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Wiedernoch weben am Leichentuch?

In diesem Heft wollen wir uns, als Beitrag zur aktuellen Diskussion, mit der Sozialen Frage, dem sogenannten „ Kampf der Klassen“ befassen. Der Begriff der Klasse wirft heutzutage einige gewichtige Fragen auf, gar die nach seiner Berechtigung. Denn zuallererst scheint er Grenzziehung zu betreiben, Berliner Mauern zu errichten: zwischen den „guten“ Arbeitern und den „bösen“ Kapitalisten. Dem entgegen denken wir, dass sein ideeller Kern auch heute noch von Bedeutung ist, indem er nämlich auf einen Zustand verweist, der noch immer seiner Aufhebung harrt.

Besonders die in den Diskussionen um das Hartz-Konzept viel beschworene und blumig beschriebene Ich-AG – die großzügig auch auf eine Familien-AG anwachsen darf – ruft unwillkürlich einige Zeilen Heines ins Gedächtnis: „Wir haben vergebens gehofft und geharrt / Er hat uns geäfft, gefoppt und genarrt“, und erinnert so an die schlesischen Weber. Diese Assoziation mit frühkapitalistischen Verhältnissen, den Heimwerkstätten der Weber, die quasi als Familien-AG Tag und Nacht in wirtschaftlicher Abhängigkeit schufteten, und das ganze unternehmerische Risiko zu bürden hatten, machte uns stutzig.

Historischer Exkurs

Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse und Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln.“ (1)

Dem Klassenbegriff haftet in den heutigen Diskursen etwas seltsam verstaubtes an. Und tatsächlich war es vor allen Dingen das 19. Jahrhundert, in welchem er seine Blüte feiern konnte. Ob Drei-Klassen-Wahl-System in Preußen, Verurteilungen wegen Aufhetzung zum Klassenhass, Klassenkämpfe oder Klassentheorie — zumindest auf. den deutschen Territorien herrschte eine eindeutig nach Klassen bestimmbare Vergesellschaftung. Der schwelgenden Hocharistokratie, dem Adel und dem Großbürgertum stand ein Heer von Elend und Not bedrohter Menschen gegenüber, rechtlos zum Spielball der Mächtigen degradiert. (2) Die Unterteilung in Erste und Zweite (damals wahrscheinlich auch in Dritte) Klasse, wie wir sie noch heute bei der Deutschen Bahn finden, erinnert daran. Für den einfachen Mann (von den Frauen ganz zu schweigen) gab es keinen Weg zum Bürgertum, geschweige denn zur Aristokratie, allerhöchstens noch den lebenslangen Umweg übers Kleinbürgertum.

Aber auch für die betuchten Bürger öffnete sich nur äußerst selten ein Türchen zu der Herren Tische. Wer in seine Klasse geboren wurde, war auf sie festgelegt. War die Mutter Näherin, wurde es die Tochter oftmals auch, besaß Vater einen Handelskontor, übernahm diesen sein Sohn, und befahlen die Eltern über 20.000 Untertanen, so taten es ihnen ihre Kinder gleich. Aber was unterschied eine Klasse vom Stand? Und was hat es mit den großen Klassenkämpfen und vor allen Dingen mit Marxens Theorie der Klassengegensätze auf sich? Mit den Begriffen Besitz, Erwerb und Sozietät sollen drei Schlüssel zum Verständnis des Klassenbegriffs angeboten werden.

Besitzklassen

Unter Besitz sollen insbesondere die konkreten Lebensumstände (Güter) verstanden sein, in denen Menschen ihr Leben entwerfen. Man sieht schnell, dass sich hier eine grobe wenn auch statische Unterscheidung in Klassen anbietet. Auf der einen Seite die Klasse der nahezu Besitzlosen, auf der anderen die der Besitzenden. Es ist ein qualitativer Unterschied, ob jemand über Haus, Land, Gesinde, „Welfenschatz“ oder andere Güter verfügen kann oder eben nicht. Am Beispiel der Feudalgesellschaft lässt sich das am einfachsten verdeutlichen. Adel und Aristokratie vererbten ihren Besitz via Land und Güter innerhalb der Familie, während weite Teile der Bevölkerung oftmals nur ihre Leibeigenschaft an ihre Kinder weiterzugeben vermochten. In der Feudalgesellschaft, um beim Beispiel zu bleiben, lassen sich also zwei verschiedene Besitzlagen klassifizieren.

Erwerbsklassen

Nun scheint das eine sehr ungenügende Klassifikation zu sein, zumal es schwer fällt, diese Unterscheidung auf gegenwärtige gesellschaftliche Umstände zu projizieren. In den hochentwickelten Industrieländern ist die Klasse der Besitzlosen beinahe verschwunden – relative Unterschiede sind oftmals rein quantitativer Natur – eine allein auf dem Besitzstand fußende Klassenrhetorik scheint demzufolge völlig unzureichend (3). Gehen wir noch einmal zum Beispiel der Feudalgesellschaft zurück. Besitz wurde hauptsächlich durch Vererbung erworben. Daneben waren Raub, Kauf und Schenkung die gängigsten Erwerbsarten, deren günstigste Voraussetzung natürlich wiederum … Besitz war. Durch Arbeit konnte man zwar überleben, aber selten Besitz anhäufen. Das änderte sich erst durch den durch Handel bedingten Aufstieg des Bürgertums. Der Erwerb von Besitz durch Handel, also durch gewinnbringenden Kauf und Verkauf, wurde schnell zu einer wesentlichen Dynamik gesellschaftlicher Veränderung. Dass von einer solchen Dynamik eher die ehemalige Klasse der Besitzenden profitierte, ist einsichtig. Wer konnte im 19. Jahrhundert schon Kupferminen ver- oder Anteilsscheine an Rüstungsbetrieben einkaufen? Insoweit also der Erwerb von Besitz auf schon vorhandenem Besitz fußte, übertrug sich der Klassenunterschied. Hier die Masse der Menschen, deren Erwerb gerade ausreichte, Überleben zu sichern, dort eine Gruppe, deren Besitz durch Erwerb stetig stieg (akkumulierte). Erwerbsklassen waren also insofern identifizierbar, als es einen qualitativen Unterschied zwischen Menschen gab, deren „Erwerbsarbeit“ keinerlei Chancen auf Besitz bot und denen, deren Erwerb immer größere Chancen der Besitzanhäufung mit sich brachte. Das so oft sorglos im Mund geführte Wort der „Chancengleichheit“ rekurriert auf eben diesen Tatbestand.

Soziale Klassen

Aber auch die auf Besitz ruhende Klassifikation nach Erwerbschancen bereitet Schwierigkeiten, versucht man sie auf gegenwärtige Verhältnisse zu übertragen. Die zunehmende Komplexität der Güter- und Kapitalkreisläufe, die Verteilungsmechanismen des modernen Staates (4 ) verwischen die Grenzen zwischen den Erwerbsklassen einer Gesellschaft. Letztlich sind sie gegen die Risikobereitschaft jedes einzelnen relativiert. Nehme ich einen Kredit auf, wage ich die Umschulung, investiere ich in Rente oder Rendite? Besitz vermindert zwar das Risiko bedrohlichen Verlusts, ist aber nicht mehr kategorische Voraussetzung für, gute Erwerbschancen. Zwar sind noch immer ganze Schichten der Bevölkerung im Erwerb chancenlos – vor allem marginalisierte Gruppen wie Migrantlnnen, kriminalisierte jugendliche, körperlich Beeinträchtigte etc. pp. – aber nach ihren Erwerbschancen lassen sie sich nicht qualitativ klassifizieren. Fasst man allerdings die Besitz- und die Erwerbslage allgemein als Lebenslage auf, bietet sich noch eine weitere Möglichkeit der Klassifikation, wie wir sie auch schon aus dem 19. Jahrhundert kennen. Ohne Besitz von Land (Heim) und Gütern, ohne Chance durch Erwerb selbiges jemals zu erlangen, waren Menschen prekär abhängig von Miet- und Arbeitsverhältnissen, räumlich und zeitlich immobil in Milieus verwurzelt, in denen gleiche Erfahrungen ähnliche Lebenslagen prägten (soziales Leben). (5) Demgegenüber gab es einige, die ihren Wohn- und Lebensraum frei bestimmen konnten, äußerst mobil waren und allerhöchstens in kleinen Familien mit Hof-und Hausstab (Gesinde) lebten (individuelles Leben). Zwischen den beiden Lebenslagen schossen oftmals unüberwindliche Mauern auf, so dass es kaum Durchdringungen gab. Insoweit sich also die Lebenslagen qualitativ von einander unterschieden, stand die sozialisierte Klasse der individualisierten gegenüber.

Stellung im Produktionsprozess

Aber auch diese Klassifikation stellt uns vor erhebliche Probleme, wollten wir sie auf gegenwärtige Umstände in den Industrieländern übertragen. Durch die Relativierung von Besitz und Erwerbschancen prägt Individualisierung heute ein heterogenes Feld von Lebenslagen, in denen die Lebensumstände und -erfahrungen jedes Einzelnen erheblich differieren. Ja selbst große Teile der Sozialisation sind in die Institutionen des modernen Staates gelagert. Aber was soll – so könnte man an dieser Stelle berechtigter Weise einwerfen – die Rede von Klassen dann heute noch bedeuten? Und da – nun kommt´s – hat uns Marx die Augen geöffnet. Er sah die Klassengesellschaft seiner Zeit, die chancenlos Besitzlosen und die risikofreudigen Besitzenden, die verelendeten sozialen Milieus und die im Überfluss schwelgenden Herrenhäuser. Und sein Verdienst ist es u.a., diesen sichtbaren qualitativen Unterschied, auf die Sphäre der Produktion, auf die. Prozesse der kapitalistischen Produktionsordnung zurückgeführt zu haben. Denn genau hier war der Klassenunterschied „rein“ (abstrakt) anschaubar. Und ist es, wohl bemerkt, auch heute noch, trotz allem Gerede von flachen Hierarchien und Aktienbeteiligung. (6) Das individualisierte Eigentum an den Mitteln der Produktion, historisch aus der Besitzlage entsprungen, bemächtigte einen Teil der Menschen im Produktionsprozess derart mit Verfügungsgewalt, dass ihnen der Rest ohnmächtig gegenüber stand, Und dieser Klassenunterschied regeneriert sich überall dort, wo Produktion unternommen wird und via Eigentumsrecht Menschen Verfügungsgewalt über Produktionsanordnungen gewinnen und damit andere in ökonomische Abhängigkeit von ihnen stürzen.

Arbeitskampf als Interessenkonflikt von Klassen

Ohne Zweifel waren es die Arbeitskämpfe der vergangenen Generationen, die dafür sorgten, das die Grenzen zwischen den Besitz-, Erwerbs- und sozialen Klassen zunehmend brüchig wurden. Derart, dass der Klassenunterschied im Alltag der Industrieländer kaum noch sichtbar, leibhaftig wird. Ganz im Gegenteil zu den Ländern der „Zweiten Welt“. Solange allerdings die Klassengesellschaft fortbesteht, als „reine“ (abstrakte) in der Ordnung der Produktion, lautet die entscheidende Frage der Gestaltung unserer Gesellschaftlichkeit: wer kann Kraft seines Wortes – und der entsprechenden (strukturellen) Gewalt – die eigenen Interessen [besser] durchsetzen? Wer kann Gestaltung erzwingen? Wem nutzt die bestehende Ordnung, wem nicht? Wer hat ein gesteigertes Interesse an deren Aufrechterhaltung? Dass das Feld dieses Interessenkonfliktes wesentlich auf der Ebene der Produktion zu suchen ist, zeigt schon das Bemühen des modernen Staatsapparates an, dessen Gestaltungswille immer wieder von neuem um die Sphäre der Produktion kreist. Hier stehen sich jedoch, bedingt durch die Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess, die, Interessen zweier Klassenlagen konfliktreich gegenüber, Aber ist man sich dessen denn bewusst?

Macht und Politik zum Durchsetzen von Interessen

Das liberale Projekt repräsentativer Staatspolitik, in der heutigen Foren der Bundesrepublik (8), war zur Befriedung von Interessenskonflikten innerhalb von Vergesellschaftungsprozessen angetreten. Doch erwies es sich im Verlauf als unfähig, trotz einiger Erfolge der Sozialdemokratie, wie u.a. die Fortschritte im Arbeitsrecht, wirklich zwischen den konkurrierenden Interessen derart zu vermitteln, das eine Aufhebung der Klassengesellschaft möglich wurde. Im Gegenteil, und das zeigt die derzeitige „Hartz-Reform“ ganz deutlich, sobald der Druck der Arbeitskämpfe nachlässt, sind bereits erstrittene Fortschritte wieder in Gefahr. Es ist heute nicht ausgeschlossen, dass der Klassenunterschied im Alltag der Industrieländer kaum noch sichtbar, leibhaftig wird. Woran liegt das? Unseres Erachtens vor allen Dingen daran, dass es schließlich Menschen mit Bewusstsein und Interesse sind, die derlei Prozesse tragen. Politiker, mit dem hauptsächlichen Interesse ihres eigenen Machterhalts; Unternehmer, deren Interesse einzig und allein der Gewinnmaximierung dient, und nicht zuletzt die breite Bevölkerung, die die Chancen eines gemeinsamen Bewusstseins als Klasse ungenutzt lässt, lieber Ideologien wie Rassismus, Konkurrenz oder Individualismus folgt und sich damit die einzige substanzielle Möglichkeit zur dauerhaften Verbesserung ihrer Lebenssituationen beschneidet: die vereinte, zielgerichtete Aktion im wirtschaftlichen als gesellschaftlichen Bereich, dem Arbeitskampf mit dem Ziel der Aufhebung der Klassengesellschaft.

clov & A.E.

(1) Karl Marx in d. Rheinischen Zeitung um 1843
(2) vgl. Bernt Engelmann, Wir Untertanen, Fischer 1976
(3) Parolen wie „Her mit dem schönen Leben!“ á la attac und IGM-Jugend sind daher auch eher Ausdruck von Sozialneid denn Zeichen tieferer Analyse.
(4) Nicht zuletzt begnügt sich der moderne Staat damit, in den Verbesserungen der Erwerbschancen seinen primären Bildungsauftrag zu sehen.
(5) Das Bild des Schlafburschen (-mädchens) mag genügen: Es waren Leute, die während der Arbeitszeit des Bettbesitzers selbiges zum Schlafen mieteten.
(6) Erstere werden auf einmal wieder ziemlich steil, wenn es um Entlassungen (Krisensituationen) geht, und wer sich so viele Aktien seines Betriebes leisten kann, dass er mitreden kann, der braucht, ehrlich gesagt, nicht mehr zu arbeiten.
(7) Peripherie – teilweise Infrastruktur, mittelkapitalistische Produktionsordnung (bestes Beispiel ist der derzeitige Generalstreik in Venezuela.)
(8) Rechtstitel

Theorie & Praxis

Zur Not auch gegen ihren Willen

Die nun vollendete Arbeitsmarkt­reform nach dem Hartz-Konzept ist schon seit einigen Monaten, seit 1. April 2003, in der Wirklichkeit zu erleben. So erfolgreich wie die Reformer erwartet hat­ten, war die staatlich vermittelte Leiharbeit bisher noch nicht. Davon unbeirrt verab­schiedete der Bundestag am 13. August die letzten beiden großen Gesetze – „Hartz III und IV“.

Mit dem Hartz-III-Gesetz wird das Arbeitsamt umgestaltet zur „kunden­orientierten Bundesagentur für Arbeit“. Diese Neuorientierung tritt zum I. Janu­ar 2004 in Kraft und bedeutet zunächst einmal „intensivere Beratung“: verschärf­te Kontrollen und erhöhter Druck. Ein Mitarbeiter soll sich um 75 Erwerbslose kümmern – das wären etwa 50,000 „Fall­manager“, womit die Bundesagentur als ABM von landesweiter Bedeutung gelten darf. Mit der „Gewährung passiver Leis­tungen“ ist es jedenfalls vorbei. Und auch mit der amtlichen Ruhe. Das Ar­beitsamt soll künftig wie ein Unternehmen geführt werden, mit einem verant­wortlichen Management und strikter Erfolgskon­trolle. Wer erinnert sich da nicht an die Deutsche Bahn? Mittels „definierter Kennzahlen“ soll die Er­füllung der Zielvorgaben – klar, Reduktion der Arbeitslosigkeit – überprüft werden. Sta­tistik ist alles, der Mensch ist nichts.

Hartz IV etabliert durch die Zusammen­legung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe eine „Grundsicherung für Arbeitssuchen­de“. Das ganze tritt am 1. Juli 2004 in Kraft und heißt Arbeitslosengeld II; Sozialhilfe erhalten dann nur noch erwerbs­unfähige Menschen, diejenigen die weni­ger als drei Stunden täglich arbeiten kön­nen. Die „glücklichen“ Erwerbsfähigen er­fahren eine „intensivere Beratung“, einen erhöhten Druck seitens der neuen Bun­desagentur. Denn wer sich der Beratung oder Wiedereingliederung verweigert, muss die nächsten drei Monate mit etwa 100 Euro weniger (30 Prozent) auskom­men. Weigern sich Jugendliche unter 25 Jahren, bekommen sie drei Monate lang überhaupt kein Arbeitslosengeld. Dieses Prozedere kann zweimal in gleichem Ausmaß wiederholt wer­den. In der Presse­erklärung heißt es, eine Verweigerung sei eine „Pflichtverletzung“ – Arbeitspflicht?

In diesem Zusammenhang sei an eine Pas­sage in Schröders Agenda-2010-Rede (14.3.) erinnert: „Ich akzeptiere nicht, dass Menschen mit der gleichen Bereitschaft zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Hö­he bekommen. So kann erfolgreiche Inte­gration nicht aussehen.“ Es geht also um die „Integration“ derjenigen, die eine „Be­reitschaft zu arbeiten" zeigen. Als Partei mit 140jähriger, sozialistischer Tradition weiß man in der SPD sehr wohl, was „ar­beiten“ heißt: „ausgebeutet werden“. Schröder und die Partei wären nicht sozi­aldemokratisch, würden sie dabei nicht an alle Menschen der „deutschen Gesell­schaft“ denken. So kommt mangelnde „Bereitschaft" einer Pflichtverletzung gleich. Die Regierung geht mit ihrem Ar­beitseifer voran und will mittels Sonder­programm (1.9. die­ses Jahres bis 31. Au­gust 2005) 100.000 „Langzeitarbeitslose“ vermitteln – die So­zialhilfe wird in Höhe des Lohns gekürzt.

Das können jedoch nicht alle Maßnahmen gewesen sein, denn der Arbeitsmarkt hat zwei Kundenkreise – wie der Zeitungs­markt für Leser und für Anzeigenkunden. Knute für die einen, Zuckerbrot für die anderen. Hartz III umfasst neben der Ori­entierung auf die Erwerbslosen auch eine Senkung der Lohnnebenkosten – aus Sicht der Unternehmer gehören diese „Neben­kosten“ zum Faktor Lohn – also Senkung der Lohnkosten und die Pauschalisierung von Eingliederungszuschüssen. Diese Zu­schüsse zu den Lohnkosten werden offizi­ell gezahlt, um die „Minderleistungen“ des ehemals Erwerbslosen auszugleichen – bei Einarbeitung maximal 30 Prozent für bis zu sechs Monate, bei erschwerter Vermitt­lung bis zu 50 Prozent für 12 Monate, bei Alter bis zu 50 Prozent für 24 Monate. Pauschalisiert werden auch andere, spezi­ell ostdeutsche Lohnkostenzuschüsse (SAM), Und für Herbst ist eine „Offensi­ve“ angekündigt, zur „Verbesserung der fi­nanziellen Situation des Mittelstandes“.

Für Erwerbslose steht eine „Verbesserung der finanziellen Situation“ nicht zur De­batte – ebenso wenig für RentnerInnen. Schröder weiß, worauf es bei Wirtschafts­politik ankommt: Politik für „die Wirt­schaft“, für’s Kapital. Dabei handelt es sich um eine spezielle Wirtschaft, denn Produktion und Handel an sich geraten nicht ins Stocken geraten – es geht um Rentabilität: die Arbeitskraft muss billi­ger werden und der Markt muss expan­dieren, um den Gewinn zu realisieren. Die Preissenkung der Ware Arbeit selbst reicht nicht aus – wie an der Bilanz der Personal Service Agenturen kenntlich wird: „Der­zeit haben die Arbeitsämter 671 Agentu­ren unter Vertrag mit Plätzen für 30.000 Arbeitslose. Beschäftigt waren nur 6100 Arbeitslose, in einen Job vermittelt wur­den bisher 117.“ (1) Die notwendige Ex­pansion vollzieht sich heute, da alle Kon­tinente erschlossen sind, durch Neuerun­gen, durch neuartige Waren. Daher rührt die neu entdeckte Liebe zu Wissenschaft und Bildung – der Etat des Bildungs­ministeriums sei „seit 1998 um 25 Prozent“ gestiegen, heißt es in einer weiteren Presse­erklärung. (2)

… nicht die Vernunft einer menschlichen Gesellschaft

All diese Maßnahmen sind vernünftig – sie folgen der Vernunft des Gewinns. Gewiss können auch Wochenende, bezahlter Ur­laub, 35-Stunden-Woche und Sozial­versicherungen in dieser Logik gedacht werden… die Vernunft einer menschlichen Gesellschaft ist es nicht. Wenn aber in ei­ner krisengeschüttelten Wirtschaftsord­nung sich seit 20 Jahren alle Hoffnungen immer wieder zerschlagen, dann werden diese Vergünstigungen und Rechte wieder undenkbar. Verteidigen wir uns, denken wir das Undenkbare! Nicht nur an Wohl­stand denken wir, auch an Freiheit … wir haben Stiefel im Gesicht nicht gern, wir wollen unter uns keinen Sklaven seh`n, und über uns keinen Herrn.

Bisher ist noch kein Land in Sicht für Po­litik und Wirtschaft – aller Erfolgsrhetorik zum Trotz. Sie haben uns nichts zu bieten. Bisher ist noch kein Land in Sicht für Le­ben und Emanzipation – niemand wird uns das bieten. Das können wir nur selbst schaffen.

A.E.

(1) Financial Times Deutschland, 11.8.03
(2) Zur Bildungspolitik, siehe auch S. 12 in diesem Heft: „Einsicht in die Notwendigkeit". Die Zahlen und Zitate stammen von der Bundes­regierung (www.bundesregierung.de) und vom Ar­beitsamt (www.arbeitsamt.de)

Hartz-Gesetze

Entschlossen heilsamen Druck erzeugen

Viel Aufhebens wurde um den Bologna-Prozess nicht gemacht, obwohl er einigen Konfliktstoff birgt – oder gerade deswegen? Vom 18. bis 19. September fanden in Berlin die Bildungsministerkonferenz und das European Education Forum statt …

Schlecht besucht war das erste Europäische Bildungsforum (EEF). Keine 400 Menschen hatten sich versammelt, um „eine offene Diskussion über europäische Bildungspolitik“ (EEF) zu führen. Gewiss lag das auch an der Mobilisierung, die offensichtlich kaum über’s Internet hinaus kam. Die rar platzierten Plakate des Forums schmückten nur Universitätsgebäude, die Bildungssyndikate in der FAU verzichteten ganz auf solch „antiquierte“ Formen der Kommunikation.

Jene, die sich doch versammelt hatten, verloren sich schier im weitläufigen Gelände der Humboldt-Universität. Dass es kaum gemeinsame Ansätze zwischen den Anwesenden gab, verstärkte diese geographischen Impulse. Das Spektrum der „Workshops“ reichte von der romantischen „Studentenrevolte 68“ über eine abstrakte „Alternative europäische Gewerkschaftsbewegung im Bildungssektor“ bis zum mikrokosmischen „neuen Numerus Clausus an Berliner Hochschulen“. Auch in der Haltung zum Bologna-Prozess selbst taten sich in der Opposition beachtliche Gräben auf – divergierende Interessen.

Vor allem die TeilnehmerInnen aus Frankreich (SUD Education) und Italien (UNICOBAS Scuola) stellten sich gegen den Bologna-Prozess und wollen das Hochschulwesen nicht allzu eng angebunden wissen an die „Bedürfnisse“ der Wirtschaft. Währenddessen zeigten andere – darunter Mitglieder von Attac und Jusos – durchaus „Dialogbereitschaft“. Die gar nicht so radikale SUD war von diesen seichten Tönen wohl ziemlich überrascht – und enttäuscht. Die Basis, von der die Gegenaktivitäten ausgingen, war und ist noch allzu schmal. Deshalb waren die meisten „Workshops“ auch eher Vorträge als internationale Planung und Kooperation. Aufgrund der mangelnden Mobilisierung fanden diese Vorträge zudem noch wenig Publikum – nicht anders erging es den Bildungssyndikaten aus Berlin und Leipzig.

Dabei sind die Vorhaben der Oberen gar nicht ohne: wie bereits in Feierabend! #8 dargelegt, geht es um die striktere Ausrichtung und weitgehendere Integration der Hochschulen am Arbeitsmarkt und in die direkte wirtschaftliche Verwertung. Die Zweiteilung des Studiums will man „noch energischer vorantreiben“ (E. Bulmahn). Der erste Zirkel, Bachelor (BA), soll den Zugang zum zweiten (Master, MA) sichern, logisch. Aber nur der limitierte MA eröffnet die akademische Laufbahn – Regelabschluß soll der beruflich orientierte Bachelor werden. Binnen zweier Jahre sollen BA/MA flächendeckend eingerichtet sein – endgültiger Torschluss ist 2010. Das muss ein grandioses Jahr werden … universale Agenda, neue Rente, moderne Bildung, effiziente Gesundheit, besiegte Arbeitslosigkeit und und und!

Etwas verschwommen noch, preisen die Minister BA/MA als angemessen für Forschung und Arbeitsmarkt – doppelter Nutzen in einem Konzept, wie praktisch! Diese Kombination verbessere die Fähigkeit „Europa[s] zu Spitzenleistungen in Forschung und Innovation“ – damit dabei auch alle (Studierende, Profs, Unis) mitmachen, werden bis 2005 umfassende „Evaluationsverfahren“ (man kennt das aus der Schule: Zensuren) und eine europaweite Hierarchisierung (ENQA) etabliert. „Das erzeugt den heilsamen Druck, der helfen wird, das Ziel in 2010 zu erreichen.“ Gleichzeitig betonen die Minister die breite Basis, auf der ihre Initiative gründet: Rektoren, Universitäten, Studierende, Wirtschaft, Staaten weit über die EU hinaus, … Druck und Basis, kein Widerspruch? Ein Sprichwort: Bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt – und wenn es administrative Gewalt ist. Wenn sich die Zahl der BA-Studierenden seit 1999 auch vervielfacht hat, so reicht das nach Einschätzung des Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) noch nicht aus. „Solange es das Nebeneinander in ganzer Breite gibt, wird es uns nicht gelingen, die europäischen Abschlüsse […] zu vermitteln“ – nun geht es darum, Alternativlosigkeit zu schaffen. So funktioniert Politik! Klare Signale, wie HRK-Präsident Gaethgens sie fordert, tun ein übriges: Hochschulausgaben hätten als Investitionen, nicht als Konsum zu gelten. Die erfolgreiche Umdeutung von Bildung zu Kapital in Form des „Akkumulierungssystem[s]“ ECTS, der gesamte „Bologna-Prozess steht und fällt mit der Qualitätssicherung“. Ebenso unverblümt äußert sich der Bund der Deutschen Industrie (BDI) auf seiner Konferenz in Berlin (22.9.): Ziel moderner Bildungspolitik müsse die »Ökonomisierung des Wissens“ sein … und das habe sich die EU mit dem Bologna- Prozess gesteckt. Das European Credit Transfer System (ECTS) stellt den Bildungsgang in Punkten dar, die man sammeln, akkumulieren kann. Durch diese Formalisierung wird „Bildung“ nicht nur enger angebunden an eine zeitnahe Verwertung, sie wird dem Geld auch immer ähnlicher.

Sowohl EEF als auch EU entbehren einer aktiven gesellschaftlichen Basis, und müsssen daher auf politischen Mechanismen setzen, um die Gesellschaft zu beeinflussen. Aber Passivität und Politik bilden einen Kreislauf, den es zu durchbrechen gilt!

A.E.

Bildung

Studierende leben nicht vom Brot allein

Aber von Brot leben sie eben auch. Deshalb lenkten Mitglieder des Bildungssyndikats Leipzig die Aufmerksamkeit beim EEF auf einen Aspekt abseits der hochschulpolitischen Debatte … auf die Alltagsmühen, den Broterwerb.

Wenn die Politik auch danach trachtet, Bildung weiter zu formalisieren und zu kanalisieren … gelingen wird das nie. Denn Bildung hat andere Dimensionen, die nicht administrativ zu zügeln sind. Letztlich ist die Kommunikation unter Menschen, der Austausch über Perspektiven und Methoden, das, was Bildung ausmacht – dazu braucht man keinen Minister und keine Präsidenten. Früher oder später wird der Bologna-Prozess fallen, denn er orientiert sich nicht an Bildungsbestrebungen. Die Reformen werden zweifelsohne den „gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken“, aber vielleicht auf andere Weise, als sich das die Minister ausmalen dürften.

Tatsächlich ist – darauf wiesen die Bildungssyndikate in ihrem Vortrag beim EEF hin – der Bedarf an qualifizierter Arbeit steigend. Um diese Nachfrage der Wirtschaft zu decken, muss es auch eine „Ökonomisierung des Wissens“ geben, wie sie der Bund der Deutschen Industrie fordert. Dabei wirken BA/MA-Studiengänge genauso mit wie die „autonome“ Universität, die als Forschungs- oder Lehrunternehmen auftritt. Mit der Verwissenschaftlichung der Lohnarbeit geht die Proletarisierung der Studierten einher.

Dieser langfristige, gesellschaftliche Prozess – seit Anfang der 1960er hat sich die „Akademikerquote“ in der Erwerbsbevölkerung fast versechsfacht, auf 16,5 Prozent – setzt individuell nicht erst nach dem Studium ein. Vielmehr schlagen sich ein Drittel der Studierenden mit gelegentlichem, und ein weiteres Drittel mit permanentem Jobben durch. Ein Viertel der Teilzeitkräfte, also 600.000 Menschen, rekrutiert sich aus dem Hochschulbereich. Da Studierende kaum organisiert ihre Interessen vertreten, unterschreiten sie regelmäßig gängige Standards – und beeinflussen damit auch den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Studentische Beschäftigungsverhältnisse unterscheiden sich zwar formal, sind aber allesamt als prekär zu bezeichnen. In der Telefonzentrale von emnid (Göttingen) beispielsweise arbeiten SchülerInnen und Studis als „freie Mitarbeiter“ auf Honorarbasis (1). Nicht selten liegt der Stundenlohn bei fünf, oder sechs Euro … manchmal gibt es gar keinen schriftlichen Arbeitsvertrag. Äußerst selten hingegen sind Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bezahlter Urlaub, Kündigungsschutz etc. An den Universitäten sieht es nicht anders aus, und „studentische Hilfskräfte“ sind in der Regel befristet eingestellt. Immer mehr Festangestellte müssen sich im Zuge gegenwärtiger Sparmaßnahmen seitens „autonomer“ Hochschulen auf befristete Verträge einlassen – die Befristung war zuerst bei Studierenden durchgesetzt. Teilweise werden sie sogar durch studentische Beschäftigte ersetzt.

An diesen Bedingungen wird sich solange nichts ändern, bis aus dem Studentenmilieu eine selbstbestimmte Organisierung erwächst, die sich auch mit anderen prekär Beschäftigten in Kontakt setzt und alltägliche Grenzen überwindet. Dazu wollen die Bildungssyndikate mit einem Fragebogen beitragen (2). Zum einen wird so die Problematik an der Uni thematisiert. Zum anderen ist eine eigenständige Untersuchung vor Ort notwendig, weil praktisch alle Daten zur sozialen Situation der Studierenden aus nur einer Quelle, den Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks, stammen.

Die soziale Situation während des Studiums hat prägenden Einfluß: wenn sie zunehmend durch prekäre Fünf-Euro-pro-Stunde-Jobs charakterisiert ist, kann ein qualifizierter Arbeitsplatz freilich als Karriere erscheinen. Andererseits besteht die Möglichkeit, sich selbst einzusetzen für die eigenen Belange und Erfahrungen zu sammeln, die sich als wichtig heraus stellen werden. In gemeinsamen Kämpfen kann in der Tat ein neuer sozialer Zusammenhalt entstehen, der berufsständische Egoismen überwindet, sich gegenseitig bestärkt und sich nicht mehr zufrieden gibt mit einigen materiellen Zugeständnissen und Wahlversprechen: Eine soziale Bewegung, die sich selbst – der Gesellschaft – den materiellen Reichtum und die Kultur zurückerstattet, die ihr heute noch vorbehalten bleiben.

A.E.

(1) Infos dazu bei www.callcenteroffensive.de
(2) Kontakt & Infos: fau-leipzig@gmx.de

Bildung

In Wahlkampfzeiten

Ja, welche Wahl denn? Aus den Winkeln der verschieden kolorierten Parteibüros kommt “dem Volk” das gleiche zu Ohren: “Arbeit soll das Land regieren”, “Wohlstand und Arbeit für alle”, “… Dass alle Arbeit haben”,“Brüder, durch Sonne zur Arbeit” … die Entscheidung fällt da nicht schwer, genauer: sie fällt nicht, sie ist schon gefallen. Dies treibt kuriose Blüten: ursprünglich waren für den Hartz’schen “Job-Floater” 150 Milliarden Euro vorgesehen (um 2 Millionen “Jobs” zu schaffen), was einer Investition von 75 Tausend Euro in einen Arbeitsplatz entsprochen hätte. Ist das nicht verrückt ?! Es geht der/m „abhängig Beschäftigten“ doch bei der (wohlgemerkt: Lohn-) Arbeit vornehmlich nicht um das Tun, sondern um’s Geld.

Mit den Bundestagswahlen steht also zweierlei fest: die Richtung (s. o.) und die Art und Weise, in gesetzlich sanktioniertem Monopolanspruch (1) nämlich. Begründung ? Gesprochen haben “wir” am Wahltag, vier Jahre lang haben jetzt einige wenige das Sagen.

Kanzler Schröder hat recht, wenn er auf dem DGB-Kongress im März sagt: „Es geht [am 22. September] nicht um Lager.“ Das heißt aber nicht, dass diese Wahl nicht bestände. Vielmehr ist diese angesichts der oben geschilderten Zustände die einzige. Es ist an jeder/m einzelnen, gründlich und konsequent über einen Wechsel des Lagers nachzudenken: vom neo-liberalen, kapitalistischen Staat zur antistaatlichen, auf Befreiung zielenden Selbstorganisation. Diese Option ist uns tagtäglich gegeben, und niemand kann sie uns nehmen. Die Wahlen rechts liegen zu lassen oder bei der Gelegenheit mit ungültigem Stimmzettel ein Strohfeuer zu entfachen, das ist ganz egal! Notwendig, entscheidend ist und Aussicht auf Veränderung der Verhältnisse hat einzig eine breite egalitäre, selbstbestimmte, föderale (von unten nach oben!) Organisierung.

A. E.

(1) auf Gewalt, Rechtsprechung, Steuern

Wahl

Staat bleibt Staat

Das „Leipziger Amtsblatt“ wartete in der Mitte seines 12. Jahrganges mit einem ganz besonderen Bonus auf: Dem unverblümten Aufruf zur Denunziation. Wohin ein solches gesellschaftliches Klima führt, mag sich nicht ausmalen, wer auch mal bei rot über die Ampel geht, „falsch“ parkt, Fernseher und Radio nicht gemeldet hat, ein Stück Käse oder eine CD „mitgehen“ läßt, schwarz arbeitet.

Worum geht’s ? Es geht um den Leitartikel vom 26. Juni 2002 – „Graffiti: Kein Kavaliersdelikt!“ – dessen Autorin in unerhörter Weise Desinformation und Zynismus (Fotounterschrift: „In flagranti erwischt ? Leider nein, das Bild ist nachgestellt.“) verbreitet…

Die Propaganda ist simpel gestrickt: Eingangs erfolgt eine Positivbewertung der Lohnarbeit, wenn es heißt „Die Arbeit anderer wird […] einfach ignoriert.“ Als hinge das Herzblut und eben nicht der Brotkorb des Bauarbeiters an seinem Tagwerk! (siehe unter anderem dazu S. 2/3 in diesem Heft; Arbeitsartikel)

Weit höher jedoch rangiert im präsentierten Wertekanon, dass das „Stadtbild verschandelt“ werde und so ein „Imageschaden“ entstehe, da tut „Kriminalitätsbekämpfung“ dann wirklich not. Ein totalitäres Staatsverständnis jedoch zeigt, wer in der „sofortige[n] Ergreifung“ den „Idealfall“ der Zusammenarbeit von Behörden und „couragierten“ BürgerInnen erkennen will. Die kritischen BürgerInnen fragen sich dann, wo denn da die „Leipziger Freiheit“ bleibt?! Als demokratisches Zuckerbrot neben der bürokratischen Peitsche bietet sich die AG Graffiti an, die Auftragswerke für Sprayer vermittelt. Dieses städtische Konzept beweist also neben einem völligen Unverständnis dieses künstlerischen und letzten Endes auch politischen Ausdrucks auch einen Hang zum Totalitären. Denn was ist das anderes als jede individuelle Regung registrieren, kontrollieren und gegebenenfalls verfolgen zu wollen und sich zu diesem Ansinnen die passenden Mittel zu verschaffen?

Seinen praktischen Ausdruck erfährt dies in der Beschlussvorlage der Leipziger Ratsversammlung (DS III/2192): „Dem entsprechend […] keine neuen Projekte, die nicht in der Koordination durch die Polizei stehen, mehr zu beginnen und alle laufenden Aktivitäten 1. bis zum Jahresende 2002 auslaufen zu lassen, 2. mit anderen Inhalten zu versehen […]“.

Aber einer geplanten und vermittelten Auftragsarbeit steht Graffiti, diese Kunst der Straße, diese revoltierende Bewegung der Sprayer genau entgegen. In den Armenghettos New Yorks entstanden, geht es dabei – neben dem sehr kritikwürdigen Heischen nach „fame“ (Ruhm) – um einen zeitweiligen Ausbruch aus den Bahnen der bürgerlichen Ordnung und ihrer einengenden Strukturen. Das Element des Unkontrollierten ist dabei ein wichtiger Aspekt.

Es geht um den Ausdruck der eigenen Individualität, die unter den Bedingungen des (v.a. Wirtschaftlichen) Zwangs keine Bedeutung hat. Mag sich die Kultur des Graffiti auch auf ein l’art pour l’art beschränken und in weiten Teilen gar in einen „ruhmreichen“ Kampf der Egoismen umschlagen, so sind doch ihre libertären Ansätze und Potentiale nicht zu verkennen. Dass der Staat als „ordnende Instanz“ mit Monopolanspruch eine solche Bewegung – und sei sie noch so beschränkt! – nicht dulden kann, das versteht sich von selbst … und dass er sich im demokratischen Zeitalter dabei hinter vermeintlichen Interessen einer „Allgemeinheit“ verschanzt, das wundert auch nicht.

A.E.

Graffiti

Worten folgen Taten

Ganz was neues!

Am 18.09.02 beschloss der Leipziger Stadtrat die Ergänzung der Polizeiverordnung über öffentliche Sicherheit und Ordnung. Darin heißt es nun, daß "Jedes Anbringen von Beschriftungen […] oder Plakaten, die weder eine Ankündigung noch eine Anpreisung oder einen Hinweis auf Gewerbe oder Beruf zum Inhalt haben" (Leipziger Amtsblatt, 05.10.02) verboten ist.

Damit ist also von vorneherein schon mal jeder in den illegalen Raum gedrängt, der den öffentlichen Raum zur öffentlichen Kommunikation nutzen will. "Das Verbot gilt nicht für das Beschriften […] bzw. das Plakatieren auf den dafür zugelassenen Plakatträgern […]." der zweite Satz sagt im Grunde auch nicht bedeutend mehr aus, als der erste: wer zahlt, oder von anderen Geld will, darf plakatieren, "Nicht(ver)käufer" werden bestraft. Diese wenigen Zeilen machen eines deutlich: es genügt heute nicht mehr nur Einwohner dieses Landes zu sein, damit mensch sein sog. Bürgerrecht der Meinungsfreiheit auch öffentlich wahrnehmen kann, sondern mensch muß schon Konsument/Verkäufer sein und: mensch ist nicht unbedingt auf das noch nicht ratifizierte GATS (Allgemeines Abkommen über Handel und Dienstleistungen) angewiesen, um wirtschaftliches Engagement gegenüber sozialem, politischem oder künstlerischem zu privilegieren.

Die direkten Folgen daraus: 1) die teils sexistischen Papierfetzen eines "Getränkemarktes" können weiterhin legal "wild plakatiert" werden, da sie einen "Hinweis auf Gewerbe" beinhalten; 2) wer nicht eine Geldstrafe zwischen 5 und 1.000 Euro riskieren will, soll wohl auf Werbetafeln und Litfaßsäulen plakatieren … und begeht eine Sachbeschädigung. Aber der Gesetzgeber – hier der Stadtrat – läßt ja keine Wahl, die war nämlich am 22. September. Hier zeigt sich eine schon bekannte Systematik: die Verordnung richtet sich zwar nicht explizit gegen politisches Engagement an sich (das widerspräche ja dem GG ;), untersagt aber die de facto einzige Möglichkeit öffentlicher Kommunikation. Denn wer kann und will – in dieser Richtung aktiv – das Geld aufbringen, sich einen Platz im öffentlichen Raum zu erkaufen? Vielleicht sollte mensch sich auf die Suche nach Sponsoren machen … Ganz einfach also ist es, progressive politische Aktivität und nonkonformen Ausdruck zu kriminalisieren. Und dafür stehen auch in Zeiten, da "alle" den Gürtel enger schnallen müßten, glatt 70.000 Euro zu Verfügung.

A.E.

Lokales

Offener Brief an Jacques Diouf

Herr Jacques Diouf ist Generaldirektor der Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) der UNO und veröffentlichte in der Juni-Ausgabe der LMD, also im Vorfeld des FAO-Gipfels in Rom (10. – 13. Juni 2002), einen Artikel mit dem Titel “Das Menschenrecht, sich satt zu essen” (1). Darin gibt er seiner Hoffnung Ausdruck, dass der Hunger als Problem von 800 Millionen Menschen mit Hilfe fast aller Staaten der Welt bald gelöst sein werde. Diouf präsentiert das Problem vor allem als ein technisches und setzt also in seinem Lösungsansatz vor allem auf den “Transfer von Technologien”. Außer Acht lässt er dabei seinen Einleitungssatz, in dem es heißt, dass “weltweit ein Überfluss an Nahrungsmitteln herrscht”. Auf diesen unausgesprochenen Widerspruch – und auf die Vergeblichkeit, auf die Hilfe von Staaten zu hoffen – geht der folgende offene Brief ein.

Herr Diouf,

ich habe Ihren Artikel in Le Monde diplomatique zur Kenntnis genommen. Der Text erscheint mir fast wie eine Selbstvergewisserung des Autors, dass das hehre Projekt, welches die Institution, der Sie vorstehen, seit 20 Jahren erfolglos zu realisieren sucht, nicht verloren, sondern – im Gegenteil – seine Verwirklichung nicht mehr fern sei. Und das trotz der eingangs genannten Faktenlage! Sie vergewissern sich, dass die G8 ihre Unterstützung zugesagt hat, wie beinah 180 andere Staaten im übrigen auch, und dass es einen Überfluss an Nahrungsmitteln auf der Welt gibt. Sie vergewissern sich also dessen, dass es keine vernünftige Erklärung für den Hunger auf der Welt gibt, an dem weltweit 800 Millionen Menschen leiden. Es drängt sich nun jedoch die Frage auf, warum dennoch täglich Tausende Hungers sterben ? Darauf gehen Sie nicht ein, sondern Sie präsentieren enthusiastische Reißbrettskizzen und Kalkulationen und argumentieren, dass es auch im globalen ökonomischen Interesse sei, den Hunger zu beseitigen. Um es klar zu formulieren: Ich sehe in Ihrem Text nichts weiter als einen fruchtlosen moralischen Appell. Oder aber infame Propaganda!

In welcher Welt leben wir denn?! In einer vom kapitalistischen Wirtschaftssystem dominierten, d. h. würde sich ein Vorhaben ökonomisch lohnen, wäre es binnen 20 Jahren längst umgesetzt. Aber Sonntagsreden, als dieses stellen sich die “globalen Initiativen” nämlich immer heraus, sind noch längst keine Taten. Das Verhalten der Realpolitik gestaltet sich ganz anders als der Glanz, Glamour und Good Will der Gipfeltreffen: Sie wissen sicherlich von den (tödlichen) Übergriffen auf gewerkschaftlich organisierte Landarbeiter in Haiti (Mai 2002), in denen Landkonflikte den Anlass gaben. Tagtäglich begegnet auch das Movimento Sem Terra (MST), eine Selbstorganisation landloser Menschen in Brasilien, die die massenhaft brachliegenden Ländereien für Subsistenzwirtschaft nutzen wollen; tagtäglich begegnet das MST härtester staatlicher Repression. Warum? Weil das Land nicht denen gehört, die es bebauen, und weil Ländereien als sichere Kapitalanlage und eben nicht als Acker betrachtet werden. Täglich auch, werden BäuerInnen in Südostasien mittels internationalen Patent- und WTO-Rechts sowie unfruchtbaren, genmanipulierten Reiskulturen in Abhängigkeit und Schuldsklaverei, schlicht um ihre bescheidene Existenz gebracht. Und wenn “die Industrieländer”, die G8 also, ihre “Hilfsleistungen […] reduzieren”, dann haben die Staats- und Regierungschefs ihre Rede am Sonntag wohl längst vergessen und sind zur Tagesordnung übergegangen, wo sich “sämtliche Bemühungen” auf ganz andere Projekte richten.

Unter Staaten gibt es in humanitären Angelegenheiten keine “Solidarität”, zum einen weil die BürgerInnen eines Staates inoffiziell eh als Staatseigentum gehandelt werden, zum anderen weil Staaten nun mal keine Wohlfahrtseinrichtungen, sondern in erster Linie Herrschaftsapparate sind, die v. a. die Eigentumsverhältnisse schützen, nicht aber die Menschen; ein Blick in die Tagespresse bestätigt diese Einschätzung. Warum also, da Sie doch wissen wie der Hase läuft, treten Sie mit einem solchen Appell öffentlich an die “internationale Staatengemeinschaft” heran; wenn nicht, um rührige Bemühungen vorzutäuschen und die herrschenden Eliten und die besitzende Klasse als scheiternden Herakles darzustellen?

A. E.

(1) Der Artikel ist nachzulesen unter monde-diplomatique.de/mtpl/2002/06/14./text?Tname=a0065&idx=22

Hunger

Da is‘ was im Burger

Manchmal findet sich im Internet doch Interessanteres als im Telephonbuch (1). Worum’s geht? Am 16. Oktober sollen bei der Fastfoodkette McD. weltweit die Milchshakes etwas zäher fliessen und die Fritten etwas länger brutzeln. So zumindest wünscht es sich das Netzwerk McDonald’s Workers‘ Resistance (MWR, Widerstand der McDonald’s ArbeiterInnen). MWR ist eine inoffizielle Selbstorganisation von Leuten, die bei McD. arbeiten und sich mit den Zuständen in den Filialen nicht abfinden wollen. Die stärkste Basis besteht wohl in Großbritannien, aber auch in zahlreichen anderen Ländern (vor allem in der EU, in den USA und in Rußland) engagieren sich Angestellte unter dem Label MWR. In dem erwähnten Aufruf werden nicht nur die Angestellten der Restaurants, sondern auch die ArbeiterInnen in den Zulieferbetrieben aufgefordert, ihren Teil zu der Aktion beizutragen … und da das der je eigene Beitrag sein soll, die je eigenen Möglichkeiten sehr unterschiedlich sind, kann das auch ganz verschiedene Formen annehmen: "das musz nichts spektakulaeres sein: Du könntest Dich krank melden, […] den Strom abschalten, […] ‚Dienst nach Vorschrift‘ machen, […] nicht lächeln". Und es wird ja auch Zeit, dasz die modernen Schwitzbuden von innen heraus angegriffen werden … eigentlich ist es eher verwunderlich, dasz noch immer so viele der allzeit bereit stehenden, dabei aber mies bezahlten Servicekräfte ihr Lächeln nicht abgesetzt haben.

„Unregierbar“?

Doch wozu der ganze Terz?! Es geht den AktivistInnen schlicht und einfach um die Durchsetzung der Koalitions- und Informationsfreiheit am Arbeitsplatz – diese Forderung steht von Anfang an und für alle Filialen des internationalen Konzerns. Denn Versuche, ein MWR ins Leben zu rufen gab es in Großbritannien schon vor einigen Jahren … sie scheiterten an der Repression des Unternehmens. Doch die Initiative war ergriffen, die direkte Auseinandersetzung begonnen und vorerst verloren. Immerhin blieb eine Rechtsberatungsstelle für Mc-ArbeiterInnen bestehen – und die Idee, die schlieszlich auch realisiert wurde und wird. Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen, vereint kaum mehr als ein paar hundert ArbeiterInnen … dasz eine solche Initiative jedoch bitter nötig ist, erfuhren auch die Angestellten einer Wiesbadener Filiale.

Besagtes Restaurant, dessen Belegschaft zu 80 Prozent in einer DGB-Gewerkschaft organisiert war, wurde kurzerhand geschlossen – ungeachtet der schwarzen Zahlen, die dort geschrieben wurden, schlieszlich mache eine Gewerkschaft den Betrieb "unregierbar". Das Kalkül ging auf: die GewerkschafterInnen zogen vor Gericht, verzichteten auf direktes Eingreifen, und ein halbes Jahr später wurde die Filiale mit neuer, nicht organisierter Belegschaft wieder eröffnet. Begünstigt wird ein solcher Verlauf sicherlich von der relativ hohen Fluktuation der Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor. Mögen die Gechassten auch Recht gesprochen bekommen – ist die Behinderung oder Sanktionierung gewerkschaftlicher Aktivität doch ein klarer Verfassungsbruch –, der Ofen ist aus.

Gewerkschaft braucht Bewegung

Es bleibt also zu hoffen, dasz sich möglichst viele Beschäftigte von McD. dieser Initiative anschliessen und unmittelbar aktiv werden. Schlieszlich zeigt sich alltäglich, und in diesem Falle hier besonders eklatant, dasz es keine Sozialpartnerschaft gibt. Zwangsläufig – das heißt, um Dynamik und Kontinuität zu entwickeln und Erfahrungen nicht dem Vergessen anheim zu geben – stellt sich dann auch die Frage nach Organisierung. Bei der Beantwortung sollte nicht vergessen werden: wer beispielsweise in der Hartz-Kommission an der Verschärfung der Ausbeutungsbedingungen mitwirkt, vertritt keineswegs die Interessen der eigenen Basis, sondern zementiert allenfalls eine gesellschaftliche Alternativlosigkeit. Glasklar, nur die Basis selbst tritt am besten für ihre Interessen ein. Was anderes also als das Maß an lokaler Autonomie und solidarischer Zusammenarbeit sollte uns Ratgeber bei dieser wichtigen Frage sein? Zeit für Taten.

A.E.

(1) siehe im Internet die beiden Seiten: www.fau.org/neu/htm/arc/akt_1610.html und mwr.org.uk/proposal.htm
(2) vgl. „junge Welt“, 23.02. & 9.8.2001

International

Was fehlt:

Ein Kommentar zu den jüngsten Tariferhöhungen der LVB/MDV

Weitaus häufiger als eine Bundestagswahl erleben wir Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr, so geschehen denn auch am 1. August dieses Jahres in Leipzig.

Kaum verwunderlich, daß es darauf keine über die faktische Feststellung hinausgehende Meinungsäußerung gegeben hat … weder in den Seiten der LVZ noch im Netz der LVB. Letztere bekannten sich in den ausgehängten Informationsblättern nicht einmal zur Höhe der Preissteigerung, dort ging es schlicht um logistische Fragen wie die Fahrgäste in der Übergangszeit ihr Geld loswerden. Außerdem gaben die LVB dazu gar keine Presseerklärung heraus, sondern beschränkten sich auf die Losung „Einfacher und bequemer“!

Gewöhnlich werden solche Maßnahmen mit gesteigerten Kosten, vor allem für Personal, gerechtfertigt. Abgesehen von der ökologischen Komponente – das wird das Problem unserer und anderer Kinder werden – muß mensch sich hier vor allem das antigewerkschaftliche Element vor Augen führen: ”zusätzlichen“ Forderungen der ArbeiterInnen wird jegliche Legitimität entzogen. Das Prinzip ‚divide et impera‘ (teile und herrsche) ganz unverblümt angewandt.

Dennoch ist es erstaunlich, daß sich dagegen keinerlei Widerstand zu regen scheint … erst recht in den Reihen derer, die auf dieses Verkehrsmittel angewiesen sind. Als Exempel könnte eine Kampagne von Anfang der 80er Jahre in einer westdeutschen Großstadt dienen: AutofahrerInnen, die ebenfalls mit der Preiserhöhung nicht einverstanden waren und zum Widerstand ihren Beitrag leisten wollten, klebten sich einen blauen Punkt an die Frontscheibe. Dieses Zeichen signalisierte: „Zum Boykott der Verkehrsbetriebe bis zur Rücknahme der Teurung, nehme ich Dich ein Stück weit mit.“ So kam eine breite Boykottbewegung zustande, die schließlich die Rücknahme der Preissteigerung erwirkte.

Was uns heute fehlt ist eine gesellschaftliche Bewegung, die sich der fortwährenden Angriffe auf soziale und ökologische wie arbeitsrechtliche Errungenschaften der vergangenen Jahrhunderte erwehren kann … von offensiven Initiativen ganz zu schweigen. Zeit zum Handeln!

A.E.

Lokales