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Schrei, wenn Du kannst!

Am 18. September 2003 treffen sich in Berlin die Bildungsminister der EU. Die Zusammenkunft wird sich im besonderen mit der Abfassung einer „Bildungscharta“ und dem Zeitplan einer europaweiten Hochschulreform beschäftigen. Beide Vorhaben leuchten ein, angesichts des toten, brach liegenden Wissens vieler SchülerInnen (PISA) und angesichts der Verschulung der Universitäten (strenger Lehrplan, finanziell vermittelter Zeitdruck, etc.). Wer wollte die Stimme erheben gegen freie, vielseitige, humanistische Bildung und eine Reform der am Rande der Funktionalität operierenden Hochschulen? Indes, dies sind nicht mehr als schöne Etiketten … die EU wuchert nicht nur mit ihrem fortschrittlichen Image, die Nationalstaatlichkeit schrecklicher Jahrzehnte zu überwinden.

Derweil hält die „Humanität“ eines Giscard d’Estaing oder Fischer einem näheren Blick nicht stand. Die Reform wie die Charta zielen auf die Vereinheitlichung der Bildungswesen in dem Sinne, in der Kombination „allgemeiner Standards“ und der „Vernunft des Sparens“ sogenannte Sachzwänge zu schaffen. Mit solcher, per Expertise bestätigter Übermacht der „Wirklichkeit“ konfrontiert, sehen sich die Betroffenen – SchülerInnen und Studierende wie Lehrende – und letztlich die gesamte Gesellschaft kaum in der Lage, ihre Interessen wahrzunehmen.

Unwidersprochen allerdings sollen diese regierungsamtlichen Märchen nicht hingenommen werden. Um ein Nachdenken anzustoßen, das der Tat notwendig vorausgeht, organisieren die Bildungssyndikate in der FAU unter anderem eine europäische Tagung in den Räumen der Humboldt-Universität (Berlin). Neben den Absichten der gegenwärtigen Bildungspolitik sollen auch Handlungsoptionen und libertäre Bildungskonzeptionen zur Sprache gebracht werden.

A.E.

Kontakt und nähere Informationen finden Interessierte unter
www.fau.org/bsy und
www.bologna-berlin2003.de/de/

Bildung

Erschreckt vor‘m eig’nen Schatten

Etwas unvermittelt brach der DGB-Aktionstag am 24. Mai in Leipzig an, denn zuvor war kaum davon zu hören oder zu lesen. Vielleicht hingen ein paar Plakate auf den Toiletten in der 5. Etage des Gewerkschaftshauses, auf der Straße war jedenfalls keine zu sehen … bis zu jenem sonnigen Samstag Morgen. Doch ach, es blieb alles beim alten. Die GewerkschafterInnen wurden herangekarrt aus allen Ecken Sachsens – Dutzende Busse standen im Park – und brachten damit doch „nur“ etwa 5000 Menschen auf die Beine, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen.

Landesweit demonstrierten an diesem Tag 90.000 Menschen gegen die Regierungspläne … was nicht schlecht klingt, waren tatsächlich kaum mehr als ein (!) Prozent der DGB-Mitglieder. Was so hoffnungsfroh durch den Blätterwald geisterte, der „tiefe Bruch zwischen DGB und SPD“, erwies sich als Illusion. Niemand in den Gewerkschaftsspitzen will mit der Sozialdemokratie brechen und eine vitale Gewerkschaftsbewegung am Hals haben, bedeutet das doch eine grundlegende Umstrukturierung des DGB selbst. Der 24. Mai gibt davon den bered’sten Eindruck: die „eigene“ Basis soll nicht mobilisiert werden. Es gab keine Plakate, keine Demonstration, keine Sprechchöre; es gab Dutzende Publikumstransporter und Bierbuden, eine Bühne mit Lichtshow und Schlagern, so laut dass jedes Gespräch unterging.

Ein „Mut zum Umsteuern“ (2) scheint die Spitze schon wieder verlassen zu haben, angesichts des Schattens einer Gewerkschaftsbewegung, der am Samstag durch die Straßen irrte. Zwei Tage nach dem mäßigen, aber dennoch außergewöhnlichen (weil sehr seltenen) Aktionstag gab DGB-Chef Sommer kund, dass es bis zum Herbst eine Protestpause seitens der Gewerkschaften geben wird. Oder wie ver.di-Sprecherin Haß es formulierte: „zurücklehnen und zugucken“.

In der Tat zeigt selbst die Losung vom „Mut“, wie stark sich der DGB an Schröders SPD anlehnt. Mit seinem Alternativprogramm zur Agenda 2010 outet sich Sommers DGB als die bessere Sozialdemokratie: von öffentlichen Investitionen verspricht man sich den Kick zur Konjunktur. Stellt sich nur die Frage: Was sollen (1) wir denn noch produzieren – und konsumieren – um den Kapitalkreislauf wieder in Gang zu bringen? Fest steht aber: es wird wohl nichts mit dem „tiefen Bruch“, dazu kennen sich die beiden Führungsetagen zu gut, dazu lassen sich die Mitglieder von den „eigenen“ FunktionärInnen auch zu sehr einschüchtern … sie ziehen vielleicht die individuelle Konsequenz des Austritts (3), bleiben aber gefangen in Arbeit und Arbeitslosigkeit.

A.E.

(1) Von „wollen“ ist ja in der Wirtschaft überhaupt nie die Rede.
(2) www.dgb.de/themen/themen_a_z/abisz_doks/r/reformagenda.pdf
(3) Allein in den Jahren 1999 und 2000 verloren die DGB-Gewerkschaften rund 500.000 Mitglieder.

Lokales

Grandiose Eröffnung

Libelle fliegt! Mit einer ersten öffentlichen Festivität eröffnete am Freitag, den 13. Juni, in der Kolonnadenstraße 19 die Libelle, Libertäres Zentrum. Im Laufe des Abends fanden sich etwa 100 Menschen ein und kamen in den Genuß von Schmaus und Trank – begleitet von Liedern des „Geigerzählers“ aus Berlin, die so manchen zum Schmunzeln brachten. In einem ehemaligen Schreibwarengeschäft in der Leipziger Innenstadt (Haltestelle Westplatz) findet sich nun auf gut 50 Quadratmetern ein wahres libertäres Universum, Ansätze einer neuen Gesellschaft.

Tausendundeine Möglichkeit, sich zu verständigen und zusammenzutun: zwangloses Plaudern im Café und Schmökern in der libertären Bibliothek am Nachmittag; abends zu aktuellen Problemen diskutieren und selbstorganisierte Handlungsansätze entdecken.

Die Libelle selbst ist unabhängig von jeder Partei und staatlichen Institution, ist allein gegründet auf die Eigeninitiative und Unterstützung all derer Individuen und Gruppen, die sich der Idee der Herrschaftslosigkeit verbunden fühlen … und sie im Alltag verwirklichen wollen. Dieser Ansatz umfaßt nicht nur thematische Veranstaltungen wie die mit Abel Paz, der am 20.6. als Zeitzeuge von der Revolution in Spanien (1936) berichtete. Dieser Ansatz meint auch, sich zu organisieren und sich gegenseitig praktisch zu unterstützen; daher wird in der Libelle auch die anarchosyndikalistische FAU ansprechbar sein und sich weiterhin um eine kämpferische gewerkschaftliche Alternative bemühen. Aber auch auf der Ebene der Konsumtion sind verschiedene Formen denkbar; etwa eine mobile Umsonstkiste (1) oder die Gründung einer Konsumgenossenschaft und anderer Kooperativen.

Indes wird die Herrschaftslosigkeit nicht nur „nach außen“ propagiert, sondern sie prägt auch die Organisation und den Unterhalt des libertären Zentrums. Kein Vorstand oder Zentralkomitee, sondern regelmäßige Vollversammlungen treffen die Entscheidungen über Anschaffungen und Ausgestaltung und Auftreten des „Ladens“. Den Alltag dazwischen prägen freie, gleichberechtigte Vereinbarungen der Betroffenen – ein einfacher Kalender erleichtert das timing.

Es sind aber noch lange nicht genug Leute beteiligt, um alle Potentiale des Projektes voll auszuschöpfen und einen gesicherten Fortbestand zu garantieren. Interesse an libertären Ideen kann ein Ansporn sein, sich mit eigenen Ideen einzubringen und auch zu den fixen Kosten von gut 400 Euro beizutragen. Ein anderer Hintergrund zum Engagement mag die Einsicht sein, dass das eigene Leben am besten selbstbestimmt gestaltet wird.

Wer ganz sicher gehen will, jemanden anzutreffen, dem seien die regelmäßigen Öffnungszeiten mitgeteilt, wie sie bisher feststehen. Im Juli eröffnet immer freitags von 15 bis 19 Uhr ein Café ohne Einkaufspreis und samstags ab 20 Uhr nährt eine Vokü (Abk.: Volksküche), gesund und billig. Am 11. des Monats finden zudem mit dem Monty-Python-Abend Humor und Satire einen gebührenden Platz. Und jeden ersten Donnerstag öffnet die FAU Leipzig von 16 bis 19 Uhr die Türen zum Café FAUL. Viele Veranstaltungen hingegen werden kurzfristig ausgerichtet … und in den Schaufenstern publik gemacht. Es lohnt sich also zu jeder Tages- und Nachzeit, mal vorbeizuschauen!

A.E.

(1) vgl. dazu auch „frischluft.event“, S. 10

Lokales

Klammheimliche Eröffnung

Das Wundermittel gegen Arbeitslosigkeit ist nun auch endlich in Leipzig vorrätig!

Am 22. April, drei Wochen nach Inkraftsetzung des zweiten Gesetzespakets zum Arbeitsmarkt, wurden in Gestalt der beiden Unternehmen Manpower und Ziel Leipzig die ersten Personal Service Agenturen (PSA) etabliert. (1) Diese Leiharbeitsfirmen werden nun direkt vom Arbeitsamt mit Menschen beliefert. Von dieser Zwangsmaßnahme können potentiell alle Erwerbslosen betroffen sein. Wer sich weigert, zu Dumpinglöhnen anschaffen zu gehen, wird mit Sperre der Unterstützung bedroht.

Eben gegen die Zwangsverpflichtung, wo keine Verhandlungsfreiheit besteht, richten sich die Taten und Reden der FAU und verschiedener Anti-Hartz-Bündnisse in der Republik. Die Freudenbotschaft der Eröffnung erreichte die Öffentlichkeit in Kleinparis allerdings erst gut zwei Wochen später – vielleicht, weil die Stadtoberen die olympische Harmonie nicht durch Proteste gestört sehen wollten.

Ob mit, oder ohne Protest … am Heilsversprechen PSA kann getrost gezweifelt werden. Von den 74.141 Erwerbslosen im Stadtgebiet (Mai 2003; Quote: 19%) werden 200 zur Lohndrückerei verpflichtet – ein Tropfen auf den heißen Stein ist das, mehr nicht, zum Glück. Und auch die zweite politische Wunderwaffel gegen die Arbeitslosigkeit, das vielgepriesene Job-Center ist nur laut Arbeitsamtsdirektor Meyer „erfolgreich“: im Januar und Februar 2003, in zwei Monaten, konnte man sage und schreibe dreizehn Menschen in „Arbeit vermitteln“.

Angesichts dieser Zahlen ist es kaum anzunehmen, dass jemand ernsthaft an die Versprechungen, oder Drohungen, aus Regierungskreisen glaubt. Das Tamtam der Arbeitsmarktreform zielt nicht auf eine Senkung der Arbeitslosigkeit, sondern vielmehr der Lohnkosten. Arbeit und Arbeitslosigkeit sind zwei Seiten einer Medaille: Pest & Cholera!

A.E.

(1) Gesetzliche Grundlage: § 37c SGBIII
Adressen in Leipzig:
Manpower PSA, Markt 7;
Ziel Leipzig, Angerstr. 17;
Job-Center, Große Fleischergasse 12.

Lokales

Das Ruder im Griff behalten

Mitte März gab es die ersten Mel­dungen, enttäuschte Gewerkschaf­ter wollten eine „neue linke Protestpartei“ gründen. Eine Woche lang war das Thema nicht zu überhören, nicht zu übersehen. Scheinbar waren die Medien aber etwas voreilig. Denn in ihrem 2. Rundbrief vom 7. April betont die „Initiative Arbeit und soziale Gerech­tig­keit“ (IASG) (1), dass es sich bei dem Zusammenschluss um „keine Partei“, sondern um den Versuch handelt, „die SPD auf sozialstaatliche Positionen und ihr Parteiprogramm zu drängen“. In der Tat machen die InitiatorInnen in ihrem Aufruf Alternativvorschläge zur aktuellen Regierungspolitik – so fordern sie „massive Investitionsprogramme“ und einen „sozial gerechten Umbau unserer Sozialsysteme“.

Ver.di-Vorsit­zen­der Bsir­s­­­ke lehnt eine Beteili­gung „sei­ner“ Organisation an der Initiative zwar ab, wie andere DGB-Gewerkschaften auch. Doch eine Alternative haben sie nicht zu bieten: so weiß Herr Kohl­­bacher (IGM Leip­zig) für das Prob­lem der Arbeitslosig­keit auch keine andere Lösung als öffent­liche Investi­tionen auf Pump (deficit spen­ding). Auf der von ver.di mitorgani­sierten Veranstaltung „Sozial­abbau oder Auf­schwung“, die am 24.3. im Volkshaus stattfand, rollt Kohlbacher den klassischen Keynesianismus wieder auf. Das freie Spiel von Angebot und Nach­frage, das auf dem Warenmarkt herrscht, dür­fe nicht auf den Arbeitsmarkt aus­gedehnt werden. Denn damit komme der volkswirtschaft­liche Kreislauf, in dem die Arbeiterin nicht nur Kostenfaktor, sondern auch Kon­sumen­­tin ist, ins Wanken. Nur das müssten die (Chefetagen der) Gewerkschaften be­tonen. Da eben – bei der Binnennachfrage – müsste und könnte der Staat das Wirt­schafts­wachstum ankurbeln. (2) Dass Wachs­tum, auch „künst­liches“, allein noch keine Lösung für das „Problem Arbeitslosigkeit“ garantiert, zeigte das Zusammensacken des IT-Booms zu Beginn dieses Jahr­hunderts. Ziel in der Marktwirtschaft ist aber der betriebs­wirtschaftliche Maximal­profit. Unter diesem Aspekt ist die Ausdehnung des „freien Spiels“ nur konse­quent, wird doch auf „dem Arbeitsmarkt“ die Ware Arbeits­kraft gehandelt – das anerkennen auch die Gewerkschaften, die das Lohn­system akzeptieren. Diese Konse­quenz kann nur durch Streik be- oder ver­hindert werden.

Dazu aber scheinen die ASG-Ini­tiatoren (noch?) nicht bereit. Sie pflegen vielmehr den Glauben an Staat und Partei. Die IASG stand zwar nicht in Verbindung mit einem Treffen Anfang März in der Berliner DGB-Zentrale, die – initiiert von ver.di-Funktionär Ralf Krämer – sich offen an der Schill-Partei orientiert und bei den näch­sten Bundestags­wahlen mehr als 20 Prozent der Stim­men ergat­tern will. So kam es zur medialen Sym­biose zweier Initiativen. Zwar sind die beiden Ansät­ze nicht so verschieden. IASG-Mit­­begründer Wendl (ver.di) jeden­falls befür­wor­tete am ersten Tag der Bericht­­erstattung eine Tendenz, die den Gewerk­schaften „im Parla­ment eine politische Kraft“ an die Seite stellen will. Auch die Option einer Parteineugrün­dung will man sich, so heißt es im 2. Rund­schreiben mit Verweis auf die SPD-Ausschlussverfahren, offen halten. Die bes­seren Sozialdemokraten wollen die Staats­maschine also in Gang halten: eine „wähl­bare“ Partei, sei es in Form der SPD oder einer Neugründung. Sie respektieren das Tabu des 20. Jahr­hunderts: nicht aus­zusprechen, dass wir nicht leben, um zu arbeiten.

Die Welle von mehre­ren hundert Leipzi­ger Unterschriften (unter‘m Aufruf) allein läßt allerdings noch keine Ein­schätzung über die Aussichten der IASG zu. Die Zeit wird‘s zeigen, allzu vielversprechend aber stehen die Zeichen der Zeit nicht.

A.E.

(1) Alle Materialien finden sich im Netz unter www.initiative-asg.de
(2) Schwer, sich vorzustellen, dass Bsirskes „Alter­nativen zum sozialpolitischen Kahlschlag der Regierung“, die er Mitte Mai veröffentlichen will, anders aussehen.

Sozialreformen

Eine beispielhafte Novelle

Am Morgen des 16. April 2004, kurz vor Beginn des Berufsverkehrs um 5 Uhr, bot sich den Angestellten der Herweg Bus Betriebe (HBB) in Leverkusen, ein un­gewohn­tes Bild. Circa 40 Militante blockieren mit Auto­reifen und Trans­parenten die Ausfahrt der Busse: „Gegen Billiglohn: Streik!“

Die Soli-Blockade dauerte gut eine Stunde. Nachdem die überrumpelte Polizei mit gewaltsamer Räumung gedroht hatte, konnten die rund 100 Busse das Zentral­depot verlassen und den öffent­lichen Verkehr wieder gewährleisten. Aber erst um 7 Uhr verlief der Busverkehr wieder planmäßig. Im Nachhinein griff die Staatsmacht noch zwölf der Beteiligten ab und nahm deren Personalien auf, um wegen Verstoßes gegen das Versamm­lungs­­gesetz und wegen Nötigung zu ermitteln.

Die Angestellten der HBB sind Streikbrecher, sie unterlaufen den Arbeitskampf, der seit dem 9. Januar bei der Tochtergesellschaft der kommunalen Kraftverkehr Wupper-Sieg AG (WUPSI) läuft. Die HBB ist das, was in Leipzig die LSVB, RVL und RVT (1) sind – und sie stellt bereits ein Viertel aller FahrerIn­nen. Die bekommen allerdings 30 Prozent weniger Lohn als die kommunalen; und Neueinstellungen erfolgen nurmehr bei den HBB. Ganz ähnlich ist die Situation in Leipzig, wo diese „marktübliche“ Praxis seit mehr als einem Jahr umgesetzt wird. (2)

Die 80 eigentlichen Fah­rerIn­nen werden in den weltweit einzig­artigen Plastetüten wohl durch­halten: „wenn wir hier ein­knicken, wird sich keine Busbelegschaft mehr trauen, gegen niedrige Löhne zu streiken.“ Ver.di unterstützt die Streiken­den, indem sie Streikgeld zahlt, will ihre Stellung als Verhandlungsführer aber nicht ein­büßen und distanziert sich von der Solidaritätsblockade – die fanden selbst nicht alle Streikbrecher schlecht. Sie war auch bitter nötig: Denn während das Landesarbeitsgericht NRW Soli-Streiks bei der WUPSI verboten hat, können die HBB den Verkehr mit Streikbrechern aufrecht erhalten!

A.E.

(1) Leipziger Stra­ßen­ver­kehrs­­be­triebe, Regional­ver­kehr Leipzig, Regio­nal­ver­kehr Taucha.
(2) siehe Feierabend! #2

bewegung

Vom Amt zur Agentur

Vermittlung ist alles. Will heißen: nicht auf den Inhalt, auf die Verpackung kommt’s an (das hat die rotierende Führungsriege der SPD Anfang Februar oft genug betont). Müntefering könne die Politik besser an die Basis verkaufen, ändern werde sich daran nichts. Bei soviel Wertschätzung, die man der Propaganda angedeihen läßt, nimmt es nicht Wunder, dass deren Mutationen auch in anderen Bereichen zu spüren ist. Seit Anfang des Jahres heißt die „Bundesanstalt“ nun „Bundesagentur für Arbeit“. Zum Hauch der Veränderung gehört natürlich auch ein neuer Internet-Auftritt! Dazu gehört auch die Kampagne des „TeamArbeit für Deutschland“ des Bundeswirtschaftsministeriums. Zur Plakatwerbung für das Projekt gaben sich in der Vergangenheit zahlreiche „Promis“ her, die um der Beseitigung der Arbeitslosigkeit willen an die Initiative und Kreativität der StaatsbürgerInnen appellieren. Nun, wir kennen das bereits im seit 1996 jährlich ausgeschriebenen „Innovationspreis“ der Stadt Leipzig. Innovation ist Trumpf beim Aufschwung.

Unberührt von diesem „ehrenamtlichen Engagement“ für Deutschland und für den Verwertungskreislauf, bleiben indes die Maßnahmen, auf die sich Regierung und Opposition Ende Dezember verständigten: sie sind/werden Gesetz. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (ALG II) wurde vom 1. Juli 2004 auf 1. Januar 2005 verschoben. Damit wurde auch die neue Zumutbarkeit um ein Jahr verschoben. Es gelten also noch die alten Zumutbarkeitsregelungen des § 121 SGB III: die Sperrfrist bei der ersten Arbeitsablehnung beträgt drei Wochen (§ 144). Die Sperrfrist für die Ablehnung einer zweiten angebotenen Arbeit liegt ab dem 1.1.2004 bei sechs Wochen, bei „unzureichenden Eigenbemühungen“ bei 2 Wochen und bei einem Meldeversäumnis bei 1 Woche. Nach 21 Wochen Sperre entfällt der Anspruch auf Stütze ganz. Ab Januar nächsten Jahres sollen die anderthalb Millionen „Langzeitarbeitslosen“ (jene, die länger als ein Jahr erwerbslos sind) jede Arbeit zu jeder Entlohnung annehmen, die ihnen das Amt, ’tschuldigung: die Agentur natürlich, anträgt. Die totale Streichung des ALG II kann für drei Monate verordnet werden; bei einer Kürzung um mehr als 30 Prozent der Regelleistung können „in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen“ – also Lebensmittelgutscheine – ausgegeben werden (§ 31, SGB II) (1). Und zwar eindeutig nur während einer Kürzung, nicht bei der Streichung! Beim dreimonatigen Wegfall des ALG II besteht „kein Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt“ (§ 31, SGB II). Sogar SPD-Abgeordnete fürchten nun einen „staatlich subventionierten Niedriglohnsektor“ (Schmidtbauer), da der Tendenz gegen Null kaum mehr Grenzen gesetzt sind. Unser allerliebster Ministerpräsident Milbradt forderte ja in diesem Zusammenhang: ein Euro pro Stunde! Rainer „Zuckerbrot“ Wend, Vorsitzender des Bundestagswirtschaftsausschusses, will sich nicht so weit aus dem Fenster lehnen, weil durch „unerwünschte Reformhärten“ die Agenda 2010 selbst gefährdet werden könnte: „Wenn man Leute dazu zwingt, jede Arbeit aufzunehmen, dann muss man ihnen auch einen Lohn zahlen, der über der Sozialhilfe liegt.“ Tatsächlich ist die BRD einer der wenigen Staaten, der keinen Mindestlohn festschreibt – in den Niederlanden erhält man, laut Gesetzestext, mindestens 7,80 Euro die Stunde.

Die Grünen versuchen indessen abzuwiegeln: man erwarte, dass sich das Lohnniveau zwischen fünf und zehn Prozent unter Tarif einpendele. Schließlich würden auch die Gerichte darüber wachen, dass es nicht zu „sittenwidrigem“ Lohnwucher komme. Leicht läßt sich ermessen, wie viel es bringt, sich an die bürokratischen, chronisch überlasteten Strukturen der Gerichtsbarkeit zu wenden. Die Realität im Reinigungssektor, zum Beispiel, spricht eine andere Sprache: Gerichte sahen, laut DGB, kein Problem darin, den Tarif von 7,94 um 30 Prozent zu unterschreiten. Schon in diesen Tagen greift allerdings die Zusammenlegung von Strukturanpassungs- (SAM) und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM). Auch hier verschiebt sich das Augenmerk von der vorgeblich menschenfreundlichen „Verbesserung der Eingliederungsaussichten der Arbeitnehmer“ ganz offen zur Zwangsarbeit: alle Arbeiten sind nun als ABM förderungswürdig, die sonst „nicht in diesem Umfang“ durchgeführt würden. Außerdem kann die „Agentur“ dem Chef bis zu 300 Euro pro Zwangsverpflichteten zuschießen, als Entschädigung für die entstehenden Kosten. Gleichzeitig sind ABM nicht mehr beitragspflichtig zur Arbeitslosenversicherung und können somit keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld begründen (2).

Immerhin begründet sich nach aktueller Regelung für die derzeit 28.405 ZwangsleiharbeiterInnen in den 968 Personal-Service-Agenturen (PSA) Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das ist bitter nötig, denn von den knapp 40.000 in PSA „beschäftigten“ Arbeitslosen – mit dieser Zahl verfehlt die BA übrigens ihr Ziel um 20 Prozent (FA! #9, Arbeitende Arme) – wurden nur 4.135 durch einen sagenumwobenen „Klebeeffekt“ „in Arbeit vermittelt“; 4.859 Menschen hingegen wurden noch während der Probezeit entlassen.

Der Renner scheinen die PSA also nicht zu sein, obwohl die BA pro „eingestelltem“ Erwerbslosen 1000 Euro Kopfgeld überweist, und nochmal 2000 Euro, wenn der/die nun ehemals Erwerbslose von einem Betrieb übernommen wird – dafür werden bundesweit 600 Millionen Euro bereitgestellt. Die Bundesregierung scheint mit 200.000 PSA-vermittelten „Langzeitarbeitslosen“ zu rechnen. Da tut sich einiges an Einsparpotential!

Vor diesem Hintergrund wird Schröder Ende März eine Regierungserklärung abgeben, in der er das Programm bis 2006 umreißt. Begründet hatte der Kanzler diese junge Tradition mit der Rede vom 14.3.2003, als er die Agenda 2010 vorstellte. Gestützt wird er dabei vom designierten SPD-Parteivorsitzenden Müntefering, der am 15.2. eisern, doch unter Applaus erklärte: „Ich werde die Partei nicht gegen die Regierung führen.“ Da kann man ihm schlecht reinreden. Wenn Müntefering allerdings behauptet, nichts vom Beschlossenen könne zurückgenommen werden, haben wir doch ein Wörtchen mitzureden … da es uns betrifft. Zu diesem Zwecke rufen Initiativen aus dem Rhein-Main-Gebiet, InitiatorInnen der Demonstration vom 1. November, für Freitag, den 2. April 2004, zu Aktionen in Betrieben („bis hin zu Streiks“) und auf der Straße, und für Samstag, den 3.4., zu Demonstrationen in Berlin, Köln und Stuttgart auf. Auf drei „Aktionskonferenzen“ nach dem 1.November wurde dieses Vorhaben am 13.12., 17./18.1. und 1.2. bestätigt. Nur die erste allerdings war auf Initiative der Basis zusammengekommen, die anderen hatte der DGB einberufen – ein „Bündnis auf gleicher Augenhöhe“. Denn nachdem die politische Unterstützung seitens der SPD weggebrochen sei, müssten die Betriebe – mit Hilfe von Basisinitiativen – repolitisiert werden, so IGMetall-Funktionär Schmitthenner. Einsamer Rufer in der Wüste … der DGB-Bundesvorstand beansprucht in seinem Aufruf zur Demo (3) den Führungsanspruch, und untermauert ihn mit 3,5 Millionen Euro (4). Davon werden nicht nur „Teilnehmertransfers“ mit Autoland-Deutschland-Bussen und „zentrale Materialien“ finanziert; besonders wichtig ist, dass die Bühnen „ein mediengerechtes Aussehen haben und einheitlich gestaltet“ sind. Die Rolle der Medien für den DGB (wie für die übrige Politik) ist eminent, will man sich doch an die Spitze einer aufkeimenden Bewegung setzen, damit sie keinen tatsächlichen, sondern nur diskursiven Druck ausübt. Daher findet der potentiell extra-legale Aktionstag am Freitag, zum dem sich die Radikalen sogar „Streiks“ wünschen, beim DGB keinerlei Erwähnung.

A.E.

(1) Vielleicht sollten sich Betroffene mit MigrantInnen in Verbindung setzen, die haben Erfahrung! Das „Asylbewerberleistungsgesetz“ schreibt in §3 fest, dass es abgesehen von 40 Euro Taschengeld nur „Sachleistungen … Wertgutscheine … unbare Abrechnungen“ gibt – das Modell macht Schule.
(2) Interessantes auch unter www.chefduzen.de
(3) Aufruf im Netz unter: www.dgb.de/themen/europa/aktionstag/dgb_aufruf.pdf – auch die FAU mobilisiert: www.fau.org
(4) Protokoll der Telefonkonferenz von Bundes- und Bezirksvorständen des DGB und seiner Einzelgewerkschaften am 12.2.2004, liegt dem Autor vor.

Sozialreformen

Revolutionäre ILO?

Am 25.2. erklärte die „Weltkommission zur Sozialen Dimension der Globalisierung“ in der UN-Organisation ILO (International Labor Organisation), dass trotz eines enormen „Potential[s] an Wohlstand“ soziale Ungleichheiten bestehen, die „ethisch nicht akzeptabel und politisch nicht haltbar“ sind. Ist die ILO also anarchistisch geworden und empört sich darüber, dass es Herren und Knechte gibt? Rät sie der Staatsmacht in aller Welt, Politik und Gewaltbereitschaft einzustellen? Verteidigt sie die Ethik der sozialen, einander bedingenden Freiheit und Gleichheit und gegenseitigen Hilfe? Mitnichten. Beteiligt sind an der 2001 gegründeten Kommission nämlich auch Staatspräsidenten, Halonen (Finnland) und Mkapa (Tansania). So fordert die ILO-Kommission letztlich ein Mehr an Ausbeutung: die Schaffung von Arbeitsplätzen, eine bessere zwischenstaatliche Abstimmung makroökonomischer Politik, die auf Wachstum zielt, und eine größere „Verantwortung“ der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO). Damit wird sich am brutalen Charakter der Globalisierung nichts ändern.

A.E.

Nachbarn

Innovationsschmiede

Am 1.1.2006 soll mit der Signaturkarte, ein „neues Zeitalter“ einläuten: jedeR Einzelne der rund 40 Millionen potentiell Auszubeutenden soll eine solche „Job-Card“ erhalten. Auf Vorschlag der Hartz-Kommission sollen alle finanziell relevanten Daten einer Person zentral gespeichert werden: Lohnsteuer- und Arbeitsbescheinigungen, Einkommenserklärung und vieles mehr. Mit der zeitgemäßen Rationalisierung soll Papier und Zeit gespart, und auch Bürokratie abgebaut werden. Mit der Effektivierung der Verwaltungsabläufe wird Bürokratie allerdings nicht abgeschwächt, sondern gestärkt! Die Zusicherung in Zeiten des Modellversuchs in Frankfurt/M. (seit 1.9.2003), dass die Daten nur in Gegenwart des kartografierten Individuums eingesehen werden könnten, wird durch das technische Potential zur Makulatur.

A.E.

Entschlossener als Andere

Im vergangenen Jahr sah sich die französi­sche Regierung, anders als die deutsche, mit einer breiten Streikbewegung kon­fron­tiert, die sich u.a. gegen die Reformen der Rente, des Bildungswesens und der Sozial­ver­sicherung der „Intermittents“ (unregelmäßig beschäftigte ArbeiterInnen der Kulturindustrie) richtete. Die An­gestellten der Bil­dungsbranche, vor allem LehrerIn­nen, gehör­ten zu den wichtigsten Teilen der Bewe­gung – ihr wichtigstes Druckmittel: Ausfall der Abiturprüfungen. Nach einer imposanten Medienkampagne über die „Ver­­ant­wortungslosigkeit“ der Streikenden, und auch aufgrund der Anwesenheit von „Ord­nungskräften“ konnten die Prüfungen durch­geführt werden. Dieser Niederlage ent­sprechend schwer waren Versuche nach den Sommer­ferien, den Protest wieder auf­zu­­nehmen. Im Schulwesen geht es vor allem um die Zahl der Hilfskräfte, sowie um die Verbesserung ihrer oft prekären Arbeits­si­tuation und um die Abwehr der so­ge­nann­ten „Dezentralisierung“: mit dem Über­­gang der Bildungshoheit an die Départements, so fürchten die LehrerIn­nen, wird einem Gefälle in Lern- und Arbeits­bedingungen Vorschub geleistet. In Lyon fanden sich die ehemals Streikenden nach den Sommerferien in einer über­gewerk­schaftlichen Runde zusammen. Die gewerkschaftsübergreifende Kooperation „Inter­syndicale“ will einen „kollektiven Kampf gegen die Prekarität fördern, der von den Prekären selbst geleitet […] und von unseren Gewerkschaften [CGT, CNT, SUD] mit den notwendigen Mitteln unter­stützt wird.“ Sie kritisieren nicht nur die soziale Unsicherheit in der Schule, sondern im gesamten öffentlichen Dienst – das Bil­dungs­wesen aber ist freilich ihr Schwerpunkt. Neben öffentlichen Ver­samm­lungen und Petitionen, kümmerten sie sich auch um einen Fragebogen der Prekären.

In dieser Situation riefen die großen Gewerk­schaften landesweit für den 25. Mai zu einem zweiten Streik- und Aktionstag auf – die erfolgreiche Mobilisierung vom 12. März sollte wiederholt werden, um zu zeigen „dass wir noch entschlossen sind“. Aber ein eintägiger Warnstreik wenige Wochen vor Ende des Schuljahres ist nicht mehr als ein gewerkschaftliches Lippen­bekennt­nis und kann kaum Druck auf die Regierung ausüben, die 2003 mehreren Streikwochen trotzte. So fand der Aufruf kaum Resonanz: es herrscht eine allgemeine Resignation. Die CNT beklagt in einer Erklärung, dass es Mitte März versäumt worden war, die Bewegung zu intensivieren. Dieser Wille, wie ihn KollegInnen in Versammlungen formu­lierten, gereichte nicht zur Tat.

A.E.

Nachbarn