hautfarbe nach „Garantien“ und ausreichend finanziellen Mitteln befragt werden würden, während weiße Reisende unbehelligt passieren könnten, erklärt sie unmissverständlich: „Wir handeln hier auf Anweisung der EU! Wir bekommen regelmäßig Berichte von Deutschland, dass es immer noch zu viele Roma-Asylbewerber gibt.”

Die Daten zur ethnischen Kategorie „Roma“ unter Asylbewerbern in der BRD werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gesammelt, das die Asylbewerber aus dem Balkan anhört und über ihre Asyl-Gesuche entscheidet. Viele Roma begründen ihr Asylgesuch mit der ökonomischen und politischen Diskriminierung, die sie als Minderheit erfahren. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sind über die verheerende Lage vieler Roma in Mazedonien informiert. Sie benennen sie in den Fortschrittsberichten, bezeichnen sie als „unzureichenden Minderheitenschutz“ des Staates. Gleichzeitig identifiziert FRONTEX in seinen letzten Western-Balkan-Risk-Analysis-Berichten das „common profile“ derjenigen, die ihrer Meinung nach Asyl-Missbrauch betreiben würden. Wiederholt werden hier einzig und allein „Roma“ benannt, „die oft mit ihren Familien anreisen“.

Wie hat es die EU geschafft, „die Roma“ als europäisches Problem zu konstruieren?

 

Zuckerbrot und Peitsche aus Schengenland

Ein Jahr nachdem die EU als Anreiz eines potentiellen EU-Beitritts Mazedonien, Serbien und Bosnien-Herzegowina von der Liste der schwarzen Schengen-Staaten befreit und „weiß“ gepinselt hat, so dass die jeweiligen Staatsbürger für drei Monate als Touristen ohne Schengen-Visa in die EU einreisen dürfen, mehrten sich Beschwerden der Innenministerien, vor allem aus Belgien und Deutschland, über zu viele „Asyl-Betrüger“. Zeitgleich kursierten Begriffe wie „Wohlfahrtstourismus“, „Asylmissbrauch“ und „Masseneinwanderung“ im öffentlichen Diskurs. „Allein 30.000 Asylanten aus dem Balkan“, kreischten die Medien, ohne die Zahl in irgendein Verhältnis zur Gesamtzahl der Antragsteller in der BRD zu setzen. Es scheint, als könne die Gated Community EU es nicht ertragen, dass sie nun auch noch mit Binnen-Flüchtlingen fertig werden muss. Der Feind, so die Konstruktion im öffentlichen Diskurs, kommt jetzt auch aus Europa. Aus der Perspektive der EU müssen die Grenz- und Kontrollregime deshalb nicht nur an den EU-Außengrenzen, sondern auch an den Grenzen der Drittstaaten (1) und Transitländer intensiviert werden. Die Rechte der EU-Bürger – damit sind vor allem die gewinnbringenden Reisenden gemeint, also Geschäftsleute, Studenten und Touristen – sollen geschützt werden. Wenn zu viele „andere“ reingelassen würden, könnte sich die Elite schließlich in ihren Rechten beschnitten, ausgenutzt fühlen. Mehr noch: Die Sicherheit der einzelnen Mitgliedstaaten könnte gefährdet sein. Mit der Strategie der Versicherheitlichung setzt die EU Mazedonien die Pistole auf die Brust, nach dem Motto: „Wenn ihr nichts aktiv gegen den Asyl- und Visa-Missbrauch unternehmt, führen wir das Schengen-Visum wieder ein!“ Im EU-Sprech heißt die Drohgebärde „Sicherheitsklausel“. Um zu zeigen, wie ernst ihnen damit ist, fahren EU-Ministerialvertreter eigens in das kleine Balkanland, um die „einschlägigen“ Nachbarschaften der „Betrüger“ und Regierungsvertreter zu besuchen. Schon zu Beginn schlug die Nachricht ein wie eine Bombe.

Ohne zu zögern, erweiterte die Regierung den Reisedokumente-Gesetzeskanon, stellte die Ausreise von „falschen Asylbewerbern“ unter Strafe, filzte und briefte Reise-Agenturen und sponsorte Visa-Liberalisierung-Aufklärungsworkshops in den „einschlägigen Nachbarschaften“. Diese Nachbarschaften/Adressen wurden fortan in den Computersystemen der Grenzer gespeichert und bei den Kontrollen abgeglichen. Das hatte zur Folge, dass zunächst die Pässe der „Betrüger“ für ein Jahr einbehalten wurden.

„Warum stellen sie uns Pässe aus, die wir nicht benutzen dürfen?“, fragten damals viele zu Recht, die das erste Mal in ihrem Leben einen (biometrischen) Pass kauften, nachdem die EU im Rahmen der Beitrittsverhandlungen Druck auf die Westbalkanländer ausübte und sie aufforderte, alle Bürger endlich registrieren zu lassen. Nachdem das Einbehalten der Pässe an der Grenze vom mazedonischen Verfassungsgericht als illegal eingestuft worden war, wurden die Pässe zwar nicht mehr zurückgehalten, dafür aber mit den 24h-Ausreisesperre-Strichen versehen. Vollkommen unabhängig davon, ob die Reisenden nur nach Serbien zu Verwandten oder zum Einkaufen oder in die EU reisen woll(t)en.

Trotz Klagen vor dem Ombudsmann, dem Antidiskriminierungs-Kommitee und einigen niederen Gerichten änderte sich nichts an der Praxis. Auch Roma-Repräsentanten unter den politischen Entscheidungsträgern konnten nichts gegen das Racial Profiling (2) ausrichten. Das Gros der Roma-Politiker, die für die Regierung arbeiten, kritisieren das Vorgehen erst gar nicht. Ihre Gegner sind dagegen überzeugt, dass sie die Praxis gutheißen, um wertvolle Wählerstimmen im Land zu behalten. Die Roma, die in der Opposition arbeiten, haben landesweite Proteste organisiert. Mobilisieren konnten sie nicht viele. Die meisten haben Angst vor noch mehr Diskriminierung. Ein Rom sagte mir: „Vor allem die paar wenigen, die einen Job haben, wollen ihn nicht wieder verlieren.“ Viele Familien kämpfen ums Überleben. Die Sozialhilfe (Euro 30/Monat) reicht für viele nicht einmal aus, um die Stromrechnung zu bezahlen.

Anfang 2015 wurde nun zusätzlich ein Gesetz erlassen, das es Beziehern von Sozialhilfe verbietet, Western-Union-Überweisungen aus dem Ausland zu beziehen. Die Daten des internationalen Geldtransfers durch Western Union werden dazu von Staats wegen her überprüft. Sozialhilfebezieher, die dennoch WU-Gelder beziehen, werden von der „Wohlfahrtsliste“ gestrichen und verlieren damit ihren Anspruch auf Sozialhilfe.

 

Abschottungspolitik made in Germany

Auch die sogenannten Aufnahmeländer verschärften indes ihre Gesetze. Auf Empfehlung der EU ernannte Deutschland letztes Jahr die drei „bedrohlichen“ Balkan-Staaten kurzerhand zu „sicheren Herkunftsländern“ um, also zu Ländern, in denen politische Verfolgung durch den Staat ausgeschlossen ist und in denen der Staat Menschen, die durch nicht staatliche Akteure verfolgt werden, nicht schützen kann. Doch diese Maßnahme galt einzig dem Versuch, die Zahl der Asylbewerber einzuschränken, und nicht etwa der Erkenntnis, dass die Staaten sich in den letzten Jahren zu sicheren Regionen entwickelt hätten. Das Ziel der Gesetzesverabschiedung sah vor, dass politisches Asyl für Menschen aus diesen Ländern verunmöglicht werden sollte. Den „Betrügern“, die sich dennoch trauten, sollte ein beschleunigtes Verfahren drohen, das sie schnell wieder aus dem Land befördert. Verstärkte Einreisesperren und Abschiebeinhaftierungen sollen in Zukunft laut dem neuen Bleiberecht ihr übriges tun. Doch auch schon in den Jahren vor der Sicheren-Herkunftsland-Regelung lag die Anerkennungsrate für Asylbewerber aus Mazedonien, die sich in Deutschland bewarben, laut Eurostat unter 0,5 Prozent.

Besonders „engagierte“ Politiker – wie schon der ehemalige Innenminister Friedrich oder jetzt unlängst der Leiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmidt – drohten damit, die Beitragsleistungen für Personen aus „sicheren Herkunftsländern“ zu senken. Ähnliche Empfehlungen kommen bis heute auch direkt aus Brüssel. Im jüngsten Western Balkan Monitoring Report empfiehlt das European Asylum Support Office (EASO) der Europäischen Kommission u.a., Sozialleistungen für Asylbewerber, wie beispielsweise Taschengeld und Rückkehrhilfe, zu reduzieren. Im gleichen Bericht wird an anderer Stelle. Der erschwerte Zugang von Roma in Mazedonien zum Bildungs-, Wohn- und Gesundheitssektor bemängelt. Doch diejenigen von ihnen, die dem Teufelskreis der Armut und der Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder sexuellen Orientierung entkommen möchten, werden nicht aus dem Land gelassen. Die EU und die BRD helfen mit, indem sie Mazedonien weiter kräftig unter Druck setzen, die Grenzen stärker zu kontrollieren.

Dass LGBT‘s und Roma in den „sicheren Herkunftsländern“ in der Regel behandelt werden wie Bürger dritter Klasse und der „sichere“ Staat eben wenig bis nichts tut, um sie zu schützen, um sie zu gleichberechtigten Bürgern zu machen, interessierte damals wie heute die Gesetzesgeber wenig. Der Bundestag organisierte zwar eine öffentliche Anhörung, die die politischen, ökonomischen und sozialen Missstände klar benannte. Der zweite Asylkompromiss mit der Schaffung der „sicheren Herkunftsländer“ und der Einteilung in „gute“ bzw. „ehrliche“ und „schlechte“ bzw. „falsche“ Asylbewerbern wurde aber dennoch durchgewunken. Die Tatsache, dass in Mazedonien seit Jahren auf Empfehlung der EU an der Grenze aussortiert wird und bereits um die zwanzigtausend Roma wiederholt an der Ausreise gehindert wurden, ist zwar auch schon länger bekannt, wird aber in der Konsequenz begrüßt, auch wenn hier Behörden eines „sicheren Herkunftslandes“ sowohl gegen die eigene Verfassung als auch gegen EU-Recht verstoßen. FRONTEX schreibt in seinem Western Balkans Annual Risk Analysis 2014 Report zu den operativen Maßnahmen in Mazedonien:

Im Jahr 2013 verstärkte Ausgangskontrollen: Überprüfung der notwendigen finanziellen Mittel, die Durchführung von Interviews in Bezug auf ihr Ziel, den Zweck und die Motive der Reise. Sollte es Anzeichen dafür geben, dass die eigentliche Absicht des Reisens ist, das Recht auf Asyl zu missbrauchen, wird der Person die Ausreise in Einklang mit Artikel 15 des Gesetzes über die Grenzkontrolle verweigert.
2. Verbessertes Profiling von Personen, die das Asyl in der EU missbrauchen: Dazu gehören die Identifizierung von Gemeinden, aus denen die meisten abgelehnten Asylbewerber kommen (…) Im Jahr 2013 konnte die Zahl der Personen, die an der Ausreise gehindert wurden, auf 6.700 erhöht werden. 41 Prozent mehr im Vergleich zum Jahr 2012.
3. Verstärkung der repressiven Maßnahmen: Im Jahr 2013 stellten Behörden dreimal mehr Straftaten von ‚Missbrauch der Visa-Freiheit mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und des Schengen-Abkommen‘ fest. Die Zahl der verurteilten Täter verdoppelte sich.“
(Eigene Übersetzung aus dem Englischen).

 

Gated Community EU

Freiheit und Sicherheit sind in der EU zu Synonymen geworden, zumindest für die wohlhabende Klasse der EU-Bürger. Für die Drittstaatler und Menschen aus „sicheren Herkunftsländern“ gibt es Freiheit oft nur als Freizügigkeit – unter bestimmten Bedingungen. No freedom of movement made by EU: Die Warnung der EU an die Westbalkanländer, die „falschen“ Asylbewerber zu stoppen, hat dazu geführt, dass sich die Katze in den Schwanz beißt. Mazedonien verstößt gegen sein eigenes nationales Recht, einschließlich seiner Verfassung, die EU wiederum gegen ihren eigenen fundamentalen (Menschen-)Rechtskanon und internationales Recht. Dem nicht eingehaltenen Minderheitenschutz gegenüber Roma, den die EU in ihren Fortschrittsberichten gegenüber dem kleinen Balkanland immer wieder bemängelt, wirkt der supranationale Staatenbund in keiner Weise entgegen. Die Verantwortung wird auf die politischen Entscheidungsträger des kleinen Balkanlandes abgewälzt, das indes von einer Reihe politischer Skandale gebeutelt wird und sich mit „ganz anderen“ Problemen konfrontiert sieht, als der Minderheit entgegenzukommen, die das Bild der „guten“ Mazedonier im Ausland „beschmutzt“. Konkrete Empfehlungen, die die EU gegenüber Mazedonien macht, der sozio-ökonomischen Situation von Roma gerecht zu werden, werden nur selten oder gar nicht überprüft. Finanzielle Mittel sickern kaum zu lokalen Projekten durch; die Situation bleibt die gleiche verheerende. In den Berichten an die Kommission zieht Mazedonien trotzdem eine positive Bilanz, um nicht allzu schlecht wegzukommen und die Beitrittsgespräche nicht zu stören. Da sich in der Realität indes kaum etwas geändert hat, versuchen die Menschen weiterhin ihrer Misere zu entfliehen, doch die Schlaufe um ihren Hals wird immer enger: denn die Drohgebärden der EU gegenüber Mazedonien werden deutlicher, die Grenzkontrollen schärfer, die Grenzübertritte von Roma werden stärker „illegalisiert“ und für die Betroffenen dadurch gefährlicher und teurer.

Aus Menschen, die mit ihren Familien nicht vor Krieg fliehen, sondern vor dem Leben in einem „sicheren“ Staat, der ihnen weder ökonomische Perspektiven noch politischen Schutz bietet, werden Täter. Aus Menschen, die kurzzeitig ihre Verwandten in einem EU-Land besuchen wollen, werden Täter – oft auch dann noch, wenn sie eine offizielle Einladung vorweisen können. Aus Menschen, die von ihrem Menschenrecht, ihr Land zu verlassen, Gebrauch machen, werden Täter, menschliche Bedrohungen, potentielles Sicherheitsrisiken für die öffentliche Ordnung und Sicherheit der EU, eine Wirtschafts- und Wertegemeinschaft die erst unlängst mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde – für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa. Witz komm raus, du bist von unsichtbaren Grenzen umzingelt.

Ein Beispiel für die Doppelmoral der EU, die sich nach außen mit ihrer liberalen, menschenrechtsorientierten Politik brüstet und nach innen eine Abschottungspolitik betreibt, zu der sie auch die Staaten ermuntert, die um eine EU-Anwerberschaft buhlen. Die Visa-Liberalisierung war das erste Leckerli – jetzt müssen sie zeigen, dass sie sich das auch verdient haben. Ansonsten wird die Schengen-Mauer wieder errichtet, der EU-Beitritt weiterhin verweigert werden. Wer aber zieht die EU zur Verantwortung, wenn sie (Anwerber-)Staaten ermutigt, gegen ihre eigenen Gesetze zu verstoßen?

Europäische Gerichtshöfe? Um eine Klage wegen Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft an der Grenze gegen einzelne Mitgliedstaaten vor den Europäischen Menschrechtsgerichtshof in Straßburg zu bringen, müsste erst erfolglos durch alle Instanzen im Herkunftsland geklagt werden. Bislang sind die Klagen von Betroffenen in Mazedonien nicht über die erste Instanz hinausgekommen.

Politische Akteure in den einzelnen Mitgliedsstaaten, die die binationalen Beziehungen in den Herkunftsländern stricken? Als ich bei der deutschen Botschaft in Skopje um eine Stellungnahme zum Racial Profiling an der mazedonischen Grenze bat, wurde ich an die politische Abteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin verwiesen. Als ich das anschrieb, hieß es aus Berlin: „Wir betonen, jedwede diskriminierende Kontrollpraktiken abzulehnen, doch können wir Ihrer Bitte um eine Stellungnahme leider nicht nachkommen, da uns zu diesem spezifischen Thema keine verlässlichen Daten vorliegen. Gerne verweisen wir Sie auf die Expertise der Kollegen im BAMF.“ Als ich ihnen die entsprechende verlässliche Daten bzw. wissenschaftliche Berichte in Peer-review-Journalen und Berichte internationaler NGOs schicke, erhalte ich keine Antwort mehr. Aber auch die Leiterin der Außenstelle des BAMF in Sachsen entschuldigt sich aufgrund derzeitiger Arbeitsüberlastung.

Von der Grenze aus fährt kein öffentlicher Verkehr zurück in die nächstgelegene Stadt Kumanovo. Menschen, die von hier wieder zur Umkehr nach Hause gezwungen werden, müssen sich abholen lassen. Meistens erledigen das informelle Taxifahrer. Auch Moses und ich fahren nach unserer „Testfahrt“ mit einem informellen Taxi zurück. Unser Taxifahrer erzählt uns, dass er aufgehört habe, die Zurückgeschickten zu zählen, dass er jeden Tag hierherkommen könne und Kunden bekäme. Das Geschäft läuft gut, denn aufgrund der ungewöhnlichen Strecke, erheben die Taxifahrer eine extra Pauschale. Unser Taxifahrer diskreditiert die Rückschiebepraxis trotzdem: „Wenn ihr meine Meinung wissen wollt, darüber was hier an der mazedonischen Grenze gerade passiert, dann sage ich: Hier werden zur Zeit Roma gekidnappt. Sie werden so stark ihrer Rechte beraubt, dass sie aufhören als Person zu existieren.“

Der Taxifahrer bringt es auf den Punkt: Indem „Wir“ (EU-Bürger) und „die Anderen“ (Drittstaatler) konstruiert werden, werden eben nicht nur „die Rechte der Anderen“ konstruiert, sondern auch eine „Entrechtlichung der Anderen“ legitimiert, indem sie kollektiv diskriminiert und kriminalisiert werden. Das Recht des Individuums, das hohe Gut des aufgeklärten Abendlandes, bleibt so exklusiv bei den Angehörigen einer „EU-Wertegemeinschaft“.

[Lotte Rie]

 

(1) Als Drittstaaten oder Drittländer werden Staaten bezeichnet, die nicht Mitgliedsstaat eines gegenseitigen Abkommens mindestens zweier anderer Staaten oder eines Suprastaates wie der EU sind. (Quelle: Wikipedia)

(2) Als Racial Profiling oder „ethnisches Profiling“ wird das Handeln von Polizei-, Sicherheits-, Einwanderungs- und Zollbeamten bezeichnet, wenn dieses Handeln auf allgemeinen Kriterien wie ‚Rasse‘, ethnischer Zugehörigkeit, Religion und nationaler Herkunft einer Person basiert.

Literatur: Katrin Simhandl (2007). „Der Diskurs der EU-Institutionen über die Kategorien ‚Zigeuner‘ und ‚Roma‘: Die Erschließung eines politischen Raumes über die Konzepte von ‚Antidiskriminierung‘ und ‚sozialem Einschluss‘“, Nomos Verlag

Die Redaktion zieht…

… einen Schlussstrich

Schluss mit dem Gejammer, Schluss mit dem Selbstmitleid. Schluss mit der Grübelei um verpasste Chancen, verbunden mit der Angst sie kämen nicht wieder. Schluss mit der Trauer um unerfüllte Träume. Schluss mit dem Zweifel am eigenen Lebensweg.

Ich ziehe einen Schlussstrich hinter all die selbstgezüchteten grauen Hirnzermarterer. Sie kommen einfach nicht mehr über die Rote Linie. Denn Ich bin mein eigener Gott, kann selbst bestimmen, was mich prägen soll.

Ich zieh die Zügel selbst, setz meine rosa Brille auf und reite auf meinem lila Pferd namens Aufbruch erneut der Sonne entgegen. Will leben, lieben, lachen, lustig sein. Geh meinen eigenen Weg. Verfolge meine Ziele und werde dadurch unweigerlich neue Türen finden, die sich mir öffnen. Ich hab mein Leben in der Hand, bin Schmiedin meines eigenen Glücks. Zeit dieses Handwerk richtig zu beherrschen. Ich fange mit dem roten Schlussstrich an und lass meine trübe Tasse dahinter stehen.

Jedem Ende wohnt ein Anfang inne. Und jedem Anfang ein neuer Zauber. An meinem Anfang steht der Wille. Solang der bei mir ist, ist alles möglich.

[momo]

 

… die Schublade auf

während sie am endlosen Schrank entlangstürzt, drin sind Stimmen, die nicht raus können, zwischen den Funken in der Schublade, die Flammen sein wollen.

[schlecki]

 

… von c2 nach c4

Von Rubinstein abgeguckt. Also Akiba, dem größeren Genie, nicht Artur.

Viel zu selten allerdings, dass ich überhaupt mal noch Figuren ziehe. Das Schachproblem im Feierabend! ist schon seit Jahren leider der einzige Anlass, mich an‘s Brett zu setzen. Dabei lobpreise ich bei jeder Gelegenheit die meditativen Möglichkeiten des Schachspiels und gerade die Entspannung, die sich beim Lösen eines Problems einstellen kann. Doch damit nicht genug, ist Schach immer auch Lebenshilfe. So wie man zieht, so steht man. Klingt wie eine beliebige Binsenweisheit, ist jedoch als eine von vielen Schachmetaphern auch eine kleine Stütze im Trubel der Gesellschaft. Denn ob man nun umzieht, es einen zu jemandem hinzieht, man sich auszieht, jemanden abzieht, was krasses durchzieht oder jemanden erzieht. Zug um Zug ändert sich die eigene Position und auch die anderer.

[shy]

 

Ich ziehe…

… mir mal wieder warme Socken an, ziehe dabei an einem Faden, der sich zieht und zieht bis die Socke dahingezogen ist. Ich ziehe mit dem Faden los. Ziehe dabei ein mürrisches Gesicht, denn ohne Socken zieht es an den Füßen. Meine Oma zieht den Faden wieder auf, nach links, nach rechts, nach links, nach rechts, sie zieht und zieht, damit ich mir wieder warme Socken anziehen kann.

[mv]

 

hier niemanden durch den Kakao

Dazu ist die Metapher einfach zu altbacken. Außerdem ist es interessanter und relevanter, Dinge und Zustände als Personen durch den Kakao zu ziehen. Aber so große Kakaogefäße finden sich auch eher selten. Und besser werden die Dinge durch zuckrige Schmierschichten sowieso nicht. Also Dinge und Zustände lieber kritisieren und den Kakao der betreffenden Person ins Gesicht schütten. Oder eben einfach trinken – besonders empfehlenswert in Hinsicht auf den sich nähernden Winter.

[wasja]

Vom Denken in schwierigen Zeiten

Über Johannes Agnolis „Die Subversive Theorie“

Ein kluger Mensch – ich glaube, es war Christian Riechers – hat den Marxismus mal als eine „Theorie der Niederlage“ bezeichnet. Der Gedankengang dahinter ist so schlicht wie einleuchtend: In einer revolutionären Situation, wenn die Leute massenhaft revolutionär handeln, ergibt sich das entsprechende revolutionäre Denken von selbst. Schwieriger sind die Flauten zwischen solchen Zeiten, die oft mehrere Jahrzehnte dauern, wo zwar die Verhältnisse genauso elend sind, wie sie es den größten Teil der Menschheitsgeschichte über waren, aber jeder Widerstand fast aussichtslos erscheint – und gerade dann braucht es die Theorie, wenn mensch sich von der schlechten Realität nicht vollends blöd machen lassen will.

In diesem Sinne verstand auch Johannes Agnoli seine „Subversive Theorie“, oder, um die Sache mal aufzudröseln, die Aufgabe der Subversion wie der Theorie – als Gegenmittel für schlechte und Vorarbeit für bessere Zeiten. Oder, in seinen eigenen Worten, gerade dann, wenn „die Revolution gezwungen ist zu überwintern, [ist] ein Impuls zu Subversion notwendig […], sei es, um die soziale Spannung, oder sei es, um die Hoffnung auf eine radikale Änderung aufrechtzuerhalten.“ Die entsprechenden Gedankengänge entwickelte Agnoli in einer Vorlesungsreihe, die im Oktober 1989 begann – also in schöner Parallelität zu den weltgeschichtlichen Ereignissen, in denen der östliche „real existierende Sozialismus“ sein keineswegs bedauerliches Ende fand.

Nun ist die „Subversion“ als Begriff in den letzten Jahrzehnten schon arg geschunden und überdehnt worden – wenn irgendwer sich irgendwo ein irgendwie revoluzzerhaft-widerständiges Ansehen geben will, dann muss fast immer die arme Vokabel „subversiv“ dafür herhalten. Agnoli benutzte den Begriff allerdings anders, im präzisen, hergebrachten Sinne: „subvertere, das Unterste nach oben kehren, umstülpen“, also ganz im Sinne des von Marx formulierten kategorischen Imperativs, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ Das ist nicht neu, aber die Klassengesellschaft ist ja auch eine jahrtausendealte abgeranzte Scheiße – solange uns dermaßen alte Probleme belästigen, bleiben die alten Forderungen aktuell.

Freilich ist die Klassengesellschaft von den sozialen Klassenkämpfen, von „oben“ wie von „unten“, stetig neu geprägt und verändert worden. So gibt es logischerweise auch nicht die Subversion, die eine Subversion schlechthin als irgendwie außergeschichtliche Größe, sondern vielmehr viele Formen der Subversion – und diese versuchte Agnoli in seinen Vorlesungen, durch die (europäische) Geschichte hinweg zu verfolgen und nachvollziehbar zu machen. Ein einigermaßen ambitioniertes Unterfangen, das aber in seiner Durchführung keineswegs so trocken ausfällt, wie mensch vielleicht befürchten könnte. Dafür sorgen nicht nur Agnolis Humor und seine lockere Vortragsweise. Vielmehr zeigt er in seiner Untersuchung immer wieder auf, dass die Konflikte „von früher“ auch heute noch nicht erledigt sind, und verdeutlicht, wie weit wir uns heute noch in den Fluchtlinien vergangener Klassenkämpfe bewegen.

Dabei ist der gespannte Bogen denkbar groß: Von Eva angefangen (wobei Adam eher schlecht wegkommt), geht es weiter über die griechische Sophistik, die Auseinandersetzungen zwischen Plebs und Patriziern im alten Rom, die millenaristischen Sekten des Mittelalters bis in die Neuzeit hinein, zu den Levellers und Diggers der englischen Revolution und zu den französischen Enzyklopädisten. Agnoli widmet sich also nicht nur den Bewegungen „an der Basis“, sondern macht – fast im Vorübergehen – deutlich, welche gesellschaftlichen Konflikte sich hinter vielen philosophischen und theologischen Debatten der Vergangenheit verbargen. Auch die Geschichte der Religion ist eben eine Geschichte von Klassenkämpfen, und die Geschichte der Philosophie sowieso.

Nun sind die ausgeteilten Denkanstöße zu zahlreich, als dass sich hier im Einzelnen auf sie eingehen ließe. Als Anregung zum kritischen Gebrauch des eigenen Hirns – als Mittel also, um sich den herrschenden Verhältnisse gegenüber wenigstens ein Stück gedankliche Freiheit zu erarbeiten – taugt diese „Subversive Theorie“ jedenfalls allemal sehr gut. In der Provinz Deutschland wird es wohl noch etwas länger dauern, bis sich wieder eine revolutionäre Situation ergibt. In der Zwischenzeit lohnt es sich, dieses Buch zu lesen.

[justus]

 

Johannes Agnoli: „Die Subversive Theorie. ‚Die Sache selbst’ und ihre Geschichte“, Schmetterling Verlag 2014, 266 Seiten

Mein Gott, mein Staat, mein Niemandsland

Frei nach dem Motto „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, bild‘ ich einen Staatsraumkreis“, gibt es weltweit immer wieder Menschengruppen, die ihren eigenen Staat ausrufen. Wahlweise finden sie dafür ein noch staatenfreies Fleckchen Erde oder erkennen bestehende Staaten nicht als rechtmäßig an. Durchaus ernst gemeint und mit verschiedenen Motiven ausgestattet.

Ein Beispiel dafür ist der im April ausgerufene Staat mit dem vielversprechenden Namen Freie Republik Liberland und seinem Motto „Leben und Leben lassen“. Das bisherige Niemandsland erstreckt sich zwischen Kroatien und Serbien auf einer sieben km² langen Sumpflandschaft mit Wald und Wiesen.

Eine subversive anarchistische Aktion, um die auf Nationalstaaten basierte politische Elite zu provozieren, das Staatenwesen vor und ad absurdum zu führen? Ein Freiraum für Unterdrückte, die in solidarischer Gemeinschaft ohne Herrschaft leben wollen? Leider nein.

Dieser im April 2015 ausgerufene Staat beansprucht zwar weitestgehende Freiheit für sich, definiert diese jedoch vorzugsweise wirtschaftlich. Ganz anarchokapitalistisch geht es dem Gründer und Präsidenten Vít Jedlicka um eine Steueroase. Privateigentum ist das höchste schützenswerte Gut. Will man Staatsbürger von Liberland werden, muss man diesen Grundsatz teilen und darf zudem „keine kommunistische, extremistische oder Nazivergangenheit“ haben. Ansonsten wird mensch laut Homepage nicht für „vergangene kriminelle Handlungen“ zur Rechenschaft gezogen, ist jedoch angehalten „andere Menschen und deren Meinungen unabhängig von ihrer Herkunft & Orientierung zu respektieren“.

Auch wenn es die Liberländler vielleicht gern anders hätten: International erregt ihr neues Staatsgebiet bisher wenig Aufsehen, sondern wird ignoriert oder als vermeintliche Satire-Aktion heruntergespielt. Sicher nicht ohne Kalkül, schließlich sollen doch die Bürger ihre zu versteuernden Gelder im eigenen Land lassen. Und erst recht nicht auf die Idee kommen, weitere Ministaaten auszurufen, in der jenseits der Staaten-basierten (Un-)Ordnung – aber dennoch unter deren Label – eigene Gesetzte herrschen.

Ignoranz ist jedoch noch eine der harmloseren Reaktionen auf derlei Neustaaten. Denn wenn es Gruppen gibt, die ihren neuen Staat auf bereits vergebene Staatsräume legen, wird meist härter durchgegriffen. Am bekanntesten ist hierzulande wohl die sog. Reichsbürgerbewegung, die zumeist aus rechten Ideologen oder Verschwörungstheoretiker_innen besteht, welche die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Grundgesetz rechtlich für völker- und verfassungswidrig halten. Dies wird als Argumentationsgrundlage ausgebaut, um Menschen zur Unterstützung eigener Machtansprüche zu gewinnen, wahlweise in Form von sog. Reichsregierungen, Fürstentümern oder Königreichen.

Ein Beispiel dafür ist der „Imperator Fiduziar“ Peter Fitzek mit dem Königreich Deutschland, das er bereits 2012 auf einem acht Hektar großen Gelände in der Lutherstadt Wittenberg ausrief. In Anlehnung an die Reichsbürgerbewegung erkennt auch er die staatliche Souveränität Deutschlands nicht an, weil die Verfassung fehlt. Allerdings will er nicht die Alte zurück samt der Grenzen von 1937, sondern lieber eine „lupenreine Monarchie“. Seit der neue König mit dem Aufbau einer eigenen Krankenkasse, Versicherung und Währung begann, zudem noch eigene Autokennzeichen anfertigen ließ und von königlicher Steuererhebung träumt, wird er jedoch nicht mehr von der Staatsgewalt ignoriert. Sondern staatsrechtlich verurteilt.

Kurzum, so einfach ist es also doch nicht mit den neuen Staaten. Stellen sie die Alten in Frage oder werden sie wirtschaftlich und politisch gefährlich, ist Schluss mit Lustig. Vielleicht hat sich Liberland auch deshalb dieses Motto gegeben, weil es hofft, dass man es „leben lässt“?

Wie sehr kann mensch wollen, dass solche Konstrukte am Leben bleiben? Gar nicht. Denn so sympathisch vielleicht die Aushöhlung der auf Nationalstaaten basierten Weltordnung ist, das macht den Gründungsgrundgedanken einfach nicht besser. Weder im Hardcorekapitalismus noch mit selbsternannten Monarchen lässt es sich solidarisch und gerecht in Gemeinschaft leben und leben lassen. Erst recht nicht mit den Nazis der Reichsbürgerbewegung. Abgesehen davon ist die Macht der bestehenden Staatenwelt gegenüber allerlei separatistischen Bewegungen ausgesprochen hoch.

Doch wenn nur Pippi Langstrumpf in der Lage ist, sich ihre Welt so zu gestalten, wie sie ihr gefällt, was bleibt dann uns? Neben ganz kleinen, selbstgebauten Nischen zumindest ein lauter Ruf in die Welt: Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland!

[momo]

Das VoKü-Rezept FA! #54

„Hey MV! Beim letzten Containern sind Unmengen Blumenkohl, Artischocken und Äpfel bei rum gekommen. Hast du ne schicke Idee für ein Vokü-Menü?

Sonnige Grüße, Molle“

 

Liebe_r Molle,

Sicher! Nur noch das eine und das andere dazu gekauft und los geht‘s. Hier die Vokü-Idee (für ca. 25 Personen):

 

Gang 1: Artischockencremesuppe

Zutaten:

ca. 40-50 Artischocken (je nach Größe)

2 Zitronen, in Scheiben

Zitronensaft

15 Zwiebeln, fein gewürfelt

6 Knoblauchzehen, zerdrückt

ca. 150g Mehl

4,5 l Gemüsebrühe

1,5 l Artischockenwasser

Sojamehl

750ml Sojasahne

1 Bd. Schnittlauch, in kleinen Röllchen

Kokosfett oder Margarine

Salz, Pfeffer

 

Zubereitung:

Die vorbereiteten Artischocken mit frischem Wasser und Zitronenscheiben aufsetzen, etwa ½ Stunde kochen lassen. Herausnehmen, Blätter und Heu entfernen, Kochwasser aufheben. Fett erhitzen, Zwiebeln dünsten, Knoblauch und Mehl dazu, anschwitzen. Mit Gemüsebrühe und Artischockenwasser ablöschen, 20-25 Minuten kochen lassen. Artischockenherzen nach 10 Minuten hinzufügen, salzen, pfeffern. Suppe pürieren. Eventuell mit Sojamehl andicken. Mit Sojasahne und Schnittlauchröllchen verfeinern. Fertig.

 

Gang 2: Gerösteter Blumenkohl mit Apfel-Hirse-Bratlingen und Soja-Joghurt

Zutaten:

6 Blumenkohlköpfe, geputzt, in Röschen

100ml Zitronensaft

2 Bd. glatte Petersilie, fein gehackt

300ml Olivenöl

200g Hirse

500g Möhren, fein geraspelt

100g Ingwer, fein geraspelt

1kg Äpfel, grob geraspelt

100g Lauch, fein geschnitten

350g Mehl

150g Balsamico (weiß)

150g Sonnenblumenkerne, geröstet

1,5kg Soja-Joghurt

1 Tiefkühl-Kräuter-Mix

3 Knoblauchzehen, zerdrückt

Kokosfett oder Margarine

Salz, Pfeffer

 

Zubereitung:

Backblech einfetten, Blumenkohl darauf legen, salzen. Bei ca. 220 Grad (vorgeheizt) 15-20 Minuten backen. Petersilie, Zitronensaft und Olivenöl mischen. Mit Salz und Pfeffer abschmecken. Würzöl über fertigen Blumenkohl geben.

Hirse kochen, abkühlen lassen. Mit Möhren, Ingwer, Äpfeln, Lauch, Sonnenblumenkernen und Balsamico mischen. Mehl zum Dicken dazu geben. Mit Salz und Pfeffer kräftig abschmecken. Bratlinge formen. Fett in Pfanne zergehen lassen. Bratlinge von beiden Seiten goldbraun braten.

Soja-Joghurt mit TK-Kräutern, Knoblauch, Salz und Pfeffer mischen. Fertig.

 

Gang 3: Apfel-Vanille-Grütze

Zutaten:

5kg Äpfel

400ml Zitronensaft

3l Apfelsaft

6 Pck. Vanille-Pudding-Pulver

Kokosraspeln oder Zimt (nach Geschmack)

Agavendicksaft (mind. 300ml)

 

Zubereitung:

Äpfel schälen und grob würfeln. Möglichst schnell mit Zitronensaft mischen. 500ml Apfelsaft mit Puddingpulver verrühren. Restlichen Apfelsaft kochen, Apfelstücke dazu geben und 2-3 Minuten kochen lassen. Puddingmasse einrühren, aufkochen, kurz kochen lassen, ständig rühren. Agavendicksaft, eventuell Kokosraspeln oder Zimt dazu geben. In Gläser oder Schalen füllen. Auskühlen lassen. Eventuell noch Vanille-Sauce oder Sahne dazu. Fertig.

 

[mv]

 

teenage warlord der liebe

it is not love that you want, schwester, ein warmes bett und etwas zu essen, dahinter bist du her, in einer von weißen jungen kaputtgespielten welt wirst du zum offiziersmesser, klappst jeden noch so obskuren trick, jede noch so stumpfe waffe aus, teenage warlord der liebe, romantik! romantik! achtung jetzt, wir halluzinierten wir wollten dasselbe, geborgen sein in sanften händen, aber da ist kein frieden, da ist kein frieden, manche halluzinieren den blühenden zweig, du aber hast den messerkampf gebracht, und manchmal hab ich gewartet, mit blut zwischen den zähnen, teenage warlord der liebe, das ist kein love song, die vögel im baum am morgen singen nicht, sie brüllen und scharren mit ihren reptilienfüßen, es ist keine schlechte welt, auf die wir beide stampfen, in meinem hass auf deinen verzweifelten krieg schimmert bewunderung, teenage warlord der liebe, teenage warlord der liebe, dein schöner körper liegt offen da, hart umfochtenes territorium, du gehörst dir nicht und eroberst dich jeden tag aufs neue, deine gebirgstäler und den seltsamen stein am fluß, wo du als kind deine hand aufs wasser gelegt hast, teenage warlord der liebe, auf eine weise schmeiße ich mich immer noch jeden tag zu deiner augenhöhe hin, um eine hand auzustrecken, für einen augenblick am rand vom dummen vorhang, irgendwie halte ich meine hand noch immer ausgestreckt, die dumme hand, die sich inmitten der scheinkämpfe jeden tag anders entscheidet, ausgestreckt bleibt, weil wir uns kennen, solidarity to the whole gang, teenage warlords der liebe. (wir helfen uns und singen das geschwisterlied, mit schlechten zähnen und wütender verachtung, für alle von uns, aber ich weiß es gibt noch welten, in denen es sich grad noch leben lässt.)

Editorial FA! #53

Mit dem Zuspätkommen ist das so eine Sache. In Maßen zu spät zu kommen, ist nicht weiter schlimm, sondern gehört fast schon zum guten Ton – „Pünktlichkeit plus“ nannte das der gute Max Goldt mal. Aber übertreiben sollte mensch es nicht. Klar, auch dieser Feierabend! sollte eigentlich viiieeel früher rauskommen, nach drei Monaten, und nicht erst nach sechs… Aber das kennt ihr, werte Leser_innen, ja bereits von uns. Wir sind eben haltlose Anarcho-Schlawiner und -Schlawinerinnen, und jetzt ist ja auch alles wieder gut. Peinlich ist nur, dass sogar der Cee-Ieh-Newsflyer uns diesmal einen Schritt voraus war: In dessen Märzausgabe findet ihr eine Kritik der IG Roboterkommunismus an dem in FA! #52 veröffentlichten Text der ADI, „Warum Degrowth und nicht Klassenkampf?“.

Sollten wir ab jetzt unser Heft vielleicht nicht mehr nach dem Erscheinungsmonat, sondern nach Jahreszeiten benennen? Dann kann die Sonne wieder aufgehen, denn der Frühling kommt. Außerdem bemühen wir uns beim Georg-Schwarz-Straßenfest im Mai um einen Generalablass vom Leipziger Papstbewerber Bruder Ignatius. Wir unterschlagen schon fleißig das Kleingeld aus der Feierabend!-Kasse und hoffen, dass es für unsere Sünden reicht. Ansonsten verbünden wir uns eben mit dem Teufel.

Nee, Blödsinn! Ganz im Ernst wollen wir in Klausur gehen, Strukturen besprechen, wieder arbeitsfähig werden. Dabei könnt ihr uns gern unterstützen – ob als Artikellieferant_in, Redaktionsmitglied oder fliegende_r Feierabend!-Händler_in. (einfach anschreiben unter: feierabendle@riseup.net).

Unsere „Verkaufsstelle des Monats“ ist übrigens die Anarchistische Bibliothek und Archiv Wien. Viel Spaß beim Schmökern!

Eure Feierabend!-Redaktion

Ein Job – 1000 Schlechtigkeiten

Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) muss sich einiges anhören dieser Tage. Dabei gibt er doch beflissen den Mustersparer im Kabinett Tillichs. Ulbig will sich für höhere Weihen profilieren, im Juni OBM von Dresden werden. Inzwischen sind aber sogar „seine“ Polizisten schlecht auf ihn zu sprechen. Weil die Dienste vor allem für Großeinsätze steigen, die Stellen aber munter gekürzt werden, melden sie sich ständig krank, im Schnitt 32 Tage im Jahr – fast doppelt so oft wie der Durchschnittssachse. Jede dritte Beschwerde ist „psychisch bedingt“, klagt die Gewerkschaft GdP.

Das kann selbstverständlich nur eine grobe Schätzung sein, denn schließlich wurde letztes Jahr lächerliche 182 mal Anzeige gegen die Ordnungsmacht wegen Körperverletzung im Amt erstattet. Nur bei fünfen davon kam es überhaupt zu einer Anhörung und auch bei dieser handvoll Fälle konnte oder wollte die Justiz abschließend keine Schuld der beschuldigten, psychisch stabilen und integren Büttel feststellen.Wegen vorgeblicher Personalnot musste im Februar gar ein LEGIDA-Spaziergang untersagt werden. Ulbig reagierte wie gewohnt taktisch auf die patriotischen Abendlandbewahrer und kündigte eine neue Sondereinheit an, die gegen „straffällige Asylbewerber durchgreifen“ soll.

Das brachte Bundesinnenminister de Maiziere unter Zugzwang: auch er kündigte eine neue Antiterrortruppe an – auf dass sich Charlie Hebdo nie wiederhole! Die hochgerüstete und gepanzerte Schnelleingreiftruppen sollen auch für reguläre Einsätze bereitstehen und damit eine imaginierte Lücke zwischen Bereitschaftspolizei und GSG9 schließen. Ob die Superbullen dann Terroristen jagen oder doch wieder nur Fußballfans kontrollieren, muss die Zukunft zeigen. Der Neubau des BND ist indes durch einen Anschlag abgesoffen – dort kontrollierte ein privater Wachdienst.

bonz

Auf sie mit Idyll!

Gutgemeintes gegen LEGIDA

„Leipzig, du stolze Stadt!“ – so titelte die Bild-Zeitung, nachdem am Vortag, dem 12. Januar 2014, die erste LEGIDA-Demonstration über die Bühne gegangen war. Die Punktauswertung schien tatsächlich ziemlich eindeutig zu sein: Während sich auf der einen Seite rund 3000 „patriotische Europäer“ versammelt hatten, stellten sich ihnen etwa 30.000 Gegendemonstrant_innen in den Weg. „Für Toleranz, mit buntem, kreativem und vor allem friedlichem Protest – man kennt das ja. Die offene Gesellschaft wurde vorerst erfolgreich gegen ihre Feinde verteidigt.

Freiheitlich-demokratisches Liedgut

Allerdings wirken die demokratischen Abgrenzungsrituale einigermaßen befremdlich, wenn man ihnen aus der Nähe ausgesetzt ist. So geschah es an diesem Abend auch mir, als ich versuchte, mich eben mal geschmeidig durch die Menge zu schlängeln, die den Waldplatz verstopfte. Stattdessen fand ich mich minutenlang in der Menschenmasse eingekeilt und konnte mich nicht dagegen wehren, als plötzlich Sebastian Krumbiegel die nahegelegene Bühne betrat und ohne Umschweife ein Loblied auf die Toleranz anstimmte (1).

Die persönliche Integrität von Herrn Krumbiegel will ich hier nicht in Frage stellen – der Mann engagiert sich schon seit Dekaden „gegen rechts“, meint es also offensichtlich ernst und ehrlich. Aber trotzdem, und auch obwohl das Lied ziemlich kurz war, schaffte Krumbiegel es doch, erstaunlich viel Unsinn hineinzupacken. Das fing schon bei den ersten beiden Zeilen an: „Kein Mensch hat Lust auf Ärger / kein Mensch ist illegal“. Die erste ist eine Tatsachenfeststellung, die binsenhafter kaum sein könnte – klar, kein Mensch hat Lust auf Ärger. Dass kein Mensch illegal ist, ist dagegen bei weitem nicht so klar. Tatsächlich klassifiziert das demokratische Staatswesen alle naselang Menschen als „illegal“, wenn sie sich unerwünscht auf seinem Territorium aufhalten. In seinem ursprünglichen Kontext dient der Satz „Kein Mensch ist illegal“ auch genau dazu, dies als Tatsache zu benennen und zu skandalisieren – während in der Krumbiegel-Version nur noch die Aussage übrigbleibt: „Alles in Ordnung.“

Aber gut, es ist eh schon schwierig genug, es so hinzukriegen, dass sich am Ende alles reimt – wahrscheinlich wollte der Künstler beim Texten nur auf den Kehrreim hinaus, der da lautete: „Mal so von Mensch zu Mensch / Wir sind doch international.“ Mit „wir“ waren offenbar a) das weltoffene Leipzig, und b) der weltoffene Sebastian Krumbiegel gemeint. So berichtete Krumbiegel im Rest des Songs auch hauptsächlich von seinem Dasein als Tourist, wo er überall schon war (New York, Tokio) oder eben noch nicht war (in Rio, „aber das mach ich auch noch klar“). Gute Absicht hin oder her – es ist schon ziemlich doof oder dreist, sich mit Illegalisierten oder Geflüchteten zu vergleichen, weil man selber auch schon mal im Ausland war. Und auch die LEGIDA-Demonstrant_innen dürften sich kaum von ihrer Abneigung gegen bestimmte Menschengruppen abbringen lassen, nur weil Sebastian Krumbiegel so gern verreist. Im Ausland waren sie sicher auch schon mal – das hält im Zweifelsfall niemanden davon ab, rassistische Vorurteile zu hegen oder auf die eigene Nation stolz zu sein.

Das ficht Herrn Krumbiegel freilich nicht an. In seiner Perspektive „so von Mensch zu Mensch“ tauchen kompliziertere soziale Verhältnisse (wie z.B. das Verhältnis von Mensch und Staat) gar nicht erst auf. Was dann noch an Problemen übrig bleibt, sind letztlich nur Fragen der persönlichen Einstellung, die sich mit etwas gutem Zureden schon behandeln lassen: Seid tolerant, seid nett zueinander. Das klappt zwar nicht, aber darauf kommt es auch nicht an. Letztlich soll das „Courage zeigen“, „Farbe bekennen gegen rechts“ usw. ohnehin nur die eigene Identität bestärken: „Wir“ sind international, also weltoffen und tolerant und gute Demokrat_innen, während die anderen eben engstirnig, intolerant und undemokratisch sind.

Wer ist das Volk?

Mit so einer Identität kann man sich natürlich wohlfühlen. Man könnte sich aber auch fragen, wie denn „die anderen“, in diesem Fall also die LEGIDA-Demonstrant_innen, zu ihren Ansichten kommen. Und bevor man sich daran macht, den Status quo gegen all die unsympathischen „Auswüchse“ zu verteidigen, die er selbst mit schöner Regelmäßigkeit hervorbringt, könnte man sich auch über diesen mal ein paar Gedanken machen. Die „offene Gesellschaft“, das soll­ten wir nicht ver­gessen, ist auch eine Klassengesellschaft, die sich im Alltag (z.B. auf dem Arbeitsamt) nicht immer so nett ausnimmt wie auf lauschigen Demonstrationen für Toleranz.

Dreist gesagt ließe sich ja auch der Rassismus als Klassenfrage bestimmen: Bestimmte Merkmale, wie z.B. die Hautfarbe, werden als Begründung benutzt, um bestimmten Menschengruppen eine bestimmte Position in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zuzuweisen – es ist z.B. kein Zufall, dass Thilo Sarrazin gegen Hartz-IV-Empfänger_innen genauso hetzt wie gegen „Kopftuchmädchen“ und angeblich dumme Einwanderer aus dem arabischen Raum.

So thematisieren die LEGIDA-Demonstrant_innen – zumindest indirekt – immer auch ihre eigene Stellung in der Gesellschaft, wenn sie bestimmte Menschengruppen verteufeln und abwerten. Das Ziel ist es, die Nation und die eigene Position in dieser gegen eine vermeintliche Bedrohung von außen, also Werteverfall, unkontrollierte Einwanderung, islamische „Unterwanderung“ der Gesellschaft etc. pp. zu verteidigen. Wobei die Bewegung in der Tat vor allem für jene attraktiv zu sein scheint, die noch eine Position zu verteidigen haben: An den ersten LEGIDA-Demonstrationen beteiligten sich auffällig viele gut gekleidete Bürgerinnen und Bürger aus der Altersgruppe von vierzig an aufwärts – Menschen „aus der Mitte der Gesellschaft“ (2).

Das sorgte in den letzten Monaten für viel Verwirrung, weil sich eben auch die Gegner_innen von PEGIDA/LEGIDA als „Mitte der Gesellschaft“ fühlten und in Szene setzten. So gestaltete sich die ganze „Debatte“ hübsch spiegelbildlich. Zum Beispiel bezeichnete Justizminister Heiko Maas die PEGIDA-Demonstrant_innen als „Schande für Deutschland“ (3), was bei diesen wiederum für helle Empörung sorgte – den Vorwurf, sie seien nicht ordentlich nationalistisch, wollten sie nicht auf sich sitzen lassen. Politiker_innen und sonstige Prominente wiesen darauf hin, dass eine geregelte Einfuhr von „nützlichen“ Ausländern doch gut für den Standort sei (4) – während die PEGIDA-Demonstrant_innen schlicht abstritten, dass „die Ausländer“ irgendwelche besonderen Fähigkeiten mitbrächten, so wie ein älterer Demonstrant in Dresden es beispielhaft formulierte: „Das sind alles junge Kerle … Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass das hochqualifizierte Fachkräfte sind!“ (5)

Und letztlich passt auch Sebastian Krumbiegel in dieses Szenario hinein: Während er ein imaginäres Deutschland verteidigt, wo „kein Mensch illegal“ ist und es auch sonst keine nennenswerten Probleme gibt, wollen die PEGIDA-Demonstrant_innen ein starkes, souveränes Deutschland, wo es nicht zu viele Ausländer, aber dafür schöne „christliche“ Weihnachtsmärkte gibt, wo erzgebirgische Holzschnitzkunst und sonstige Folklore gepflegt wird und alle fleißig den „Faust“ oder die „Buddenbrooks“ lesen. Die Bedrohung kommt in beiden Fällen von außen – von islamischen Barbarenhorden oder von einigen Ewiggestrigen, die es immer noch nicht gelernt haben, zu allen Menschen nett zu sein.Man muss den Vergleich natürlich nicht überstrapazieren. Wenn man Lust hat, kann man auch darüber streiten, welche Vorstellung von Deutschland man nun sympathischer findet – imaginär sind sie alle beide.

justus

(1) www.youtube.com/watch?v=bZZx0EPnBOA

(2) so mein subjektiver Eindruck, der von einer Studie der TU Dresden bestätigt wird: vgl. http://tu-dresden.de/aktuelles/newsarchiv/2015/1/pegida_pk

(3) www.spiegel.de/politik/deutschland/pegida-heiko-maas-nennt-proteste-schande-fuer-deutschland-a-1008452.html

(4) z.B. in der Bild-Zeitung: www.bild.de/politik/inland/pegida/promis-sagen-nein-zu-pegida-39208948.bild.html

(5) zu finden hier www.youtube.com/watch?v=Bl0KPaLPL7g ab Minute 8:30.

 

Was gibt´s Neues in Altwest?

In alter Zeit, als das Wünschen noch half… Da wurde Leipzig noch in einem Atemzug mit Detroit genannt, gab es Symposien, Ausstellungen, Wettbewerbe zum Thema „schrumpfende Stadt“ allüberall. Das ist keine zehn Jahre her, doch inzwischen ist der neue Kampfbegriff „Gentrifizierung“ an seine Stelle getreten. Seitdem ist dieser Topos, der lokal mit dem Begriff #hypezig einigermaßen treffend umrissen ist, ein Dauerbrenner in den Medien. Diese überschlagen sich im Wochenrhythmus mit den neuesten sensationsheischenden Beiträgen zum Thema Boomtown Leipzig. Nur selten jedoch werden die Akteure der Verdrängung benannt. Wie beispielsweise die Stadtverwaltung: „Leipzig hat ein ganz klares räumliches Leitbild: die kompakte Stadt, die Stadt der kurzen Wege. Der Zuwachs wird also in der inneren Stadt fokussiert“, so Jochen Lunebach, Leiter des Stadtplanungsamtes. „…hier gibt es noch ausreichend Flächenpotentiale, um die notwendigen Wohnungen und Einrichtungen unterbringen zu können – auch bei einem anhaltend starken Zuzug.“ (1)

Der ist in der Tat beträchtlich: inzwischen zählt Leipzig wieder 551.871 Einwohner (2) – so viel wie zuletzt vor 30 Jahren.

Leipziger Häuserkampf – Rennen um Ruinen

Die Zeichen stehen auf Sturm: Wurde in den ersten 20 Jahre nach der Wende meist nur über Abwanderung und Verfall geklagt, so schossen in den letzten fünf Jahren die Kräne und Baugerüste wie Pilze aus dem Boden. Leipzig ist mittlerweile die am schnellsten wachsende Stadt des Landes, hat die Einwohnerzahl aus der Wendezeit schon überschritten. „Wohnen wird in dieser Zeit zur zentralen sozialen Frage“ (3) mahnte kürzlich die frisch gewählte Landtagsabgeordnete Juliane Nagel, wobei wir ihr gerne zustimmen. Noch sind es nur Einzelfälle, in denen es zu schikanöser Verdrängung der Altmieter kommt, das gibt auch das Netzwerk „Stadt für Alle“ zu, doch der Druck steigt spürbar an. Dass diese Entwicklung punktuell sehr unterschiedlich abläuft, lässt sich gut anhand der Karten auf www.einundleipzig.de erkennen. Besonders schnell wächst aktuell neben Wahren und den zentrumsnahen Stadtteilen im Osten vor allem Leipzigs wilder Westen, nach Schleußig und Plagwitz sind derzeit Lindenau und Leutzsch an der Reihe. (4) Der Oberbürgermeister höchstselbst, der sich seinen letzten Wahlkampf im Wesentlichen von Bauunternehmen hat sponsorn lassen (5), äußerte unlängst die Ansicht, dass Lindenau in naher Zukunft „DER Stadtteil Leipzigs“ (6) werde. Vergaß aber zu erwähnen, welche unangenehmen Folgen das für Alteingesessene und Zugezogene hat, wie etwa der enorme Mangel an Kita- und Schulkapazitäten, um nur die offensichtlichsten Versäumnisse der Verwaltung zu benennen.

Mit am lautesten wird derzeit in der Angerstraße gebaut, wegen der Anbindung an die kleine Luppe und weil das bürokratische Hickhack am Lindenauer Hafen so manchen Investor verschreckt hat. Größtes Bauvorhaben ist die Umwertung einer verfallenen Holzleimfabrik in eine luxuriöse Eigentums-Wohnanlage namens „Pelzmanufaktur“, wo es 35 m²-Wohnungen für rund 80.000 Euro zu erstehen gab (6), oder eine Vierzimmerwohnung (139 m²) für 390.000 Euro. Gab, wohlgemerkt, denn schon kurz nach Baubeginn waren alle Wohneinheiten verkauft. Die Preise mögen läppisch wirken im Vergleich mit anderen deutschen Großstädten, doch für Lindenauer Verhältnisse ist das astronomisch. Es wäre dumm zu glauben, dass der rasante Zuzug (8) ohne Folgen für die Alteingesessenen bleibt, doch sind die von den Apologeten der Gentrifizierung befürchteten Verdrängungseffekte bislang nicht eingetreten: Der Lindenauer Markt ist noch immer ein Tummelplatz der Abgehängten, Abgelegten und Aufgegebenen.

Das änderte sich auch nicht, als vor zehn Jahren die ersten Wächterhäuser auf den Plan traten, zogen sie doch vor allem kreative Menschen mit geringem Einkommen an. Allerdings verschafften sie dem Kiez das Image als hip, rough, edgy, etc. – mit dem Effekt, dass plötzlich die New York Times und ungezählte andere Medien (9) berichteten, wie cool es hier doch sei. Daraufhin dauerte es naturgemäß nicht lange und Immobilienspekulanten erkannten ihre Chance und das Potenzial des Kiezes. Wie man heute weiß, dienten die Hauswächter als flexibel und günstig anzuwerbende Pioniere (bereits damals warnte der Feierabend! vor dem zu kurz gedachten Konzept, beginnend mit Ausgabe #29).

Licht und Schatten

Dass die Mietpreise vergleichsweise langsam steigen, liegt vorrangig daran, dass es noch genügend Brachflächen und seit den Wendewirren leerstehende Häuser gibt, die erst noch Stück für Stück in Rendite abwerfende Investments umgemünzt werden können. Nicht einmal die räumliche Nähe der Kleinmesse und des Zentralstadions, deren Veranstaltungen lärmendes Publikum magisch anzieht (und einen Verkehrskollaps herbeiführt), kann diesen Prozess bedeutend bremsen. Im Gegenteil – die gewieften Marketingstrategen der Immobilienmakler versuchen selbst aus diesem Makel Profit zu schlagen. Unter dem postironischen Label „Kiez mal rein!“ werden selbst Penthouses, von denen man zur einen Seite Kleinmesse und Rote-Brause-Tummelplatz im Blick hat und zur anderen das Parkdeck von Kaufland, für fast geschenkte 399.000 Euro angeboten (10). Und vom Fleck weg gekauft. Gewiss, dieser Zustand ist auch zu nicht unerheblichen Teilen durch die desaströse Situation auf dem Finanzmarkt verursacht: Wo Sparkonten, -briefe, Anleihen und Renten kaum oder gar Minuszinsen abwerfen, erscheint „das Investment“ in Immobilien langfristig lohnender zu sein. Ist es in gewissen Lagen sicher auch, doch treiben solche Überlegungen die Blasenbildung nur weiter an. Nicht von ungefähr erinnert dieses Verhältnis an die Lebensmittelspekulationen an der Börse, wo Mangel und Leid noch vermehrt werden durch den Antrieb, möglichst viel Profit aus einem Grundbedürfnis zu pressen.

Ein wenig fühlt mensch sich an das kleine gallische Dorf aus dem Comic erinnert, welches von römischen Heerlagern umgeben ist, betrachtet man vor diesem Hintergrund das Squat Lindenow. Seit mittlerweile zweieinhalb Jahren leben, arbeiten und feiern hier junge Menschen abseits vom Verwertungszwang und der Profitlogik der Miethaie nebenan. Grund genug für den Feierabend!, sich das Treiben einmal zu beschauen und die Besetzer_innen mit naiven Fragen zu löchern wie im folgenden Interview. „Dreckig bleiben“ nennt uns einer der Initiatoren des Projektes die Vision für Gegenwart und Zukunft. Mir sei das Pathos verziehen, doch es ist diesen hundefreundlichen Dosenbierafficionados zu wünschen, dass sich ihr Haus in diesem feindlichen Umfeld lange halten kann. Eben weil sie ihren Kiez abwerten und damit erhalten helfen. Und weil sie ein Experimentierfeld bieten, um Antworten auf Fragen zu finden, die vom Bündnis „Stadt für alle“ ebenso wie im Film „Verdrängung hat viele Gesichter“ (11) aufgezeigt werden.

Syndikat als einziger Ausweg?

Auf Unterstützung der Stadtverwaltung sollte hingegen niemand hoffen. Denn die Personen mit Entscheidungsbefugnissen im Rathaus bewerten ganz offensichtlich die Erhaltung der Altbausubstanz höher als Partikularinteressen. So schön die Sanierung denkmalgeschützter Gebäude auch ist, doch selbst auf Brachen angesiedelte selbstverwaltete Projekte und Wagenplätze durften noch immer nicht dem Status der Duldung entwachsen. Ein beredtes Zeugnis, wohin die Entwicklung gehen soll, zeigt die Verbreitung von sogenannten „Stadthäusern“ auf Freiflächen. Auch die perfide Instrumentalisierung von Bürgerpartizipation und von keinerlei Sachkenntnis zeugende Statements wie dieses (aus dem Arbeitsprogramm des OBM für 2020): „Leipzig wächst! Die Einwohnerzahlen steigen, seit 2010 um rund 10.000 Menschen jährlich. […] Leipzig braucht dieses Wachstum dringend, um seinen Bürgerinnen und Bürgern Lebensqualität dauerhaft bieten und als Stadt auf eigenen Füßen stehen zu können.“ (12) Wie viele Einwohner Leipzig denn haben muss, um eigenständig sein und die Lebensqualität halten zu können, behält der Bürgermeister aus naheliegenden Gründen für sich.

Der unübertreffliche Max Goldt – sonst nicht als Befürworter von Umverteilung bekannt – sprach schon im Sommer 1992 deutlich aus, woher die ganze Chose rührt:

Es gibt nämlich gar keine Wohnungsnot, sondern nur zu viele Zahnärzte, Innenarchitekten und Zeitungsredakteure, die ganz allein in riesigen Altbauwohnungen wohnen…“ (13). Einen begrüßenswerten Ansatz haben darum auch die Menschen hinter der Aktion „Willkommen im Kiez“, die Asylbewerberinnen dezentral in WG-Zimmern und Mietwohnungen in Lindenau und Plagwitz untergebracht sehen wollen (14). Höchstwahrscheinlich ist die Schnittmenge zwischen denen, die solcherlei fordern und jenen, die riesige Altbauwohnungen für sich beanspruchen, gleich null.

bonz

(1) www.mdr.de/sachsen/leipzig/leipzig-platzt100_zc-20d3192e_zs-423b0bc6.html

(2) www.leipzig.de/news/news/einwohner-entwicklung-uebertrifft-selbst-optimistischste-prognosen/

(3) www.weltnest.de/Blog/577/was-fr-einen-oberbrgermeister-wrden-sie-sich-fr-leipzig-wnschen

(4) Im Osten der Stadt ist die Entwicklung mancherorts ähnlich dynamisch, doch in kleinerem Maßstab, die Verdrängungseffekte werden des erheblich größen Leerstands wegen noch etwas länger auf sich warten lassen.

(5) LVZ vom 19.03.2014

(6) www.bild.de/regional/leipzig/burkhard-jung/leipzigs-ob-jung-mag-hypzig-nicht-37168814.bild.html

(7) dima-immobilien.de

(8) Von 2008 bis 2013 hat Lindenau 665 Einwohner hinzugewonnen, ein Zuwachs von 25,9%. Quelle: www.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzig-de/Stadt/02.6_Dez6_Stadtentwicklung_Bau/61_ Stadtplanungsamt/Stadtentwicklung/Monitoring/Monitoting_Wohnen/Monitoringbericht_2013_14_web.pdf?L=0

(9) www.hypezig.tumblr.com

(10) dima-immobilien.de/immobilie-Henricistra%DFe+15%2B04177+Leipzig%2BLindenau/vk-henri-allgemein

(11) berlingentrification.wordpress.com

(10) www.leipzig.de/buergerservice-und-verwaltung/stadtverwaltung/oberbuergermeister/arbeitsprogramm-leipzig-2020/?eID=dam_frontend_push&docID=28519

(13) Titanic!-Kolumne vom Juli 1992

(14) www.willkommenimkiez.de/