Wie die ukrainische Bevölkerung mit Hilfe der Medien entmündigt wird
Die Geschehnisse in der Ukraine in den letzten Monaten, sowie die von vielen als einseitig wahrgenommene Berichterstattung hierzulande haben hohe Wellen geschlagen.
In meinem letzten Artikel (FA! #50) habe ich ein Propaganda-Modell vorgestellt, das einseitige und verzerrte Berichterstattung allein aus Grundannahmen erklärt, die die wirtschaftliche und institutionelle Beschaffenheit der westlichen Mediensysteme widerspiegeln. Ihm zufolge werden offizielle Feinde stark verunglimpft, während unliebsame Fakten über ideologische Verbündete ignoriert werden oder verhältnismäßig wenig Berichterstattung erfahren. Mensch dürfte also erwarten, dass die Medien tendenziell die russische Politik übermäßig auch auf unfaire Art und Weise kritisieren, ohne die neoliberale und teils eskalierende Politik des transatlantischen EU-USA-Bündnisses und des IWF zu hinterfragen. Eine umfassendere Behandlung dieses komplexen Themaa wäre angebracht, doch werde ich mich hier nur grob auf einige Aspekte beziehen, die das Modell in seinen Schlussfolgerungen bestärken.
Die Mängel der deutschen Medien offenbaren sich vor allem durch ihre Auslassungen. Es ist schwer möglich, sich ein genaueres Bild von der Lage in der Ukraine zu machen, ohne sich auf alternative, anti-imperialistische oder im Westen sendende russische Medien wie Russia Today zu stützen, die ebenso zur einseitigen Berichterstattung neigen. Mensch sollte sich jedoch davor hüten zu meinen, er oder sie könne mit nur einer Nachrichtenquelle die Situation richtig rekonstruieren und alles in einen korrekten Kontext setzen. Selbst kritische Medien können natürlich einseitig und ideologisch voreingenommen berichten, vom Staat direkt abhängige Medien sollten mit der größten Skepsis beäugt werden. (1)
Die im Bundestag vertretenen Parteien taten sich bis auf die LINKE dadurch hervor, dass sie den Einfluss der rechten Kräfte in der Ukraine geflissentlich ignorierten und nicht einmal Einspruch erhoben, als mehrere Swoboda-Mitglieder dazu auserkoren wurden, Ministerposten in der neuen ukrainischen Regierung zu besetzen. Bereits während der Demonstrationen waren die Mitglieder der Swoboda und des Rechten Sektors durch ihre Gewalttätigkeit, ihre paramilitärische Organisationsweise und ihre Zurschaustellung rechtsextremer Symbole aufgefallen.
Den deutschen Medien war dies keine Erwähnung wert. Im Gegenteil waren sie von Anfang an bemüht, den Einfluss der nationalistischen Kräfte bei den von November bis Ende Februar laufenden Maidan-Protesten sowie bei der Regierungsbildung klein zu reden und zu ignorieren. Die deutschen RedakteurInnen schrieben kaum etwas über jene Kräfte in der Ukraine, die entweder eindeutig faschistisch sind oder eine ideologische und historische Nähe zum ukrainischen Faschismus aufweisen. (2) Noch wurden ihre Kontakte mit westlichen Spitzenpolitikern wie dem deutschen Außenminister Frank Walter Steinmeier oder dem ehemaligen US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten und Scharfmacher John McCain jemals thematisiert oder kritisch hinterfragt. (3) Politiker wie Medien waren eher darum besorgt, gegen wen sie agieren, ungeachtet dessen, welche zweifelhaften Kräfte sie im Gegenzug dafür unterstützen. (4)
Die Meinung der pro-russischen Bevölkerung oder der Regierung konnte gar nicht wahrgenommen werden, fast ausschließlich verschafften sich Mitglieder oder Führer der Opposition in den deutschen Medien Gehör. So konnte etwa Vitali Klitschko, da er deutschsprachig und auf der Seite der Demonstrant_Innen war, übermäßig viele Interviews hierzulande abhalten. Seine öffentliche Präsenz stand kaum in Relation zu seiner politischen Bedeutung in der Ukraine während oder nach den Protesten. (5)
Es ist den Medien auch nicht gelungen, die Ereignisse in der Ukraine in einen umfassenden geopolitischen Kontext zu setzen. Es gibt seit den 90ern Anzeichen dafür, dass die NATO, deren Existenzberechtigung spätestens seit 1990 sehr zweifelhaft ist, sich darum bemüht, Russland strategisch einzukreisen. So expandierte sie nach dem Ende des Kalten Krieges entgegen der Abmachungen zwischen dem ehemaligen Generalsekretär der KPdSU, Michael Gorbatschow, und seinen westlichen Gegenspielern weiterhin nach Osten. Angebote seitens Russlands, die NATO zugunsten eines gemeinsamen Sicherheitsnetzwerks aufzulösen, wurden mehrmals ausgeschlagen. Hinzu kam die Errichtung eines Raketenschilds in den osteuropäischen Ländern, der zwar offiziell gegen die iranischen und nordkoreanischen Atomwaffenprogramm gerichtet sein sollte, jedoch wohl eher darauf abzielte, Russland im Falle eines nuklearen Krieges deutlich zu benachteiligen. Das Projekt wurde 2009 nach dem Amtsantritt Obamas und nach langen Streitereien zwischen Ost und West in dieser Form vorerst auf Eis gelegt, doch besteht nach wie vor die Möglichkeit, dass es wieder aufgenommen wird und zur Einkreisung Russlands dient.
Das jetzige Spannungsverhältnis der beiden Machtblöcke hätte also schon lange abgebaut werden können, womit die jetzige Lage in der Ukraine auch harmloser wäre.
Weiterhin zeigte der Westen, dass er nur sehr selektiv oder gar nicht dazu bereit war, Abmachungen und seine eigenen Standards einzuhalten. So griff er 2011 militärisch in den libyschen Bürgerkrieg ein, obwohl die von Russland und China tolerierte Resolution lediglich eine Flugverbotszone für Gaddhafis Streitkräfte vorsah. Und seit 2008 verwehrt er Südossetien eine Abspaltung von Georgien, obwohl die Parallelen zur Kosovo-Abspaltung von Serbien so stark sind, dass es eigentlich naheliegend wäre, dieselben völkerrechtlichen Standards anzuwenden. Es ist daher eine verkürzte und einseitige Analyse, wenn z.B. die WELT behauptet, Putin habe mit einer „Blitzannexion“ den „geltenden Ordnungsrahmen Europas aufgekündigt.“ (6)
Real Bad Boys
Psychologisierungen von Putin und verkürzte Darstellungen der Konfliktlage dienen insbesondere dazu, ein einseitiges Feindbild zu schaffen. Die ständige Konzentration auf Putins Freizeitaktivitäten, sein „Macho“-Gehabe sowie Spekulationen über seine Intentionen (wie z.B. N-TV mit reißerischen Überschriften wie „Präsident Putin träumt von der Wiederauferstehung eines großrussischen Reiches“ (7)) – so etwas findet man nie in dieser Form und in diesem Ausmaß in der deutschen Berichterstattung über westliche Führer oder repressive Partnerregime wie Saudi-Arabien. Die Fokussierung auf Putins Persönlichkeit ist noch abstruser, wenn man sich vor Augen hält, dass seine Beliebtheitswerte in Russland nach dem Krim-Referendum auf 60-70% hochgeschnellt sind. Es müssen andere Erklärungsansätze gefunden werden, wenn ein Großteil der russischen Bevölkerung und seiner Eliten genauso gehandelt hätte.
Genauso manipulatorisch ist es, psychologische Behauptungen über politisch Andersdenkende anzustellen, wie in etwa Clemens Wirgin auf WELT ONLINE jenen, die Verständnis für die Politik Russlands aufzeigen, beweislos eine „Faszination für starke autoritäre Führer wie Wladimir Putin“ (8) unterstellt.
Ebenso erstaunlich ist die Art und Weise, mit welchen Begriffen Personen belegt werden, die sich um eine differenzierte Betrachtung der Gesamtlage bemühen. So wurde unter anderem Gregor Gysi, welcher sich in seiner Bundestagsrede weder auf die Seite Russlands noch auf die des Westens schlug, sondern beide in ihrer Handhabung des Völkerrechts kritisierte, als „Putin-Versteher“ gebrandmarkt. Diese von Personen wie dem Chefredakteur der ZEIT Josef Joffe genutzte Wortwahl suggeriert, dass jede Person, die die Schuld bei der Krim-Krise nicht einseitig Russland zuschreibt, zugleich ein Sympathisant Wladimir Putins und seines politischen Systems ist.
Es muss gesagt werden, dass es in den Medien Stimmen gab, die solch eine Verunglimpfung kritisch sahen und als nicht hilfreich erachteten. Doch sagt es schon viel über die deutsche Presse aus, dass Bezeichnungen wie „Putin-Versteher“ als Schimpfwort ihren Weg in die Öffentlichkeit finden.
Politiker wie Angela Merkel und Barack Obama, die sich durch illegale Drohnenkriege, die Ausweitung der Überwachungsgesellschaft und das Aufzwingen wirtschaftlich und sozial fataler Maßnahmen auf andere Länder hervortun, müssen solche öffentlichen Verunglimpfungen hingegen nicht fürchten. Die Apologeten dieser politischen Strategien bedürfen anscheinend keinerlei besonderer Bezeichnungen und werden auch sonst weitestgehend ignoriert, während in Putins Fall jegliche Abweichler gekennzeichnet und kritisiert werden.
Die Semantik der Manipulation
Es sollten auch grundlegende Begrifflichkeiten hinterfragt werden, die in den Medien gebraucht werden. So wird bei fast jeder Gelegenheit die Eingliederung der Krim in das russische Staatsgebiet als „Annexion“ bezeichnet. Eine „gewaltsame und widerrechtliche Aneignung fremden Gebiets“ – so wird der Begriff auf der Duden-Website erklärt.
Der völkerrechtliche Status dieser Angliederung ist jedoch nicht so offensichtlich illegal, wie es die konsequente mediale Anwendung dieses Begriffs vermuten lässt. Der Begriff der Annexion legt nahe, dass es sich bei der Unabhängigkeitserklärung der Krim um einen Gewaltakt Russlands gegen die Ukraine gehandelt hat. Damit wird schlicht die Bevölkerung der Krim entmündigt, die sich zu 93% für einen Beitritt zur Russischen Föderation entschieden hat. Es ist natürlich wichtig zu hinterfragen, welchen Einfluss das russische Militär auf die Wahl hatte, die nicht nach westlichen Standards hinsichtlich Transparenz geführt wurde. Es gibt jedoch wenige Hinweise darauf, dass der Großteil der Wähler auf der Krim drangsaliert wurde, wenn sie nicht für einen Beitritt stimmen würden. Noch hat es den Anschein, dass das doch eindeutige Wahlergebnis anders gewesen wäre, wenn das russische Militär nicht zu Zeiten des Referendums stationiert gewesen wäre. (9) Es ist daher falsch, von der Bevölkerung der Krim nur im Passiv zu schreiben und ihr damit jegliche Autonomie bei der Festlegung ihrer Nationalität zu versagen. Ähnlich verhält es sich mit den Separatisten im Südosten der Ukraine. (10)
Die Meinung der einfachen Bevölkerung dort fand in den deutschen Medien gar keine Repräsentation, und mensch kann sich nach wie vor nur eine grobe Vorstellung davon machen, was für eine Zukunft sich die Menschen dort selbst wünschen. Blind wurde spekuliert, dass es sich bei diesen Personen schlichtweg um russische Agenten und Truppen handeln müsste. Die „Beweise“ westlicher Regierungen wurden nicht angezweifelt. Es scheint für viele Redakteure unvorstellbar, dass viele Menschen auf der Krim wirklich Teil Russlands sein oder einfach nicht in der Ukraine verbleiben wollen. Dies könnte zufriedenstellend z.B. damit erklärt werden, dass sich viele Bewohner_Innen dort durch einen Beitritt zur Russischen Föderation wirtschaftliche Vorteile, wie z.B. eine Anhebung der Renten und Beamtengehälter erhoffen. (11) Es ist auch nicht einleuchtend, die 1954 staatlich verordnete Abgabe der damals russischen Krim an die ukrainische Sowjetrepublik als legitimer anzusehen, als einen Mehrheitsbeschluss der dortigen Bevölkerung.
Weiterhin müsste es logisch sein, dass eine illegale Absetzung des ukrainischen Präsidenten, dessen Partei vor allem Unterstützung in den südlichen und östlichen Gebieten findet, die Einheit des ukrainischen Staatsgebildes schwächen kann. Dieser Zusammenhang wurde allerdings so gut wie nirgends in den Medien so dargestellt. Stattdessen wird der allmächtige und alles kontrollierende Russe postuliert, weshalb der SPIEGEL auf seinem Cover Putin als „Brandstifter“ bezeichnet und die Frage „Wer stoppt ihn?“ (12) stellt.
Natürlich ist es absurd, wenn manche alternativen oder pro-russischen Medien die Maidan-Proteste lediglich als neo-faschistische Agitation oder als Inszenierung der ach so allmächtigen USA darstellen.
Ebenso realitätsfern ist es aber auch, hinter den Aktionen separatistischer Aktivisten und Paramilitärs stets nur das Tun des russischen Staates zu vermuten und ihnen damit jegliche Art von selbstbestimmtem Handeln abzusprechen. Die Demonstrationen auf beiden Seiten haben wohl ihre Eigendynamik, die auf verstehbaren materiellen und politischen Bedürfnissen fußt.
Nachlässig ist es auch, wenn verkannt wird, dass die USA tatsächlich ihre Interessen in der Ukraine vertreten. Es gab keine journalistischen Bemühungen in den Mainstream-Medien, um herauszufinden in welche Kanäle die 5 Milliarden Dollar fließen, mit denen die USA NGOs in der Ukraine finanzieren, und welchen Zielen sie konkret dienen. Es ist wahrscheinlich, dass zumindest ein Teil der Gelder genutzt wurde, um die Regierung Janukowitsch zu destabilisieren, genauso wie auch die restlichen Anstrengungen der NATO-Länder darauf abzielen, eine pro-westliche Regierung in Kiew an der Macht zu sehen. Dabei wird der Westen wie auch Russland eher die eigenen geopolitischen Interessen im Blick haben, als die jener, die direkt von den politischen Umbrüchen dort betroffen sind.
Manche sehen sogar die Gefahr, dass Russland seine militärische Macht nutzt, um in die Ukraine einzumarschieren und sich das Land anzueignen. Zwar kann das russische Militär extrem brutal vorgehen, wie die beiden Kriege in Tschetschenien deutlich gemacht haben. Doch gibt es bisher wenig Hinweise darauf, dass die Kreml-Führung dazu bereit ist, auch im Ausland militärische „Abenteuer“ zu starten. Die Spekulationen über einen Kriegsbeginn seitens Russlands sind daher eher abwegig. (13)
Weiterhin sollte der Begriff der „Maidan-Revolution“ nicht ohne weiteres akzeptiert werden. Der Begriff der „Revolution“ impliziert weitreichende politische, soziale und ökonomische Umbrüche. Zwar erreichten die Demonstrant_Innen ihr Ziel, die Janukowitsch-Regierung abzusetzen. Doch ist es bisher nicht ersichtlich, ob die Tradition der korrupten Politik, die sowohl von pro-westlichen wie von pro-russischen ukrainischen Politiker_Innen betrieben wird, jetzt wirklich ihr Ende findet.
So kommentiert Trenin, seinerseits Chef des Moskauer Think Tanks Carnegie-Center:
„Der Maidan hat leider die Chance verpasst, sich zu einem Aufstand gegen die Korruption zu wandeln. Alle ukrainischen Machthaber der vergangenen Jahre waren korrupt, wenn es auch selten so offensichtlich und so widerlich war wie bei Janukowitsch. Der Kampf gegen das korrupte System hätte die Menschen einen können in Ost und West. Aber die Nationalisten haben die Revolution gekapert und gestohlen.“ (14)
Die pro-westlichen Politiker_Innen wie Timoschenko hatten schon einmal nach der sogenannten „Orangenen Revolution“ 2004 die Chance, die Ukraine nach ihrem Willen zu formen. Doch war das Resultat so enttäuschend, dass Janukowitsch trotz seiner bekannten Korruptheit wieder an die Macht kam.
There is no Alternative?
Die Diskussionen in der deutschen Presse gingen für den meisten Teil nur so weit, ob im Hinblick auf Russland lieber eine Politik der Diplomatie oder eine Hardliner-Haltung samt härterer Sanktionen angebracht wäre. Der Fakt, dass weder eine Angliederung der Ukraine an Russland noch an die EU überzeugende Perspektiven darstellen, wurde gänzlich ignoriert. Es sollte für jeden minimal progressiv eingestellten politischen Beobachter von Interesse sein, dass der ukrainischen Bevölkerung, eine bessere Zukunft in Aussicht gestellt wird, als jene, die beiden europäischen Großmächte vertreten. Weder das von der EU und dem IWF gewollte Austeritätsregime (15), welches bereits in Südeuropa einer ganzen Generation zu Lasten fällt, noch das autoritäre und auf billigen Rohstoffen basierende Gesellschafts- und Wirtschaftssystem Russlands werden eine Gesellschaft hervorbringen können, die frei von repressiven Herrschaftsstrukturen sowie von wirtschaftlicher Armut ist.
Die Berliner Zeitung etwa rechtfertigt ihre Opposition zur „Annexion“ der Krim überwiegend moralisch:
„Menschenwürde, Meinungs- und Pressefreiheit, Recht auf sexuelle Selbstbestimmung – darum geht es, nicht um die in Deutschland geschmäcklerisch diskutierte Frage, ob Putins eindeutig völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die ebenso eindeutig völkerrechtswidrige Bedrohung der Ukraine wirklich als völkerrechtswidrig anzusehen seien. Es geht um die Menschenrechte und damit um das Recht, selbst zu entscheiden, wie und wo einer leben möchte.“ (16)
An der Einforderung dieser Rechte ist selbstverständlich nichts auszusetzen. Doch wird dabei geflissentlich ignoriert, dass der Auslöser der Maidan-Proteste nicht nur Janukowitschs Politik allgemein war, sondern auch konkret die Frage, ob man entweder ein Assoziierungsabkommen mit der EU schließen oder die Partnerschaft mit der Russischen Föderation vertiefen will, die die Ukraine mit verbilligten Gaspreisen unterstützt. Eine wirtschaftliche Ausrichtung an den neoliberalen Maßstäben der EU würde wohl, ähnlich wie in Südeuropa, breite Teile der Bevölkerung weiterhin verarmen lassen. Und gibt es nicht auch ein Menschenrecht, eine ökonomische Zukunft zu haben und frei von Armut zu sein?
Es ist zu erwarten, dass mit einer Sparpolitik an frühere neoliberale Maßnahmen angeknüpft wird. Besonders ärmere Schichten wird es schwer belasten, wenn sich die Preise für Güter des täglichen Gebrauchs wie Gas und öffentlicher Nahverkehr weiterhin erhöhen.
Die deutschen Mainstream-Medien verkennen, dass insbesondere Menschen ohne Aussicht auf Verbesserung ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage sehr anfällig für reaktionäre Weltanschauungen sein können. Gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten lassen sich fast unmöglich aufstellen, doch kann mensch wohl genügend Beispiele finden, die solch eine Betrachtungsweise erlauben. (17)
Es ist wohl kaum wünschenswert, dass die Ukraine auf dieselbe Weise „westliche Werte“ durch ein ruinöses Austeritätsprogramm kennen lernt. Insbesondere dann, wenn die hoffnungslose Lage der letzten Jahre schon dazu führte, dass die rechte Swoboda-Partei bei den Parlamentswahlen sich von 0,7 auf 10 Prozent steigerte. Es ist daher schlichtweg fahrlässig und gefährlich, wenn die destruktiven Folgen der IWF/EU-Politik weder Beachtung finden noch Kritik erfahren.
Die einzige Person, die Alternative abseits der Großmächte gefordert und dafür ein Podium in den deutschen Medien bekam, war Marina Weisband in der ARD-Talkshow von Günther Jauch. Der SPIEGEL mag sie dafür als „idealistische Basisdemokratin“ betiteln. (18) Doch je mehr mensch sich die beiden angebotenen Alternativen vor Augen führt, desto offensichtlicher wird es, dass für die ukrainische Bevölkerung weder eine Anbindung an Russland noch eine an die EU als wünschenswert erachtet werden kann.
Natürlich kann mensch meinen, dass solch eine Alternative nicht existiert, die Realisierung einer freien Gesellschaft aus den gegebenen Machtverhältnissen unrealistisch ist, und dass die Presse deshalb alternative Gesellschaftsmodelle jenseits der großen Machtzentren nicht zu erwägen braucht. Dabei geht es um die grundlegende Frage, welche Aufgaben den Medien in vermeintlich aufgeklärten Gesellschaften zukommen sollen. Natürlich sollen sie ein möglichst umfangreiches und akkurates Bild politischer Geschehnisse und der Welt liefern. Doch ist es ebenso von größter Bedeutung, wie ich meine, dass sie für das Wohlbefinden aller Menschen eintreten und sich gegen jegliche Art von Ausbeutung und Unterdrückung positionieren. Dafür ist es notwendig, gesellschaftliche Alternativen in Betracht zu ziehen, die gerade, weil sie in den Medien keinen Platz finden, weitestgehend als unrealistisch angesehen werden. Dies wäre ein schweres Zugeständnis für die Medien, die sich größtenteils dem Paradigma des „There is no Alternative“ ergeben haben und denen zufolge es keine Alternative jenseits des politischen Realismus gibt.
Daher liegt es letztlich an den Menschen selbst, eine Presse zu schaffen, die nicht die bestehenden Machtstrukturen stützt und damit ihr eigenes Schicksal in die Hand nimmt.
alphard
(1) Empfohlene kritische Quelle www.hintergrund.de
(2) Ein Artikel auf Englisch zum Weiterlesen: www.globalresearch.ca/the-medias-disinformation-campaign-on-ukraine-there-are-no-neo-nazis-in-the-interim-government/5376530
(3) Steinmeier lud sogar den Chef der Swoboda im Februar zu sich ein, der Jahre zuvor gegen die „jüdische Mafia in Moskau“ gehetzt hatte (www.derwesten.de/politik/ukrainische-partei-hetzt-gegen-juden-und-russen-id9074942.html)
(4) In dasselbe Muster fällt die dürftige Berichterstattung über die Toten in Odessa. Mehr dazu: www.hintergrund.de/201405053091/globales/kriege/odessa-keine-tragoedie-sondern-ein-gezieltes-progrom/drucken.html
(5) Die Bezugnahme auf Klitschko war anscheinend auch ein rein deutsches Phänomen, welches in englischsprachigen Medien nicht zu finden war. Seit dem Krim-Referendum spielte er de facto keine Rolle mehr. Insbesondere der Vergleich mit Timoschenko macht deutlich, wie wenig Gewicht er in der Politik hat: www.spiegel.de/politik/ausland/julia-timoschenko-lobt-kanzlerin-merkel-a-957378.html
(6) www.welt.de/debatte/kommentare/article126629930/Die-verquere-Realpolitik-Idee-der-Putin-Versteher.html
(7) www.n-tv.de/politik/politik_kommentare/Putins-Irrtum-article12468626.html
(8) www.welt.de/debatte/kommentare/article126629930/Die-verquere-Realpolitik-Idee-der-Putin-Versteher.html
(9) Eine unabhängige Umfrage des PEW-Instituts scheint dies zu bestätigen: www.heise.de/tp/artikel/41/41704/1.html
(10) Eine nicht-repräsentative Umfrage der FAZ und 6 weiterer Medien lässt vermuten, dass es auch dort eine Mehrheit für eine erweiterte Unabhängigkeit gab. Inwiefern dies wirklich der Fall ist, muss zusätzliche Forschung ergeben: www.faz.net/aktuell/politik/ausland/separatisten-verkuenden-grosse-mehrheit-fuer-abspaltung-von-ukraine-12934681.html
(11) Die Russische Föderation hat ein 3-mal so hohes Bruttosozialprodukt wie die Ukraine und hat daher mehr Spielraum für Sozialleistungen: de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Bruttoinlandsprodukt_pro_Kopf (nach Daten des IWF)
(12) SPIEGEL 11/2014
(13) Wie z.B. der FOCUS Kriegsbestrebungen unterstellt, wenn er im selben Kontext von Russlands „Territorial-Hunger“ spricht. (http://www.focus.de/politik/ausland/russische-hegemoniebestrebungen-hunger-auf-land_id_3700503.html) Ein imperialer Angriffskrieg wäre unter den gegebenen Bedingungen nichts als politischer Suizid.
(14) www.spiegel.de/politik/ausland/interview-mit-dmitrij-trenin-zur-krise-auf-der-krim-a-956381.html
(15) Austerität beschreibt im politischen Kontext eine strenge Sparpolitik.
(16) www.berliner-zeitung.de/meinung/leitartikel-zur-krise-in-der-ukraine-es-geht-schlichtweg-um-das-menschenrecht,10808020,26753066.html
(17) Wie etw=a die Zuwendung der Deutschen hin zur damals politisch schwachen NSDAP während der Weltwirtschaftskrise der 20er/30er Jahre und die Erstarkung faschistischer Kräfte in Griechenland nach dem Einbruch der dortigen Wirtschaft aufgrund der Finanzkrise.
(18) www.spiegel.de/kultur/tv/krim-krise-im-jauch-talk-bei-der-ard-a-956525.html