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“FREIe HEIDe“ gegen Kriegsspiele

Im nahe Wittstock gelegenen „Bombo­drom“ in der Kyritz-Ruppiner Heide will die Bundeswehr Luft- und Boden­kriege, das Fernsteuern von Raketen und Tor­nado­flüge trainieren. Dagegen or­ganisiert die FREIeHEIDe seit 1992 breiten gewaltfreien Widerstand in der Region. Da die Möglichkeiten der juristischen Verhinderung schnell erschöpft sind, wurde die Kampagne „Bomben nein – wir gehen rein!“ als Teil des „Zivilen Un­gehorsams“ entwickelt. Mit Beginn der Inbetriebnahme soll durch eine permanente Präsenz von Aktions­gruppen auf dem Gelände der Betrieb nachhaltig gestört werden.

An 200 Tagen im Jahr ist hier das Üben von Bombenabwürfen geplant. „Bomben nein – wir gehen rein!“ bedeutet, den eigenen Körper als Mittel des Wider­stands gegen die Tötungs­ma­schinerie millitärischer Politik ein­zusetzen. Bereits über 1500 Menschen haben Selbst­ver­pflicht­ungen abgegeben, sich an dieser Kam­pagne zu beteiligen.

Am 1. Juni 2007 wird es einen Bombo­drom-Aktionstag im Rahmen der Anti-G8-Aktionen geben. Eine vorläufige Be­siedelung dieses Kriegsübungsplatzes ist geplant und schon am 31.5. sollen Karawanen und Euromärsche in der Kyritz-Wittstock-Ruppiner Heide eintreffen, um einen deutlich wahrnehmbaren Auftakt der Proteste gegen die Politik der G8 zu gestalten.

Im Anschluss an die „Probebesetzung“ finden am 5. Juni Blockadeaktionen am Flugplatz Rostock-Laage statt, auf dem die G8-GipfelteilnehmerInnen an­kom­men werden. Die AG gegen Mi­litarismus und Krieg (www.g8andwar.de): „Auch wir werden an diesem Tag massenhaft vor Ort sein, denn mit ihrer Kriegspolitik können sie bei uns nicht landen!“

Auf dem recht unscheinbaren Flugplatz entsteht eine bedeutende militärische Drehscheibe: hier stehen Tarn­kap­pen­bomber und Euro­fighter, aus­gestattet mit der Mittel­streckenrakete namens AM­RAAM, die Ziele in mehr als 130 km Entfernung identifizieren und treffen kann. Rostock-Laage ist derzeit der einzige deutsche Flughafen, der Euro­fighter-PilotInnen ausbildet. Seit der Übergabe eines mobilen Gefechtsstands im August 2006, dem „DCRC“ (De­ployable Control & Re­porting Centre) für die militärische Überwachung des Luft­raums und zur „taktischen Führung von Luftstreit­kräften“ ist die Luftwaffe erstmals in der Lage, außerhalb deutscher Grenzen eigene Luft­kampfeinheiten zu unterstützen und zu führen. Damit hat Rostock-Laage eine zentrale Bedeutung für die Kriegs­planungen von Bundeswehr und NATO.

Infos zum Bombodromwiderstand: www.freieheide.de,www.sichelschmiede.org,
Kampagne „Bomben nein – wir gehen rein“: www.resistnow.freieheide-nb.de,
www.freieheide-nb.de/heideneu/200grup­-pen.html
www.imi-online.de/download/g8readerWEB.pdf

Antimilitarismus

Den Finger am Abzug

Kriegsstrategen auf der NATO-Sicherheitskonferenz

Vom 9.-11. Februar 2007 trafen sich Re­gierungs- und WirtschaftsvertreterInnen, hoch­­rang­ige Militärs, vorwiegend aus NATO- (North Atlantic Treaty Organiza­tion) und EU-Mitgliedsländern zur 43. Münch­ner Sicherheitskonferenz (SiKo) (1), um die Sicherheitslage der Welt zu be­sprechen und globale Strategien, z.B. für den Kampf ge­gen den transnationalen Terroris­mus, auszu­han­deln und zu koor­di­nieren. Die Ex­klusi­vi­tät dieser Ver­an­stal­tung wird in der Ein­la­dungs­politik deut­lich: Der Bundes­tags­frak­tion DIE LINKE. wurde trotz mehrmaliger An­frage eine Einladung ver­weigert.

Diese Praxis kor­res­pondiert auch mit dem re­pressiven Vor­gehen der Polizei gegen die Geg­nerInnen der Kriegs­politik. Der seit 1999 verpflichtete Veranstalter Horst Telt­schik (2), for­mulierte das in einem Radio­in­ter­view so: „Es ist die Tragik jeder Demo­kratie, dass bei uns jeder seine Meinung öffentlich vertreten darf […]. In Dik­taturen würde so etwas nicht pas­sieren“. 2002 wurden solche fast „dik­ta­to­rischen“ Zu­stände tatsächlich her­ge­stellt, indem das Kreis­ver­wal­tungs­referat auf Bitte der Polizei über die gan­ze Stadt ein totales De­mons­trations- und Ver­sammlungsverbot ver­hängt hatte.

Die 43. Konferenz wurde von der Bundes­re­­gierung mit 323.000 Euro un­ter­stützt und durch 3500 Polizeibe­amt­Innen aus Bayern, Baden-Württem­berg und Hessen, die Bundespolizei, sowie einige hundert An­­ge­hör­ige der Bun­des­wehr abgesichert. Die Kos­ten der Bun­des­wehr für diesen Ein­satz be­tru­gen über eine halbe Million Eu­ro. Mutet es nicht absurd an, dass der Ein­satz von Mi­litär im Landesinnern nötig ist, um ab­zu­sichern, dass die ca. 250 Teil­nehmen­den sich als ‚Ret­ter der Welt‘ Me­daillen für Frieden durch Dia­log ver­leihen können.

Die Agenda der SiKo liest sich wie die Schreckensnachrichten von morgen. 1999 wur­­den hier die Weichen für den Krieg gegen Ju­gos­lawien gestellt, in den die BRD erstmals seit 1945 wieder mit Waffe und Soldat im Aus­­land verwickelt war. Seit 2002 wird die glo­­bale strategische Gemeinschaft der Koalition der Wil­ligen für den Krieg gegen den Terror mo­­bi­lisiert, der ein Jahr später trotz fehl­en­den Man­dats des UN-Sicherheitsrats als Prä­ventivkrieg (3) auf den Irak geführt wurde.

In diesem Jahr lag der Fokus auf der mi­li­tä­rischen Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens. Der Konflikt um das iranische Atomprogramm, von dem eine Ge­fahr für die gesamte westliche Welt aus­gehen soll, liefert schon jetzt Argumente, die später viel­leicht auch einen Präventiv­schlag gegen den Iran rechtfertigen könnten. Da die SiKo nicht ohne Grund von ihren GegnerInnen NATO-Sicher­heitskonferenz genannt wird, ist ein großes Thema die künftige Rolle der NATO und der einzelnen Mit­glieds­staaten. Die bis­her geführten Präventiv­kriege oder auch hu­manitären Interventionen zeigen, „dass sich die NATO im Laufe der 90er von einer Verteidigungsarmee in eine global agieren­de Kriegstruppe ver­wandelte, […] und nun immer stärker in Richtung einer welt­weiten Besatzungstruppe um­struk­turiert wird.“ (4)

Protest und Repression

Seit etwa 5 Jahren wird durch die Frie­dens­­be­­wegung und globalisierungs­kri­tische Grup­pen Protest gegen diese Konferenz und ihre militärische Aus­richtung organi­siert. Am Freitagabend gab es eine Kundgebung mit circa 300 Teil­nehmer­Innen und einen et­wa 200 RadlerInnen umfassenden Fahrradkorso durch die Innenstadt. Zur Groß­demons­tra­tion „Ge­gen die NATO-Kriegstagung – Gegen Folter, Krieg und Besatzung – Gegen Rassismus und NAZI-Propaganda“ ka­men am Samstag mehr­ere tausend Men­schen auf den Marien­platz. In Berichten von Teil­­nehmer­Innen wird die Stimmung als friedlich bezeichnet, trotz vermehrter Polizeischikane auf der De­mons­tration und im Vorfeld. So musste mensch z.B. durch eine Sperrgitterschleuse und sich abfilmen lassen, um auf den Platz zu gelangen. Der bayrische Landesverband der Piratenpartei reagierte darauf seinerseits mit einer Über­wachung des Staates: Polizisten wurden fotografiert und die Sicht der Polizeikameras blockiert.

Schon im Vorfeld gab es Ein­schüchterungs­ver­suche und Schikanen durch die Polizist­Innen. Bereits am 17. Januar führten Polizei und Staatsschutz in 8 Münchner Objekten Haus­durchsuchungen durch. Der Bus des Ber­liner Anti G8 Bündnisses wurde ebenso wie­ der Bus aus Tübingen noch vor München auf der Autobahn raus gezogen, um Leibes­vi­si­tationen und Identitäts­fest­stellungen durch­zuführen. Dabei wurden je­weils eine Handvoll Leute festgenommen aus Grün­den, wie der Mitführung einer Waffe (Ves­per­messer in einer Brotbüchse der Lan­­des­sprecherin der Linkspartei in Baden-Würt­temberg Elke Lison) oder Pas­siv­be­waff­nung (eine Armbandage). Die Be­troffenen wurden dabei weit über die zu­lässige Zeit in der Zelle behalten und so da­ran gehindert, an der Demonstration teil­zu­­nehmen.

Die Proteste stehen in einem breiteren Kon­text. Wer gegen Kriegstreiberei auf die Straße geht, spricht sich auch gegen die öko­no­mischen Be­ding­ungen dieser Kriege aus. Fol­ter, Entrechtung, So­zial­abbau, Land­ver­trei­bung und Krimi­nalisierung Anders­denken­der sind dabei nur Symptome einer per­fiden, auf Macht- und Kapitalgewinn aus­ge­richteten Politik. München steht damit in untrennbarem Zusammenhang mit Davos, dem Ver­an­staltungsort des WEF (Welt­wirtschafts­forum), wogegen jedes Jahr wie­der Proteste organisiert werden und nicht zu vergessen mit dem G8 Gipfel­treffen, vom 6. – 8. Juni in Heiligen­damm (siehe S. 12).

wanst

(1) Seit Ende des Kalten Krieges so, von GegnerInnenn auch Nato-Sicherheitskonferenz oder Kriegskonferenz genannt, ist sie die Fortsetzung der 1962 gegründeten Wehrkundetagung.
(2) Horst Teltschik – ehemaliger außen- & sicherheitspolitischer Berater Helmut Kohls, Vorstandsvorsitzender der Herbert-Quandt-Stiftung von BMW und Präsident der deutschen Niederlassung des US-Rüstungskonzern Boeing.
(3) „Der Präventivkrieg ist ein Krieg, den der die erste Kriegshandlung vornehmende Staat unter Berufung darauf eröffnet, daß er dem Kriegsbeginn durch den gegen ihn rüstenden Gegner zuvorkommen müsse, bevor dieser ein Übergewicht erlangt habe. Der Präventivkrieg ist, wenn er nicht einem unmittelbar drohenden Angriff als Verteidigung begegnet, ein verbotener Angriffskrieg.“ (Brockhaus)
(4) Jürgen Wagner, IMI-Analyse 2007/003, www.imi-online.de/download/JW-SiKo2.pdf).

Antimilitarismus

Soldaten und Pakete…

…über Leipzig in die ganze Welt

2002 beschlossen die NATO-Staaten bei ihrem Gipfel in Prag den Aufbau einer „NATO Response Force“ (NRF). Die Bundesregierung erklärte sich bereit, die strategische Lufttransportfähigkeit für die westlichen Interventionstruppen zu orga­nisieren – über den neuen NATO-Flughafen Halle/Leipzig. Weitere 13 EU-Einsatzgruppen mit je 1.500 Soldaten sollen ab 2007 über den sächsischen Airport in Krisenregionen weltweit gebracht werden. Konkret sind seit Oktober 2006 21.000 NATO-Soldaten vollständig einsatz­bereit und können binnen fünf Tagen samt ihrer Waffen an jeden Punkt der Erde verlegt werden.

Offiziell begründet wurde der Ausbau mit dem An­siedlungs­interesse des weltweit größten Transport- und Logistik-Unter­nehmens DHL (Tochter der Deut­schen Post, siehe FA!#16). Durch die kost­spielige Erweiterung (über 300 Mill. Euro Steuer­zuschüsse) der Start- und Lande­bahnen samt Frachtanlagen sollten mehrere tausend Arbeitsplätze entstehen. DHL ist auch in die Mil­itarisierung eingebunden, frei nach dem Motto: Die eine Hand schickt Waffen und die andere die Care-Pakete.

Der Flughafen an der Autobahn A 9 boomt, zivile und militärische Linien- und Charter­flüge nehmen zu. Die im Januar in Betrieb genommene Militärbasis dient der ständigen Bereithaltung mehrerer gemieteter Maschinen des russischen Typs Antonow 124-100. Sie können bis zu 120 Tonnen Gerät über große Entfernungen transportieren. Hauptsächliches Zielgebiet ist Kabul (Afghanistan), wohin immer mehr deutsche Panzer und andere Groß­waffen verlegt werden. Dabei ist strittig, ob der Truppentransfer gegen den „2-plus-4-Vertrag“ verstößt. Danach ist es ver­boten, ausländische Truppen auf dem Ex-DDR-Territorium zu stationieren oder dorthin zu verlegen. Doch die Militärs sind ja offiziell »nur im Transit«.

Nicht nur der zunehmende Fluglärm bringt immer mehr Bürger gegen den Ausbau des Flughafens Leipzig auf. Auch die mit der geplanten militärischen Nutzung verbundenen Sicher­heits­ge­fahren – etwa durch Unfälle mit Kampf­mitteln oder durch gegnerische Angriffe­– sorgen für wachsenden Widerstand. So will die Aktions­ge­mein­­schaft Natofrei! (www.flughafen-natofrei.de) Leipzig den Flughafenausbau juristisch, sowie mit Unter­schriftenaktionen, Protesten und Petitionen verhindern. Am Ostersonntag ist z.B. ein großer Protestmarsch geplant.

Antimilitarismus

Scheiternde Staaten

Nach dem Ende des Ost-West-Kon­fliktes ist das „Ende der Geschichte“ (Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man, 1992), der kapi­ta­lis­ti­sche Welt­friede, ausgeblieben. Im Ge­genteil: mi­li­ta­­risierte Gewalt und Kriege nehmen zu, die Rüs­tungs­­aus­ga­ben welt­­weit steigen wie­­der und im­mer mehr vor­­mals zivile Be­reiche wer­­den mit dem mili­tä­rischen Sek­tor ver­knüpft und für des­sen Zie­le miss­­brau­cht. Dies äu­ßert sich nicht in ers­ter Linie im an­ste­hen­den Krieg ge­gen den Iran und Be­satz­ung und Wi­­­der­stand in Irak und Af­­­gha­ni­stan, son­dern in der mittlerweile bei­­­­nahe alltäglichen Entsendung von „Mi­­­litär­beratern“, in Polizeimissionen in der sog. „Dritten Welt“, in „Friedens­mis­sionen“, Katas­trophenhilfe und EU-fi­nan­zierten Mili­täraktionen der Afri­ka­nischen Union in Afrika. (Karte S. 12/13)

Kampf um Ideologien

Der Kampf der Ideologien war also nicht die dominante Triebfeder krieger­ischer Außenpolitik. Viele sehen im Kapitalis­mus selbst eine Tendenz bzw. Notwendig­keit zum Imperialismus, da sich nur durch Er­schließung und Unter­werfung neuer Gebiete die Widersprüche des Kapi­ta­lis­mus kompensieren und sich die Wider­sprüche gegen den Kapitalismus nur durch einen äußeren Feind bezwingen ließen. Die dauerhafte Absicherung des sog. sozialen Friedens, einer eklatanten Un­gleichheit macht den Aufbau re­pressiver Organe notwendig, die vorder­gründig gegen diesen äußeren Feind ge­richtet sind, der nach Innen integrierend, einigend wirken soll. Diese These scheint von der Gegenwart be­stätigt zu werden. Auch in der Aufteilung der Welt in Staaten und der damit ver­bun­de­nen Exis­tenz mi­li­tärisch-indus­trieller Kom­plexe lässt sich eine ihnen in­ne­­wohnende Kriegs­­­­­gefahr aus­machen. Ein Staat wird sou­verän, indem er die Gewalt mo­no­po­lisiert und eine Ar­mee zu sei­ner Ver­teidigung aufstellt. Er schafft Institutionen des Krieges, die er auch nicht auflöst, wenn seine terri­toriale In­te­grität nicht mehr gefährdet ist, also ein An­griff feindlicher Truppen aus­ge­schlos­sen ist. Genau dies ist gegenwärtig in Deutsch­land der Fall, wo eine faktische Aufrüstung unter dem Begriff „Um­struk­turierung“ stattfindet, indem eine schwer­fällige Verteidigungsarmee ohne Fähigkei­ten zur Führung von An­griffs­kriegen zu einer hoch spezialisierten, flexiblen Inter­ventionsarmee umgebaut wird.

Neue Gefahren?

Wie werden Aufrechterhaltung und Ausbau gewaltträchtiger, anti-demo­kratischer Strukturen mit ihren immensen Kosten begründet? Die Ver­teidi­gungs­po­li­tischen Richtlinien (VPR) Deutschlands und die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) der EU machen wie auch die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) der USA neue Gefahren in den sog. „schei­ternden Staaten“ aus, die als Terroris­mus, organisiertes Verbrechen, Ver­brei­tung von Klein- und Massen­ver­nichtungs­waffen und Migration (sic!) auch die post-industriellen, vermeintlich gefestigten Staaten bedrohen würden. Deshalb gelte es, in diesen Staaten und ganzen Regionen zu intervenieren und eine neue Ordnung auf­zu­bauen. Bis­her wurden sol­che Am­bi­tionen durch das Völ­ker­recht be­schränkt. Die Ver­einten Na­tio­nen (UN) wur­den nach dem 2. Welt­krieg ge­grün­det, einer­seits sicherlich um die Staaten als mäch­tigste Akteure der Welt­politik zu eta­blieren, andererseits aber auch um eine Vermittlungs- und Kontrollinstanz zu schaf­fen, um weitere Kriege im Welt­maß­stab zu verhindern. Das den UN und dem Völker­recht zugrunde lie­gen­de Sou­verä­ni­täts­prinzip erlaubte es nur in zwei Fällen, andere Staaten anzugreifen: Zur Selbstver­teidi­gung, oder wenn von diesen eine Gefähr­dung des Weltfriedens ausginge bzw. dies zu­mindest vom Sicherheitsrat als Organi­sation der mächtigsten (Atom-)Staaten so interpretiert wurde.

In den letzten Jahren fanden dennoch völkerrechtswidrige Angriffskriege auf Jugoslawien und Irak statt, an denen sich bspw. USA, Deutsch­land, Frank­reich, Großbritannien … beteiligten. Diese Akteure zeigten offen ihren nachlassenden Respekt vor dem Völkerrecht und stellten die Be­deutung der UN immer mehr in Frage. Um der drohenden Mar­gi­na­li­sierung zu entgehen, kündigte Kofi Annan nun eine Änderung des Völker­rechts an, welche dazu führen wird, dass zukünftig alle Inter­ventionen vom Sicherheitsrat ab­genickt werden und auch sonst als „legitim“ gelten können. Zwi­schen all den Diskussionen um die UN-Reform wird dies eher unbe­merkt, durch die Hintertür gesche­hen. Die Charta der UN wird nicht umformu­liert, sondern per Beschluss mit einfacher Mehr­heit erhält der Begriff Souveränität eine neue Definition, welche besagt, dass ein Staat sie verliert, wenn er in seinem Inneren keine Men­schen­rechte und die Sicherheit der Individuen nicht mehr garantieren kann. Dann obliege es der in­ter­­nationalen Gemeinschaft oder klei­ner­en Gruppen von Staaten, zu intervenieren. Dies wird sicherlich nur geschehen, wenn sich dabei ökono­mische oder strategische Interessen reali­sieren lassen, während vordergründig mit der „Verantwortung zum Schutz“ der Indi­viduen weltweit argumentiert wird.

Souveränität.

Hier geht es jedoch nicht nur um eine perfide neue Legitimationsstrategie für eine neue Runde kolonialer Außenpolitik, sondern auch darum, wie die Welt strukturiert sein soll und welche Rolle Staa­ten dabei spielen. Ihr globaler Ver­bund, die UN, nimmt für sich in An­spruch, zukünftig zu bestimmen, wer souverän ist und wer nicht. Doch in ihren Augen können nur Staaten souverän sein, Individuen niemals. Diese unterliegen lediglich dem Schutz „ihres“ Staates oder der Staatenwelt und begründen ge­gebenenfalls militärische Feldzüge. Das „Scheitern“ eines Staates besteht im Aufbrechen des Gewaltmonopols, das nach dieser Logik zu einem der sog. „Neuen Kriege“ führt. Für die Individuen muss weiterhin Verantwortung über­nommen werden, indem über ihnen von einer fremden Macht ein neuer Staat aufgebaut wird. Die Sicherheit der Bevölkerung wird mit der Souveränität „ihres“ Staates, also der Existenz eines zentralisierten Gewaltapparates gleich­ge­setzt. Basisorganisierte Systeme kollek­tiver Verteidigung werden dabei als Indiz für Souveränitätsverlust interpretiert. Das Individuum darf nicht souverän werden, es bleibt Objekt der Sicherheit, also Ob­jekt von Intervention oder Völ­kermord.

Souveränität bedeutet jedoch auf den Staat bezogen, dass er die Individuen nach seinem Willen organisieren und, etwa für Zwangsdienste, unterwerfen kann, und in einer Vereinbarung zwischen den Staaten, dass er nicht von außen durch Zwang beeinflusst oder angegriffen werden darf. Eine solche Vereinbarung ist aber unter den Individuen notwendig, damit es ihnen möglich wird, ihren Zustand selbst zu bestimmen und zu organisieren, frei zu werden.

Alle gegen Alle?

Nachdem sich der Staat in den letzten Jahrzehnten stark über seine „Wohlfahrts“-Funktion legitimiert hatte, ist dies ein Rückfall in hobbessche (nach Thomas Hobbes) Erklärungsmuster, die davon ausgehen, dass ohne die Monopolisierung der Gewalt in den Händen des Staates automatisch ein Krieg Aller gegen Alle ausbrechen würde. Mit dieser Lüge hat der Staat den Menschen die Souveränität geraubt, und sie begegnet uns bei vielen Diskussionen über den An­ar­chis­mus. Menschliche Unsicherheit re­sul­tiert danach zwangsläufig und allein aus dem Aufbrechen des staat­lichen Gewalt­mono­pols. Andere Ursachen für Elend, wie die massen­haf­te Pro­duk­tion von Kleinwaffen, ein glo­ba­les Konglomerat mili­tärisch-in­dustrieller Komplexe und eine teil­­weise mili­tä­risch und polizeilich durch­­­gesetzte Wirt­schafts­­­ordnung, die auf Kon­kurrenz basiert und damit zwangsläufig massenhaft marginalisierte Menschen pro­du­ziert, werden damit von vornherein aus­ge­­blendet und der gewaltsame Konflikt zum mensch­lichen Urzustand erhoben.

Es ist kein Wunder, dass diese alten wie falschen Begründungen für die Notwen­digkeit des Staates zu diesem Zeitpunkt ei­ne Renaissance erleben, wo seine Mög­lich­keiten, sich über eine soziale Grund­sicherung aller Bürger, über eine Abfeder­ung der Härten des Kapitalismus für die Mit­glieder des Kollektivs zu legitimieren, in der (selbst?-)Auflösung begriffen sind. Es ist ebenso kein Wunder, dass dies mit der verzweifelten Suche nach und Provo­ka­tion von „neuen Bedrohun­gen“, mit Aufrüstung von Militär, Polizei, Geheim­diensten, mit neuen Knästen, Lager­sys­temen für rassistisch eingegrenzt Ausge­grenzte, etwa entlang der EU-Außen­grenzen, sowie öffentlich zelebrierte Fol­terungen wie in Guantanamo und Abu Ghraib einhergehen. Die Regierungen der post-industriellen Staaten sehen die Vor­boten ihres eigenen Scheiterns durch den Ver­lust ihrer wohlfahrtspolitischen Hand­lungs­fähigkeit in den post-kolonia­len Re­gio­nen und reagieren panisch, indem sie sich nicht nur verstärkt über Sicherheit le­gi­timieren sondern auch, indem sie alle ihre Mittel in den Sicher­heitssektor lenken. Kein Wunder: Diese Institutionen or­ganisierter Gewalt werden alles sein, was ihnen bleibt.

maria

Vom Schafspelz zur Schlachtplatte

Militärflughafen Halle/Leipzig

Ostern 2007 in Leipzig. Einige dut­zend In­teressierte hatten sich bei einem Work­shop des Bundeskongresses Inter­na­tio­na­lis­­mus BUKO30 (1) versam­melt, als Conor C. Fotos von gewöhn­lichen Pas­sagier­­flug­zeu­gen an die Wand proji­zierte. „Is it a civil or military one?“(„Ist es ein Ziviles oder Mili­tä­risches?“) Wer die Frage des irischen Kriegs­­gegners richtig beant­worten konnte, be­kam einen Button mit schwar­zem Klee­blatt, dem Symbol der irischen Friedens­bewegung (2). Mit dem Quiz wurde eine bisherige Annahme umgestoßen. Denn genau so wenig, wie alle Soldaten sind, die Cargo-Hosen tragen, ist alles zivil, was in reinem Weiß erstrahlt. Egal, ob Bundes­wehr oder US-Armee, die Militärs möch­ten sparen und sich bequem in zivilem Anschein bewegen.

Im Rahmen der Zusammenarbeit von staatlichen Institu­tionen und privat­wirtschaftlichen Unter­neh­men (Public Private Part­ner­ships) beauftragen sie vermehrt private Flugli­nien, um Truppen und Waffen zu transpor­tieren. Das spüren seit der Mobilisierung zum Irak-Krieg unter anderem die Men­schen im west­irischen Shannon. Über diesen Flughafen sind zehntausende US-amerikanische Soldaten geschleust wor­den. Bürger durchschauten die Kriegs­unter­stützung, die durch ihr verfassungs­mäßig militärisch neutrales Land in augen­scheinlichen Zivilmaschinen getätigt wur­de. Wider­stand formierte sich und gipfelte darin, dass die Aktivisten in direkten Ak­tio­nen auf das Flug­hafen­gelände und in Hangars eindrangen, um dort Flugzeuge mit Farbe, Äxten und Steinen flugunfähig zu machen. Drei US-amerikanische Flug­ge­sell­schaf­ten, die für das Pentagon als Militär­dienstleister tätig waren, zogen sich darauf hin aus Shannon zurück.

Nicht ohne Grund kamen die irischen Kriegsgegner nach Leipzig. Die Aktions­gemeinschaft „Flughafen natofrei!“ hatte sie eingeladen, von ihren Erfahrungen zu berichten. Sie versteht sich als offenes Netzwerk aus Einzelpersonen, Vereinen und Organisationen, das sich gegen die militärische Nutzung des Flughafens Leipzig/Halle wendet. Denn auch hier, wo der ein oder andere in den Urlaub startet, ge­schieht, was anderen oft Leid und Tod bringt. „Der zum Kriegs­dreh­kreuz aus­gebaute Flug­hafen ist bereits jetzt das bedeutendste deutsche Logistikzentrum für Ge­walt­operationen der USA und der NATO“, resümiert das Nach­rich­ten­portal german-foreign-policy (3).

Doch was geschieht im Detail?

Der Flughafen wurde als ziviler Flughafen ausgebaut. Verwendet wurden dabei fast 1,3 Milliarden Euro öffentliche Förder­mittel, darunter auch Steuergelder der Bürger.

Seit März 2006 sind aber am Flughafen zwei Groß­raum­flugzeuge vom Typ Anto­nov 124-100 sta­tio­niert, sie wur­­den feierlich von Bun­­des­ver­tei­di­gungsminister Jung begrüßt. Im Sep­tember 2007 stehen be­reits 6 dieser Ma­schinen auf dem Flug­ha­fen­gelände. Diese „fliegenden Güter­züge“ wer­den vom Un­­ter­nehmen Ruslan SALIS GmbH angeboten, das der rus­sischen Volga-Dnepr-Gruppe angehört. Über den SALIS-Vertrag (4) zwischen der Flug­ge­sell­­schaft und der NATO-Agentur NAMSA (5) soll kosteneffektive Logistik­unterstützung ermöglicht werden. Ver­traglich sind die Transportflugzeuge für militärische und humanitäre Zwecke mietbar und fliegen anschließend zu den Verladeflughäfen oder werden in Leipzig/Halle beladen. Sie transportieren alles von Trinkwasser bis zu Panzern, Hub­schrau­bern und anderen schwersten Waffen – bis zu einer Ge­samtlast von 120t. Die BRD hat 2006 ihr jährliches Kontingent von 750 bezahlten Flugstunden ausgeschöpft. Allein durch die deutsche Nutzung spannt sich ein Netz von Zielländern über den halben Globus: Südafrika, Norwegen, Pakistan, Afghanis­tan, Tadschikistan, Gabun, Demokratische Republik Kongo, Kap Verde, Djibouti und Zypern. Über den SALIS-Vertrag im Rahmen der NATO hinaus können zudem bei multinationalen EU-Operationen bis zu vier Antonovs angefordert werden. Von Seiten der Militärdienstleister ist geplant, in den kommenden Jahren bis zu 10 weitere Antonovs neuen Typs in den Dienst der NATO zu stellen, die jeweils 165t tragen können. Mit diesem Ausblick wird sich die Rolle des Flughafens als militärisches Logistikdrehkreuz ver­festigen, denn hier wurde eigens eine Wartungshalle für die Großraumtransporter errichtet. Außerdem möchten EU und NATO zukünftig flink global einsatzfähig sein und bauen dazu „Schnelle Eingreiftruppen“ (battlegroups) auf, die wiederum auf „strategische Lufttransportkapazitäten für die Streit­kräfte“ angewiesen sind.

Neben dieser militärischen Nutzung auf privatrechtlicher Grundlage landen auch Truppen des US-Militärs zwischen. Nach Angaben der Flughafengesellschaft wurden im Jahr 2006 etwa 240.000 US-Soldaten in Kriegsgebiete und zurück transportiert. Die Tendenz ist steigend, denn allein im Zeitraum Juli 2006 bis einschließlich März 2007 sind von den amerikanischen Fluggesellschaften World Airways und North American Airways insgesamt 2050 Flugbewegungen auf dem Flughafen Leipzig/Halle durchgeführt worden. Das entspricht bei 400 Sitzplätzen in den üblichen MD-11-Maschinen bereits 820.000 Soldaten. Mit den lokalen Truppenschleusungen wird die BRD noch mehr zum Rückgrat der US-Kriegspolitik, als sie durch US-Militärbasen (Ramstein, Grafenwoehr, etc.) und andere Um­schlagplätze wie Frankfurt-Hahn schon ist. Auch wenn angeblich zivile Flugzeuge zum Einsatz kommen, die Deutsche Flug­sicherung geht von militärischen Flügen über Leipzig/Halle aus.

Die AG „Flughafen natofrei!“ konnte bei Flug­hafenwachen feststellen, dass ein Ab­fer­tigungsgebäude (Terminal A) aus­schließlich für die US-Soldaten ausgebaut und benutzt wird. Diese Beobachtung ver­dichtet die Kritik auf juristischer Ebene, denn Militärflüge und Ver­sorgungs­auf­enthalt der Truppen am Boden kommen einer Stationierung gleich. Doch durch den so genannten „2+4-Vertrag“ ist es verboten, auf dem Gebiet der neuen Bundesländer ausländische Truppen zu stationieren oder dorthin zu verlegen. In einer Bundes­tags­an­frage (Drucksache 16/4343) windet sich die Regierung mit dem Hinweis auf den Vertragstext heraus, „dass Fragen in Bezug auf die Anwendung des Wortes ‚verlegt’ […] von der Bundes­regierung in einer ‚vernünftigen und ver­ant­wor­tungs­be­wussten Weise’ ent­schieden werden“. Ohnehin, was stellen Truppen- und Waffentransporte anderes dar als Beihilfe zum Krieg? So rügte das Bundes­ver­waltungsgericht: „Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen Delikt“ (Irak-Krieg) sei „selber ein völkerrechtswidriges Delikt“.

Hände auf, Augen zu

Was sagt eigentlich Flughafen­ge­schäfts­führer Eric Malitzke zur Behauptung, der Flughafen würde militärisch genutzt? Das sei „völlig absurd“. Wenn bereits durch die vom Pentagon bezahlten Privatairlines ca. 11 Millionen Euro Einnahmen monatlich in die Kassen gespielt werden, verdrängt man gern unangenehme Aspekte. Nun erhält der mit 33 Jahren „jüngste Flug­hafenchef Deutschlands“ den ersten „Leipziger Völker-Schlacht-Preis“ des Vereins Friedensweg e.V. Aus der Be­gründung: „Herr Malitzke erhält den Preis, weil er sich im vergangenen Jahr mit großem Einsatz der Ermöglichung eines weltweiten Völker­schlachtens verschrieb. Über den Flughafen Leipzig/Halle werden amerikanische Soldaten und Kriegsgerät in den Irak und nach Afghanistan trans­portiert. Diese Maßnahme dient nicht nur der Ver­besserung der Geschäftsbilanz, sondern auch der Erhöhung der offiziellen Flug­gast­zahlen des Flughafens. Herr Malitzke be­weist damit eindrucksvoll, wie sich Wirt­schafts­aufschwung in Deutsch­land und das Lei­den ausländischer und deut­scher Kriegsopfer gewinnträchtig verbin­den lassen. Der Völker-Schlacht-Preis wird in Form einer Schlachteplatte verliehen und besteht aus durchweg sym­bol­träch­tigen Begleiterscheinungen kriegerischer Auseinandersetzungen: Hack­fleisch, Blutwurst und Gekröse.“

Symbolträchtiges Flughafenfest 2007

Inzwischen zeigt nämlich der Flughafen ganz offen und scheinbar selbstverständlich seine zunehmend militärische Aus­rich­tung. So konnten am 7./8. Juli Eltern und Kin­der Tornado-Kampfjet und AWACS-Auf­klärungsflieger technikbegeistert be­staunen – bis sich der Tornado blutrot färb­te [siehe Foto]. Indem sie Ket­chup auf das Kriegs­gerät spritzten, wollten die Akti­visten der AG „Flughafen natofrei!“ darauf auf­merksam machen, dass mit Hilfe der­ar­tiger Maschinen Menschen getötet wer­den.

Hinter dem konkret verursachten Leid steht die Logik des Militärischen – die Logik des Sieges und des Besiegens. „In dieser Logik erklären die Mächtigen der Welt andere Menschen zu Feinden. Sie nehmen die Tötung anderer Men­schen für ihre Interessen billigend in Kauf. Mili­tä­rische Logik ist die Logik des Über­wältigens und des Todes.“ So steht es in der Schkeuditzer Erklärung (6), die zum diesjährigen Ostermarsch am Flughafen verlesen wurde. Gegenübergestellt ist die Logik des Friedens, sie „ist die Logik zivilgesellschaftlicher Lösungen. Die Logik des Friedens ist lebensbejahend und lässt neues Leben entstehen, sie geht Kon­flik­te mit aller Kraft und allem Mut an.“

Ein Schritt vom Militärischen weg wird mit so genannten Konversions-Projekten gegangen. Hierbei werden mi­li­tärisch ge­bun­dene Ressourcen zi­vil um­genutzt. Pers­pek­tive für die lo­kale Ent­wick­lung könn­­te es in die­sem Sinne sein, ein hu­ma­ni­täres Zentrum auf­­zu­bauen und dazu kon­kret das ehemalige Mi­li­tär­kran­kenhaus Wie­­deritzsch zur Be­hand­lung von zivilen Kriegs­opfern zu nutzen.

Dies ist sicherlich nur ein Ansatz, der aller­dings verdeutlichen kann: Da wo Men­schen den Blick unter das Schafs­­fell wagen und das System Militär mit seiner hierar­chischen Struktur, gedankenloser Befehls­aus­übung, De­individualisierung und destruktiver Logik ablehnen, muss nicht Hilflosigkeit Raum einnehmen. Die Kritik kann Nährboden sein, auf dem lebens­bejahende Alter­na­tiven sprießen.

(horst-wilfried)

 

Unter www.flughafen-natofrei.de/ gibt es Informationen und Fotos zu den Aktionen der AG „Flughafen natofrei!“.

 

(1) Bundeskongress Internationalismus im Internet unter www.buko.info/

(2) Die Black-Shamrock-Kampagne unter blackshamrock.org/

(3) www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/56912

(4) SALIS steht für „Strategic Air Lift Interim Solution“

(5) NAMSA („NATO Maintenance and Supply Agency“) ist eine logistische Dienst­leistungsorganisation

(6) Erklärung der AG „Flughafen natofrei!“ und von Besuchern des BUKO30 www.flughafen-natofrei.de/Dokumente/SchkeuditzerErklaerung.pdf

Libyen: Intervention im Namen des Volkes?

Mit einer ungeheuren Brutalität versuchen gegenwärtig die Truppen des Diktators Muammar al Gaddafi den Aufstand in Libyen niederzuschlagen. Auch wenn es zum gegenwärtigen Zeitpunkt (3.3. 2011) unmöglich ist, verlässliche Prognosen über den weiteren Fortgang der Auseinandersetzungen zu treffen, eines lässt sich jetzt schon mit Sicherheit sagen: Diejenigen, die nun im Namen von „Demokratie“ und „Menschenrechten“ eine Flugverbotszone oder gar eine westliche Militärintervention fordern, machen sich – ob bewusst oder unbewusst – zu Handlangern derjenigen, denen es lediglich darum geht, die Geschicke des Landes in „geordnete“ – sprich: pro-westliche – Bahnen zu lenken.

Für die USA und die Europäische Union ist Gaddafi, mit dem man in jüngsten Jahren zwar recht profitabel kooperiert und dabei mehrere Augen bei dessen Menschen­rechtsverletzungen zugedrückt hat (bzw. im Falle der Misshandlung von Migranten diese regelrecht ermutigte), ein zu unsicherer Kantonist geworden. Die massiven westlichen Interessen im Land erfordern einen zuverlässigeren Sachwalter und der Aufstand im Land eröffnet die Chance, einen solchen zu installieren. Auf der anderen Seite ist aber keineswegs ausgemacht, dass sich am Ende der Auseinandersetzung eine pro-westliche Regierung durchsetzt, weshalb das westliche Hauptinteresse darin besteht, über eine militärische Involvierung einen Fuß in die Tür zu bekommen, um die weiteren Ereignisse maßgeblich mitbestimmen zu können.

Eine westliche Militärintervention ist nicht nur mit massiven Risiken behaftet, sondern sie würde auch jegliche emanzipatorische und progressive Lösung des Konfliktes in Libyen erheblich erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Denn der Westen hat ausschließlich seine eigenen Interessen im Blick, nicht die der unterdrückten libyschen Bevölkerung. Hierüber scheinen sich auch große Teile der Aufstandsbewegung im Klaren zu sein, die ganz im Gegensatz zu ihren – vermeintlichen – Unterstützern im Westen eine Intervention von außen strikt ablehnen.

Vom westlichen Saulus zum Paulus?

Muammar Gaddafi hat eine bemerkenswerte Karriere hinter sich, innerhalb seiner mittlerweile 42jährigen Diktatur wandelte er sich von einem westlichen Hassobjekt allerersten Ranges zu einem wichtigen Koope­rationspartner. Einstmals war Gaddafi sogar ein Hoffnungsträger für viele Linke in und außerhalb des Landes, als dieser 1969 gegen den damaligen libyschen König Idris putschte: „Der Umsturz wurde im Land als ein Akt der Entkolonialisierung verstanden. Gaddafi ließ alle ausländischen Militärstützpunkte schließen, darunter die riesige US-Air Base Wheelus, die Ölindustrie wurde verstaatlicht und sämtliche Italiener wurden zur Aus­reise gezwungen. […] Muammar al-Gaddafi wurde in jenen Schichten des Landes, die politische Veränderungen überhaupt wahrnahmen, zunächst als Revolutionär und Befreier akzeptiert.“[1] Soweit ersichtlich, setzte Gaddafi zumindest anfangs sozialpolitisch auf eine progressive Politik: „[So] verdoppelte der Revolutionsrat als eine der ersten Maßnahmen den Mindestlohn, senkte die Mieten um 30-40% und verhängte ein Preiserhöhungsverbot – bereits von Beginn an sollte dem verarmten Land ein künftiges Teilhaben am Wohlstand signalisiert werden.“[2]

Kaum verwunderlich also, dass sich im Laufe der 1970er die Konfrontation mit den USA sukzessive zuspitzte, 1978 erließen die Vereinigten Staaten erstmals ein Embargo auf militärische Güter. Vor allem aufgrund der libyschen Verwicklung in Terroranschläge verschärften sich die Konflikte ab dem Amtsantritt Ronald Reagans nochmals erheblich. Bereits 1981 erließ Washington ein Handelsembargo und es kam zu ersten militärischen Scharmützeln. Den Höhepunkt erreichten die Konflikte mit den Luftangriffen vom 15.04.1986, die offiziell als Vergeltung für den Anschlag auf die Berliner Diskothek „La Belle“ stattfanden, für den die libysche Führung mit verantwortlich gemacht wurde. Ziel der Operation war es, Gaddafi zu liquidieren, was allerdings nicht gelang. Im Jahr 1992 verhängten die Vereinten Nationen darüber hinaus auch multilaterale Sanktionen, sodass es westlichen Firmen nahezu unmöglich war, im Land zu operieren. [3]

So fand sich Gaddafi für viele Jahre weit oben auf der Liste westlicher Staatsfeinde, was sich erst ab 1999 wirklich ändern sollte, als er zwei libysche Staatsangestellte überstellte, die der Verwicklung in das „Locker­bie“-Attentat bezichtigt wurden, wofür die Vereinten Nationen ihre Sanktionen gegen Libyen im Gegenzug suspendierten. Der Wegfall der UN-Sanktionen ermöglichte europäischen Konzernen den Einstieg ins dortige Geschäft, weshalb sich in der Folge zahlreiche EU-Staatschefs regelrecht die Klinke in die Hand drückten. So wurde Gaddafi auch von Präsident Nicolas Sarkozy 2007 mit allen Ehren in Frankreich empfangen und 2009 änderte Silvio Berlusconi beim G8-Gipfel in Italien extra die Sitzordnung, damit der libysche Diktator den Ehrenplatz zu seiner Linken bekommen konnte (rechts saß Barack Obama). Neben der wirtschaftlichen „Öffnung“ erwies sich Gaddafi vor allem auch bei der brutalen Migrationsabwehrpolitik der Europäischen Union als überaus williger und nützlicher Komplize.[4]

Während EU-Konzerne also begannen, in Libyen „gute“ Geschäfte zu machen, wurde dies US-Firmen durch die fortbestehenden US-Sanktionen verboten. Aus diesem Grund formierten sich bereits im Jahr 2000 zahlreiche wichtige US-Konzerne unter dem Dach der „US-Libya Business Association”, um Lobbying für eine Aufhebung der US-Sanktionen zu betreiben. [5] Nachdem Gaddafi 2003 bekanntgab, Libyen hätte zwar an Massenvernichtungsmitteln gearbeitet, sei aber zur Aufgabe der Programme bereit, normalisierten sich auch die Beziehungen zu den USA rasch. Kurz darauf wurde damit begonnen, die US-Sanktionen schrittweise zu lockern und nachdem Libyen 2006 von der Liste der den Terror unterstützenden Staaten gestrichen worden war, wurden sämtliche Sanktionen aufgehoben, was auch US-Firmen endgültig den Einstieg ins Libyen-Geschäft ermöglichte.

Nun konnten also die Geschäfte richtig losgehen, insbesondere auch, weil Gaddafi im Laufe der Jahre auf einen neoliberaleren Kurs umschwenkte und alles tat, um ausländische Investoren anzulocken. Insbesondere wurde der vormals strikt nationalisierte Ener­giesektor für ausländische Firmen geöffnet. Von 2000 bis 2010 wurde zudem ein Drittel der Staatsbetriebe privatisiert und laut Re­gierungsangaben vom April 2010 sollte in den Folgejahren „100 Prozent der Wirtschaft der Kontrolle privater Investoren übergeben werden.“[6] Kein Wunder also, dass der Internationale Währungsfonds Gaddafi noch Ende 2010 hervorragende Noten für seine Wirtschaftspolitik ausstellte. In einem Bericht hieß es: „Der Ölsektor profitiert weiter vom Bekenntnis zu ausländischen Di­rekt­investitionen.“ Weiter lobte der Bericht die „zahlreichen wichtigen Gesetze […] zur Modernisierung der Wirtschaft“ sowie die „Bemühungen, die Rolle des Privatsektors in der Wirtschaft zu ver­größern.“[7]

Ob gewollt oder ungewollt, diese „Wirt­schaftsreformen“ trugen sicherlich nicht zur Verbesserung der sozialen Situation im Land bei. Generell ist von der Sozialpolitik, die zumindest am Anfang der Gaddafi-Ära eine wichtige Rolle spielte, wenig übrig geblieben: „Libyen ist das reichste nordafrikanische Land. […] Aber dies spiegelt sich nicht in der wirtschaftlichen Situation des durchschnittlichen Libyers wider […] Die Arbeitslosenquote beträgt überraschende 30% und die Jugendarbeitslosigkeit 40-50%. Das ist die höchste in Nordafrika. […] Auch andere Ent­wicklungsindikatoren zeigen, dass wenige der Petro­dollars zum Wohlbefinden der 6,5 Millionen Libyer ausgegeben wurden. Das Bildungsniveau ist geringer als im benachbarten Tunesien, das über wenig Öl verfügt, und die Analphabetenrate ist mit 20% überraschend hoch. […] Vernünftige Wohnungen sind nicht zu bekommen und ein generell hohes Preisniveau belastet die Haushalte noch zusätzlich.“[8]

Gleichzeitig ging Gaddafi innenpolitisch brutal gegen Kritiker vor, wie ein Blick in den Jahresbericht von Amnesty International zeigt. [9] Nun sind schwere Menschen­rechtsverletzungen für die USA oder die Europäische Union selten ein Grund, nicht mit einem Regime bestens zu kooperieren, solange die Kasse stimmt. Auch Gaddafi machte hier keine Ausnahme, wie vor allem die schamlose Zusammenarbeit bei der Mi­grationsabwehr zeigt. Angesichts der anderen Bereiche, in denen der libysche Diktator innerhalb der letzten zehn Jahre westlichen Interessen ebenfalls weit entgegengekommen ist, drängt sich die Frage auf, weshalb er gleich zu Beginn des Aufstands – ganz im Gegensatz zu den Diktatoren Ägyptens und Tunesiens – vom Westen fallengelassen wurde wie eine heiße Kartoffel, ja mehr noch, weshalb offensichtlich darüber nachgedacht wird, militärisch beim Sturz des Diktators nachzuhelfen.

Westliche Interessen und Gaddafi als unsicherer Kantonist

Zunächst gilt es festzuhalten, dass sich Gaddafi deutlich von seinen kürzlich abgesetzten Spießgesellen in Ägypten und Tunesien unterscheidet. Während Hosni Mubarak und Zine el-Abidine Ben Ali eindeutig westliche Marionettenfiguren waren, trifft dies für Gaddafi nicht zu. Für ihn stand und steht stets die eigene Agenda im Vordergrund, für die er auch immer wieder bereit war, sich mit dem Westen anzulegen, insbesondere im wichtigsten Bereich, dem Ölsektor. Die Relevanz der libyschen Ölvorkommen steht außer Frage, sie sind mit 44,3 Mrd. Barrel die größten Afrikas. Besonders für die Europäische Union, die 10% ihrer Ölversorgung aus Libyen deckt, ist das Land von enormer Bedeutung. Allein deshalb besteht ein großes Interesse an Stabilität und die ist mittlerweile mit Gaddafi ange­sichts der Breite der Aufstandsbewegung auf absehbare Zeit nicht mehr zu bekommen. Zudem fiel infolge der Konflikte zwi­schen­zeitlich etwa die Hälfte der libyschen Öl­produktion weg, was zu einem sprunghaften Anstieg des Weltölpreises führte, der zwischenzeitlich auf 120 Dollar pro Barrel kletterte. Anhaltende Konflikte würden den Ölpreis weiter unter Druck setzen und damit eine erhebliche Belastung für die Ökonomien der Industrieländer dar­stellen.

Ein weiterer Aspekt, bei dem sich Gaddafi als zunehmend hinderlich erwiesen hatte, betrifft die Profitinteressen der Ölindustrie. Westliche Firmen haben erhebliche Summen in den libyschen Ölsektor investiert bzw. Verträge mit astronomischen Summen abgeschlossen – insgesamt ist von einer Gesamtvolumen in Höhe von über 50 Mrd. Dollar die Rede. So unterschrieb etwa die italienische ENI 2007 einen Vertrag, der ihr bei einer Investitionssumme von 28 Mrd. Dollar Öl- und Gasversorgungsrechte bis ins Jahr 2047 garantiert; die britische BP bezahlte im selben Jahr allein für das Explo­rationsrecht auf einer Fläche von 55.000 Quadratkilometern über 900 Mio. Dollar und plant in den kommenden Jahren bis zu 20 Mrd. Dollar zu investieren; und die amerikanische Exxon zahlte 2008 für Explorationsrechte 97 Mio. Dollar. Auch die deutsche RWE sicherte sich Öl- und Gaskonzessionen im Sirte-Becken und hat vor, etwa 700 Mio. Dollar zu investieren, während die BASF-Tochter Wintershall mit einem Investitionsvolumen von 2 Mrd. Dollar in Libyen engagiert ist.

Doch der Euphorie folgte schnell eine große Ernüchterung, denn so ganz war auf Gaddafi dann doch kein Verlass. Als er 2009 tatsäch­lich „Eigentum“ der in Libyen operierenden kanadischen Ölfirma Verenex wieder verstaatlichte, war der Unmut groß, wie ein Bran­chenreport aus demselben Jahr zeigt: „Wenn Libyen die Nationalisierung von Privatbesitz androhen kann; wenn es bereits verhandelte Verträge neu aufmacht, um sein Einkommen zu vergrößern oder ‚Tribut‘ von Firmen zu extrahieren, die hier arbeiten und investieren wollen; […] dann wird den Unternehmen die Sicherheit verweigert, die sie für langfristige Investitionen benötigen. […] Libyen hat es versäumt, eine stabile Plattform bereitzustellen.“[10]

Aus Sicht der Ölindustrie bietet sich also mit dem Aufstand die Möglichkeit, sich des Diktators zu entledigen. Dass Gaddafi gehen muss, scheint jedenfalls mittlerweile aus westlicher Sicht unabdingbar geworden zu sein. So äußerte sich der britische Premierminister David Cameron am 1.3.2011: „Für die Zukunft Libyens und seiner Bevölkerung muss das Regime von Colonel Gaddafi enden und er muss das Land verlassen. Hierfür werden wir jede mögliche Maßnahme ergreifen, um Gaddafis Regime zu isolieren, es von Geld abzuschneiden, seine Macht zu verringern und sicherzustellen, dass jeder, der für Misshandlungen in Libyen verantwortlich ist, dafür zur Rechenschaft gezogen werden wird.“[11] Andererseits bestehen in den Reihen der Ölmultis auch große Sorgen, dass aus den Auseinandersetzungen eine Regierung hervorgehen könnte, die sich wo­mög­lich sogar noch unaufgeschlossener gegenüber ihren Profitinteressen erweisen könnte, als es das Gaddafi-Re­gime war, wie etwa das Magazin Fortune befürchtet: „Unglück­licher­weise könnten diese großen Deals mit hoher Wahrscheinlichkeit wertlose Papierfetzen werden, sollte Gaddafi das Land verlassen müssen. Jede Regierung, die an die Macht gelangen wird, wird zweifellos eine Neuverhandlung der Verträge wollen, was zu weniger Profiten aufseiten der Ölfirmen führen könnte. Eine neue Regierung könnte sogar die Industrie vollständig nationalisieren und alle Ausländer aus dem Land werfen.“[12]

Wie man es also dreht und wendet, für die Ölindustrie und die westlichen Regierungen besteht Handlungsbedarf. Ohne den Aufstand hätte man wohl mit Gaddafi leben und sich irgendwie arrangieren können: mit einem Bürgerkrieg und fortgesetzten Unruhen, die nicht nur die Ölversorgung gefährden, sondern auch die „Flüchtlingsgefahr“ erhöht, jedoch nicht. Und schon gar nicht will man zulassen, dass sich in Libyen eine Regierung etabliert, der womöglich das Wohlergehen der Bevölkerung mehr am Herzen liegt, als das ihrer Führungseliten und westlichen Komplizen.

Interventionsgeschrei und militärische Planspiele

In den USA erschienen bereits unmittelbar nach Ausbruch des Aufstandes zahlreiche Artikel, die für ein bewaffnetes Eingreifen in der ein oder anderen Form plädierten. Prominent wahrgenommen wurde vor allem ein gemeinsamer Brief vom 25.2.2011, der von 40 US-Außenpolitikern unterzeichnet wurde, darunter zwölf, die in der Bush-Regierung teils hohe Posten innehatten. Er forderte Präsident Barack Obama auf, „sofort“ militärische Maßnahmen zum Sturz des Gaddafi-Regimes vorzubereiten. [13] Auch in linksliberalen Medien wie der New York Times wurde für einen Krieg getrommelt. Dort erschien am 27.2. ein Artikel, in dem davor gewarnt wurde, dass infolge der Auseinandersetzungen Chaos ausbrechen und sich im Zuge dessen Al-Kaida im Land festsetzen könne. Um dies zu verhindern, sei es erforderlich, „eine fremde Schutztruppe“ für eine Zeit lang im Land zu stationieren – sprich: es zu besetzen. [14] Die US-Regierung selbst schlug bereits am 22.2. harte Töne an, indem Präsident Barack Obama das berühmte „all options are on the table“ betonte, mit dem stets signalisiert wird, dass eine Militärintervention ernsthaft in Betracht gezogen wird.

Auf der anderen Seite des Atlantiks bot u.a. der linksliberale Guardian Ian Birrel, dem ehemaligen Redenschreiber David Camerons, eine Plattform für seine Kriegspropaganda: „Die einzige Lösung ist eine rasche Intervention, angeführt vielleicht von Ägypten oder Tunesien, deren Armeen sich in den letzten Wochen Respekt erworben haben, um Gaddafi aus seiner Basis zu jagen und seinem entsetzlichen Regime ein Ende zu setzen.“ [15] Bereits früh wurde denn auch gemeldet, dass die EU ernsthaft an Angriffsoptionen arbeite: „Die EU-Staaten ziehen Diplomaten zufolge für den Fall einer Katastrophe für die Menschen in Libyen Militäraktionen in Betracht. ‚Wir machen Notfallpläne mit verschiedenen Szenarien, das ist eine Möglichkeit, an der wir arbeiten‘, sagte ein EU-Diplomat am Donnertag [24.02] in Brüssel.“ [16]

Doch es blieb keineswegs allein beim Säbelrasseln. Sowohl die Vereinten Nationen als auch die Europäische Union verhängten Sanktionen. Frankreich und Großbritannien äußerten die Absicht, die Aufständischen unterstützen zu wollen und Italien kündigte einen Nicht-Aggressionspakt mit Libyen auf. Daniel Korski vom einflussreichen European Council on Foreign Relations liefert einen Überblick über die derzeit in Betracht gezogenen Militäroptio­nen. In einem Artikel forderte er die westlichen Staaten dazu auf, den NATO-Militärausschuss anzuweisen, mit der Ausarbeitung militärischer Einsatzpläne für sechs Szenarien zu beginnen: „eine Flugverbotszone; eine Evakuierungstruppe zur Rettung europäischer Staatsangehöriger; eine Truppe, um Öl und Energieeinrich­tungen zu schützen; Luftunterstützung für Regierungsgegner; und, schlussendlich, eine größere Interventionstruppe zum Schutz der Libyer.“ [17] Doch Militärexperten weisen lautstark darauf hin, dass jede dieser Optionen mit erheblichen Risiken verbunden ist und der Erfolg – gerade im Lichte der vergangenen Interventionen – keineswegs garantiert werden könne. In aller Deutlichkeit kritisierte etwa der prominente Militärexperte Andrew Exum das Kriegsgetrommel: „Ich bin entsetzt darüber, dass liberale Inter­ventionisten weiter vorgaukeln, es sei einfach, humanitäre Krisen und regionale Kon­flikte durch die Anwendung militärischer Gewalt zu lösen. So leichtfertig über diese Dinge zu sprechen, spiegelt ein sehr unreifes Verständnis der Grenzen von Gewalt und der Schwierigkeiten und Komp­lexitäten heutiger Militäroperationen wider.“ [18]

Flugverbotszone: Die Machtfrage ins Ausland verlagern

Inzwischen deutet alles darauf hin, dass eine Flugverbotszone in Libyen errichtet werden wird. Wer aber eine Flugverbotszone einrichtet, der muss diese gegebe­nen­falls auch militärisch durchsetzen – und das bedeutet einen Krieg zu führen. Der Chef des amerikanischen Zentralkommandos, James Mattis, betonte, man müsse „die Luftabwehr außer Kraft setzen, um eine Flugverbotszone einzurichten.“ Man dürfe sich keinen Illusionen hingeben: „Dies wäre ein Militäreinsatz und nicht etwa die einfache Ansage, dass niemand mehr Flugzeuge einsetzen dür­fe.“[19] Man sollte außerdem nicht vergessen, dass die Flugverbotszonen, 1991 über dem Nordirak (Operation Provide Comfort) und 1993 über Bosnien und Herzegowina (Operation Deny Flight), beide in eine westliche Militärintervention mitsamt anschließender Besatzung mündeten. Ein hellsichtiger Artikel wies sowohl auf die eigentliche Intention als auch auf die Folgen hin, die mit der Errichtung einer Flugverbotszone einhergehen würden: „Letztlich handelt es sich um eine Entscheidung mit politischen Folgen. Mit einem Mandat für den Lufteinsatz würde die Machtfrage ins Ausland verlagert. Wer aber einmal mitmacht, der gerät auf die schiefe Ebene, der wird sich nicht mehr entziehen können, sollte Gaddafi über Wochen oder gar Monate Widerstand leisten oder ein Guerilla-Krieg ausbrechen. Dann würde der Druck steigen, auch für einen Bodeneinsatz.“[20]

Ein praktisches Anschauungsbeispiel, auf welche Weise die „Machtfrage ins Ausland verlagert“ werden kann, liefert Jürgen Chrobog, ehemals Staatssekretär im Auswärtigen Amt, gibt an: „Es muss eingegriffen werden. […] Ich halte eine Flugverbotszone für unausweichlich.“ Hierfür und auch für weitergehende Militärmaßnahmen sei „eigentlich“ eine Mandatierung des Sicherheitsrates erforderlich, wogegen sich vor allem Russland und China sträuben: „Doch wenn wir sie nicht kriegen, muss man überlegen, wie weit man sonst vorgehen kann und wo eine Rechtsgrundlage ist, und ich sagte ja, ein Hilfsersuch auch der Menschen vor Ort, der Menschen in Bengasi […] könnte letzten Endes aus humanitären Gründen vielleicht auch als ausreichend angesehen werden.“[21]

So einfach ist es also: Im Namen der Humanität folgt man dem Ruf der Opposition in Bengasi und aufgrund der hehren Absichten können dabei auch die Vereinten Nationen übergangen und damit das Völkerrecht gebrochen werden. Ganz so simpel ist die Sache jedoch nicht, denn innerhalb der libyschen Aufstandsbewegung reicht das Spektrum der Meinungen von der strikten Ablehnung jeglicher westlichen Einmischung über die ausschließliche Befürwortung einer Flugverbotszone bis hin zu vereinzelten Forderungen nach einer westlichen Militärintervention, wogegen sich aber die große Mehrheit kategorisch ausspricht. Indem selektiv auf die Kräfte gesetzt wird, die ohnehin aufgeschlossen gegenüber einer westlichen Involvierung sind, werden so auch pro-westliche Elemente innerhalb der Aufstandsbewegung systematisch gestärkt und für die Zukunft aufgebaut.

Intervention: Not in our name!

Auf westlicher Seite hat bereits fieberhaft die Suche nach geeigneten „Kooperationspartnern“ innerhalb der Aufstandsbewegung begonnen. Man wolle der Opposition jegliche „Hilfe“ zur Verfügung stellen, heißt es in den westlichen Hauptstädten, wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil man anders als etwa in Ägypten oder Tunesien über wenig Kontakte durch politische Stiftungen oder militärische Kooperationsprogramme verfügt. Eine Militärintervention soll demzufolge wahrscheinlich vor allem die Möglichkeit eröffnen, einen Fuß in die Tür zu bekommen, um den Fortgang der Dinge maßgeblich mitbestimmen zu können.

Wohl nicht zuletzt deshalb wird eine westliche Militärintervention innerhalb der Aufstandsbewegung mehrheitlich abgelehnt. Hafiz Ghoga, Sprecher des neuen National Libyan Council, bestätigt den Eindruck: „Wir lehnen eine ausländische Intervention vollständig ab. Der Rest von Libyen wird vom Volk befreit werden.“ [22] Auch der Vorsitzende des National Libyan Council, Mustafa Abdul Dschalil, machte deutlich: „Wir wollen keine ausländischen Soldaten hier.“[23] Ein Blick auf andere vom Westen „befreiten“ Länder – Kosovo, Afghanistan, Irak – genügt, um sich die „Nebenwirkungen“ eines Mili­tär­einsatzes bewusst zu machen: „Das Beispiel des [instabilen] Irak beängstigt jeden in der arabischen Welt“, so Abeir Imneina, Politikprofessorin an der Universität in Bengasi. [24]

Muammar Gaddafi ist ein Verbrecher und er gehört vor Gericht – besser früher als später. Eine westliche Militärintervention zu fordern, heißt jedoch den Bock zum Gärtner machen, sie könnte auf absehbare Zeit jeglicher Perspektive auf eine progressive Regierung in Libyen den Dolchstoß versetzen: „Untrennbar mit den Forderungen nach demokratischen Freiheiten verbunden ist ein tiefgehendes Verlangen nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. […] Eine Militärintervention würde nicht nur eine Gefahr für Libyen und seine Bevölkerung bedeuten, sondern auch für die Kontrolle [ownership] dessen, was bislang eine vollständig organische, hausgemachte Demo­kratiebewegung in der gesamten Region war.“[25] Leider scheint es genau das Ziel zu sein, diese demokratische Bewegung in den Griff zu bekommen, denn wenn die Europäische Union wirklich ein Interesse hätte, der Bevölkerung in Libyen und der Region zu helfen, so hätte sie schon längst die Grenzen geöffnet, anstatt ihre Grenz­schutzagentur FRONTEX zur Abwehr verzweifelter Menschen in Stellung zu bringen. Wie schamlos sich in dieser Frage verhalten wird, sollte all denen zu denken geben, die nun im Namen der Menschenrechte buchstäblich zu den Waffen rufen.

(Richard Hingsen)

[1] Kister, Kurt: Muammar al-Gaddafi. Letztes Gefecht eines alten Revolutionärs, Süddeutsche Zeitung, 23.02.2011.
[2] Vrabl: Andreas: Libyen: Eine Dritte Welt – Revolution in der Transition, Diplomarbeit, Universität Wien, Juli 2008, S. 7: othes.univie.ac.at/846/1/2008-07-30_9951900.pdf
[3] „Auslöser für weitergehende Sanktionen gegen Libyen war die Bekanntmachung der USA und Großbritanniens am 14. November 1991, dass zwei Libysche Geheimdienstoffiziere mit direktem Auftrag von Gaddafi für den Lockerbie-Anschlag verantwortlich seien und man dafür stichhaltige Beweise hätte. Über dem schottischen Ort Lockerbie explodierte am 21. Dezember 1988 eine Boeing 747 durch eine Bombe, 270 Menschen starben, davon elf am Boden.“ (Vrabl 2008, S. 78).
[4] „Menschenrechtsor­gani­sationen und Journalisten berichten seit Jahren regelmäßig von den brutalen Praktiken, denen Migran­ten in Libyen ausgesetzt sind. Dass die Flüchtlinge festgehalten, zu Hunderten in Container gepfercht und in Lager in der Wüste transportiert werden, wo man sie ohne genügend Nahrung in völlig überfüllte Zellen sperrt – Fläche pro Flüchtling: oft ein halber Quadratmeter –, gehört zum Alltag. Glaubwürdige Berichte belegen darüber hinaus, dass es in den Flüchtlingslagern immer wieder zu körperlicher Folter und zur Ermordung der Internierten kommt. Dass unerwünschte Migranten zuweilen in menschenleeren Wüstengebieten an der Grenze des Landes ausgesetzt werden – ohne überlebensnotwendige Ausrüstung und Nahrung –, kommt Mord ebenso gleich wie der gelegentliche Beschuss von Flüchtlingsbooten durch die libysche Küstenwache.“ (Der Zerfall eines Partnerregimes, German-Foreign-Policy.com, 23.02.2011).
[5] Zu den Firmen gehören ExxonMobil, BP, ConocoPhillips, Chevron, Marathon Oil, Occidental Petroleum, Shell und die Hess Corporation. Hinzu kommen Boeing, Caterpillar, Dow Chemical, Fluor Corporation, Halliburton, Motorola und Raytheon.
[6] Libya to privatise half of economy in a decade, Reuters, 02.04.2010.
[7] Zaptia, Sami: Another Positive IMF Report on Libya’s Economic Progress, Tripoli Post, 18.11.2010: www. tripolipost.com/articledetail.asp?c=2&i=5121
[8] Africa Online News zitiert bei How Gaddafi beca­me a Western-backed dictator, Peters Notepad, 24.02.2011: peterb1953. wordpress.com/2011/02/24/how-gaddafi-became-a-western-backed-dictator/
[9] Amnesty Report 2010: Libyen: www. amnesty.de/jahresbericht/2010/libyen?destination= node%2F2971
[10] Zweig, Stefan: Profile of an Oil Producer: Libya, Heatingoil.com, 29.09.2009: www.heatingoil.com/wp-content/uploads/2009/09/profile-of-an-oil-producer-libya.pdf
[11] Mulholland, Hélène: Libya crisis: Britain mulling no-fly zone and arms for rebels, says Cameron, The Guardian, 28.02.2011.
[12] Sanati, Cyrus: Big Oil’s $50 billion bet on Libya at stake, Fortune, 23.02.2011.
[13] Lobe, Jim: Neo-Con Hawks Take Flight over Libya, Inter Press Service 25.02.2011.
[14] MacFarquhar, Neil: The Vacuum After Qaddafi, New York Times, 27.02.2011.
[15] Birrel, Ian: On Libya we can’t let ourselves be scarred by Iraq, The Guardian, 23.02.2011.
[16] Welt Online: Live-Ticker Libyen: www.welt.de/politik/ausland/article12631912/Deutsche-Marine-schickt-Kriegsschiffe-nach-Libyen.html
[17] Korski, Daniel: What Europe needs to do on Libya, European Council on Foreign Relations, 25.02.2011.
[18] Lobe 2011. Vgl. für eine Einzelkritik jeder derzeit überlegten Einsatzoption Gupta, Susil: Libya: Dreams of Western Intervention, Antiwar.com, 26.02.2011.
[19] „Ohne Militäreinsatz keine Flugverbotszone“, tagesschau.de, 02.03.2011.
[20] Süddeutsche Zeitung – Deutschland: Flugverbot birgt Gefahren, 01.03.2011.
[21] Flugverbotszone in Libyen ist „unausweichlich“, Jürgen Chrobog, Ex-Diplomat, zu Handlungsmöglichkeiten, Deutschlandfunk, 03.03.2011: www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1402117/
[22] Libya rebels form council, oppose foreign intervention, Reuters, 28.02.2011.
[23] EU treibt Gaddafi in die Enge, Stern.de, 28.02.2011.
[24] World powers edge closer to Kadhafi solution, AFP, 01.03.2011.
[25] Milne, Seumas: Intervention in Libya would poison the Arab revolution, The Guardian, 02.03.2011.
Die ungekürzte Fassung des Textes unter:
www.imi-online.de/2011.php?id=2258
Zum Thema auch interessant:
Marischka, Christoph: Per Flugverbotszone in den Krieg in Nordafrika? www.imi-online.de/2011.php?id=2253

Kriegseinsatz im neuen Gerüst

Probleme und Folgen der Bundeswehrreform

„Unser Entscheiden reicht weiter als unser Erkennen“, formulierte Immanuel Kant schon im 18. Jahrhundert. Die vom Ex-Minister zu Guttenberg „auf den Weg gebrachte“ Bundeswehrreform bestätigt Kants Beobachtung im Besonderen. Denn selbst konservative Köpfe raufen sich nun die Haare und überlegen, wie sie die Reform reformieren und somit die Diskrepanz und inhaltliche Distanz zwischen Problemanalyse und Reformtragweite minimieren können. Die Mi­litarisierungsgegner_innen hingegen müssen derweil aufpassen, dass sie sich angesichts der erwartbaren Folgen der vermeintlich „größten Reform der Bundeswehr in ihrer Geschichte“ nicht am eigenen hämischen Grinsen verschlucken.

Doch von vorn: Dem vorerst von der Bildfläche verschwundenen Verteidigungsminister zu Gutten­berg wurde im Juni 2010 im Rahmen des Sparpaketes (siehe FA!#38) der Auftrag erteilt, im eigenen Haushalt 8,3 Milliarden Euro einzusparen. Da dies aber nicht das einzige zu bearbeitende Problemfeld auf seinem Schreibtisch darstellte, verknüpfte er kurzerhand verschiedene innen- und außenpolitische Anforderungen sowie drängende Strukturfragen und präsentierte dann eine Bundeswehrreform, die Geschichte schreiben sollte – eine Reform, die Qualitätssteigerung und gleichzeitig finanzielle Einsparung versprach. Oder auch qualitative Aufrüstung bei quantitativer Abrüstung. Kernelement dieser ist jedenfalls der Umbau der Armee weg von der Wehrpflicht hin zur Freiwilligenarmee. Gesprochen wird allerdings nur von einer (wenn auch dauerhaft vorstellbaren) „Aussetzung“, denn das Grundgesetz solle nicht gleich verändert werden, sondern als „Rückversicherung“ weiter die allgemeine Wehrpflicht führen. So wurde das vorher für CDU/CSU Undenkbare nun als Fortschritt verkündet und prompt zum Heil- und Profilie­rungs­mittel ausgebaut. Im Reformpaket enthalten sind aber nicht nur die Abkehr von der Wehrpflicht und somit die Reduzierung der Zahl der Bundeswehrbesoldeten, sondern weitreichende Veränderungen, durch die am Ende eine weit größere Anzahl an Soldat_innen für Auslandseinsätze zur Verfügung stehen wird (1). Zudem sollen Führungsstrukturen um- und die allgemeine Einstellungsdauer ausgebaut werden sowie Investitionen in neueres militärisches Equipment erfolgen. Unterm Strich der Rechnung sollte damit zum einen eine immense Kosteneinsparung, zum anderen eine Steigerung der internationalen Anerkennung durch größere Hand­lungs­fähig­keit in Militär­bün­dnissen stehen.

Doch wurde die Rechnung ohne den Wirt gemacht, der nicht nur anders bilanziert, sondern auch noch auf sein Trinkgeld besteht. Denn mit dem Wegfall der Pflicht muss nicht nur das Anreiz- oder Prämiensystem aufgestockt werden, damit weiterhin viele Menschen beschließen ihr kostbares Leben an den Staat zu verkaufen. Auch für den Zivildienst – ohne den unzählige soziale Einrichtungen sprichwörtlich einpacken können, weil ihnen die kostengünstigen Arbeitsplätze abhanden kommen – müssen Ersatzregelungen gefunden und finanzielle Mittel bereit gestellt werden. Schlussendlich zählt die Bundeswehr (glücklicher Weise) nicht zu den beliebtesten Institutionen, so dass auch der Werbeetat beachtlich aufgestockt werden muss, will man das Rekrutie­rungs­problem in den Griff bekommen. So belaufen sich derzeit die unge­plan­ten, nun geschätzten Mehrkosten auf ca. 2 Milliarden Euro. Oder noch viel mehr, wie einige Reformkritiker_innen befürchten. Auch den er­warte­ten internationalen Pres­tige­gewinn stellen diese in Frage, ist doch die Reform lediglich monetär motiviert, nicht aber in ein klares sicherheitsstrategisches Konzept integriert. So fehlt ihnen die sicherheitspolitische Herleitung der Re­form­notwendig­keiten und eine Anknüpfung an die im „Weißbuch“ der Bundeswehr formulierten militärstrategischen Zielsetzungen und Aufgaben der Armee. Zwar passt der Umbau, weg von der Wehrpflicht, in das Bild der obsolet gewordenen klassischen Landesverteidigung (2). Aller­dings reicht das Argument, man wolle die deutsche Beteiligung an Auslandseinsätzen steigern, allein kaum aus, um die ge­schichtsträchtigen „Staatsbürger in Uniform“ durch Söldner_innen zu ersetzen. Insgesamt scheint also der geplante historische Meilenstein „Bundeswehrreform“ zum strategisch kopflosen Unterfangen und finanziellen Nullsummenspiel zu mutieren. Oder er schlägt als Bumerang zurück und erzwingt weitere inhaltliche und organisatorische Umbauprozesse ungeahnten Ausmaßes.

Alte Probleme, neue Brisanz

Doch diese Entwicklungen sind leider kein Grund zur Freude für Militärgegner_innen. Obgleich mensch herzlich darüber streiten kann, ob nun die Wehrpflicht oder die Freiwilligenarmee das kleinere Übel darstellt, wird doch v.a. deutlich, dass mit dieser Reform nicht abgerüstet, sondern massiv aufge­rüstet wird. Denn zukünftig wird es mehr Sol­dat_innen geben, die in aller Welt für deutsche Interessen (gewalt-)tätig werden, die Welt­politik in erschütternder Weise maßgeblich mit beeinflussen und dabei helfen, dass bestehende Konflikte zu endlos anmutenden Kriegen ausufern. So waren in den letzten 20 Jahren insgesamt über 300 000 Sol­dat_innen in 37 Auslandseinsätzen aktiv. Derzeit gibt es 12 laufende Auslandseinsätze unter der Beteiligung Deutschlands mit über 7000 Bundeswehrkräften (3). Zur lang­fris­tigen Friedenssicherung tragen die militä­rischen Interventionen aber in den seltensten Fällen bei. Zudem lehrt uns auch das Bei­spiel Afghanistan, dass die Abzugspers­pektive ein hart umstrittenes und schwieriges Thema ist, wenn die „internationale Gemeinschaft“ einmal angefangen hat mitzumischen. Es profitieren also oftmals lediglich die Rüstungsindustrie und jene Akteure, die im Schatten der aktuellen „Friedensstifter“ ihre Geschäfte abwickeln können.

Weiter wird sich durch die Reform das Klientel der deutschen Waffenträger_innen wohl zugunsten derjenigen verschieben, die keine kritische Haltung oder eine geringere Hemmschwelle gegenüber der Anwendung von Gewalt in verschiedensten Ausprägungen haben – schließlich haben sie sich bewusst (wenn auch nicht unbedingt durchdacht) für diesen Job beworben. Es ist auch erwartbar, dass der Großteil der künftigen Soldat_innen, analog zu den Entwicklungen in den USA, eher aus jenen Menschen besteht, die für sich kaum anderweitige Einkommensperspektiven sehen. Schon jetzt beträgt der Anteil der Soldat_innen im Auslandseinsatz, die aus den strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland kommen, rund 50% und liegt bei den „niederen“ Rängen sogar bei 62,5% (4).

Schlussendlich wird die Bundeswehr durch ihre Nachwuchssorgen auch im Inneren in immer unerträg­lich­erem Ausmaß auf sich aufmerksam machen müssen. Bereits jetzt bemüht sie sich um Ak­zep­tanz­steigerung und Re­krutenwer­bung: Durch Infostände auf öffentlichen Plätzen, Messen und Stadt­teil­festen; Wer­bung in Arbeitsämtern, Schulen und Universitäten; Sponsoring bei Sportvereinen; mediale Offensiven in Film, Zeitung, Radio und Internet; Anzeigen in Straßenbahnen oder durch eigene öffentliche Veranstaltungen. Eine Verstärkung der Bemühungen sich als attraktiver Arbeitgeber und kompetenter sowie kostengünstiger Ausbilder zu präsentieren (z.B. durch ein kostenfreies Studium), ist bereits beschlossene Sache. Eine besonders herausstechende Strategie ist hierbei die verstärkte und zunehmend institutionalisierte Präsenz an Schulen, wo sich Jugendoffiziere als Expert_innen im Bereich der Sicherheitspolitik und der politischen Bildung geben und Jugendlichen sowohl die vermeintliche Notwendigkeit von Militär vermitteln, als auch die Bundeswehr als coolen und „sicheren“ Arbeitgeber bewerben (siehe Kasten).

Mit Verstand zum Widerstand

Bei so viel Präsenz im Inneren und Schadensverrichtung außerhalb Deutschlands ist breiter Widerstand wichtig. Glaubte man früher, die Friedensbewegung der 60er und 70er sei „ausgestorben“, ist doch seit 1999, dem Beginn der deutschen Beteiligung an Auslandseinsätzen, eine kleine Renaissance und Zulauf bei den Friedensbewegten zu vernehmen. In nahezu jeder größeren Stadt gibt es inzwischen (wieder) Menschen die sich zusammenfinden, um gemeinsam gegen den Afghanistan-Einsatz mobil zu machen, oder der öffentlichen Bundeswehrpräsenz ihren Protest entgegen zu setzen. Zudem gibt es einige Organisationen sowie unzählige Internet­seiten und Blogs, auf denen sich vernetzt und inhaltlich diskutiert wird, Informationen zusammengestellt, Aktionsideen gesammelt und Materialien zur Verfügung gestellt werden (5). Besonders jetzt, wo durch die Bundes­wehrreform das weltweite Töten und Kämpfen im Namen „westlicher Werte“ wieder verstärkt salonfähig gemacht werden soll, ist lautstarker und unmittelbarer Protest vor der Haustür das gebotene Mittel der Stunde.

(momo)

 

(1) Die Bundeswehr umfasst derzeit ca. 250.000 Soldat_innen, von denen „nur“ ca. 7000 in Auslandseinsätze geschickt werden (können). In Zukunft soll die gesamte Armee nur noch aus ca. 180.000 Menschen bestehen, von denen dann ca. 15.000 (mindestens aber 10.000) im Ausland tätig sein sollen. Durch den Personalumbau und die Neuerung, dass alle freiwillig Wehrdienstleistenden auch ins Ausland geschickt werden können, sollen aber insgesamt über 130.000 der Soldat_innen für etwaige Auslandseinsätze ausgebildet sein. (Friedensjournal Nov. 2010 und „Blätter für deutsche und internationale Politik“ 3/2011)

(2) Die Geschichte der Bundeswehr begann 1955 unter Adenauer (unter heftigen Auseinandersetzungen, ob Deutschland überhaupt je wieder über eine Armee verfügen sollte) der diese als „Verteidigungsarmee“ aus dem Bundesgrenzschutz heraus gründete. Ziel war hier die klassische Landesverteidigung im Falle eines Angriffs vom kommunistischen Gegner; Kernelement die Wehrpflicht – auch um die weltanschauliche Entfernung der Soldat_innen vom Staatsbürger zu verhindern. Mit Ende des Kalten Krieges und dem Wegfall der direkten „Landesbedro­hung“, wandelte sich die ehemalige Verteidigungsarmee sukzessive zur Angriffsarmee, um deutsche Interessen in aller Welt umzusetzen.

(3) Die derzeitigen Einsätze: ISAF in Afghanistan und Usbekistan (4765 Soldat_innen); KFOR im Kosovo (1490 Soldat_innen); „Atalanta“ um Somalia (330 Soldat_innen); UNIFIL im Libanon (300 Soldat_innen); „Active Endeavour“ im Mittelmeer (215 Soldat_innen); EUFOR Bosnien-Herzegowina (125 Soldat_innen); „Statairmedevac“ mit Flugbasis in Deutschland (40 Soldat_innen); UNMIS im Sudan (32 Soldat_innen); EUTM Somalia (10 Soldat_innen); UNAMID im Sudan (5 Soldat­_in­nen); EUSEC im DR Kongo (3 Soldat_innen); UNAMA in Afghanistan (1 Soldat). (Friedensjournal Nov. 2010)

(4) Eine umfassende Analyse zu den neuen Rekrutierungsherausforderungen der Bundeswehr machte kürzlich die IMI: www.imi-online.de/2011.php?id=2257

(5) Einige wichtige Seiten zum Thema: www.imi-online.de; www.dfg-vk.de; www.kehrt-marsch.de; www.bundeswehr-wegtreten.org

Die Schuloffensive der Bundeswehr

Das Nachwuchs- und Akzeptanzproblem der Bundeswehr lässt sich am effektivsten durch eine hohe Präsenz an Schulen lösen. Diese Erkenntnis ist nicht neu und wird seit Jahren in zunehmendem Maß in die Praxis umgesetzt. Allein im Jahr 2009 führten Jugendoffiziere und Wehrdienstberater bundesweit über 17.000 Veranstaltungen in Bildungseinrichtungen durch und erreichten so knapp 400.000 (!) Jugendliche. Während sich die Wehrdienstberater direkt mit der Nachwuchsrekrutierung beschäftigen, werden die gut geschulten Jugendoffiziere als Expert_innen in Fragen Sicherheits- und Bildungspolitik eingeladen. In Präsentationen oder mit Hilfe des eigens entwickelten Planspiels „Pol&IS (Politik und Internationale Sicherheit) vermitteln sie jungen Menschen die vermeintliche Notwendigkeit von Armeen und „informieren“ über die „friedensstiftenden Maßnahmen“ der Bundeswehr im Ausland. Unterstützt wird diese Schuloffensive durch Lehrerfortbildungen und Seminare für Referendar_innen, die kostenlosen Unterrichtsmaterialien „Frieden & Sicherheit“ und Kooperationsvereinbarungen mit den Kultusministerien der Bundesländer. Letzteres ist eine besonders favorisierte Strategie, um auch künftig einen einfacheren Zugang zu Schuleinrichtungen zu erhalten: Acht Bundesländer – seit Dezember 2010 auch Sachsen – haben bereits Vereinbarungen mit der Bundeswehr abgeschlossen und wollen die Zusammenarbeit künftig intensivieren.

Auch hier lohnt und formiert sich jedoch Widerstand: Verschiedenste Organisationen mobilisieren derzeit lokal, landes- oder bundesweit gegen etwaige Kooperationsvereinbarungen und die Präsenz der Bundeswehr an Schulen. Dabei ist der „Beutelsbacher Konsens“, der die Mindestanforderungen an politische Bildung festlegt und dabei das Kontroversitätsgebot und Überwältigungsverbot aufstellt, ein wichtiges Argument, um der Bundeswehrpräsenz an Schulen Einhalt zu gebieten.

 

Infos u.a. im IMI-Factsheet: imi-online.de/download/factsheet_BW_Schule2010.pdf

Aus für deutschen Luft-Boden-Schießplatz

Wahlkampf hin oder her, das sogenannte „Bombodrom“ in der Kyritz-Ruppiner Heide (Brandenburg) mit einem Areal von 144qkm wird es nicht geben. Zwar lügen Verteidigungsminister schon öfter mal, aber eine Revisionsfrist ist bekanntlich kurz und der juristische Spielraum klein. Au­ßer­dem hatte noch der Bun­destag am 02. Juli einem Antrag des Petitionsaus­schusses stattgegeben. Es dürfte also für den neuen wie alten Minister auch politisch schwierig werden, die Pläne so schnell wieder herbeizuzaubern. Was bleibt? In erster Linie eine riesige Fläche in Bundesbesitz, die nun teilweise touristisch erschlossen werden kann, aber hauptsächlich wohl Naturschutzgebiet werden wird. Die Bundeswehr dagegen muss ihre Luft-Boden-Schießübungen auf etwas kleineren Terrains abhalten, was nicht viel stört, da man sich eh längst auf andere Kriegs­techniken spezialisiert hat. Und die an­sässige Bürgerschaft darf sich illusio­nieren, nach dem fast 17jährigen juristisch-politischen Ringen den Weg freigemacht zu haben für bahnbrechende Neuansiedlungen und phantastische Jobwun­der.

Na ja, ganz so fade fällt das Ergebnis dann doch nicht aus, denn immerhin konnten einige kleinere antimilitaristische Gruppen und Initiativen durch die lange Widerstandszeit hindurch reichlich Aktions- und Organisationserfahrung sammeln, auch im Umgang mit einem breiten bürgerlichen Bündnis. Daran gilt es weiter anzuknüpfen, gerade jetzt, da ein symbolträchtiges Ziel durchgesetzt wurde. Die Parole lautet: Neu orientieren, Kraft mitnehmen, weitermachen. Venceremos!

(clov)

Proteste, die gar nicht stattfinden sollten

NATO-Gipfel in Straßburg 2009

30.000 Menschen haben am ersten Aprilwochenende gegen die NATO und die Kriegspolitik ihrer Mitgliedsstaaten demonstriert – oder das zumindest versucht. Dass sich überhaupt so viele auf den Weg machten, hat viele überrascht. Denn die französischen wie die deutschen Behörden ließen nichts unversucht, um die Menschen abzuschrecken, vor Ort gegen den NATO-Gipfel zu protestieren.

Dabei verfolgten sie mehrere Strategien. Einerseits weigerten sie sich standhaft, angemeldete Kundgebungen, Demonstrationen und Infrastruktur (Camps, Infopunkte etc.) zu genehmigen. Die Route der Großdemonstration blieb bis zuletzt unklar und während das einzige genehmigte Camp in Straßburg bereits aufgebaut wurde, gab es schon wieder Anzeichen für ein Verbot. Die Verlautbarungen der Polizei sagten bis zuletzt wenig darüber aus, ob die legitimen und legalen Protestformen überhaupt stattfinden und eingeplant würden. Stattdessen wurden Sicher­heits­konzepte vorgestellt, die darauf hinausliefen „Störer“ fernzuhalten.

Die gesamte Mobilisierung wurde in einen linksradikalen und gewaltbereiten Kontext gerückt und entsprechend würde die Reaktion darin bestehen, die Grenze zu schließen, Autobahnen und Bundesstraßen zu sperren, Busse nicht passieren zu lassen und den Menschen das Verlassen ihrer Häuser und ihrer Wohnorte zu verbieten. Medial wurde so das Szenario eines Ausnahmezustandes verbreitet, dem nur durch ein rigoroses Eingreifen der Polizei gegen die wenigen und angeblich ausschließlich militanten NATO-Gegner in den sonst menschenleeren Innenstädten zu begegnen sei.

Eine antimilitaristische Mobilisierung

Trotzdem erhielt die Mobilisierung in den letzten Wochen einen deutlichen Schub. Anfänglich wurde der NATO-Jubiläumsgipfel in zahlreichen Aufrufen in seiner Bedeutung als Protestereignis mit den jährlichen G8-Gipfeln gleichgesetzt. Das war sicherlich eine Fehleinschätzung, denn die NATO ist nicht so unmittelbar mit Themen der Landwirtschaft, der Klimapolitik, der Nord-Süd-Verhältnisse, der völligen Deregulierung der Finanzmärkte und der Privatisierung öffentlichen Eigentums usw. in Zusammenhang zu bringen, wie der G8-Gipfel. Dass die NATO aber ein wesentliches Instrument einiger G8-Staaten ist, diese Agenda gegen Widerstände durchzusetzen, konnte im Rahmen der Mobilisierung vermittelt werden.

In Straßburg wurde hingegen ganz konkret gegen die NATO demonstriert und damit auch gegen das der NATO zu­grunde liegende Prinzip militärischer Herrschaftsdurchsetzung. Die Proteste gegen andere drängende gesellschaftliche Probleme, wie die Wirtschaftskrise fanden zu Recht andernorts statt, am 28. März in Berlin und Frankfurt und Anfang April in London. Das Thema Krise wirkte dennoch als Katalysator für die Mobilisierung, da sie verdeutlichte, dass Militär nicht nur ein Mittel zur Kriegsführung ist, sondern grundsätzlich in Zusammenhang mit repressiver In­ter­essens­durchsetzung steht. Dieser repressive Charakter des Militarismus zeigt sich daran, wie und wo Militär eingesetzt wird. Etwa bei der asymmetrischen Kriegsführung im Ausland, dem Einsatz von Bundeswehr im Inland (siehe G8 in Heiligendamm) und u.a. der europäischen Migrationspolitik, die mit Zäunen und Lagern durchgesetzt wird. Hinter diesen Entwicklungen liegt eine Vorstellung von Gefahr und Sicherheit, nach der jede Bewegung und jeder Widerspruch gegen das herrschende Sicherheitsverständnis oder die Ordnung zumindest potentiell zum Feind oder gar zum militärischen Gegner erklärt wird. Das wiederum fordert geradezu den spektrenübergreifenden Widerspruch der Menschen heraus, gegen die Polizei, Militär und Stigmatisierung eingesetzt werden. Die Mobilisierung gegen den NATO-Gipfel wurde so eine wirklich antimilitaristische Mobilisierung, die über die klassische Friedensbewegung hinaus weite Teile der Linken erfasste.

Verbindend wirkte auch die Wahrnehmung eines gemeinsamen Kampfes um das Recht, überhaupt protestieren zu können, zumindest in Süddeutschland durch die in Bayern bereits umgesetzte (und schon wieder zurückgenommene) und in Ba­den-Württemberg geplante Novel­lie­rung des Versammlungsrechtes, die von eben diesem Recht nichts mehr übrig lässt und ebenfalls einen spektrenübergrei­fen­den und konfrontativen Widerstand her­vor­­gebracht hat. Der NATO-Gipfel galt in diesem Kon­­text als Vorgeschmack auf eine Zeit ohne Demon­strationsrecht und da­mit auch als Anlass, das Demon­stra­­tions­recht zu verteidigen bzw. durchzusetzen.

Strategie der Spannung

Dass diese umfassende Mobilisierung so gut gelang, lag auch an der Haltung der deutschen und französischen Behörden, die die Proteste per se für illegitim und illegal erklärten und bereits im Vorfeld die Friedensbewegung mit einem brandschatzenden Mob gleichsetzten. Am 2. April, einen Tag nachdem anlässlich des G20-Gipfels zur Finanzkrise in London Banken verwüstet wurden und ein Mann höchstwahrscheinlich unter dem Einfluss von Polizeigewalt verstarb und zwei Tage vor der Großdemonstration gegen die NATO, äußerten sich Vertreter der beiden deutschen Polizeigewerkschaften gegenüber der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. So meinte Konrad Freiberg (Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei): „Wir müssen damit rechnen, dass die Proteste beim Nato-Gipfel deutlich aggressiver werden als in der Vergangenheit“ und dass „reisende Gewalttäter den Protest der Friedensbewegung gezielt für Randale und brutale Übergriffe auf Polizisten missbrauchen könnten“. Diese Ansicht wurde von den Medien aufgegriffen und schnell weiterverbreitet.

Eine stärkere Differenzierung seitens der Be­hörden hätte eher dazu geführt, dass es ge­trennte Mobilisierungen einerseits der Frie­densbewegung zu genehmigten Veranstaltungen sowie der anderen Spektren gegeben hätte. Von vornherein als „Black Block“ behandelt, hatte die Friedensbewegung jedoch nichts mehr zu verlieren.

Der Polizeieinsatz zwei Tage später in Straßburg zeigte überdeutlich, dass die Proteste durch die so herbeigeredeten Randale kontrolliert werden sollten. Die Polizeiführung – über Hubschrauber ständig mit aktuellem Lagebild versorgt und über Funk mit tausenden Einsatzkräften in Kontakt – ist schon wegen dieser organisatorischen Überlegenheit viel eher für den Gesamtverlauf der Demonstration verantwortlich zu machen als die De­mons­tra­tionskoordination. Ihr Einsatz zielte erkennbar weder darauf ab, Randale zu verhindern, eine ordnungsgemäße Demonstration zu ermöglichen oder Schaden von den Gebäuden und Menschen auf der Insel abzuwenden. Stattdessen zielte er darauf ab, die Proteste von der Innenstadt und reicheren Wohngegenden fernzuhalten, Gewalt zu provozieren und diese dann als Anlass zu nutzen, die Demonstration aufzureiben. Das ist ihr gelungen und das ist die eigentliche Niederlage. Die Auseinandersetzungen in Straßburg waren tatsächlich ein Vorgeschmack auf Proteste, denen kein Raum zugestanden wird, die von Vorn­herein verhindert werden sollen, sich aber dennoch Bahn brechen werden. Das birgt ein enormes Eskalationsrisiko, darf die sozialen Bewegungen aber nicht dazu bringen, nicht mehr zu solchen Protesten zu mobilisieren, nur weil sie diese nicht kontrollieren kann. Die Regierungen hingegen müssen sich fragen, ob sie dauerhaft fähig und bereit sind, diese Eskalation voranzutreiben und Protesten in zunehmend militärisch anmutender Art zu begegnen. Sind sie dies nicht, müssen sie ihre Politik ändern oder zumindest den Protesten Raum geben. Sind sie es doch, müssen die sozialen Bewegungen Strategien entwickeln, wie sie mit zunehmend un­ko­or­di­nier­ten und militanteren Formen des Protestes umgehen können, damit diese nicht gegen sie instrumentalisiert werden und ohne dass sie selbst in die Eskalationsfalle geraten.

Konferenz, Camp, Blockaden, Großdemonstration

Am 1. April eröffnete das Camp in Straß­burg und es wuchs zunächst langsam, dann beständig und immer schneller. Und es wuchs weitgehend unkontrolliert. Das lag vor allem daran, dass es das einzige Camp war und so lange unklar blieb, ob es überhaupt stattfinden kann. Vor diesem Hintergrund war es eine Leistung der Camp­vorbereitung, dass überhaupt die nö­tige Infrastruktur (Großzelte, Volx­küchen, Strom und sanitäre Anlagen) vorhanden war, obwohl beispielsweise eine der Volxküchen nicht über die Grenze gelassen wurde und auch viele andere Ak­ti­vist­Innen, um überhaupt über die Grenze zu kommen, darauf verzichteten, Material wie Zeltstangen, Stromkabel, Fackeln oder Flugblätter mitzunehmen. Vor dem Hintergrund dieser erschwerten Bedingungen litt die interne Organisation des Camps. Zwar wurden auf verschiedenen Plena im Camp Absprachen getroffen, diese blieben aber unverbindlich, da nicht alle der überwiegend in Kleingruppen organisierten Gruppen vertreten waren. Entsprechend unkoordiniert und auch häufig unüberlegt wurde auf die sporadischen Angriffe der Polizei im Umfeld des Camps reagiert, die sich oft zu stundenlangen Scharmützeln auswuchsen, während auf dem Camp selbst der Aufbau, die Absprachen und das Leben ganz nor­mal weitergingen. Nicht nur diese Aus­ein­andersetzungen am Rande signalisierten sowohl den überwiegend unbeteiligten Be­woh­nerInnen des Camps als auch den­jenigen, die die Berichterstattung ver­folg­ten, dass es auch am Tag der Proteste „krachen“ würde. Auf die Mehrheit der De­monstranten hatte dies eine eher ein­schüchternde Wir­­kung. Diejenigen, die solche Auseinandersetzungen suchen, wurden damit natürlich eu­ro­pa­weit angezogen. Am Ab­end vor der Groß­de­mons­tration nahm der Strom von Neu­ankömm­ling­en im Camp noch ein­mal spürbar zu.

Am 3. April begann, etwa drei Kilometer vom Camp entfernt, eine internationale Konferenz mit AntikriegsaktivistInnen insbesondere aus Deutschland und Frankreich, aber auch aus Großbritannien und Irland, skandinavischen Ländern, Griechenland, Spanien und den USA. Hier stand die inhaltliche Kritik an der NATO und west­licher Kriegspolitik im Mittelpunkt der zahlreichen größeren und kleineren Workshops. Daneben wur­de die Konferenz von vielen genutzt, um sich informell mit den oft altbekannten Genoss­Innen aus anderen Ländern auszutauschen und gemeinsame Kampagnen vorzubereiten. Ein Austausch mit den Bewohnern des Camps fand in begrenztem Maße statt. Viele der zumeist in der Stadt untergekommenen KonferenzteilnehmerInnen statteten dem Camp einen Besuch ab. Unter den Camp-BewohnerInnen scheiterte der Wunsch nach einer Teilnahme an der Konferenz jedoch oft an der schlechten Anbindung und der Sorge, auf dem Weg durch die Stadt polizeilicher Repression ausgesetzt zu sein. Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass sich das mediale Interesse an der Konferenz – trotz dem Bekanntheitsgrad vieler Teil­nehmerInnen – in Grenzen hielt. Die Medien waren weniger an den Argumenten der Gipfel­gegnerInnen interessiert, denn an den Bildern von Ausschreitungen, die sie am nächsten Tag erhalten sollten.

Verschiedene überwiegend deutsche Bündnisse hatten gewaltfreie Blockaden am 4. April in der Straßburger Innenstadt geplant. Auch auf dem Camp bereiteten Leute sich konkret auf diese Aktion vor. Sie bildeten Bezugsgruppen, Delegierten­plena, es gab Aktionstrainings und die gewaltfreie Reaktion auf Po­li­zei­re­pres­sion wurde abgesprochen. Das Konzept der gewaltfreien Blockaden basiert auf der Rechtsfigur des zivilen Ungehorsams, die es in Deutschland gibt, aber nicht in Frankreich. Insbesondere im Austausch mit französischen Ge­noss­Innen, die oft wenig Verständnis für diese Aktionsform aufbringen konnten, wurde deutlich, dass diese eventuell wenig aussichtsreich verlaufen könnten, da die französische Polizei nicht zögern würde, Tränengas und auch Gummigeschosse gegen eine friedliche Sitzblockade einzusetzen. Obwohl diese Debatten sicherlich eine abschreckende Wirkung entfalteten, entschlossen sich mehrere tausend Menschen, es dennoch zu versuchen. Sie machten sich nachts vom Camp in größeren und kleineren Gruppen auf, um überhaupt in die Innenstadt zu gelangen, von der die Polizei angekündigt hatte, sie komplett abzuriegeln. Die größeren Gruppen wurden tatsächlich von Polizeihubschraubern verfolgt und später mit Tränengas aufgehalten. Einigen kleineren Gruppen gelang es, in die Innenstadt zu gelangen und sich auf zentralen Kreuzungen zu sammeln. Sie wurden teilweise ohne Ankündigung von der Polizei mit Tränengas attackiert. Die Polizei lehnte Verhandlungen ab mit den Worten, „wenn wir Euch hier weg haben möchten, dann werdet ihr das schon merken“. Den­noch brachte diese ent­schlos­sene und ge­walt­freie Form des Protestes einen beachtlichen Erfolg: mitten in der Innenstadt gab es Kreuzungen, die blockiert wurden. Selbst wenn dies nicht die zentralen Kreuzungen waren, und die Blockaden zuletzt durch die Polizei toleriert wurden, so konnte sich auf diese Weise doch genau dort Protest äußern, wo die NATO und die französischen Behörden ihn nicht haben wollten. Durch diese Blockaden gab es auch in der Innenstadt zeitweise Bewegungsfreiheit für die AktivistInnen und Kontakt mit der Straßburger Bevölkerung.

Am selben Tag vormittags sammelten sich auf der deutschen Seite in Kehl mehrere tau­send Menschen, die am Ostermarsch über die Europabrücke auf die französische Seite teilnehmen wollten. Aus Nordrhein-Westfalen traf ein Sonderzug ein und aus ganz Süddeutschland Busse, die überwiegend von der Polizei aufgehalten und kon­trolliert worden waren. Des­halb begann der Ostermarsch auch erst mit Verzögerung. Während der Auf­takt­kundgebung strömten aus Straß­burg, aus dem Camp und von den Bloc­kade­­punkten Menschen auf die Insel zwischen Kehl und Straßburg, auf der beide De­mons­tra­tionen sich vereinigen und die Großde­mons­tration statt­­finden sollte. Doch bevor die gemeinsame Kundgebung be­gann, wurden bereits alle Zugänge zu der Insel von der Poli­zei abgeriegelt, woraufhin es an einigen Stel­len zu Auseinandersetzungen kam. Auf der Insel selbst war zunächst über­haupt keine uniformierte Polizei zu sehen und es kam zu ersten Sachbeschädigungen ins­be­­sondere an einer alten, leer stehenden Grenz­station. Trotzdem kann die Lage zu die­sem Zeitpunkt noch als weitgehend ruhig beschrieben werden – eben da sich kei­ne Polizei blicken ließ –, es gab zahlreiche Diskussionen über die Randale, die da­raufhin teilweise auch ein­gestellt wurden. Auf deut­scher Seite wurden diese aber als Vorwand genutzt, um den Ostermarsch, der zu diesem Zeitpunkt sicher­lich deeskalierend und strukturierend gewirkt hätte, nicht über die Brücke zu lassen. Irgen­dwann brannte dann auf der In­sel die Grenzstation und ein IBIS-Hotel. We­nig später – die Auftaktkund­gebung hat­te erst angefangen – griff die Polizei an und trieb die auf der Insel verstreute Menge auf den Platz der Auftaktkund­ge­bung, den sie ebenfalls mit Tränengas ein­ne­belte. Die Demonstration begann damit verfrüht und unfreiwillig und verlief unter nahezu ununterbrochenem Trä­nen­gas­beschuss im Halbkreis durch das Industriegebiet auf der Insel. Den willkommenen An­lass für den ständigen Trä­nen­gas­beschuss lie­ferten einige der ver­mummten, schwarz gekleideten De­mons­tra­tions­teilnehmer, die bei jeder Gelegenheit die Polizei mit Stei­nen attackier­ten und anschließend in die Demonstration flüchteten. Immer mehr Demons­tra­tions­teil­nehmer setzten sich auf Freiflächen, Fabrikgeländen, auf Bahnschienen und ent­lang von Seitenarmen des Rheins ab. Kurz bevor die Demonstration wieder auf das brennende Ho­tel gestoßen wäre, riegelte die Polizei die Route auch von Vorne ab. Auch hier wurde sie attackiert, obwohl die Militanten aus der Demonstration heraus aufgefordert wurden, dies zu unterlassen. Wie­der reagierte die Polizei mit Tränengasangriffen auf die Demonstration, die sich nun überwiegend in flüchtende Kleingruppen auflöste. Sichtlich niedergeschlagen und demoralisiert zogen diese Kleingruppen später unter der höhnischen Aufsicht der Polizei von der Insel ab, wobei sie eindeutig so geleitet wurden, dass sie die Stadt nur über deren ärmste Viertel wieder erreichten.

Zur Selbstkritik

Während sowohl das Stattfinden des Camps und der Blockaden als auch die Kon­­ferenz und die schiere Masse an De­mons­­trantenInnen – ganz abgesehen von der in­halt­lichen Mobilisierung und Au­sein­andersetzung mit der NATO und Mi­li­tarismus im Vorfeld – als Erfolge angesehen werden können, so war die Demonstration selbst eine Niederlage, die den Teil­nehmerInnen beim Abzug sichtbar ins Gesicht geschrieben stand. Die unmittelbare Erfahrung von sinnloser Gewalt, die von Einigen aus der Demonstration heraus ausgeübt wurde, führte dazu, dass viele eben die­se, sowie die Organisatoren der Demonstration für das Scheitern verantwortlich machten. Dies aller­dings ist ein Fehlschluss, der denjenigen in die Hände spielt, die den Protest verhindern oder dif­fa­mieren wollten. Deren Rolle darf nicht un­terschätzt werden, denn sie haben es be­reits mit ihrer restriktiven Politik im Vorfeld geschafft, dass die Großde­mons­tra­tion nicht ausreichend vorbereitet und kein gemeinsames Vorgehen unter der Mehr­zahl der Demonstrierenden ausge­han­delt werden konnte. Für den Gesamtverlauf des großen und unübersichtlichen Protestes sind nicht diejenigen verantwortlich zu machen, die sich bis zuletzt darum bemüht haben, dass dieser überhaupt stattfinden kann, sondern allenfalls diejenigen, welche den Kontext der Proteste gestalteten. Hierzu gehört allen voran die NATO selbst mit ihrer Entscheidung, ihr sechzigjähriges Fortbestehen in einer Großstadt zu feiern, deren Be­wohner­Innen hierfür massive Einschränkungen in Kauf nehmen mussten. Wenn die Regierenden immer offener gegen die Interessen derjenigen agieren, die sie zu vertreten in Anspruch nehmen, muss mit solchen absolut legitimen Protesten gerechnet werden. Die immer offenere Drei­stig­keit der Regierungen, die in solchen Feierlichkeiten inmitten der Krise nur ihre symbolische Zu­spit­zung erfahren, füh­ren natürlich auch dazu, dass weniger politisierte und organisierte Menschen ihrer Wut Ausdruck verleihen möch­ten und dass damit auch die Proteste für die Veranstalter schwerer kon­trollierbar werden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass es legitim ist, etwa zu Demonstrationen gegen den NATO-Gipfel aufzurufen.

Derweil auf dem Olymp

Was wurde nun gefeiert auf dem Gipfel, was wurde beschlossen? Einigkeit sollte demonstriert werden und ein Neuanfang, in dessen Zentrum frei­lich der neue US-ameri­ka­nische Präsident Obama stand. All sein Charisma, das er unter anderem mit der reali­täts­fernen Forderung nach einer „atom­waffen­freien Welt“ versuchte aufzuhüb­schen, konnte die anwesende Polit-Prominenz nicht darüber hinwegtäuschen, dass er an der Spitze eines Landes steht, das härter von der Finanzkrise getroffen wird, als alle anderen Großmächte und gleichzeitig in mehreren recht aussichtslosen Konflikten steckt. Die USA brauchen die europäischen Staaten und ihre Soldaten mehr denn je. Deshalb der Vorschlag eines Neuanfangs, einer neuen NATO, in der die USA und die EU gleichberechtigt nebeneinander stehen. Allerdings gibt die EU ohne den halbtoten Lissabon-Vertrag keinen ausreichend einheitlichen und ausreichend starken militärpolitischen Akteur ab, um die USA aus dem afghanischen Schlamassel zu ziehen und die ambitionierten Pläne der NATO, eine dem Untergang geweihte Weltordnung militärisch zu verteidigen, umzusetzen. „Don´t mention the Balkans“, mag sich so manche(r) gedacht haben. Denn dort, wo sich die NATO vor über zehn Jahren als Interventionsbündnis zur Vorwärtsverteidigung neu erfunden hat, stecken bis heute ihre Soldaten fest, ohne dass es noch irgendwelche Aussichten auf eine erfolgreiche kapitalistische Integration der zurechtgebombten neuen Staaten gäbe. Anstatt die Soldaten in einen sinnlosen Krieg zu schicken, machten sich die RegierungsvertreterInnen jeder und jede für sich ihre nationalen Gedanken, wie sie Banken retten und Wählerstimmen mit Konjunkturpaketen kaufen könnten. Die meisten kamen gerade erst aus London, wo man ähnlich perspektivlos dabei scheiterte, ein gemeinsames Vorgehen in der Krise abzusprechen, ohne über Alternativen auch nur nachdenken zu können. Auch dort konnten die Regierungsvertreter bei ihrer Abreise Rauchwolken sehen. So verzweifelt die Herrschenden in diesem Moment sein mochten, so ambitioniert verteidigten ihre Schergen zugleich deren Un-Ordnung.

(maria)

Sicherheit im Doppelpack

Zwischen NATO-Gipfel und Innenministerkonferenz

Herrschaftskritiker_innen und Gipfel­stürmer_innen können schon mal ihre Sachen packen: 2009 stehen gleich zwei Großereignisse ins Haus, die genug Anlass zum Protest geben. So soll der jährliche NATO-Gipfel dieses Mal in Frankreich und Deutschland über die Bühne gehen. Die Konferenz selbst wird am 3. und 4. April 2009 in Strasbourg stattfinden, die „Geschäftsessen“ der Vertei­digungs­minister hingegen in Baden-Baden, 50 Kilometer von Strasbourg entfernt. Und im Herbst 2009 werden sich die europäischen Innenminister in Stockholm treffen, um dort den Rahmen für die Sicherheitspolitik der EU in den nächsten Jahren festzulegen. Dabei haben beide Veranstaltungen mehr mit­ei­nander zu tun, als mensch auf den ersten Blick vermuten würde.

Militärische Weltpolizei…

Der NATO-Gipfel soll nicht nur das 60jährige Bestehen des Bündnisses feiern. Es stehen auch weitreichende Veränderungen auf dem Programm. Die geplante Abschaffung des bisher geltenden Vetorechts soll künftige militärische Missionen vereinfachen, diese könnten in Zukunft auch ohne UN-Mandat möglich sein.

Auch die strategischen Richtlinien für die nächsten Jahre sollen dort festgelegt werden. Wie die aussehen könnten, macht ein von fünf ehemaligen Generälen verfasstes Strategiepapier (1) deutlich, das im April 2007 unter dem Titel „Towards A Grand Strategy For An Uncertain World“ („Hin zu einer umfassenden Strategie für eine unsichere Welt“) veröffentlicht wurde. Dort heißt es: „Die wichtigste Herausforderung der kommenden Jahre wird sein, auf das vorbereitet zu sein, was sich nicht vorhersagen lässt (…) Den westlichen Alliierten steht eine lange, andauernde und präventiv zu führende Verteidigung ihrer Gesellschaften und ihrer Lebensart bevor. Deshalb müssen sie Risiken auf Distanz halten, während sie ihre Heimatländer beschützen.“

Als mögliche Bedrohungen, vor denen die westlichen Gesellschaften präventiv mit militärischen Mitteln geschützt werden sollen, sehen die NATO-Strategen dabei den internationalen Terrorismus und das weltweite organisierte Verbrechen, mögliche Unruhen als Folge von Nahrungs­mittelkrisen, aus dem Klimawandel resultierende soziale Konflikte ebenso wie massenhafte illegale Einwanderung.

An dieser Aufzählung sieht man bereits, wie stark sich die Rolle des Militärs seit dem Ende der Blockkonfrontation zwischen Ost und West gewandelt hat. Ein Angriff einer feindlichen Armee auf die „westlichen Gesellschaften und ihre Lebensart“ gehört jedenfalls nicht zu den angeführten Szenarien. Stattdessen sollen soziale Konflikte militärisch „bearbeitet“ werden. Die NATO (so das Konzeptpapier) müsse sich „zu einem effizienteren Instrument für die Analyse der sozio-ökonomischen Bedingungen entwickeln, die Sicherheitsproblemen zu Grunde liegen“ – natürlich nicht, um an den Ursachen etwas zu ändern, sondern um die Symptome besser bekämpfen zu können. Ziel ist es, potentielle Bedrohungen schon im Vorfeld zu erkennen und „präventiv“ zu bekämpfen. Aufgabe der NATO bei der Intervention in Krisenregionen soll es sein, für Stabilität in den betroffenen Staaten und die Errichtung von „Good Gover­nance“ zu sorgen, den „freien und gerechten Handel“ und den Zugriff auf Rohstoffe zu sichern – kurz gesagt, neue Märkte und Einflusszonen erschließen und dafür sorgen, dass auch dort die Kapitalakkumulation ungestört ablaufen kann.

Im Zuge dieser Entwicklung verschwimmen auch die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit zusehends. Dem Strategiepapier zufolge braucht es, um den beschriebenen Gefahren erfolgreich begegnen zu können, ein Konzept von „Homeland Security“ (Heimatschutz), das beide Bereiche miteinander verknüpft – dies läuft auf die Errichtung einer „globalen Sicher­heitsarchitektur“ hinaus, bei der Militär, Polizei, Politik, Forschung und Zivilgesellschaft zusammenwirken sollen. Mit der Eindämmung bzw. Bekämpfung von Aufständen, Terrorismus und organisierter Kriminalität übernimmt das Militär immer mehr die Rolle einer „Weltpolizei“. Nicht umsonst soll z.B. die Bundesmarine mittlerweile gegen Piraten im Golf von Aden vorgehen. Die Diskussionen um den Einsatz der Bundeswehr ihm Inland bilden die Kehrseite dieser Entwicklung.

…polizeiliche Außenpolitik

In eine ähnliche Richtung denkt auch die sogenannte Future Group. Diese informelle Gruppe wurde 2007 auf Initiative Wolfgang Schäubles und des ehemaligen EU-Kommissars für Justiz und Innere Sicherheit Franco Frattini ins Leben gerufen. Neben diesen gehören ihr u.a. auch die Innenminister von Spanien, Portugal, Frankreich, Slowenien, Schweden, Ungarn, Belgien und der Tschechischen Republik an. Im Juni 2008 legte diese Gruppe den europäischen Regierungen ein Strategiepapier mit Empfehlungen für die Gestaltung der Sicherheits- und Rechtspolitik von 2010 bis 2014 vor. Das Dokument (2) trägt den schönen Titel „Freedom, Security, Privacy – European Home Affairs In An Open World“ („Freiheit, Sicherheit, Privatsphäre – Europäische Innenpolitik in einer offenen Welt“).

Darin fordern die Innenminister u.a. eine stärkere grenzüberschreitende Zusammenarbeit der europäischen Polizeibehörden und Geheimdienste. Vor allem der Datenaustausch soll erleichtert werden, um terroristische Bedrohungen besser abwehren zu können. Bestehende Datenbanken wie das Europol-Netzwerk EIS, das Schengen-Fahndungssystem SIS II und die Visum-Datenbank VIS sollen dafür miteinander verknüpft werden. Bis zur Realisierung dieses Traumes von der Super-Datenbank ist aber noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen. Nicht nur bestehende Inkompati­bilitäten bei der verwendeten Hard- und Software müssen überwunden und gemeinsame Standards bei der Datenerhebung eingeführt werden. Auch Datenschutz-Regelungen stehen den behördlichen Begehrlichkeiten noch im Wege.

Im zweiten Schritt soll es darum gehen, die so angehäuften riesigen Datenmengen (das Dokument spricht gar von einem „Daten-Tsunami“) sinnvoll zu ordnen und per Computer automatisch bestimmten Rastern entsprechend zu durchforsten. Der Wunschtraum der Sicherheitsarchitekten wäre es, diese potentiellen Gefährdungen schon im Vorfeld ausfindig machen und bekämpfen zu können. Eventuell auftauchendem Unbehagen auf Seiten der so überwachten Bürger soll propagandistisch begegnet werden: Es sei erforderlich, „den Bürgern der Europäischen Union zu erklären, wie Informationen verarbeitet und geschützt werden, auf der Basis von Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit“.

Ähnlich wie in dem NATO-Papier wird die „illegale Einwanderung“ als drängendes Problem ausgemacht. Um diese zu bekämpfen, sollen die Befugnisse der mit der Abwehr von Migrant_innen an der EU-Außengrenze befassten Frontex-Agentur erweitert werden. Dabei müssten z.B. die Kompetenzen der an den jeweiligen Einsätzen mit Schiffen und Flugzeugen beteiligten Staaten und die Verantwort­lichkeiten für Flüchtlinge, Asylsuchende und Schiffbrüchige geklärt werden. Gleichzeitig soll Frontex künftig mehr Autonomie, etwa bei der Ausbildung von Grenzschutztruppen und der Abschiebung von Migrant_innen, gegeben werden. Zudem sollen die Grenztruppen künftig auch außerhalb des EU-Territoriums, z.B. vor der afrikanischen Küste, operieren.

Denn auch die Innenminister sehen eine „wachsende wechselseitige Abhängigkeit von Innerer und Äußerer Sicherheit“. Nur logisch, dass sie sich Aufgabenbereichen zuwenden, für die sie bislang nicht zuständig waren. So fordern sie eine stärkere Einflussnahme der EU auf sogenannte „Dritt­staa­­ten“. Als „Kandidatenländer“, an denen ein besonders vitales Interesse von europäischer Seite bestünde, werden u.a. der Irak und dessen Nachbarstaaten, Afghanistan, China und Indien genannt. Innen-, Außen-, Verteidigungs- und Entwick­lungs­hilfe­minis­terien müssten zusammen­ar­beiten, um auch im Ausland etwaigen Bedrohungen begegnen zu können.

Dabei übernimmt nicht nur das Militär zunehmend polizeiliche Aufgaben – im Zuge der wachsenden „Internationalisierung von Konfliktlösungen“ findet auch eine Militarisierung der Polizei statt. So heißt es in dem Papier: „Die zunehmende Vielfalt an Bedrohungen lässt es für die EU und andere notwendig werden, mit sich überschneidenden Polizei- und Militärproblemen in Krisenregionen zurecht zu kommen.“ Entsprechend werden deutsche Polizeibeamte bald nicht mehr nur als Ausbilder in Krisengebieten tätig werden. Auch paramilitärische Einheiten der Bundespolizei sollen künftig als „Schnelle Eingreiftruppe“ bei Auslandseinsätzen dabei sein – im Rahmen der europäischen Gendarmerietruppe EGF. Eine erste Hundertschaft wird bereits im bayrischen Ort Sankt Augustin ausgebildet, weitere Einheiten sollen bis 2010 folgen.

Gegenmaßnahmen

Auch die Polizei wird also den Anforderungen der zunehmenden Militarisierung der europäischen Außenpolitik angepasst. Beim Gerangel um geopolitische Einflusszonen, Rohstoffressourcen und Absatzmärkte will die EU nicht abseits stehen. Mit dem Aufbau europäischer „battle groups“ stehen mittlerweile auch die Mittel bereit, um den eigenen Interessen im weltweiten Konkurrenzkampf wirksam, und notfalls auch gewaltsam Geltung zu verschaffen.

Im Gegenzug wird auch die Innere Sicherheit verstärkt an einem militärischen Konzept des „Zivilschutzes“ ausgerichtet. Konkrete Bedrohungen treten dabei innen- wie außenpolitisch hinter allgemeine „Risi­ko­analysen“ zurück: Um ins Visier der Polizeibehörden zu geraten, reicht mehr und mehr der bloße Verdacht aus, man plane eine Straftat. Und auch das Militär will künftig nicht mehr warten, bis ein potentieller Konflikt tatsächlich eskaliert. Die Bedrohung durch den „internationalen Terrorismus“ liefert hier wie dort die Rechtfertigung dafür. Damit diese Neuausrichtung der europäischen Innen- und Außenpolitik nicht unbemerkt und unwidersprochen über die Bühne geht, formiert sich zur Zeit ein breites Bündnis antimilitaristischer und antikapita­listischer Gruppen (3).

Auch die Gegenseite bereitet sich auf den NATO-Gipfel vor. Ein Streitpunkt ist zum Beispiel die Lage und Größe möglicher Protestcamps. Der baden-württem­bergische Innenminister Heribert Rech erklärte, man werde nur geordnete Camps in überschaubarer Größe zulassen. Während das Anti-Gipfel-Aktionsbündnis bei Strasbourg und Kehl zwei Camps für bis zu 18 500 Menschen einrichten will, möchte der Innenminister nicht mehr als 1.500 Personen dulden – sonst könnte die Polizei überfordert sein.

Zudem sollen schon im Vorfeld des Gipfels großflächige Kontrollen durchgeführt werden, um z.B. zu verhindern, das Waffen auf das Campgelände geschmuggelt werden. Mutmaßliche Gewalttäter will man mit strengen Meldeauflagen und Aufenthaltsverboten fernhalten. Um die jeweiligen Veranstaltungsorte in Strasbourg, Kehl und Baden-Baden werden Sicher­heits­zonen eingerichtet. Es wird davon ausgegangen, dass das Stadtzentrum von Strasbourg während des Gipfels komplett gesperrt und selbst für Anwohner nur mit Passierschein zugänglich sein wird.

Einen Zaun wie in Heiligendamm wird es wohl weder in Strasbourg noch auf deutscher Seite geben. Einem kürzlich veröffentlichten Sicherheitskonzept für Baden-Baden zufolge soll es dort um die absolute Sperrzone herum eine weitere Sicherheitszone mit starker Polizeipräsenz geben, um das „Einsickern“ von „Störern“ zu verhindern. Die Bundeswehr soll sich derweil um die „Sicherheit im Luftraum“ kümmern – ob darunter (wie in Heiligendamm) auch Aufklärungsflüge über die Protestcamps verstanden werden, ist derzeit noch unklar. Ebenfalls ist angedacht, die Grenzübergänge zwischen Deutschland und Frankreich an diesem Wochenende zu sperren. Hoffen wir mal, dass dieses Konzept nicht aufgeht und sich im April genügend viele Gegen­de­mons­trant_innen in Strasbourg, Kehl und Baden-Baden einfinden, um den großen wie den kleinen Sicherheitsstrategen die Suppe gebührend zu versalzen.

(justus)

(1) als PDF ist das Dokument im Internet unter euro-police.noblogs.org/gallery/3874/grand_strategy.pdf zu finden

(2) siehe euro-police.noblogs.org/gallery/3874/eu-futures-jha-report.pdf

(3) Mehr dazu unter gipfelsoli.org und euro-police.noblogs.org