Schlagwort-Archive: clara fall

Der Clara-Zetkin-Park

Ein kleines Stück Leipziger Kolonialgeschichte.

Wenn Leipziger den Namen Clara Zetkin hören, verbinden sie damit meistens zwei Dinge: ein kleines Stück historische Revolution und einen wunderschönen Park. Was die meisten nicht wissen ist, dass die imposanten Bäume nicht nur im Herbst schön aussehen und Schatten spenden, sondern wachsende Produkte einer dunkel-deutschen Kolonial-Geschichte sind. Tatsächlich wurde „unser Clara-Park“ für eine Garten-Ausstellung entworfen, dessen zentraler Teil eine großzügig angelegte Menschenschau war. Informationen darüber zu bekommen, ist noch immer nur über alternative Quellen (1) möglich. Beispielhaft dafür liest sich der Text zur Geschichte des Clara Zetkin-Park auf der Homepage der Stadt Leipzig:

Wer sich mit den genannten Parkanlagen etwas näher beschäftigt, begibt sich auf einen interessanten Streifzug durch die Leipziger Geschichte der Gartenkunst von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.“ (2)

Die Frage, weshalb die Leipziger Geschichte der Gartenkunst für die Besucher_innen/Bürger_innen von Interesse sein sollte, aber nicht die Kolonialgeschichte, bleibt so unbeantwortet wie die Frage, weshalb der Bundestag das Thema deutsche Kolonien in seinen Diskursen gekonnt ignoriert. Grund genug weiter zu forschen und Informationen zu teilen.

Als Clara Zetkin (1857-1933) in Leipzig eine Ausbildung zur Volks­schullehrerin machte, knüpfte sie Kontakte mit der revolutionären, antimilitaristischen Arbeiter_innen- und Frauenbewegung. Sie gehörte bis 1917 der marxistischen Fraktion der SPD an, die sich später in den Spartakus-Bund (USPD) abspaltete. Wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht übte Zetkin massive Kritik an der Deutschen Kolonialpolitik. Mit dieser Position machte sich die Frauenrechtlerin in der Mehr­heitsbevölkerung nicht beliebt. Das wurde spätestens durch die so genannten „Hottentottenwahlen“ 1907 deutlich. Dort verlor die SPD ein Drittel ihrer Reichstag-Sitze, weil sie sich nach dem Genozid an den Herero und Nama in „Deutsch-Südwest“ (heutiges Namibia) gegen die Gewährung weiterer Gelder für die Kolonialtruppen entschieden hatte.

10 Jahre zuvor eröffnete die Deutsch-Ostafrikanische Ausstellung im heutigen Clara-Zetkin-Park unter der Leitung von Leutnant Blümcke, der zuvor unter Gouverneur Hermann von Wissmann in der „Schutztruppe“ in Deutsch-Ostafrika diente. Sie war Teil der Sächsisch-Thüringischen Gewerbe-Ausstellung und eine von vielen Ausstellungen, die zu Beginn des Deutschen Kolonialismus auch das Fußvolk für die „Koloniale Idee“ begeistern sollte. Und das Fußvolk kam in Scharen. Denn die als Sensationen angepriesenen Kolonialausstellungen erfreuten sich zu einer Zeit, zu der es noch kein Fernsehen oder Billigflüge gab, großer Popularität.

Ziel der Ausstellung, zu der insgesamt rund 635.000 Gäste pilgerten, sollte es sein „…neben die hoch entwickelte moderne europäische Kultur die eigenartig gestaltete afrikanische, welche die ersten Stufen unseres Kulturlebens etwa erst zu erreichen bestrebt ist, zum Vergleich zu setzen.“ (3).

Auch Fabrikanten und Unternehmer sollten durch die Ausstellung angeregt und auf die neuen deutsch-kolonialen Absatzmärkte aufmerksam gemacht werden. Gesponsert wurde der massentauglich verbreitete Sozialdarwinismus von Leipziger Unternehmern, dem Stadtrat und dem Staat. Um sich mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie zu brüsten wurden keine Kosten und Mühen gescheut. So sollte das „Schutzgebiet“ möglichst originalgetreu nachgebaut werden. Dazu zählten zwei Kolonialstationen (Usungula und Mquapua), ein militärisches Expeditionslager, eine evangelische Missionsstation und die Haupthandels-Straße Barra-Rasta in Dar es Salaam, die in der Ausstellung als Souvenir- und Cafémeile diente.

In den Gebäuden selbst fanden die Besucher_innen unzählige ethnographische Gegenstände, landestypische Produkte und Bilder. Darunter auch

einige sehr interessante Stücke aus der Sammlung des Herrn Gouverneur v. Wissmann, von ihm (…) in den Gefechten gegen die Wawamba erbeutet.“ (4).

Um den Besuchern ein „wahrhaftiges“ Antlitz der „schützenswerten“ Zone zu verleihen, wurden auch Menschen aus Fleisch und Blut ausgestellt. Für dieses „authentische“ Erlebnis reiste der Beamte Karl Kaufmann am 27. Dezember 1896 mit Erlaubnis der Kolonial-Abteilung des Auswärtigen Amtes und des Gouverneurs DOAs nach Dar es Salaam. Sein Auftrag: Anwerbung von „Eingeborenen“. Vier Monate später erreichte Kaufmann mit 47 Bewohner_innen DOAs Leipzig. Bei der Auswahl der „Eingeborenen“ achtete Kaufmann darauf, dass sie vorher mög­lichst wenig Kontakt mit Europäern hatten. Schließlich ging es laut seinem Auftrag darum

„…Vertreter der innerafrikanischen Stämme zu gewinnen, da die Suaheli als etwas Bekanntes – wie viele Suaheli-Karawanen gab es in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zu sehen! – niemals die Anziehungskraft ausüben konnten, wie Repräsentanten anderer Stämme.“ (5).

Das gesteigerte Interesse wurde durch Kannibalen-Gerüchte angeheizt. Die Ausstellungs-Zeitung verkündete am 12.April 1897:

…dass bei besonderen Festlichkeiten dort Menschen verspeist wurden, und dass auch drei Matrosen von Sr. Majestät Schiff ‚Leipzig‘, die sich im Jahre 1888 zur Zeit des Buschiri-Aufstandes vom Schiffe entfernten, von ihnen verspeist sein sollen. Herrn Kaufmann gaben die Leute auf sein Befragen die Erklärung ab, dass sie früher Menschen gegessen hätten, der drei Matrosen könnten sie sich aber nicht entsinnen…“.

Auf diese und ähnliche Weise konstruierte mensch die „Anderen“ entlang einer Differenz, die sich bis heute durch Dualismen auszeichnet: „Primitive“ vs. hochentwickelte Kulturen. „Naturkinder“, „Ungläubige“, „schwarze Teufelsanbeter“, die vor noch mehr Unheil geschützt werden müssen – durch eine als hochentwickelt geglaubte westliche Zivilisation. Ein „Schutz“, der heute auch gerne von so genannten Nicht-Regierungsorganisationen als Entwick­lungszusammenarbeit verkauft wird. Aber das nur am Rande.

Die in ihren nachgestellten Behausungen eingesperrten „Primitiven“ durften ihre „gut beheizten Räume“ nur einmal für einen Rundgang mit ihrem Fänger verlassen, wo dieser sie in Tänze, Kämpfe und traditionelles Handwerk einführte.

Trotz der „guten Beheizung“ und der medizinischen Betreuung starb ein junger Angehöriger der Wassukuma kurz nach der Eröffnung der Ausstellung an einer Lungenentzündung. Er wurde auf dem Leip­ziger Südfriedhof bestattet. Er war nicht das einzige Todesopfer. Viele der „Ausgestellten“ starben. Dokumente von ihnen gibt es nur sehr wenige. Eines davon stammt von Abraham. Er wurde in der „Eskimo-Völkerschau“ ausgestellt und starb wie alle anderen Ausgestellten dieser Schau an Pocken. In seinem Tagebuch vermerkte er:

…Donnerstag, 7 November. Hatten wir wieder betrübtes gehabt. Unser Gefährte, der led. Tobias wurde von unserem Herrn Jakobsen mit der Hundepeitsche gehauen…“ (6).

Herr Jakobsen und sein Bruder waren auch von Interesse für das Leipziger Völker­kundemuseum. Das kaufte nämlich 1885 deren ethnographische Sammlung aus Nordwestamerika. Wie die ausgestellten Gegenstände erworben wurden, wird dem Besucher_innen damals wie heute nicht verraten. Zum Völkerkundemuseum gäbe es noch viel zu sagen, doch dazu ein anderes Mal. Nur so viel: An der Fassade der Stadtbibliothek am Wilhelm-Leuschner-Platz, das damals als Völkerkundemuseum erbaut und genutzt wurde, prangt noch heute die Amazone aus der Armee der Dahomey (heutiges Benin), das zu jener Zeit gerade von Frankreich besiegt worden war.

Koloniale Spuren in Leipzig gibt es viele. Sie führen unter anderem zu akademischen Elite-Institutionen wie dem Institut für Ethnologie, dem Institut für Geographie, sie führen aber auch zu öffentlichen Orten wie dem Grassi-Museum, dem Ring-Messehaus, zum Krystallpalast-Varité, zur Nikolaikirche, zum Völkerschlacht-Denkmal, aber vor allem zum Leipziger Zoo, dem Ort, der früher Menschenschauen bewarb wie heute neue Tiergeburten. Im Leipziger Zoo werden die kolonialen Spuren zwar geleugnet, aber weiterhin „authentisch“ reproduziert:

Abendveranstaltung ‚Hakuna Matata‘ in der Kiwara-Lodge. Erleben Sie eine spannende Tour mit den Zoolotsen durch den abendlichen Zoo, ein spannendes Programm mit afrikanischen Tänzern und Trommlern und ein Buffet im exotischen Ambiente der Kiwara-Savanne. Tickets und weitere Infos im Safari-Büro.“

Clara Fall

(1) www.engagiertewissenschaft.de
(2) www.leipzig.de/de/buerger/freizeit/leipzig/parks/clara/allg/
(3) Ausstellungs-Zeitung vom 29.4.1897
(4) D.K. Blümcke 1897, S.23
(5) Ausstellungs-Zeitung vom 29.5.1897
(6) Tagebuch von Abraham, übersetzt von Bruder Kretschmer 7.11.1880 nach Thode-Arora 1989, S. 125
Wer sich stärker für das Thema interessiert, dem sei die Homepage www.leipzig-postkolonial.de empfohlen, auf der in Kürze Texte zu postkolonialen Orten in Leipzig erscheinen. Die Seite wird von der Arbeitsgruppe Postkolonial/Engagierte Wissenschaft e.V. betrieben, die regelmäßig auch „postkoloniale“ Stadtrundgänge in Leipzig anbieten.

Kasten:

Deutschland begann mit der Kolonisierung verstärkt „erst“ Ende des 19. Jahrhunderts. Die größte Kolonie war Deutsch-Südwestafrika, auf dem Gebiet des heutigen Namibia, das von 1884 bis 1915 kolonisiert wurde. Ab 1904 kämpften deutsche Truppen gegen die Herero, die erbitterten Widerstand leisteten. Später schlossen sich auch die Nama, die im Süden des Landes lebten und von den Deutschen „Hottentotten“ genannt wurden, dem Kampf gegen die deutsche Kolonialmacht an. Die meisten Historiker_innen bezeichnen den Krieg gegen die Herero und Nama als Genozid, da die Ziele nicht nur Sieg und Unterwerfung mit einschlossen, sondern vor allem Vertreibung und Vernichtung.

Schätzungen gehen davon aus, dass damals 50 bis 70 Prozent der bis zu 100.000 Herero und die Hälfte der damals rund 20.000 zählenden Nama, ums Leben kamen. Tausende von ihnen starben in Konzentrationslagern. Zu den verfolgten Völkern gehörten auch die Damara und San. Der Krieg wurde offiziell am 31. März 1907 für beendet erklärt. Erst 1908 wurden die letzten Konzentrationslager aufgelöst. Am 22.3.2012, einen Tag nach dem 22. namibischen Unabhängigkeitstag und dem internationalen UN-Tag gegen Rassismus, lehnte der Bundestag einen Antrag der Linksfraktion vom 29.2.2012 ab, in dem diese forderte, das Parlament möge den Krieg gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika als Völkermord anerkennen.

Lokales

Von Sündenböcken in Jägerkasernen

Die Geschichte eines Gerüchtes

Als die EU am 19. Dezember 2009 den Visumzwang für Mazedonien, Serbien und Montenegro aufhob, war dort die Freude groß: Bis zu 90 Tage sollten sich Angehörige dieser Staaten nun legal innerhalb der EU-Schengengrenzen aufhalten dürfen. Was dann geschah, war vorherzusehen. Tausende von Menschen wechselten aus rechtlicher Perspektive von einem legalen Status in den anderen und beantragten vor Ablauf ihres Touristenvisums Asyl. Denn zu Hause war ein hartnäckiges Gerücht im Umlauf: Wer im Besitz eines biometrischen Passes sei, hieß es, könne nach Westeuropa auswandern. In Belgien oder in den skandinavischen Staaten erhalte man sogar Asyl. Für Angehörige von Minderheiten wie mazedonischen Roma oder Albanern, die unter struktureller Arbeits- und Perspektivlosigkeit leiden, ein verlockendes Angebot.

545 Menschen sollen es laut dem Medienservice allein in Sachsen gewesen sein, die in den ersten neun Monaten nach Abschaffung des Visumzwangs Anträge auf Asyl gestellt haben, im Vergleich zu insgesamt 45 im Jahr 2009. Der Spiegel schrieb von einer „Asylbewerberwelle“, Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) von einem „offenkundigen Missbrauch“ des Asylrechts. Sachsens damaliger Innen- und amtierender Staatsminister Markus Ulbig (CDU) wetterte: „Wer missbräuchlich Asyl beantragt, schadet denen, die unseren Schutz brauchen. Hier muss der Staat reagieren.“ Der Staat reagierte wie ein autoritärer Vater, der nicht weiß wie er seine undisziplinierten Kinder, bestrafen soll, indem er bereits im vergangenen Oktober die finanziellen Rückkehrhilfen strich – 400 Euro pro erwachsenen Asylsuchenden aus Serbien und Mazedonien, der „freiwillig“ das Land verlässt. Schließ­lich sei nicht auszuschließen, verlautete in sächsischen Regierungskreisen, dass die Asyl­be­werberInnen nur gekommen wären, um das Geld abzugreifen.

Das Argument hatte schon jemand anderes salonfähig gemacht: Sarkozy, während der massiven Abschiebungen von Roma aus Frankreich. Für den Staat ist die freiwillige Rückkehr billiger als Abschiebungen. Und sie werfen in den Statistiken für die EU und die Internationale Organisation für Migration (IOM) ein wärmeres Licht auf die im internationalen Kontext als repressiv bekannte Ausländerpolitik in Deutschland.

In einer Pressemitteilung vom September 2009, beklagte die Landesdirektion Sachsen eine „punktuelle Belastung“ speziell durch Asylbewerbern aus Mazedonien, deren Unterbringung sich immer schwerer gestalte. Man arbeite an Lösungen, hieß es weiter. Trotz des überproportionalen Gebäude-Leerstandes in Sachsen, sind es oft ehemals militärische Gebäude, die dann zur Unterbringung der Flüchtlinge umfunktioniert werden. Wie in Schneeberg im Erzgebirge, wo die mazedonischen Flüchtlinge im Zuge der „Migrationswelle“ in einer Jägerkaserne untergebracht wurden. Noch vor ihrer Einquartierung heizte Bürgermeister Frieder Stimpel (CDU) die Stimmung in der Regionalpresse an. Ein Anstieg von Diebstählen im Ort sei nicht auszuschließen. Zudem sei eine Erstaufnahmeeinrichtung in Schneeberg „nicht gerade förderlich, wenn ich dort Gewerbe ansiedeln will“. Die Gefahr in Verzug durch die eingereisten „Nichtdeutschen“, wie „Ausländer“ im Kriminalistik-Slang genannt werden, sieht auch der neue Eigentümer der Jägerkaserne Gustav Struck, Bruder des ehemaligen deutschen Ver­tei­di­gungs­ministers Peter Struck (SPD). Auch er könne nicht ausschließen, dass die Vermarktung des Geländes durch die Unterbringung von Asylbewerbern erschwert werde.

Die Landesdirektion Chemnitz bemühte sich, die mazedonischen Familien zur „Zurücknahme der Asylanträge und zur freiwilligen Ausreise“ zu bewegen. Im November fuhren schließlich zwei mit Flüchtlingen gefüllte Reisebusse von Sachsen nach Mazedonien.

Auch in Leipzig ist die Überredung zur freiwilligen Ausreise bereits übliche Praxis geworden. Im Flücht­lings­heim in Grünau, werden speziell mazedonische Roma-Familien, die das Einver­ständ­­nis ihrer freiwilligen Ausreise unterschreiben sollen, von Behörden-Ver­tre­ter­Innen aufgesucht. Für Lunchpakete werde gesorgt.

Auch auf europäischer Ebene wurden Maßnahmen getroffen. Brüssel ermahnte die mazedonischen Behörden. Das zeigte bereits Wirkung, denn diese schlossen im März mehrere Reiseagenturen, die Ausreisewillige nach Westeuropa transportiert haben sollen. Eines der betroffenen Busunternehmen in der Hauptstadt Skopje gehörte der Familie eines Abgeordneten, der die Roma im mazedonischen Parlament vertritt. Währenddessen wird in Skopje ein architektonisches Prestige-Projekt geplant: bis 2014 sollen Denkmäler und repräsentative Bauten im Zentrum von Skopje für 80 Millionen Euro saniert werden. Gelder für ökonomisch rückständige Gebiete wie die, in denen Roma leben, werden indes nicht locker gemacht. Derlei Unsinnigkeit und vermeintliche Widersprüchlichkeit erlebt man aber auch in Leipzig. Denn die MigrantInnen sind nicht willkommen, obgleich es doch laut dem Amt für Statistik und Wahlen der Stadt, „überdurchschnittlich Migran­ten­familien unterschiedlichster Herkunft [sind], die durch Kinderreichtum dafür sorgen, dass die Geburtenraten in Leipzig in den letzten Jahren beständig über bundesdeutschem Durchschnitt lagen.“

Fortsetzung zu den Leipziger Verhältnissen folgt.

Clara Fall

Lokales

Das Leben der Anderen

Eine Kontroverse um die dezentralisierte Unterbringung von Flüchtlingen in Leipzig

Grünau, 11. Juni 2012. Mehrere hundert aufgebrachte Bürger_innen stehen vor der Tür des Kulturhauses Völker­freund­­schaft. Die meisten von ihnen sind im Rentenalter. Sie warten ungeduldig darauf, Einlass zur Stadtbezirksbeiratsitzung zu bekommen, um ihrem Ärger gegen das zweite geplante große Flüchtlingsheim in ihrem Stadtteil Luft zu machen. Auf ihren Mobilisierungsplakaten steht: „Grünau = Berlin-Kreuzberg. Wir Grünauer sagen NEIN!“ Sie haben genug von der Völkerfreundschaft. Die müsse sich schließlich nicht immer in ihrem Viertel abspielen. Ein Flüchtlingsheim sei genug, es gebe schon genug soziale Probleme, Alkoholmissbrauch und Kriminalität. Das und vieles mehr wollen sie dem Leipziger Sozialbürgermeister Thomas Fabian (SPD) heute während der Stadtbeiratssitzung sagen. Fabian ist heute gekommen, um den Grünauer_innen zu vermitteln, dass die Weißdornstraße 102 derzeit das einzige Objekt in der Stadt ist, das die nötige Kapazität für 180 Flüchtlinge aufbringt. Er möchte ihnen erklären, dass die Zahl der Flüchtlinge im letzten Jahr wieder angestiegen ist (1), dass Leipzig im nächsten Jahr eventuell mit über 400 Flüchtlingen mehr rechnen muss, und dass es sich dabei um eine Weisung des Freistaates Sachsen handelt.

Stimmen aus Grünau

Die aufgebrachten Gäste vor der Völkerfreundschaft warten immer noch darauf in den Saal gelassen zu werden. Einige beginnen unruhig an der Tür zu rütteln. In der Hoffnung, endlich gehört zu werden, rufen sie: „Wir sind das Volk!“ Später werden sie sagen, sie fühlen sich übergangen, weil sie niemand in den Entscheidungsprozess mit einbezogen hat. Unter Dezentralisierung verstünden sie nicht, dass die Mehrzahl der Leipziger Flüchtlinge in Grünau lebt, sondern bitte schön verteilt über die ganze Stadt. Ein Redner wird während der hitzigen Bürgerdiskussion zum bereits bestehenden Flüchtlingsheim in der Liliensteinstraße kommentieren: „Ich bemüh mich schon seit zwölf, dreizehn Jahren, dass in diesem Heim Ordnung einkehrt (Gelächter aus dem Publikum). […] Da wird an kirchlichen Feiertagen orientalische Musik abgeleiert. Ruft man de Polizei an: Ich bin nicht zuständig. Ruf ich das Ordnungsamt an: Ich bin nicht zuständig. Das Sozialamt […] und es tut sich gar nichts (tosender Beifall und Johlen aus dem Publikum). Aber so geht das nicht, dass hinterher der Bürger dann alleine gelassen wird. Und ich bin froh, dass diese Diskussion nun entsteht. Bis jetzt war ich ein Einzelkämpfer. Ich wurde seit 1998 als rechts in die Ecke gestellt“. (Aus dem Publikum johlt ein Mann: „Du bist nicht allein!“, daraufhin tobender Applaus und Johlen) (1). Als ein anderer Redner vorsichtig äußert: „die Menschen kommen auch her, weil sie Angst haben“, ertönt aus dem Publikum höhnisches Gelächter.

Stimmen aus der Torgauer Straße

Eine der Bewohner_innen des Flüchtlingsheimes in der Torgauer Straße ist Rashida (2). Alleine ist sie aus Pakistan geflohen, weil sie der Ahmadi-Minderheit angehört, deren Angehörige von der pakistanischen Mehrheitsbevölkerung nicht als Mus­li­me anerkannt werden. „Wenn ich einkaufen war, haben die Leute in meinem Dorf mir den Schleier vom Kopf gerissen, weil sie unseren Propheten nicht akzeptieren“, erzählt sie und zieht den locker um ihren Kopf geworfenen Schal straff über das Kinn. Tatsächlich ist die Ahmadiyya in Pakistan seit 1994 verboten. Angehörigen dieser Glaubensrichtung ist die Begrü­ßungs­formel „Salám“ untersagt, sie wird mit Geldbußen und Haftstrafen geahndet. Wie sich die Verfolgung auf Ahmadis in Pakistan auswirken kann, zeigte der Anschlag auf zwei Ahmadiyya-Moscheen in Lahore am 28. Mai 2010, zu der sich pakistanische Taliban-Milizen bekannten, bei dem während eines Freitagsgebetes 86 Ahmadis getötet wurden.

Eigentlich wollte Rashida mit ihrem Ehemann kommen, doch die pakistanische Regierung stellte ihm bislang keine Ausreisepapiere aus. Rashida sagt, sie fühle sich alleine, verbringe die meiste Zeit auf ihrem Zimmer. Nach sieben Uhr verlasse sie das Haus nicht mehr. Die junge Frau kam nach Deutschland, weil sie Angst hatte, aber auch hier lebt sie in Angst. Dabei hat sie von den Bürgerprotesten in Grünau, Wahren und Portitz noch gar nichts mitbekommen. Ihr reiche schon, was sie im Heim erlebe. Da ist ein Heimbewohner, der regelmäßig an ihre Türe klopft und etwas zu ihr sagt. Sie spreche seine Sprache nicht. Sie sagt zu ihm, er solle verschwinden, aber er klopft immer wieder. Rashida ist eine von einer Handvoll Frauen unter 200 Männern in der Torgauer Straße. Die anderen Frauen sprechen ihre Sprache nicht. Jetzt hat sie einen Antrag gestellt, um nach Grünau in die Liliensteinstraße umziehen zu dürfen. Dort hat sie Freundinnen, die wie sie Muslima sind und aus Pakistan kommen.

Eine junge Mutter aus Grünau, die einen Bericht über die dezentralisierte Unterbringung von Asylbewerber_innen auf leipzig-fernsehen.de kommentiert, glaubt zu wissen, weshalb die Flüchtlinge wirklich kommen: „Ich habe nix gegen Ausländer, aber wieso sollen wir sie hier aufnehmen, wo sie selbst ein eigenes Land haben. Sie nehmen den Deutschen hier Arbeitsplätze weg oder kassieren schön Hartz IV, leben da schon auf Staatskosten und dann noch die Unterbringung. Das kann es nicht sein […]“

Fremdenfeindliche Evergreens wie diese aus der Mitte unserer Gesellschaft können tatsächlich nicht sein und lassen sich schnell entkräften. Zum Beispiel das Arbeitsplatz-Vorurteil: Asylbewerber_innen werden schon per Gesetz diskriminiert, sie dürfen frühestens nach einem Jahr arbeiten und werden nur dann angestellt, wenn kein_e deutsche_r, EU-Bürger_in diese Stelle annehmen will. Das verdeutlicht auch die statistische Arbeitslosenrate, die unter Migrant­_innen mehr als doppelt so hoch ist wie unter der Mehrheitsbevöl­kerung (3). Um über das zugewiesene Taschengeld hinaus zu verdienen, nehmen viele dann Jobs an, in denen sie vor allem ausgebeutet werden. Arbeitgeber_innen nutzen die prekäre Situation der Flüchtlinge/Migrant­_innen oft schamlos aus und beschäftigen sie ohne Versicherungen und Sozialabgaben zu Niedriglöhnen. Es kommt nicht selten vor, dass der Lohn gar nicht ausgezahlt wird. Daher müssen grundsätzlich Gesetz- und Arbeit­ge­­ber­_innen verantwortlich gemacht werden.

Wie in Grünau dieser Tage deutlich wird, wäre es zu kurz gegriffen die Protestierenden einfach als Rassisten zu bezeichnen. Vielmehr verschränken sich hier oftmals diskriminierende Einstellungen: „Wenn 150 deutsche Obdachlose in die Unterkunft kämen, würden wir auch dagegen protestieren!“, rechtfertigt ein Grünauer Bürger seine Wut. Allein in diesem kurzen Satz durchkreuzen sich frem­den­feindliche, klassenorientierte und sozialdarwinistische Weltanschauungen. Ob Obdachlose, „Asoziale“ oder „Asylanten“, die Kategorien werden beliebig ethnisch oder sozial auf- und abgeladen.

Ajmal ist ein Bewohner aus der Torgauer Straße. Vor fünf Monaten flüchtete der Innenarchitekt vor dem Regime im Iran nach Deutschland. Über das Heim in der Torgauer Straße und die neuen Entwicklungen sagt er: „Keiner von uns wohnt gerne in diesem Gefängnis. Aber seit wir wissen, dass wir aus der Torgauer Straße gehen müssen, haben viele von uns auch Angst zu gehen. Wir wissen nicht, wo die neuen Häuser stehen. Einige haben gehört, dass es Proteste gegen uns gibt. Wir würden gern mit unseren Gegnern ins Gespräch kommen. Aber viele von uns haben keine Kontakte nach draußen. Wir wissen nicht, was passieren wird.“

Stimmen aus Plagwitz

13. Juni 2012. Plagwitz, Schule am Adler. Rund 200 junge, bunte Menschen füllen den Saal bei der Stadtbezirksbeiratssitzung, bei der das Objekt in der Mar­kran­städterstraße 16-18 im Stadtteil vorgestellt wird. Das Haus ist für rund 45 Menschen ausgelegt. Gleich, ob von Stadtbezirks­beirät_innen oder Anwoh­ner_innen, im Saal findet das Konzept trotz vieler konstruktiv kritischer Anmerkungen als „ein Schritt in die richtige Richtung“ eine so breite Zustimmung, dass dem Sozialbürgermeister und der Sozialamtsleiterin Martina Kador-Probst zum Schluss die Tränen in den Augen stehen.

Tatsächlich ist eine idealere sozio-(sub)kul­tu­relle Einbindung der dezentralisierten Unterbringung wie in der Markranstäder Straße kaum vorstellbar. Die unmittelbare junge und alternative Nachbarschaft – die Zollschuppen-Häuser, der Bauspielplatz Wilder Westen, die Meta Rosa und der Wagenplatz Karl Helga bekunden nicht nur Freude über die Entscheidung, sondern bieten den Flüchtlingen mit Volxküchen, Zirkusprojekten, Umsonstladen und politischen Veranstaltungen einen potentiell abwechslungsreichen Alltag.

Bei genauerem Hinsehen erscheint das Objekt in Plagwitz nicht nur einzigartig in seiner sozio-kulturellen Einbindung, sondern auch in seiner Symbolik. Dafür sorgt Siemens, ein Global Player in der Rüstungsindustrie, der in der unmittelbaren Nachbarschaft angesiedelt ist. Es ist kein Zufall, dass das Rüstungsgerät zufälligerweise in die Länder exportiert wird, aus denen das Gros der Flüchtlinge kommt. Damit wird der gewählte Standort in der Mar­kran­städter Straße unfreiwillig zum dreidimensionalen Schaubild der Konsequenzen neokolonialer Praxis – und unserer eigenen Verwicklung in die Fluchtgeschichten der Flüchtlinge.

Unsere Stimmen

Komplexe Themen wie Krieg und Mas­sen­­unter­bringung wurden bei der Sitzung in Plagwitz allerdings ausgespart. Es schien als wollte mensch an den gegebenen Umständen arbeiten und keine neuen Grund­satzdiskussionen vom Zaun brechen. Kritisiert wurde beispielsweise die 0,8 Sozial­ar­beiter_innen-Stelle, die für die Flüchtlinge in der Unterbringung vorgesehen ist.

Tatsächlich ist dieser Schlüssel schon seit Jahren Standard in Leipziger Flüchtlingsheimen, ohne dass das bislang auf öffentlichen Sitzungen kritisiert wurde. Stattdessen arbeiten wir – im heterogenen linken Spektum verortet – uns am liebsten, wie andere Wir-Gruppen auch, an den geglaubten Anderen ab. So lautet der Tenor auch in Plagwitz an diesem Tag: Der gutgemeinte Versuch der politischen Befür­wor­­­ter_innen, die Flüchtlinge in Leipzig zu integrieren, scheitert womöglich nicht an dem Verhalten der Flüchtlinge, sondern an der Unfähigkeit der Mehrheitsgesellschaft die Flüchtlinge zu integrieren. Eine Rednerin fragt deshalb: „Wäre es nicht langsam an der Zeit die Bürger und Bürgerinnen Leipzigs, die so gegen die Flüchtlinge hetzen, zu demokratisieren?“ Ist es womöglich an der Zeit Integrationskurse für die deutsche Mehr­heitsgesell­schaft anzubieten?

Schuldzuweisungen á la „Du behinderst die Integration“ helfen jetzt niemandem. Ge­nauso wenig, wie einfach nur Rassisten zu entlarven und sich und seinen eigenen Aktionismus dafür zu mögen. Wichtig ist jetzt mehr denn je auf­ein­ander zuzugehen. Sowohl von Seiten der Flüchtlinge, als auch von Seiten ihrer Geg­ner_innen wurde der Wunsch geäußert miteinander ins Gespräch zu kommen. Ein eben solches Gespräch zu koordinieren, könnte unsere Aufgabe sein. Wir können nicht das Sprachrohr von Flüchtlingen sein. Dazu fehlt uns sowohl ihre Erfahrung als auch ihre Bevollmächtigung. Wir können ihnen aber auf ihren Wunsch hin die Plattformen und Hilfestellungen geben, die es ihnen ermöglichen, selbst die Stimme zu erheben – nicht nur auf dem Papier. Es geht nicht nur darum, das böse System zu bekämpfen, sondern die Menschen und Lebensumstände, für die mensch sich engagiert, kennenzulernen und Freundschaften zu schließen, im Sinne einer face-to-face-Gesellschaft.

(Klara Fall)

Infokasten: Wie alles begann

Angefangen hatte alles mit Am­a­zon. Als das Versandhaus vor rund drei Jahren offiziell Interesse an dem Gelände der Torgauer Straße 290 bekundete, begann in der Stadtverwaltung die Diskussion um die alternative Unterbringung der dort lebenden Flüchtlinge. Der Stadt Leipzig kam der Wunsch von Amazon nach Expansion gelegen, denn sie suchte händeringend nach Investoren, um nicht nur die maroden Häuser, sondern auch die marode Ar­beitsmarktlage zu sanieren. Gleichzeitig musste nun für die Flüchtlinge ein neuer Ort her. Im Sinne der politischen Entscheidungsträger ein Ort „nicht unmittelbar in einem Wohngebiet, insbe­sondere entfernt von Schulen, Kindergärten, Spielplätzen“*. Als die Stadt ihren Vorschlag bekannt gab – ein Containerwohnheim für 300 Personen in der Wodanstraße, nahe der Autobahn im Norden der Stadt – machten sich lautstarke Proteste in der Zivilgesellschaft und in einigen Fraktionen des Stadtparlamentes breit. Im Dezember reichten DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen ein erstes Konzept ein, in dem sie eine weitestgehend dezentrale Unterbringung von Asyl­be­wer­ber_innen und Geduldeten forderten. Das Konzept, das im Juni 2010 angenommen wurde, sah eine Mitbestimmung von Initiativen und Vereinen vor, die die SPD und CDU damals ablehnte. Am 8. Mai 2012 stellte die Stadt ihr Konzept „Wohnen für Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Leipzig“ vor. Danach soll das Heim in der Torgauer Straße bis Ende 2013 durch sechs kleinere und ein größeres Objekt – letzteres in Grünau – ersetzt werden.

 

weitere Infos: www.menschen-wuerdig.org

 

* 2011 stieg der Zahl der in Leipzig angekommenen Asylsuchenden von 198 auf 278, eine Steigerung um 31 Prozent. Quelle: jule.linxxnet.de/index.php/2012/06/burgerinnen-gegen-asylsuchende/

 

(1) agdezentralisierungjetzt.blogsport.eu/2012/06/13/bericht-von-der-stadtbezirksbeiratssitzung-west-grunau-am-11-juni-2012/

(2) Alle Namen der Bewohner_innen des Heimes wurden von der Redaktion anonymisiert.

(3) Im März 2011 waren in Westdeutschland 14, 5 Prozent Ausländer gegenüber 5,2 Prozent Deutschen arbeitslos gemeldet. In Ostdeutschland 24,6 Prozent Ausländer gegenüber 11,9 Prozent Deutschen. Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2011: statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Statistische-Analysen/Analytikreports/Zentrale-Analytikreports/Monatliche-Analytikreports/Generische-Publikationen/Analyse-Arbeitsmarkt-Auslaender/Analyse-Arbeitsmarkt-Auslaender-201103.pdf

Die Campusmaut – Schrecken der Pisa-Generation

Wohin mit den Studiengebühren?

Aus die Maut?

Studienge­büh­ren – das Un­wort der studentischen Gegen­warts­ge­schich­te geht in eine neue Phase. Die tönernen Füße, auf denen das Modell der Campusmaut steht, bröckeln langsam und in Hamburg und Hessen sieht es ganz danach aus, als stünden die Gebühren vor dem Aus.

In Hamburg soll es ab dem Wintersemester 2008/09 keine Studiengebühren geben, das ließ die schwarz-grüne Regierung der Hansestadt während ihrer Koalitionsverhandlungen Anfang April verlauten, nachdem bereits an der Hochschule für Bildende Kunst in Hamburg (HfBK) rund die Hälfte der Studierenden offiziell exmatrikuliert wurde, nachdem sie sich weigerten, die Gebühren zu zahlen. Doch das Entgegenkommen der Hamburger Koalition ist mehr ein Kompromiss, als eine tatsächliche Abschaffung der Campusmaut, denn die Gebühren werden nicht während, sondern nach dem Studium bezahlt. Das heißt, die Absolventen müssen später ab einem Einkommen von 30 000 Euro pro Jahr für jedes studierte Semester, eine Gebühr, oder vielmehr eine Bildungssteuer von 375 Euro zahlen. Damit würden nicht nur die Gebühren sinken, sondern auch Bürokratie abgebaut werden, so die Koalitionspartner. Wie dieses Modell jedoch konkret aussehen soll, wurde noch nicht erläutert. Fragwürdig an dem Kompromiss ist zunächst einmal, weshalb ausschließlich Aka­demi­kerInnen von diesen Rückzahlungen betroffen sein sollen. Handwerksmeister mit demselben Einkommen müssen schließ­lich auch nicht Teile ihres Einkommens an die staatliche Ausbildungsunterstützung zurückzahlen.

Auch in Hessen bilden seit den letzten Landtagswahlen die Gebührengegner bei SPD, Grünen und Linkspartei die Mehrheit im Parlament. Erst unlängst fassten sie dort einen überraschenden Beschluss: sie wollen ihr Wahlversprechen einlösen und die Campusmaut abschaffen. Das verärgert vor allem den aus dem Amt scheidenden, aber noch geschäftsführenden hessischen Ministerpräsidenten Ro­land Koch, der in der Abschaffung der Campusmaut einen Schaden für Studierende und Universitäten prophezeit. Mit dieser Auffassung steht er in Hessen ziemlich alleine da. Dem hessischen Staatsgerichtshof liegen zwei Klagen gegen die Campusmaut vor. Die eine Klage hatten SPD und Grüne eingereicht, die zweite stammt von insgesamt 71.510 hessischen Bürger­Innen. Die KlägerInnen verweisen auf die hessische Verfassung, die eine Erhebung von Gebühren an staatlichen Hochschulen untersagt.

Die Situation in Sachsen

In Sachsen wird es ein gebührenfreies Erststudium zwar bis zur nächsten Landtagswahl im Jahr 2009 noch geben, für ein Zweitstudium fallen aber bereits, im Sinne des angloamerikanischen Bil­dungs­­modells, Zahlungen zwischen 300 Euro bis 450 Euro pro Semester an. Während auch für Prüfungen in diesem Rahmen Gebühren erhoben werden, ist das Nutzen der Bibliothek und des Rechenzentrums bislang noch kostenlos möglich. Die Frage ist nur wie lange noch, wobei die Antwort vor allen Dingen von einer Sache abhängt: der Partizipation und dem Engagement der Studierenden. Hier gilt es, seinen Unmut gegenüber einem fragwürdigen Regierungskurs zu äußern, der in erster Linie durch den sächsischen Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) vertreten wird und einzugreifen, bevor mensch davon betroffen ist.

Milbradt ist für Studiengebühren und brachte unter anderem rückzahlbare Darlehen ins Gespräch. Seiner Ansicht nach verschärfen Studiengebühren die soziale Selektion nicht, da, mensch lese jetzt sehr aufmerksam: Entscheidungen über spätere Bildungschancen bereits im Vorschulalter fallen würden und nicht erst an der Hochschule. Das ist harter Tobak, doch ist dieser Einwand tatsächlich berechtigt oder fallen heutzutage Entscheidungen, die die Bildungschancen betreffen zumindest teilweise nicht bereits bei der Geburt? Mit Sicherheit kann mensch jedenfalls davon ausgehen, dass Entscheidungen über Bildungschancen in Länderparlamenten fallen, die, wie im Fall von Sachsen von Teilen dieser Länderparlamente bewusst blockiert werden.

Während sich die CDU hartnäckig gegen soziale Gerechtigkeit an Hochschulen ausspricht, ist die sächsische SPD weiterhin auf Anti-Gebühren-Kurs. Momentan können sich die Sozialdemokraten damit noch behaupten, nicht zuletzt gibt es in Ostdeutschland gute Argumente, in Form von Wettbewerbsvorteilen, Abiturienten aus dem Westen auch in den nächsten Jahren mit offenen Armen aufzunehmen, anstatt sie abzuschrecken. Das größte Abschreckungspotenzial besteht dabei vor allem für die StudentInnen, die auf Studienkredite oder BaföG angewiesen sind. Robert Benjamin Biskop, Sprecher der Konferenz Sächsischer Studierenden­schaften (KSS), wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass schon jetzt 40% der Hochschüler BaföG-EmpfängerInnen seien. Stu­dien­gebühren stellten für sie eine erhebliche Zusatzbelastung dar.

Wie sehen es denn die Studierenden selbst? Die Forscher um das Hannoveraner Hochschulinformationssystem (HIS) haben die Nutzung von Studienkrediten untersucht und sind zu einem recht widersprüchlichen Ergebnis gekommen: Über die Hälfte der Studierenden ist demnach der Meinung, dass sie selbst dafür verantwortlich sind, sich an der Finanzierung des Studiums zu beteiligen und auch später dafür Geld zu bezahlen. Gleichzeitig finden fast zwei Drittel, dass Bildung eine öffentliche Aufgabe ist und Papa Staat sie vor finanziellen Einbußen zu bewahren habe. Hm naja, Bildung macht auch nicht immer schlauer.

Privilegierte Bildungshaie?

Acht von zehn Studierenden kommen aus der Schicht der Schönen und Reichen, zwei von zehn sind Arbeiterkinder. Eine aussterbende Spezies? Es ist zumindest zu erwarten, dass sich diese Zahl in den nächsten Jahren verringern wird. Denn, wer nicht genug Geld in der Tasche hat, kann sich tendenziell eine höhere Bildung schenken, oder aber sollte in Kürze das Grundeinkommen nicht eingeführt werden: malochen gehen, um zu studieren.

Eine unmittelbare Existenzsicherung würde über kurz oder lang die Studienverlaufsplanung der Studierenden ersetzen. Damit würde sich das Studium nicht verkürzen, sondern eher verlängern, denn die modularisierten Studiengänge setzen den Besuch bestimmter Veranstaltungen voraus. Wer keine Zeit hat, hat Pech gehabt und muss im nächsten oder übernächsten Semester wiederkommen. Das vor­her­seh­bare Ergebnis: Studienabbruch.

Aber es gibt auch eine positive Prognose: Die Zeit zum Arbeiten wird fehlen. Denn wer heute einen Bachelor-Abschluss anstrebt, kann ein Lied davon singen, wie viele Job-Möglichkeiten sich in dem durchgestylten Stundenplan überhaupt noch offenbaren. Der Leistungsdruck, der sich durch Anwesenheitslisten aufbaut und bis zu dem Ziel führt, zum besten Drittel der Fachschaft zu gehören, um einen aufbauenden Master-Studiengang überhaupt in Erwägung zu ziehen, ist für viele nicht mehr zu schultern.

Das zeigt beispielsweise eine aktuelle Studie der FU Berlin. Die Einführung des Bachelorstudiengangs, durch den Studienabbrüche und Langzeitstudierende eigentlich der Vergangenheit angehören sollten, kommt zu einem ernüchternden Ergebnis: „Studierende geben in einem größeren Umfang als bisher ihr Studium auf“, heißt es da. Zudem habe sich die Zahl der BewerberInnen für ein höheres Fachsemester verringert. Als Gründe werden Desinteresse und das Unvermögen genannt, entsprechende Leis­tungs­nachweise zu erbringen.

Vielleicht aber sind manche auch nur mit der Gesamtsituation überfordert. Das könnte sowohl auf das universitäre Personal, dass sich mit den neuen Reformen und dem erhöhten Verwaltungsaufwand auseinander setzen muss, als auch auf die Studierendenschaft zutreffen, die sich den Leistungsvorgaben nicht mehr gewachsen fühlt. Kein Wunder: die Studierenden sollen mehr leisten ohne mehr dafür zu bekommen, ein klares Verlustgeschäft für die Studis.

Von einer Verkürzung der Langzeitstudiendauer kann laut Untersuchung ebenfalls keine Rede sein: Nur von 30% der Studierenden wird demnach ein Abschluss innerhalb der vorgegeben Regelstudienzeit erwartet. In Baden-Würt­tem­berg, dem Vorreiter der Studiengebühren, könnte das die Bildungshungrigen teuer zu stehen kommen, denn pro Halbjahr werden hier bereits 510 Euro verlangt. Aber denken wir konstruktiv und schauen wir nicht nur voller Argwohn in die Zukunft: Der demographische Wandel ist unaufhaltsam. Wenn im Jahr 2050 jeder zweite über 50 und jeder dritte über 70 ist, könnten die Langzeitstudierenden zu den Auserwählten gehören, die dann die reifen Früchte einer herbstlichen Republik ernten können, indem sie keine überfüllten Seminare mehr erleben müssen, eine Eins-zu-Eins Betreuung bekommen, die Bibliotheken als Ruhe-Oasen besucht werden und die Absolventen nach dem Abschluss auf­grund ihres reichen Er­fahrungs­schatzes gleich übernommen werden. Wozu also Eliteunis schaffen? Der demografische Wandel schafft sie von selbst.

Die Mär vom besseren Studium

BefürworterInnen von Studiengebühren halten die Studis grundsätzlich für finanziell belastbarer, da sie einer privilegierten Elite angehören und tatsächlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass lediglich 37% eines Jahrgangs ein Studium beginnen. Doch der Begriff der Elite kann hier eigentlich nur relativ und nicht absolut gesehen werden, denn von großen Reichtümern sind die meisten Studierenden weit entfernt. Wie die neueste Erhebung des deutschen Studentenwerks zeigt, haben Studenten im Durchschnitt über 770 Euro monatlich zur Verfügung. Ein Drittel allerdings hat weniger als 640 Euro zum Leben.

Die soziale Lage der Studierenden ist den Maut-Verfechtern nicht unbekannt. Sie argumentieren dann in der Regel damit, dass AkademikerInnen im Anschluss an ihr Studium mit fühlbar höheren Gehältern rechnen können. Entsprechende Rendite-Tabellen einzelner Studiengänge sind bereits im Umlauf. Danach sollte mensch keinesfalls Sozialarbeit studieren, denn hier seien die Gehälter so niedrig, dass die Studienkosten ein Leben lang nicht wieder erwirtschaftet werden können. Ebenfalls wenig ertragreich seien Kunst, Agrar- und Geisteswissenschaften. Nur Jura, BWL und Medizin seien demnach, wer hätte es vermutet, lukrativ. Studis werden so angehalten, ihre unternehmerischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und ihre Bildung als rentable Investition zu betrachten, indem sie Studienkredite aufnehmen. Würde diese Logik konsequent weiter gedacht werden, würde sie zwangsläufig dazu führen, die Maut zu staffeln und so StudentInnen der Wirtschaft mehr zahlen zu lassen als KunststudentInnen – als eine Art vorgezogene Vermögenssteuer. Doch schließlich gibt es auch arbeitslose Betriebswirtschaftler und im Grunde genommen macht es vor allem dann Sinn AkademikerInnen an den Studienkosten zu beteiligen, sobald sie durch ihr Studium gegenwärtig materiell profitieren. Dafür gibt es bereits ein einfaches Regelwerk: die Einkommenssteuer, die für die Bevorteilten um 1-3 % heraufgesetzt werden könnte. In diesem Sinn kann der Schritt, den die Hamburger gegangen sind, zumindest als ein Schritt in die richtige Richtung gesehen werden.

Studiengebühren, so ein weiteres gängiges Argument, das von seinen Befür­wor­ter­­Innen eingesetzt wird, führen zu nachhal­tigen Qualitätsverbesserungen. Dass es sich bei diesen Verbesserungen leider um keine handelt, die die Studierenden selbst betreffen, wie etwa ein verstärktes Mitspracherecht der Studis, zeigt sich an der aktuellen Hochschulreform. Das Mit­sprache­recht der Studis wird auf ein Minimum zusammengeschrumpft und Professoren, Politiker und Vertreter aus der Wirt­schaft, die in Zukunft verstärkt in den obersten und entscheidenden Gremien der Hochschulen das Zepter schwingen werden, entscheiden, welche internen Haushaltslöcher mit den Gebühren gestopft werden. Denn durch die Gebühren werden die Studis nicht, wie mensch zu­nächst etwa annehmen könnte Anteilseigner, sondern vielmehr Bildungssteuerzahler, die das System sanieren sollen.

Dass sich angebliche Qualitätsver­bes­serungen vermutlich auch nicht in einer verbesserten Lehre niederschlagen werden, belegt ein interner Verwendungsbericht, den jüngst die Kölner Uni erstellt hat. Dort wurden in diesem Jahr lediglich 25% der Studiengebühren (500 Euro pro Semester) gezielt zur Verbesserung der Lehre verwendet. Im Jahr 2006 wurden so 17 Mio. Euro in die Kassen der Hochschule gespült. Allein drei Millionen Euro flossen in den obligatorischen Ausfallsicherungsfonds, der die Studenten-Darlehen absichert. Von dem verbliebenen Geld ging eine Million Euro für die Verwaltung der Beiträge drauf. Bleiben summa summarum 4,1 Mio. Euro, die laut Bericht für zusätzliches Personal oder Material ausgegeben wurden und damit also den Studierenden zugute kommen. Der Rest sind Rückstellungen oder Überträge ins nächste Jahr. Und Studiengebühren finanzieren auch den Kampf gegen sie: Die Uni legte einen Teil des Geldes aus dem Studiengebühren-Topf für die erwarteten gerichtlichen Auseinandersetzungen mit Studierenden wegen der Beiträge zurück.

Hier könnte mensch sich dazu veranlasst sehen, von einer „Zweckentfremdung“ der Gebühren zu sprechen. Erhärtet wird diese Annahme durch den geplanten Verbleib der Gebühren an anderen Hochschulen. Malte Dürr beispielsweise, seines Zeichens stellvertretender AStA-Vorsitzender an der Uni Bochum, erzählt von Plänen der Uni für ein 250.000 Euro teures elektronisches Leitsystem. Auf Monitoren könnten die Studierenden jederzeit erkennen, wo welche Vorlesung stattfindet. Wenn das mal keine qualitative Errungenschaft ist! Für manch einen äußert sich ja Qualität durchaus nicht im Inhalt, sondern in der Form.

Eine andere Problematik, die die angepriesene qualitative Verbesserung an Hochschulen mit sich bringen kann, kennt die AStA-Vorsitzende der Uni Bielefeld, Mira Schneider: „Vor allem die geisteswissenschaftlichen Fakultäten wissen oft mit den Gebühren nichts anzufangen“. Als Mitglied der Studienbeitragskommission ist ihr bekannt, dass sich die Fakultäten Geschichte, Philosophie und Theologie schwer getan haben, Verwendung für das Geld zu finden. Am Ende werde zwar Tutorium über Tutorium angeboten, eine echte Verbesserung der Lehre gebe es aber nicht.

Anhand der wenigen bereits veröffentlichten Studien zur Campusmaut wird deutlich, wie relevant es ist die Berechtigung von Studiengebühren und deren Auswirkungen auf Lehre, Forschung und Studier­verhalten zu überprüfen und zu hinterfragen. Bildung ist ein Menschenrecht, wie der Schutz vor Folter oder Meinungsfreiheit und darf keine Handelsware sein. Durch eine Campusmaut werden potentielle AkademikerInnen, vor allem aus den unteren Schichten, von einem Studium ausgeschlossen. Bereits die Einführung von Langzeitstudiengebühren hat gezeigt, dass Gebühren dazu führen, dass das soziale Ungleichgewicht und die Selektion an den Hochschulen eher zu-, als abnehmen. Bildung ist ein Gut, dass mit gesamtgesellschaftlichen Interessen verbundenen ist und den marktwirt­schaftlichen nicht weichen darf. Bildung ist ein öffentliches Gut und muss dementsprechend für alle zugänglich sein. So weit so unzureichend.

Apropos für alle zugänglich: Bei der ganzen Gebühren-Kakophonie sollte aber eine Sache nicht außer Acht gelassen werden, nämlich, dass es in unserem Land auch Menschen gibt, die praktisch kein formelles Recht auf Bildung haben. Einige Bundesländer beispielsweise hindern Flüchtlinge von den Menschen ohne irgendeinen Aufenthaltsstatus ganz zu schweigen daran, Schulen zu besuchen. Insgesamt benachteiligt sind Kinder von Zuwanderern, die nur in wenigen Fällen das Abitur schaffen und dafür in Haupt- und Sonderschulen überproportional vertreten sind. Die Soziologin Heike Diefen­bach spricht in diesem Kontext gar schon von „ethnischer Segmentierung“ an Schulen in Deutschland. Doch es sind nicht nur Zuwander-Kinder, die in Sonderschulen ihr Dasein fristen. Insgesamt sind knapp eine halbe Million so genannter Lernbehinderter auf Förderschulen untergebracht, die ihrem Namen leider nicht immer gerecht werden. Manche Forscher nennen sie deshalb auch Orte der „kognitiven Friedhofsruhe“.

Protestiert wird, wenn mensch sich existentiell bedroht fühlt, wenn es an seine eigenen Reserven, sein ethisches und finanzielles Vermögen geht und selbst dann nicht immer. Generation Pisa findet sich gerne auch mit den gegebenen Zuständen eines internationalen Mittelmaßes ab. Bildung wird als Gottesgeschenk oder zumindest als eine obligatorische Bereitstellung von Seiten des Staates wahrgenommen. Bildung ist aber nicht zuletzt auch ein Instrument, das sobald es einmal erworben wurde, dazu eingesetzt werden kann, den eigenen Verstand auch auf praktischer Ebene einzusetzen: Alternativen finden, Ideen spinnen, das Bildungssystem hinterfragen, sich seiner eigenen Verantwortung bewusst werden, denn sich auf den Staat zu verlassen, war noch nie der sicherste Weg. Wer will, muss anfangen zu handeln. Was die Campusmaut betrifft, scheint dafür gerade jetzt ein optimaler Zeitpunkt zu sein.

(clara fall)

Reisebericht: Turkey – Imagined Community II

Von der Istanbuler Bronx in die Anatolische Einsamkeit

Ich bin umgezogen. Mich hat es aus dem touristenüberwucherten, hippen Avantgarde-Viertel Galata (FA! #32 „Turkey – Imagined Community”) in das Istanbuler Armenviertel Tarlabasi im Stadtteil Beyoglu, auch Taksim genannt, verschlagen, der seit jeher von Ungläubigen bewohnt wurde. Tarlabasi ist die Bronx von Istanbul und sein Ruf eilt ihm voraus. Wenn ich erzähle, dass ich dort lebe, reichen die Reaktionen von betretenem Schweigen bis hin zu ungläubigem Entsetzen. Kurden, Rum (Griechen), Roma, Drogen, Transsexuelle, billige Absteigen ist, was die Mehrheit Istanbuls allgemein mit Tarlabasi verbindet. Was ich damit verbinde?

Faltige, gegerbte Gesichter mit Kippenstummel zwischen zahnlosen Lippen, den billigsten und lautesten Wochenbazar Istanbuls jeden Sonntag direkt vor der Tür mit Türmen von frischem, lachenden Obst und Gemüse und geklauten Klamotten. Das Lachen der ungeschminkten Transen vor mir an der Kasse im Supermarkt, in dem ich nie genug Geld dabei hab und trotzdem alles bekomme. Der Panzer und die permanente Polizeipräsenz in der Nähe des DTP-Büros („Partei der demokratischen Gesellschaft“: Partei für die nationale Anerkennung der Kurden und eine friedliche Lösung der Kurdenfrage). Dutzende kleine Barbiergeschäfte, in denen eitle Männer und die, die es noch werden wollen rasiert und gestylt werden. Der kurdische Bakkal-Verkäufer, der Plastikhandschuhe für die Hygiene trägt und immer eine mit mir raucht, wobei er sich manchmal ein Loch in seine Handschuhe brennt. Der braune Stuhl vor unserem Haus, auf dem jeden Tag unser Apfelverkäufer sitzt und minikleine gelbe und rote Äpfelchen loszuwerden sucht, die manchmal von vorbeiziehenden halb­starken Horden, aus den Kisten geklaut werden, während der Alte nachsichtig lächelt. Im ca. 2,5 m² großen Elektronikladen, der von oben bis unten und von vorne bis hinten mit Dingen voll gepackt ist, hat weder ein Kunde, geschweige denn der Besitzer Platz, auch nur einen Fuß in den Laden zu setzen. Und die verschmitzt lächelnde alte Frau mit den weißen Haaren, die in der Unterführung neben der Mülltonne die paar Habseligkeiten verkauft, die sie (gefunden) hat, neben ihr ein Mann, der nicht mal Habseligkeiten hat, sondern nur eine Waage, auf der mensch sich wiegen kann.

Und dann gibt es da noch den kurdischen, alten Schneider, der in jungen Jahren in Paris gearbeitet hat. Hinter Fensterscheiben, die aussehen, als hätten sie ihren letzten Putz vor 20 Jahren erhalten, sitzt er vor seinem Schneidertisch auf dem sich Spulen, Garne und Klamotten türmen. Als wir das erste Mal von Jungs aus dem Viertel durch einen Moschee-Innenhof zu ihm gelotst wurden, um unsere verschlissenen Klamotten reparieren zu lassen, hat er anstatt der Kleidung zunächst unser Gesicht vermessen. Er mache Physiognomie-Studien, sagte er und presste kurz und fest beide Daumen gegen eine Stelle oberhalb unserer Augenbrauen. Er bat uns etwas zu schreiben, um aus unserer Handschrift auf unsere Persönlichkeit zu schließen. Ich schrieb und sein erster Kommentar: „Hässlich, sehr hässlich”. Ich lächelte ihn verlegen an. Ich war noch nie be­sonders stolz auf meine Buchstaben-Trümmerhaufen-Handschrift, die ein bisschen der Steno-Schrift meines vom Dokumentationsgeist besessenen Großvaters ähnelt und die ich manchmal selbst nicht entziffern kann. „Ich sollte die Dinge langsamer angehen”, so der gut gemeinte Ratschlag des Schneider-Psychologen, „nicht so sehr durchs Leben hetzen”. Ich muss grinsen und an Leipzig und Projektneurosen denken.

Wahlkampf

Jede befahrbare Strasse der 20 Millionen Metropole ist behangen mit bunten Plastik-Fähnchen auf denen Glühbirnen und Pfeile gedruckt sind. Sie hängen über Brücken, zwischen Straßenlaternen, Moscheen und anderen Gebäuden und schmücken die Autobahnen. Die Szenerie hat etwas Karnevaleskes. Nur feiert niemand. Es ist Wahlkampf…und Plastikmüll-Potlatch. Gekämpft wird gegen die Umwelt und ansonsten gegen alles andere, was unrecht ist. Klientelismus par excellence. Erdogans AKP („Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung”: islamisch-konservativ ausgerichtet, derzeit stärkste Fraktion im türkischen Parlament) beliefert ihre frierenden Wähler in spe schon mal mit ausreichend Kohle, um ihnen die um 80% gestiegenen Heizgas-Preise zu ersparen. Manche bekommen neues Einrichtungsmobiliar, andere Kühlschränke. Der Fall einer Familie wurde bekannt, die sich über den neuen Kühlschrank theoretisch gefreut hätte, wenn sie denn ans Stromnetz angeschlossen wäre.

Das faszinierendste an diesem Wahlkampf sind die politisierten Massen, die in Bewegung gesetzt werden. Zehntausende strömen zu den einzelnen Kundgebungen und schwenken, als ginge es um ihr Leben, die Fahnen zu Phrasen wie: „Wir werden die Armut in Ostanatolien abschaffen“.

Dort tobt indes seit Monaten die „Schlacht um die Festung Diyarbakir“, der Hauptstadt des türkischen Kurdistans. Im Fernsehen werden unaufhörlich Bilder von Demonstrationen und Gefechten zwischen PKK („Kurdische Arbeiterpartei“: kämpft mit Waffengewalt für politische Autonomie kurdisch besiedelter Gebiete in der Türkei) und Sicherheitskräften mit Toten und Verletzten gesendet, die an Bürgerkriegszustände erinnern. Die der PKK nahe stehende Kurdenpartei DTP, die seit wenigen Jahren Sitze im Parlament hat, hat eigene Wege gefunden dem anhaltenden Konflikt zu begegnen. Die Reformversprechen der AKP, etwa ein freierer Gebrauch der kurdischen Sprache, konterte die DTP geschickt mit einer Ansprache auf Kurdisch im türkischen Parlament. Da das jedoch weiterhin verboten ist, entpuppte sich die von der AKP versprochene neue Freiheit rasch als hohles Versprechen. Die PKK ihrerseits hat in den vergangenen zwölf Monaten wiederholt versucht, mit Gewalttaten Präsenz zu demonstrieren.

Anatolien

Ein Schlagloch reißt mich aus meinem seligen Schlaf. Ich blinzele aus dem Busfenster, der Sonne mitten ins Gesicht. Draußen ist es staubtrocken. Die kubischen Häuser, Palmen, der Boden und Olivenhaine, alles erscheint in demselben Farbton, als hätte jemand mit einer Riesendose Puderzucker über die Landschaft gestreut. Ich schwitze. Nach zweieinhalb Monaten nasser Plörre in Istanbul und einigen gescheiterten Versuchen der Beton-Megapolis für ein paar Tage zu entfliehen, eine Genugtuung. Auf der Straße laufen Muslime mit violetten, lose um den Kopf gebundenen Tüchern und Salvar-Hosen, die bis zum Knie eng wie eine Leggins sind und dann breit wie ein Rock werden. In all den winzigen Dörfern, an denen wir vorbei tuckern, scheinen die Menschen zu arbeiten. Frauen bücken sich über das Feld, während ihnen eine abgemagerte Kuh zuschaut, Ziegel werden getragen, Weizensäcke geschleppt, Teppiche geschüttelt, immer wieder Schäfer und kleine Menschengruppen, die irgendwo im Nirgendwo die Straße entlang spazieren. Seelenruhig. Vorbei an kilometerlangen Steinfeldern, am Horizont schroffe Bergketten und sonst nur Himmel. Dann brechen plötzlich Hochhaus-Bauten aus der Erde. Mitten im Nichts. Brachiale Siedlungsmethoden. Die Erde blutet.

Deutsche Bürokratie auf türkischen Klos

Klopause. Der Bus wird mit einem an einen Besen befestigten Schlauch von oben bis unten geschrubbt, als ginge es um ein re­ligiöses Waschritual. Am Kloschalter sitzt ein etwa 50-jähriger Mann, der mir, nachdem er sich nach meiner Herkunft erkundigt hat, einen Brief aus seiner Kabine entgegenstreckt. „In amtlicher Sache“ steht in deutsch darauf. Ein Scheidungsbescheid mit Zahlungsaufforderung. Was die wollen, will er wissen. Bestimmt werde er sich nicht bei denen melden. Seine Frau…in Ham­burg…dann wieder ein Klokunde auf der anderen Fensterseite, der uns neugierig beobachtet, während er auf sein Rückgeld wartet…er neunmal dort gewesen…keine dauerhafte Auf­ent­halts­genehmigung…ich verstehe nur Brocken, sowohl auf deutsch als auch auf türkisch. Er will, dass ich ihm den Brief vom Anwalt übersetze. Der deutsche Staat schafft es sogar, seine verklausulierten Phantasien in ein Klohäuschen im tiefsten Ana­to­lien zu transportieren und mich dazu zu bringen, den Krampf auch noch zu übersetzen. Dabei wäre es nicht mal das Klopapier wert.

Staudamm im Paradies

Wir leihen uns ein Auto und fahren nach Hasankeyf. Eineinhalb Stunden von der Hauptstadt des türkischen Kurdistan am Tigris liegt das Paradies. Hier soll der Garten Eden gewesen sein. Grüne, saftige Wiesen vor schroffen Bergketten. Felshänge erheben sich aus dem Strom des breiten Flusses, alle paar Meter Löcher im Fels, dahinter Höhlenlabyrinthe. Die PKK-Rebellen sollen hier unter anderem ihre Rückzugsgebiete haben. Nur noch wenige kennen die unterirdische Geographie. Wir halten vor einer alten Mauer. Kinder rennen uns entgegen. Die Mädchen haben riesige Sträuße von irgendeinem Kraut in ihren Armen. Ich habe den Namen vergessen, aber die halbgeschälten Stiele, die sie uns kiloweise anbieten, sind extrem lecker. Wir tollen mit ihnen über die Wiesen, dann zeigen sie uns die Reste osmanischer Grabmäler, Hammams (türkisches Bad) und Burgen aus Zeiten des Reichtums.

Die Geschichte von Hasankeyf vor der christlichen Zeitrechnung liegt im Dunkeln. Danach befand es sich unter wechselnder Herrschaft durch die Oströmer und ihr byzantinisches Reich und die Sassaniden, die das zweite persische Großreich gründeten. 0m Lauf der islamischen Expansion eroberten die Araber diesen Ort. Seitdem lebten die Christen unter islamischer Hand. Später wurde Hasan­keyf von den Mongolen überrannt, die die Stadt verschonten. Anfang des 15. Jahrhunderts beanspruchten die Osmanen das Gebiet für sich. Im 16. Jahrhundert soll die Stadt an die 10.000 Einwohner gehabt haben, davon 60% Christen. Mit der Zeit hat Hasankeyf immer mehr an Größe und Bedeutung verloren. Außer bei den Kurden, wo es den Status einer Kultstätte bzw. eines nationalen Erbes behielt. Während des Genozids an den Armeniern 1915-17 war Hasankeyf Vernichtungsort, da sich Deportationsrouten dort kreuzten. Hassankeyf heute ist ein Dorf, das vom Tourismus lebt, die sich die alten Höhlenlabyrinthe anschauen. Keiner kann mehr genau sagen, wie diese Höhlen entstanden sind. In manchen wohnen noch immer Familien.

Wir sprechen mit einem etwa 50-jährigen Mann, der ein kleines Café am Tigrisufer des Dorfes betreibt und uns hungrigen Mäulern Tomaten und Brot bringt. Er ist in einer der Höhlen geboren und erzählt uns von dem seit Jahren von der türkischen Regierung geplanten Staudamm-Projekt, das das Dorf samt seinen Schätzen, Höhlen und angrenzenden Gebieten in eine pittoreske Unterwasserlandschaft für Tiefseetaucher verwandeln soll. Im März 2007 entschied sich die deutsche Bundesregierung gemeinsam mit der Schweiz und Österreich zur Übernahme einer Exportkreditgarantie. Die Türkei habe sich zu Maßnahmen verpflichtet, die weit über die bisher bei Staudammprojekten geübte Praxis hinausgehen, hieß es. Zu den Zugeständnissen zählen ein detaillierter Umsiedlungsplan sowie die Zusicherung von Arbeitsplätzen für die betroffene Bevölkerung, die Umsetzung bedrohter Kulturdenkmäler aus Hasan­keyf in einen Kulturpark sowie die Garantie eines Mindestdurchflusses gegenüber den Unterliegern Syrien und Irak, von deren Umsetzung bislang nicht viel zu erkennen ist.

Der Cafébesitzer erzählt von Uta Roth, der Grünenvorsitzenden, die Hassankeyf eine Woche vor uns besucht und bestaunt hat. Sie kam im Auftrag der deutschen Regierung, die das Projekt bis dato maßgeblich mitfinanzieren wollte. Aufgrund anhaltender internationaler Proteste und der ungenügenden Einhaltung der geforderten Auflagen durch die Türkei, hat die deutsche der türkischen Regierung mitgeteilt, das sie nicht mehr an der Finanzierung interessiert sei, worauf die türkische Regierung geantwortet hat, dass ihr das herzlich egal sei und sie das Projekt auch ohne die Hilfe Deutschlands in Angriff nehmen werde. Aber auch die Schweizer haben ihre Gelder bis auf weiteres eingestellt. Bis auf weiteres. Viele der Bewohner sind überzeugt, dass das Projekt trotzdem gebaut wird.

Was er machen werde, fragte ich den Cafébesitzer und eigentlich erwartete ich keine Antwort. Er hatte trotzdem eine: „Sagt euren Leuten in Europa, dass sie uns erwarten können, wenn der Staudamm gebaut wird“.

(Klara Fall)

Reisebericht: Turkey – Imagined Community III

Schwaben goes Turkiye

Mal wieder ein wichtiges Dokument verloren. Mal wieder Opfer des bürokratischen Hürdenlaufs. Ich steige in ein Sammeltaxi in Richtung Haupt-Polizeirevier. Ich frage wohin die Reise geht, denn Fahrpläne gibt es hier nicht und Sammeltaxis haben keine fixen Haltestellen. Auf dem Vordersitz des gelben Kastenautos sitzt ein Fahrgast, der mir erklärt, wo das Taxi hinfährt und wie ich zu besagtem Polizeirevier komme. Irgendwas an der Art und Weise wie er spricht, erinnert mich an zu Hause. Als ich aussteige, steigt der Mann auch aus, sagt, er müsse in dieselbe Richtung. Nach wenigen Minuten Smalltalk stellt sich heraus, dass er aus Deutschland kommt, genauer gesagt: „Ha, i ben zwoa in Ischtanbul gebore, aber i komm uhrsprünglich aus der Nää von Stuttgart, Landkreis Esslingen.“ Ich weiß nicht, ob er, nachdem ich ihm sage, dass ich dort geboren bin, in den folgenden zehn Minuten soviel Vertrauen zu mir fasst, dass er mir von den einschlägigen Abschnitten seines Lebens erzählt oder ob er einfach nur reden will. „Ha, weisch, i ben jo Feinmechaaniker und irgendwann hat mai Schäff zu mir gsagt: ‘Ha Hakan, du bisch ja scho talendiert, ge, du könntsch au logger als a Zaanmechanigger oabeite.’ En endrer Kumbel hat mia damals au gschteggt, dass ma hier in der Türkei in dem Gschäft guts Geld verdiene koa. Ha ja, und na bin i hoalt ganga.“ Nachdem er mir ein paar weniger interessante technische Details aus seiner Zahnmechanikerkarriere verraten hat, sagt er plötzlich: „Weisch, i war heroinabhängig, hab gschnupft, aber i ben imma boim Daimler oaboide ganga.“ Als sein Arbeitgeber von seinem Dro­gen­konsum erfuhr, bekam er eine Therapie in München verordnet. Während eines Freigangs kaufte er sich eine Flasche Rotwein, die er in einem Zug trank. Daraufhin fing er eine Schlägerei an, bei der er seinen türkischen Pass verlor, den daraufhin die Polizei fand. „Der Richta hat denn gsagt ‘Du warsch jetzt scho zu oft bei uns’“. Daraufhin wurde Hakan bis auf weiteres des Landes verwiesen. Seitdem ist er clean. Er sagt, er will nicht mehr zurück. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit Freimaurern, recherchiert und schreibt in freimaurischen Internet­foren. „I ben hier in na Universidäd als Refrent ogschtellt. Ha, un du weisch scho, dass hier a Großdeil der Professora Freimaurer sen?“ Ehrlich gesagt ist mir dieses Detail, wie 1001 andere, bisher noch verborgen geblieben. Er berichtet gerade von den unterschiedlichen Logen in den unterschiedlichen Istanbuler Stadtteilen, als wir das Polizeirevier erreichen. Ich schaffe es gerade noch, ihm das Foucaultsche Pendel von Umberto Eco zu empfehlen, da wünscht er mir einen schönen Tag und zieht von dannen.

Selbst wenn wir uns die ganze Zeit auf türkisch unterhalten hätten, hätte ich spätestens jetzt bemerkt, dass er k1r1k (dt: gebrochen; der hiesige Ausdruck für das im deutschen noch schlimmere Äquivalent „Mensch mit Migrationshinter­grund“) ist. Denn er hat mir seine Telefonnummer nicht aufgedrängt, geschweige denn angeboten.

Soldaten und Hippies

In Leipzig habe ich Hippies hassen gelernt. Das hatte vor allem einen Grund: das Rainbow Gathering. Ständig und überall musste ich mir von Adepten der Harmonie und Gleichheit, die in seliger Erinnerung schwelgend Geschichten über das bessere Leben im großen, friedlichen Kollektiv erzählten, anhören, denen auch im kältesten Winter die Sonne aus dem Arsch schien während sie sich in einer Aura der Erleuchtung wähnten, bis mir die Ohren anfingen zu bluten. Um meine Vorurteile bestätigt zu sehen und auch, um mir ein eigenes Bild zu machen, beschloss ich die Leipziger Weltenwanderin Malifu in Antalya zu treffen und mit ihr aufs Middle East Gathering nahe Fetiye zu fahren.

Die Reise beginnt am 27. Mai. Raus aus dem Betonmoloch Istanbul, rein ins satte Grün. Vom hohen Norden in den tiefen Süden. Die Szenerie, die ich am Zentral-Busbahnhof vorfinde, erinnert mich spontan an den Wahnsinn eines losgelassenen Fußballstadions: hunderte grölender Halbstarker in türkische Flaggen gehüllt. Sie springen sich gegenseitig an wie Heuschrecken, reiten aufeinander, tanzen, drehen frei. „Was passiert hier?“, frage ich Ömer, den Verkäufer am Ticketschalter, mit dem ich gerade über den Preis meines Bustickets verhandle. „Soldatenverabschiedung“, sagt er. „Nur heute und morgen.“ Er grinst. Ich habe oft von dem Ritual gehört, bei dem die zukünftigen wehrpflichtigen Soldaten verabschiedet werden, aber bis heute nie die Dimension begriffen.

Vollständige Familienclans haben sich eingefunden. Weinende Mütter und Großmütter, die vor Kummer über das Schicksal ihres geliebten und vielleicht einzigen Sohnes jenseits des sicheren Nestes fast vergehen und sich mit bunten Polyestertüchern den salzigen Schmerz von der Haut wischen; tanzende Brüder, Freunde, Nachbarn, die Rauchbomben zünden, die die aufgeheizte Stimmung und die Lungen der Anwesenden blutrot einräuchern; schreiende Kinder. Am distanziertesten verhalten sich die Väter. In ihrer Ausdruckslosigkeit starre Monolithen verkörpernd, stehen sie am Rande des Geschehens und beobachten. Wenn sie stolz oder traurig sind, lassen sie es sich zumindest nicht anmerken. Freunde werfen ihre zukünftigen Soldaten in die Höhe. Sie brüllen: „Bizim asker en büyük asker“ (dt: Unser Soldat ist der größte Soldat). Sogar die Busfahrer tanzen mit. „Es kann noch eine Weile dauern bis der Bus losfährt“, sagt Ömer und schleppt mich in ein kleines Lokal, wo wir Reis mit Kichererbsen essen. Er erinnert sich an seinen Militärdienst in Di­yar­bakir, der Kur­denhaupt­stadt der Türkei. „Zweimal haben sie mich ins Militärgefängnis verfrachtet“, berichte er, als erzähle er eine Geschichte, die er selbst gar nicht erlebt hat, „weil ich meinem Kommandanten nicht gehorcht habe“. Und dann fügt er mit einer Selbstverständlichkeit hinzu, die klingt als hätte man sie ihm eingeprügelt: „Wer etwas Falsches tut, muss bestraft werden“. Wir laufen zurück. Die Nation feiert sich noch immer selbst. ‘Welch effektives Ritual’, denke ich, ‘Nationalismus-Reproduktion ohne Staatsintervention. Bravo!’.

Für die Söhne – die meisten noch keine 20 – ist es das erste Mal, dass sie ihr Zuhause verlassen. Für 15 Monate keine Mutter mehr, die für sie kocht, überhaupt keine Frau werden sie zu Gesicht bekommen. Stattdessen werden sie, wie mir aus vertraulichen Quellen versichert wurde, mehr denn je masturbieren und jeden Tag vier Kilo schwere MGs tragen, deren Kugeln denen, die sie treffen, handflächengroße Löcher in die Körper reißen. Für die, die in den Osten und die Kurdengebiete fahren, beginnt die Hölle auf Erden, die ihren Nationalismus in der Regel endgültig besiegelt. Sie sind überzeugt, dass der Militärdienst sie zu ehrwürdigen türkischen Bürgern macht, im Falle des Todes zu Märtyrern für ihr Mutterland. Wenn sie zurückkehren, haben sie das wichtigste Übergangsritual in ihrem Leben gemeistert: Sie sind erwachsene Männer und fähig eine Frau zu heiraten und eine Familie zu gründen.

Mit noch erhitzten Gesichtern vom Feiern steigen sie zögernd, nach mehrmaliger Aufforderung der Fahrer in den Bus. Die Angst vor dem Ungewissen steht ihnen ins Gesicht geschrieben, trotz der Erhabenheit des Momentes. Zwei Stunden nach planmäßiger Abfahrt fahren wir los. Zumindest tut der Busfahrer sein Bestes. Hunderte Hände schlagen gegen das Busblech, die Zurückgebliebenen tanzen vor dem Bus, der sich langsam im Schritttempo durch die Massen quetscht. Auf dem von Autos und Menschen verstopften Weg sammeln wir weitere Passagiere auf anderen Istanbuler Busbahnhöfen ein. Auch dort das gleiche Schauspiel: Massen von zukünftigen Soldaten mit ihren ergebenen Fans – out of control.

Zwölf traumdurchweichte Stunden und dutzende traumhafte Dörfer später kommen wir in Antalya an. Es ist Mittag und genauso stickig heiß wie letztes Jahr Anfang August, als ich hier mein Leben in der Türkei begonnen habe. Ich treffe Malifu am Busbahnhof. Andy, ein Freund aus Leipzig ist dabei und weil wir zu dritt sind und das letzte Sammeltaxi zu unserem Zieldorf um sieben Uhr abends fährt, beschließen wir, einen regulären Bus zu nehmen. Weitere drei Stunden später erreichen wir Fetiye. An der Sammeltaxi-Ecke warten bereits acht andere in- und ausländische Hippies inklusive Melek, einem kleinen Engel. Der kleine Engel ist vier Jahre jung und hat in ihrem kurzen Leben bereits mehr Rainbow-Erfahrung gesammelt als ich. Das Sammeltaxi ist schon voll mit Dorfbewohnern. Macht nix, Sammeltaxifahrer sind professionelle Stapler. Die Serpentinen-Fahrt ins Dorf dauert noch mal eine Stunde, während der wir von den Dorfbewohnern Informationen über Ort und Lage sammeln können. Sie laden uns für den nächsten Tag zum Wochenbazar ein. Es dämmert bereits, als wir in einem kleinen bergigen Paradies ankommen und ein alter Mann auf Moped mit Sense in der Hand uns beschreibt, welcher Pfad zum Ziel führt und anbietet, den Kinderwagen von Melek bei sich unterzustellen. Bald stellt sich heraus warum. Der Weg zum Rainbow führt durch den Wald und ist steinig, bergig. Es ist dunkel. Mit Taschenlampen versuchen wir wie Hänselhippi und Gretelhäppi die weißen Bänder an den Büschen und Bäumen zu orten, die uns zum Camp weisen sollen. Wir sind elf und verlaufen uns mehrmals beim Wo-ist-das-weiße-Bändchen-Spiel. Ich hab mal wieder zu viel Gepäck dabei. Nach ca. eineinhalb Stunden sehen wir Feuer auf einer großen Lichtung. Ich höre, wie sich Meleks zarte Stimme hinter mir vor Freude überschlägt. Auf türkisch ruft sie in Richtung Feuer: „Freunde! Freunde! Wie geht es euch?“. Die Nachricht von den Ankömmlingen ist vorgedrungen. Willkommens-Rufe. Irgendein Hippie, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hab – auch wenn er mich verdächtig an Nemo, den amerikanischen Russen erinnert, mit dem ich vor fünf Jahren von Südmexiko nach Kalifornien getrampt bin – umarmt mich, als würde er nach etlichen Jahren endlich seine Mutter wieder sehen. In dem Moment bin ich zu erschöpft und zu erleichtert, um mich zu wundern und umarme ihn, als würde ich nach all den Jahren Nemo wieder treffen. Wie sich später herausstellt, ist dieses Geschöpf nicht nur ein außerordentlich extrovertiertes Energiebündel, das seinesgleichen sucht, sondern auch ein Mensch mit einem außerordentlichen Liebesbedürfnis. Erstaunlicherweise schafft er es, dieses Bedürfnis zu stillen, sprich andere willige Liebesbedürftige zu finden. Es wäre, falsch Pete als sexkrank zu bezeichnen, denn was er fühlt und sucht, ist Liebe in ihrer süßesten Form. Durchschnittlich verliebt er sich am Tag in fünf seines Erachtens charismatische Mädchen, die ihm in der Regel sofort erliegen. Als er neulich während der Pride Week in Istanbul war und wir gemeinsam tanzen waren, wurde ich Zeuge, wie selbst schnieke Chicks in einer Salsa-Bar seinem barfüßigen Charme erlagen.

Nach der wahrscheinlich längsten Umarmung meines Lebens falle ich auf den Boden. Irgendjemand kommt mit einer riesigen Schüssel, in der noch ein paar Salatreste schwimmen und streckt mir selbst gebackene Chapatis entgegen. Glücklich mampfend und gleichzeitig seltsam indifferent ob meiner neuen Umgebung fühle ich plötzlich Solidaritätsgefühle mit indischen Kühen in mir aufsteigen, als ich die rund 80 Hippies am Feuer beobachte, die gerade anfangen Mantras zu singen. Ein paar Leute beginnen, um die Darbukas und Djembes zu tanzen. Eine blonde Frau macht sich frei und lässt ihre Brüste hüpfen. „Girl, come on, get dressed!“, ruft jemand aus der Runde und erinnert, um was bereits in der Einladung zum Middle East Gathering gebeten wurde: „This is Turkey – an honour and shame society!“ „I don`t give a fuckin shit!“, kontert es zurück, „I came here to change this wrecked system!“ Ich muss lachen. Für wie revolutionär hält sich diese Dame? Denkt die mondäne, englisch und französisch sprechende Hippie-Braut im Ernst sie könne in diesem Land durch ihren verbrämten Reaktionismus und ihr edel wildes Gehabe irgendetwas verändern? „On every gathering we`ve been naked since we live in harmony with nature. We create our own world in our own universe“, mischt sich ein anderer Hippie in die Diskussion. „What’s up folks, we have good relations with the villagers. They come here and visit us, also their children, if they get to know about this we can’t come back here.“ Das Politikum scheint den gerade noch friedlich summenden Essenszirkel zu spalten. Die peacige Lagerfeuerstimmung ist am Arsch. Ich fühle, wie sich mein Verdauungstrakt zu Wort meldet und frage nach dem Ort der Erleichterung. „Down there are the shit-pits. Not too easy to find in the dark. Just find yourself a place“, informiert mich mein Nebensitzer. Soviel zum Thema in Harmonie mit der Natur leben und sich seine eigene Welt kreieren, denke ich und verschwinde in die Sterne funkelnde Dunkelheit.

Mit den Ereignissen der nächsten Tages verpuffen viele meiner angestauten Hippie-Vorurteile, einige andere verhärten sich. Die Rainbow-Family stellt sich als überraschend zugängliche, offene und kritikfähige Gemeinschaft heraus. Ich lerne Ömer kennen, der sich im Wald wie ein einheimisches Tier bewegt aber eigentlich sein Leben als Obdachloser in Istanbul fristet; Shuhur, einen Iraner, der acht Jahre in Indien gelebt hat und weder Yogi noch Bhaba geworden ist; Gündem, der mit seiner türkischen Familie gebrochen hat und eine Leidenschaft für Straßentheater hat; Cihan, einen Leipziger Türken mit einem Herz so groß wie eine Galaxie und einem Hang für Ethnobotanik; July, die kleine, zärtlich-resolute Mutter von Melek, die, wie sich im Nachhinein herausstellt, schon mit meinem neuen Mitbewohner zusammengewohnt hat; Nacho, der begnadete Flamenco-Gitarrist, der Tourismus studiert hat, aber eigentlich Ethnologe werden will; die verrückte Mer, die mir zeigt, wie man einen kurdischen Turban bindet, die von einem Skorpion gebissen wurde und mich zwei Wochen später auf eine magische griechische Insel entführt. Das erste Mal in meinem Leben werde ich als Deutsch-Türkin wahrgenommen, lerne mich mit Asche anstatt mit Seife zu waschen, dass man als Küchenhelferin jederzeit anwesende Musiker zur allgemeinen Unterhaltung bestellen kann, wie gemütlich es ist, eingewickelt in einen Schafsfellteppich neben Malifu zu schlummern und dass es in Indien ein Festival mit 20 Millionen aktiven Teilnehmern gibt. Der Tag besteht aus reden, kochen, essen, Musik und Erkundung von Flora, Fauna und Fantasien. Wir diskutieren unter Myriaden von Sternen über Aliens und unter sengender Hitze über Astrologie, Hygienemaßnahmen, die Notwendigkeit von Hierarchien und aufgeblähten Egos; wir sehen in nüchternem Zustand eine Regenbogen­corona um die Sonne, treffen rasende Schildkröten, baden in kaltem klaren Flusswasser und üben uns meistens weniger erfolgreich in Basisdemokratie. Innerhalb von drei Tagen fühle ich mich bei dem Haufen habloser Hippies zu Hause, auch wenn ich die einzige mit schwarzen Klamotten bin, Petes wiederholten Einladungen in sein Zelt trotzig widerstehe und beim zweimal täglichen Om-Gesumme und Händchen halten vor Beginn des Essenszirkels jedes Mal losprusten muss. Nach drei Tagen muss ich zurück in die große Stadt: mein geliebter Belator-Mitbewohner kommt mit Dresa aus Budapest und der Meggiepeggie-Wonneproppen mit Fritzi vom Balkan gestoppt. Die Leipzig-Connection ruft und ich freu mich wie ein Honigkuchenpferd auf die Jungs und Mädels. Trotzdem, der Abschied vom Camp ist schwer, der Gedanke an Istanbul in dieser Umgebung irgendwie absurd. Gündem begleitet mich ins Dorf. Im Wald hören wir die Rufe und das Trommeln vom Camp und auf einmal erscheint der Platz, an dem ich die letzten Tage verbracht habe, wie eine Insel des Glücks, den Ort den es eigentlich gar nicht gibt. In Fetiye springe ich in den letzten Bus, als der schon losgefahren ist. Das Zwischenwelten-Mobil gleitet aus dem Regenbogen-Land in Richtung glühend heiße Beton-Megapolis. Wie viele L(i)eben hat ein Leben?

(Klara Fall)

Reisebericht: Turkey – Imagined Community

Von Freiheiten und Unfreiheiten in der Bosporus-Metropole

Ich schreie und wache auf. Unsere kleine Tiger-Katze beißt gerade herzhaft in meine Hand wie in einen saftigen Rinder­braten und glotzt mich dabei triumphierend an. Es ist morgens um sieben in Galata/Istanbul und ich habe Uni. Wie immer zu spät stolpere ich aus dem Haus. Nur der Regenschirm- und Tempo­ta­schen­­tuchverkäufer, der Granatapfel-Saftpresser an der Ecke und der Kuttel-Schneider haben bereits ihre Rollläden hochgefahren. Die Luft ist kalt. Es riecht nach nassem Stein. Von irgendwo weht eine Börekschwade in meine Nase. Heerscharen von scheinbar schlaflosen Straßenkatzen, fressen sich durch die Müllreste vom letzten Abend. Ich laufe den steilen Hang zum Hafen runter, die Sonne geht über dem Bosporus auf, taucht die unscharfen, von Nebel umhangenen Silhouetten der Moscheen auf der anderen Seite der Meeresenge in ein milchiges Gelb. Die Angler stehen schon seit Stunden auf der Galatabrücke, um sich ihre Brötchen zu fischen. An der neuen Fährstation (die alte ist vor einigen Wochen mal eben bei einem Sturm im Bosporus versunken) treffe ich zwei slowenische Kommilitoninnen. Bei Çay (Tee) und Sesamkringeln schaukeln wir auf die asiatische Seite zum Bus­bahn­hof. Wir haben Glück, der Bus steht noch da. Eine Duftskala billiger Parfums und Körpergerüche zieht an meinem mal­trä­tierten Riechorgan vorbei, wie die Be­ton­wüste von Hochhäusern und Autobahnkreuzen an meinen Augen.

Die Gebäudearchitektur…

…der asiatischen Seite besticht durch ihre schamlose Funk­tio­na­li­tät. Shoppingmalls und Hochhauskom­plexe, die in ihrer Ästhetik an den Gropius-Bau von Berlin erinnern, sind so un­sensibel in die Landschaft gesetzt, dass sich nur das zäheste Gestrüpp und die mutigsten Gräser am Rande der mehr­stöckigen Schnellstraßen ein bisschen Grün zutrauen. Die kilometerlangen Autoschlangen ziehen bleiern Richtung Horizont, aus dem die Häuserschluchten tauchen wie steinerne Riesen einer Dystopie. Je weiter unser Bus in den Nordosten vordringt, desto häufiger ragt ein Minarett wie eine verzierte Giftpfeilspitze aus dem Betonmeer, um sogleich wieder von ihm verschluckt zu werden. Vor dem protzigen Eingangsportal spuckt der Bus die gleichmütige Studentenmasse aus. Vor dem Eingang steht ein Sicherheitsbeamter, der jedes Auto, das auf den Campus fährt, inspiziert und mit einem Spiegel unter den Fahrzeugboden schaut um zu sehen, ob auch niemand eine Bombe druntergebastelt hat. Wir zeigen unsere Studi-Karte und laufen in Richtung Seminargebäude.

Wir haben „Anthropologie der modernen Türkei“. Unsere Professorin ist Leiterin des Instituts, eine international anerkannte Anthropologin, die so beschäftigt ist, dass während des Unterrichts mindestens fünfmal ihr Telefon klingelt. Sie ist leicht un­ter­setzt, lächelt immer freundlich und ist so opportunistisch wie das Amen in der Kirche. Es ist der letzte Kurs vor der Endklausur. Sie erkundigt sich nach unserem Wohlbefinden: „Ah Irmak, dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen“ und dann danach, wie wir ihr Seminar – zu dem sie persönlich ganze vier Mal erschienen ist – fanden. Ein paar verhaltene Stimmen mel­den sich zu Wort. Sie hätten sich mehr aktuelle Themen gewünscht. Die Kurden werden angesprochen, über die während des gesamten Semesters kein einziges Wort fiel. Ein Student platzt heraus: „Die jungen Leute, die zur PKK gehen sind so gehirn­gewaschen wie die Diamantengräber in Afrika.“ Gut, danke. Der Nächste bitte.

Das „Armenierthema“…

…wird angesprochen. Eine kleine Rückschau: Vor ein paar Tagen hat sich ein Redakteur der türkischen linksliberal-antinationalistischen Tageszeitung Radikal das erste Mal öffentlich für den Genozid an den Armeniern entschuldigt. Die Rede ist hier nicht von einem Pamphlet oder einem Brief, sondern lediglich von fünf mageren, aber bekennenden Zeilen, in denen folgendes geschrieben steht: „Mein Gewissen erlaubt es nicht, teilnahmslos gegenüber dem großen Unglück zu bleiben, das die osmanischen Armenier 1915 erlitten, oder es zu verleugnen. Es weist dieses Unrecht zurück, teilt für sich Gefühl und Schmerz meiner armenischen Brüder, die ich um Verzeihung bitte.“ Für die türkische Presselandschaft, aber vor allem für AnhängerInnen des türkischen Staates ein Skandal (1). Im Netz zirkulierte die Entschuldigung als Petition unter türkischen Intellektuellen schon Tage im Voraus und wurde innerhalb weniger Wochen von mehreren 10.000, einschlägigen NGO’s und Prominenten unterschrieben. Nicht jeder, der wollte konnte sein Signum hinterlassen. Eine meiner anderen Professorinnen beispielsweise muss damit rechnen ihre Stelle zu verlieren, wenn sie unterschreibt, was sie gern tun würde. Die Yeditepe-Uni ist eine Privatuni. Gegründet von Dalan, einem ehemaligen neokonservativen Bürgermeister Istanbuls, produziert sie massenweise unkritische StudentInnen mit zahlungswilligen Eltern, die, wenn sie etwas zu sagen haben, den hegemonialen Konsens und Nonsens runterbeten, der ihnen während ihrer schulischen und universitären Karriere ein­geimpft wurde.

Zurück im Seminarraum. Eine Studentin, die die Entschuldigung nicht gelesen hat, meldet sich zu Wort und sagt: „Professor, wenn wir uns für etwas entschuldigen, das nur ein normaler Krieg [casual war] war, aber definitiv kein Genozid, dann fangen sie an Geld und Territorium zu fordern. Wir können und sollten das nicht tun!“ Dann erzählt sie von ihrem Großvater, einem Soldaten und seinen furchtbaren Erlebnissen im Vernichtungskrieg ge­gen die Armenier, woraufhin unsere Professorin ihrerseits von Ver­wandten und Bekannten und ihren furchtbaren Erlebnissen im Krieg gegen Griechen und Gruppen vom Balkan berichtet und dann sagt: „Jeden Tag sterben Menschen in dieser Welt. Wer ent­schuldigt sich dafür, sie getötet zu haben?“. Damit ist die Dis­kus­sion beendet. Vielleicht dauert es noch weitere 100 Jahre, bis dieses Thema auch an türkischen Privatunis diskutiert werden kann.

Vorgestern war ich mit meinem Freund das erste Mal im kleinen Büro der türkischen Grünen Partei, die erst vor ein paar Monaten gegründet wurde. Als wir gehen wollten, kam eine Frau schreiend in den Raum gerannt. In ihren Augen Verzweiflung, Wut, Hoffnungslosigkeit. Wie sich herausstellte, hatte sie soeben erfahren, dass das türkische Innenministerium „höchstpersönlich“ die Website der oben beschriebenen ArmenierInnen-Petition gehackt hatte und nun frei über deren Inhalt und (Nicht-)Weiterverbreitung verfügen kann. Ob jetzt Tausende mit Hilfe des § 301 wegen „Verunglimpfung des Türkentums, des Staates und seiner Organe“ (das türkische Pendant zum deutschen § 129a) angezeigt werden, wie bereits 462 Personen, inklusive den Youtube-Betreibern (2), dieses Jahr vor ihnen? Würde sich dann vielleicht etwas tun in der morschen, von Tabus durchzogenen Gesellschaft der Türkei, in der nicht nur kritische Journalisten ihre Nachrichten zwischen den Zeilen vermitteln müssen und täglich um Job und Leben bangen?

Es ist Mittagspause. Ich gehe mit einem Freund in die Mensa, die original aussieht wie ein Burger-King-Ableger. An den Wänden hängen riesige LCD-Flachbild­schirme, es läuft Werbung und MTV. Wir tratschen und lästern über die verwöhnten, handtäschchenschwingenden Kids der Yeditepe, die den Campus leidenschaftlich gerne mit einem Laufsteg verwechseln. Mensch versucht sich abzugrenzen. Ich gehe auf die Toilette und versuche mir einen Weg durch die Massen von sich eindeodorierender und Lippenstift nachziehender Mädels zu bahnen. An der Wand hängt eine Haarglättmaschine. Für umgerechnet 50 Cent kann sich frau hier ihre Wellen aus der Frisur bügeln.

Wir haben „Politische Anthropologie“, ein Lichtblick am grauen Horizont, denn unsere Professorin ist ein wahres Goldstück und im Gegensatz zur Leiterin des Instituts ist ihr sehr viel an kritischem Denken gelegen und sie gibt einen feuchten Dreck darauf was „die Yeditepe sagt“. Sie ist Türkin mit griechischem Hintergrund, ist mit einem Italiener verheiratet, forscht seit Jahren über Zypern und die zypriotische Diaspora und hat an der London School of Economics gelehrt, bevor sie von Heimweh getrieben wieder nach Istanbul zurückgekommen ist. Wir lesen Foucault, Gramsci, Hobsbawm, Žižek und Arextaga, lernen u.a. was der türkische „Sub-Staat“ ist, welche prominente Rolle das Militär hier spielt und mit welchen Instrumentarien ein Staat seine Leute an sich bindet und kontrolliert. Es ist eines dieser seltenen Seminare, in denen mensch sich von Geistesblitzen getroffen der Erleuchtung nahe wähnt. Ein Rausch. Unsere Professorin erzählt gerade von Susurluk, einer türkischen Stadt, in der Anfang der 90er Jahre ein Auto in einen LKW raste. Als die vier Opfer des PKW’s geborgen wurden, von denen nur ein einziger überlebte, fand mensch die folgende Passagierkonstellation vor: Abdullah Catli, einer der größten Mafia-Bosse der Türkei und gleichzeitig Mitglied von MIT (dem türkischen Geheimdienst), Hüssein Kodcada, der türkische Polizeichef, der Abdullah Catli einen „grünen“ Reisepass (3) und eine Waffenlizenz verschafft hatte, Sedat Bucak, ein Parlamentarier und eine Prostituierte. Von den genannten vier überlebte nur der Parlamentarier, dessen Familienclan in den darauf folgenden Wochen von Horden Journalisten von seinem Krankenbett fernhielt. Die Journalisten, die nach monatelanger Recherche über den Fall, der sicherlich für das zynische Verhältnis der Bevölkerung zu ihrem Staat mitverantwortlich ist, einschlägige Informationen sammeln konnten, wurden über kurz oder lang von „Unbekannten“ getötet. Ich schaue aus dem Fenster und denke daran wie ironisch Atatürks Leitspruch für „seine“ Türken unter diesen Umständen anmutet: „Ne mutlu Türküm diyene“ (Wie glücklich ist jemand, der sagen kann er ist ein Türke). Mein Blick fällt auf den Gipfel eines Berges (ein recht ungewöhnlicher Anblick in Istanbul), der gleich neben unserem Campus thront. Auf dem Berg steht ein Strommast. Daneben weht eine überdimensionale türkische Flagge (ein recht gewöhnlicher Anblick in Istanbul). Neben der Flagge ist ein überdimensionales Portrait Atatürks installiert, das den Strommast an Größe übertrifft. Die Türkei (die Mutter), und ihr Staat (der Vater) stehen an oberster Stelle, über ihr steht Atatürk (der Übervater), darüber gibt es nur noch Himmel und Allah.

Die Schule ist aus…

…und mein Kopf voll. Vor dem Eingang wartet Yunus, ein kurdischer Freund, der mich heute seinem Vater vorstellen will. Wir brausen mit seinem Motorrad Richtung Maltepe, einem Viertel auf der asiatischen Seite. Auf der Schnellstraße fahren wir durch das Meer roter Rücklichter, zwischen denen waghalsige Blumen- und Sesamkringelverkäufer ihre Produkte feilbieten. Zwischen den laufenden Motoren mutieren ihre Rufe zu stummen Schreien. Es riecht nach Feuer und Abgasen, die konturlosen Hochhäuser flimmern wie Geister in der Luft. Yunus balanciert sein Motorrad virtuos wie ein Seiltänzer durch den stehenden Verkehr und kommt mir in diesem Moment vor wie ein apokalyptischer Reiter. In „Wahrheit“ ist er Notfallapotheken-Schildaustauscher und verdient dabei sehr wenig. Das macht ihm nichts aus, sagt er, denn er lebt gerne wie ein „cingene“ auf der Straße, pennt mal hier, mal dort und kann sich auf eine Reihe guter Freunde verlassen. So wie auf den Wasch­ma­schinen­verkäufer, vor dessen Laden wir jetzt halten und der ihm auf einen Scherz hin einen 50 Lira-Schein in die Hand drückt. Wir gehen Köfte essen. Im Lokanta hängen die obligatorischen Fernseher (die Türken sind weltweit, nach den US-Amerikanern, die Nation mit dem höchsten Fernsehkonsum) in denen Arabesk-Klassiker laufen. Arabesk-Musik ist hier so etwas wie der türkische Blues; türkische Lyrik („das Leben meint es nicht gut mir“, „ich hab kein Geld und keine Frau“) mit arabischen Melodien, gesungen von Männern, die in ihren pathetischen Videoclips meist den Tränen nahe sind. Es ist zum Heulen.

Kurze Zeit später stehen wir vor der Arztpraxis seines persischen Vaters. „Halt die Augen auf“, sagt Yunus augenzwinkernd, „wir gehen jetzt ins Paradies“. Die Tür geht auf, vor uns steht ein bleicher Mann (Yunus selbst hat die dunkle Haut seiner kurdischen Mutter), in weißem Kittel, der zwei Köpfe größer ist als Yunus. „Hos­geldiniz, kommt rein“, sagt er und strahlt wie der Weihnachtsmann höchstpersönlich. Wir treten ein – ins Paradies. Der lange Flur ist gesäumt von Plastikblumen in den schillernden Farben des Regenbogens. Auf einem kleinen goldenen Tisch­chen steht ein auf alt gemachtes Telefon aus silbernem Plastik, das an ein leuchtendes Aquariumsäulenimitat angeschlossen ist, in dem Plastikfische schwimmen. Er bittet uns in den Salon, aus dem klassische Musik kommt. Wir nehmen auf der knallvioletten exquisiten Polstercouchgarnitur Platz. Auf der anderen Seite des Raumes steht eine Staffelei, auf der ein Riesenbild eines anonymen Babys thront. An den Wänden hängen kitschige Birkengemälde. Der Doktor kommt in den Raum geeilt, serviert uns Kaffee, Sahnekuchen und gefüllte Weinblätter. „Sie haben aber viele Blumen“, sage ich, weil mir grade nichts Blöderes einfällt. „Ja, das ist persische Kultur, wir haben einen Sinn für das Schöne“, sagt er, schaltet die Musik aus und bedient einen Apparat, aus dem künstliches Vogelzwitschern trällert. „Ach so“, antworte ich, „ich dachte immer die persische Kultur ist berühmt für ihre Lyrik“. Bei dem Stichwort steht er auf und bringt mir ein Buch, aus dem er handgeschriebene persische Liebesgedichte rezitiert. Dann fragt er, ob ich gerne in die Disco gehe. Als ich bejahe, schaltet er die Vögel aus und steht jetzt mit der Fernbedienung vor seinem Plasmabildschirm, legt Trance-Techno ein und fordert mich zum Tanzen auf. Fassungslos ob der absurden Situation lehne ich lachend ab. Das scheint ihn nicht weiter zu stören und er fängt an wie ein 20jähriger das Tanzbein zu schwingen, bewegt den Kopf im Takt der monotonen Beats. Wenn er mir später nicht den Operationsraum seiner Praxis (er ist Internist), den Schrank mit chirurgischen Instrumenten und das Wartezimmer gezeigt hätte, ich hätte nicht geglaubt, dass ich mich in einer Arztpraxis befinde. Höchstens bei einem durchgeknallten Psychiater, dessen Patienten durch die paradiesische Aura seiner heiligen Hallen geheilt werden. Irgendwie fühle ich mich erstaunlich frisch, als wir seine Praxis verlassen.

Um 22:00 bin ich in Taksim zum Abendessen verabredet. Als ich die Istiklal-Cadessi (sowas wie der Istanbuler Kuhdamm) betrete, sehe ich, wie vorwiegend männliche Studenten von Polizisten kontrolliert werden. Alexis lässt grüßen. Die Studenten-Proteste in Griechenland, die dem Tod des 15-jährigen Alexis folgten, der unlängst in Athen von den Kugeln so genannter Sicherheitsbeamter tödlich getroffen wurde, lösen Panik beim türkischen Staat aus. Kontrollen unter Studenten werden verschärft durchgeführt, denn KritikerInnen werden nicht geduldet. 1984 im Jahr 2008.

Vor einigen Wochen wurde ein junger Mann auf der Straße verhaftet. Er war Mitglied einer linken Organisation und verteilte Flyer, die auf den Fall seines im vorigen Jahr gefolterten Freundes aufmerksam machten. Sein Freund hatte damals wie er selbst Flyer verteilt, um auf den desolaten Zustand der Meinungsfreiheit in der Türkei aufmerksam zu machen. Er wurde daraufhin von so genannten Sicherheitsbeamten in Gewahrsam genommen, gefoltert und ist seitdem querschnittsgelähmt. Sein Freund, der den Fall seines Freundes nun kürzlich bekannt machen wollte, wurde seinerseits ebenfalls während der Gewahrsamnahme gefoltert. Nach einigen Tagen erlag er seinen Kopfverletzungen und starb. Allein in diesem Jahr sind bereits fünf Minderjährige durch Schusswaffen der Polizei in der Türkei ums Leben gekommen – abseits massenmedialer oder internationaler Wahrnehmung. Wenn ich die „Robo-Cops“ mit ihren gezückten abschussbereiten MG’s sehe, wie sie vor der Moschee posieren, den Finger immer am Abzug, spüre ich ernsthafte Aggressionen in mir aufsteigen.

„Ein Land zwischen…

…Tradition und Moderne“, heißt es sooft in deutschsprachigen Medien über die Türkei, die den Nahen Osten mit Europa verbindet. Aber wo ist die von Atatürk und seinen kemalistischen NacheiferInnen so hochgepriesene Moderne? Wird sie von den technoiden „Robo-Cops“ verkörpert? Stakst die Moderne auf der Istiklal Cadessi, der Konsum-und Partymeile Istanbuls, in Minirock und Highheels ohne den geringsten Plan, was außer Minirock und Highheels noch modern sein könnte? Sitzt die Moderne in der Cafeteria auf unserem Campus vor dem LCD-Flachbildschirm und zockt Playstation während der Pause? Arbeitet sie in Etiler in gläsernen Hochhäusern und verabredet sich abends im avantgardistischen Kosmo­politenviertel auf Sushi und italienischen Weißwein und redet über die furchtbaren Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise?

Und die Tradition, wo ist die Tradition? Wartet die Tradition in den heruntergekommenen Vierteln von Tarlibasi oder Sulukule auf den Abriss ihrer „illegalen“, selbst gebauten Häuser? Feiert die Tradition mit einem ungeheuerlichen Aufmarsch an Sicherheitskräften den Tag der Unabhängigkeit von den Alliierten? Liegt die Tradition in Form einer traditionellen ^alvar-Hose im Regal eines Textilienverkäufers – made in China? Oder spielt die traditionelle Musik etwa in einer der unzähligen türkischen Bars, in denen sie auch Champagner reichen, weil man ja seinen fremden Gästen was bieten muss?

Die Türkei (oder zumindest die wenigen Teile, die ich bislang kennen gelernt habe) ist mehr als nur eine gespaltene Gesellschaft. Sie ist zersprungen, wie die unzähligen Teile eines gebrochenen Spiegels und sie ist schizophren. Mit Sicherheit wird es noch eine Weile dauern, bis ich hier durchsteige – durch das Minenfeld der tabuisierten Diskurslandschaft, durch die 1001 Widersprüche, durch die abermillionen Details, durch die Sprache der Straße und die der Hochschule. Aber ich bin zuversichtlich. Die Rampen und Schlaglöcher des Alltags machen mich vertraut mit dieser Welt. Und ich habe ein paar wichtige Gefährten gefunden: eine super-knorke Mitbewohnerin, eine geniale türkischen Ersatzfamilie und süperbe Freunde aus allen Himmelsrichtungen. Alles wird gut. Inshallah.

(Klara Fall)

Abbas’ Odyssee durch die Ausländerbehörde

„Fiktionsbescheinigung“ & „Terrortest“ – Wunder der deutschen Sicherheitspolitik

„Eigentlich wollte ich nur meine Aufenthaltssgenehmigung verlängern lassen, aber sie haben mir die Genehmigung nicht gegeben. Ich habe nur eine Fiktionsbescheinigung bekommen“ erzählt Abbas auf mein Nachfragen, wie es bei der Ausländerbehörde war. „Eine Fiktionswas…?“ frage ich ihn und mich, ob ihm die kafkaeske, deutsche Bürokratie nicht ein wenig zu Kopf gestiegen ist. Aber Abbas, der seit vier Jahren in Deutschland und mit Hilfe eines Stipendiums des saudi-arabischen Königs in Leipzig studiert, ist besser mit dem deutschen Ausländerrecht vertraut als ich. Tatsächlich handelt es sich bei der Fiktionsbescheinigung um einen offiziellen Oberbegriff des deutschen Ausländerrechts, der noch einmal in fünf unterschiedliche „Erlaubnisfiktionen“ untergliedert ist. Das administrative Oxymoron (1) erhält demnach, wer einen Antrag oder eine Verlängerung auf einen Aufenthaltstitel stellt, über den noch nicht entschieden wurde. Mit der Fiktionsbescheinigung hat es der deutsche Verwaltungsapparat geschafft ein Dokument für den Zeitraum des bürokratischen Wartens zu kreieren. Wer die Bescheinigung hat, darf tatsächlich bleiben, bis die Fiktionsbescheinigung ausläuft – vorausgesetzt er oder sie zahlt 20 Euro. Denn auch das Warten hat seinen Preis. Angestrengt denke ich nach. Wieso wird das Dokument nicht Warte-Brief genannt? Wie kann etwas verlängert werden, das es nur scheinbar gibt? Und wenn ein Dokument, das auf einer hypothetischen Entscheidung beruht verlängert wird, befinden wir uns dann nicht schon im Bereich der Metaphysik? Hat eigentlich schon einmal jemand zu transzendenten Phänomene in bürokratischen Systemen geforscht?

Diese und ähnliche Fragen schießen mir durch den Kopf, als ich Abbas sagen höre: „…aber dann wollten sie diesen Terror-Test mit mir machen.“ Ich starre ihn an und der steinharte, geschmacksarme Kaugummi plumpst auf meinen Unterkiefer. Vor meinem inneren Auge sehe ich Abbas vor einer finster dreinschauenden Beamtin eine Handgranate aus seinem buschigen Haar nehmen und ihr grinsend entgegenstrecken. ‘Das müssen Nachwirkungen der Mohammed-Karikaturen sein,’ denke ich und sage: „Terrortest? Alter, du schaust zu viel US-Fernsehen, von was redest du?“

Abbas meinte den so genannten Gesinnungstest, eine Sicherheitsprüfung, der sich Angehörige von insgesamt 26 Staaten in Deutschland unterziehen müssen, wenn sie eine Aufenthaltsgenehmigung haben oder verlängern lassen wollen (2). Neben diesen Landsmännern und -frauen kommen noch Staatenlose, Personen „mit Reisedokumenten der palästinensischen Autonomiebehörde“ oder mit „ungeklärter Staatsangehörigkeit“, sowie Menschen, gegen die bestimmte Verdachtsmomente vorliegen, hinzu. Mensch beachte hier, dass die Formulierung „bestimmte Verdachtsmomente“  nicht selten als juristische Mehrzweckwaffe gegen allerlei Systemoppositionelle eingesetzt wird. Auf dem Prinzip „bestimmte Verdachtsmomente“ gründen Staatspraxen wie die Rasterfahndung, Vorratsdatenspeicherung und der so genannte Terroristen-Paragraph 129a. Ob also beispielsweise „unsittliches“ Verhalten oder „Handlungen, die das öffentliche Wohlergehen stören“, bereits als „bestimmte Verdachtsmomente“ ausreichen, lässt der Erlass bewusst offen. Je schwammiger, desto variabler einsetzbar.

Das Bundesinnenministerium machte immerhin deutlich, dass es bei dem Erlass nicht darum gehe, „durch die Hintertür zusätzliche Spezialfragen“ in einen anderen Test, nämlich den in den Medien kontrovers diskutierten Einbürgerungstest, einzufügen. Bei dem Einbürgerungstest, müssen ImmigrantInnen, die den deutschen Pass wollen, seit dem 1. September 2008 „deutsche“ Fragen beantworten. Aus einem Gesamtkatalog zum gesellschaftlichen und politischen System der Bundesrepublik werden von insgesamt 310 Fragen 33 herausgegriffen, von denen die Befragten mindestens 17 Fragen richtig ankreuzen müssen. Im Gegensatz zum Einbürgerungstest soll der Gesinnungstest laut Bundesministerium, die Einbürgerung nicht erschweren, sondern sei vielmehr „eine Bereicherung“, da der Bewerber sich auf diese Weise mit den abgefragten Themen auseinandersetze. Ob und was abgefragt wird, liegt in alleiniger Verantwortung der Bundesländer und gilt als Verschluss- bzw. Geheimsache der jeweiligen Landesregierungen. Deutschlandweit führen derzeit zehn Bundesländer, darunter auch Sachsen, den Gesinnungstest durch.

„Haben Sie Kontakt zu Osama bin-Laden?“

Abbas war einer der insgesamt 30.114 Menschen, die sich im Jahr 2008 – das erbrachte eine kleine Anfrage der Partei Die LINKE im Bundestag – einer solchen Befragung unterziehen mussten. Als der 23-jährige routinemäßig sein Studenten-Visum bei der Ausländerbehörde verlängern wollte, wurde er aufgefordert, sich einer „Sicherheitsprüfung“ zu unterziehen. Weshalb er die Prüfung machen müsse, fragte Abbas daraufhin die zuständige Mitarbeiterin der Ausländerbehörde, die 2005 zur freundlichsten Ausländerbehörde Deutschlands gewählt wurde. Es gehe um Sicherheit, so die Angestellte. Abbas entgegnete, dass er hier lediglich Student sei. Man wisse nie, entgegnete die Mitarbeiterin schroff. Daraufhin wurde ihm mitgeteilt, dass er den „Terror-Test“, wie er schließlich von der Beschäftigten der Ausländerbehörde unmissverständlich genannt wurde, unter allen Umständen machen müsse, dass er nach drei Monaten über die Ergebnisse informiert werde und dass er dafür zu einem gesonderten Termin erscheinen müsse. Abbas tat, wie ihm geheißen. An diesem Tag wurde er zu einem separaten Raum geführt, wo ihn ein junger Mitarbeiter erwartete, der ihn fragte, ob er gut Deutsch spreche. Abbas bejahte. Ansonsten hätte die Möglichkeit bestanden einen Dolmetscher mitzubringen – auf eigene Kosten – oder eben einen Bekannten, der gut Deutsch spricht. Obwohl Abbas selbst flüssig Deutsch spricht, verstand auch er nicht alle Formulierungen. Eine Frage blieb für ihn inhaltlich unklar, woraufhin er bei dem jungen Mitarbeiter nachfragte. Dieser verweigerte ihm jegliche Auskunft. Er dürfe diesbezüglich keine Informationen weitergeben. Also füllte Abbas den Test aus, so gut er konnte. Je mehr der gefühlten 200 Fragen er beantwortete, desto lächerlicher erschien ihm der Test. „Sie wollten ernsthaft wissen, ob ich Kontakt zu Osama bin Laden habe,“ erzählt Abbas und lacht ungläubig. Die Fragen hätten sich aber nicht nur auf islamische, sondern auch auf christliche und andere „extremistische“ Gruppen bezogen. Es wurde gefragt, ob er irgendwelche Kontakte zu jenen Gruppen pflege oder sich schon jemals über solche mit anderen Personen unterhalten habe und wenn ja mit wem. „Es gab bei diesen Fragen Gruppen, von denen ich noch nie in meinem Leben gehört habe, das war ganz komisch. Sie wollten auch wissen, ob ich irgendwann in anderen arabischen Ländern, außer in Saudi-Arabien gewesen bin, und weshalb ich dort gewesen bin und mit wem.“

Derartige Fragen machen deutlich, dass der Gesinnungstest ein Instrument des präventiven Sicherheitsapparates ist und ein erneuter Versuch verdachtsunabhängige Kontrollen in der Bevölkerung durchzusetzen. Darauf machten vor allem der Flüchtlingsrat in NRW (Nordrhein-Westfalen) und die Studierendenvertreter (AStA) der Uni Münster aufmerksam, die, nachdem ihnen der Gesinnungstest zugespielt wurde, antidiskriminierende Kampagnen initiierten und den „geheimen Fragenkatalog“ aus NRW in der Münsterschen Studierendenzeitung Semesterspiegel abdruckten (3). Mensch lese und staune: „Haben Sie sich außerhalb Deutschlands jemals an politisch, ideologisch oder religiös motivierten Gewalttätigkeiten beteiligt oder dazu aufgerufen?“ oder „Haben Sie an einer Spezialausbildung (Gebrauch von Sprengstoffen oder Chemikalien, Kampfausbildung, Flugausbildung, Lizenz für Gefahrguttransporte usw.) teilgenommen?“ Ob die Befragten oder ihre Dolmetscher verstehen was mit einer „Lizenz für Gefahrguttransporte“ gemeint ist, bleibt offen. Auf der Hand liegt aber, dass wohl keiner der Befragten so naiv sein dürfte derartige Fragen, sofern er/sie sie inhaltlich begreift, zu bejahen. Erst recht nicht, wenn die Befragten tatsächlich an solchen Spezialausbildungen teilgenommen haben. Anders verhält es sich bei Fragen wie beispielsweise der, ob der Befragte künftig mit deutschen Sicherheitsdiensten zusammenarbeiten wolle. Abgesehen davon, dass sich bei dieser Frage ImmigrantInnen angesprochen fühlen könnten, die sich von der Zusammenarbeit mit der Regierung bestimmte Vorteile erhoffen, wird hier eine andere Sache vollständig ausgeblendet: nämlich dass für deutsche StaatsbürgerInnen, die Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten strafbar ist. Die hier zugrunde liegende Logik ist die des nationalen Ausländerrechts: Nicht-Deutschen widerfährt eine grundsätzlich andere Behandlung als Deutschen, die sich als solche ausweisen können.

„Wo ist denn deine Bombe?“

Im Sommer 2008, als in Münster bereits 450 Leute befragt worden waren, reichte der marokkanische Student Mourad Qourtas, der selbst Vorstand der Ausländischen Studierendenvertretung (ASV) ist, Klage gegen den Gesinnungstest ein. Er fühlte sich, nur weil er aus einem bestimmten Land komme, diskriminiert. Ein Präzedenzfall, der zumindest, innerhalb von NRW, für Aufsehen sorgte. Die Rektorin der Uni und der Ausländerbeauftragte wurden von dem Fall unterrichtet und stellten sich hinter den Kläger. Aber es gab nicht nur Unterstützung für Mourad. Von manchen Kommilitonen kamen Sprüche wie: „Wo ist denn deine Bombe?“ Dass Privatpersonen so mit ihm umgehen, daran hätte er sich schon gewöhnt, sagte Mourad damals. Aber dass auch der Staat so agiere, hätte ihn überrascht. Studierende des AStA forderten die Landesregierung schließlich auf, den Gesinnungstest abzuschaffen und die bislang erhobenen Daten unverzüglich zu löschen. Die Landesregierung entgegnete den Forderungen mit dem Verweis auf äußere Zwänge: Der Test werde im Rahmen des Schengen-Abkommens durchgeführt, wonach Menschen aus „Gefährder-Staaten“ bei der Einreise überprüft werden müssen. Die Landesregierung enthüllte aber noch ein viel interessanteres Detail: Die Befragung diene nicht allein der Terrorabwehr, sondern auch dazu, herauszufinden, ob sich in Deutschland lebende Ausländer in „Problemstaaten“ aufgehalten haben. Sei dies der Fall, reiche dieser Umstand aus, jene Personen aus Deutschland auszuweisen. Der Gesinnungstest als neues Mittel zum Abschiebe-Zweck? Tatsächlich werden die TeilnehmerInnen des Tests in der „Belehrung über die Rechtsfolgen“ ausdrücklich darauf hingewiesen, dass falsche oder unvollständige Angaben zur Ausweisung führen können. Dass bejahende Angaben ebenfalls zur Abschiebung führen können, wird in der Belehrung unterschlagen.

Die Aussage der NRW-Landesregierung deckt sich mit solchen von sicherheitspolitischen Think Tanks wie dem Londoner IISS (Internation Institute for Strategic Studies), die sich mit Fragen der Migration beschäftigen und beispielsweise der Ansicht sind, dass der Migrationsdruck die innere Sicherheit und Stabilität von Zielländern stärker gefährde als militärische und terroristische Bedrohungen. Zu dem hier entworfenen Bedrohungsszenario für „gesellschaftliche Sicherheit“, also dem kollektiven Bedürfnis nach Homogenität und kultureller Identität, zählt u.a. auch die Betätigung von MigrantInnen als Drogenkuriere, Transporteure von tropischen Krankheiten und Aktivisten von kriminellen Organisationen.

Tatsächlich erscheint im Zusammenhang mit dem Gesinnungstest das Argument des Migrationsdrucks, der durch Abschiebung gelöst werden soll, logischer als das der Terror-Prävention. Denn Terroristen mit einer Sicherheitsprüfung zu ködern, scheint ein nicht von Erfolg gekröntes Unternehmen zu sein. Wie die Terrorfahndung der deutschen Marine, die im Rahmen der Operation Enduring Freedom am Horn von Afrika mit einer einzigen Fregatte ein Gebiet des Indischen Ozeans vor Terroristen schützen sollen, das achtmal so groß ist wie die Bundesrepublik, ist auch das Einfangen von Terroristen durch die Sicherheitsprüfung eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Mit falschen und vor allem unvollständigen Angaben MigrantInnen abzuschieben, scheint dem gegenüber um einiges einfacher zu sein. Ob es tatsächlich bereits zu Abschiebungen in Folge des Gesinnungstests gekommen ist, gilt es noch herauszufinden.

Der Gesinnungstest erreichte aufgrund der gerichtlichen Auseinandersetzung in NRW schliesslich auch die Bundesebene. Aus einer Anfrage der Partei Die LINKE im Bundestag geht hervor, dass sogar Kinder, „gemäß ihres Entwicklungsstandes“ geprüft werden können. Während das Thema von den deutschen Medien, bis auf wenige Ausnahmen, gekonnt ignoriert wird, gab das Verwaltungsgericht Münster im Oktober 2009 dem Kläger Mourad Qourtas Recht. Die Begründung: Der Fragebogen sei wegen einer Formalie in seiner jetzigen Form rechtswidrig. Auf dem Test fehle der Hinweis auf die Rechtsgrundlage. „Dem Kläger wurde nicht erklärt, warum er diesen Fragebogen ausfüllen soll“, erläutert der Gerichtssprecher Michael Labrenz das Urteil. Die Behörden seien nun aufgrund des Urteils angehalten, die erhobenen Daten zu vernichten – sofern dies von den Betroffenen beantragt würde. Ein formaler Fehler, und nicht der Inhalt, waren für das Gericht ausschlaggebend. Bis auf Weiteres dürfen die Testbögen in NRW nicht mehr eingesetzt werden. Wird aber die notwendige Klausel nachträglich in die Prüfung eingebaut, kann der Gesinnungstest in die zweite Runde gehen. Im Jahr 2008, als Mourad geklagt hat, mussten sich allein in NRW 13.374 Personen einem solchen Gesinnungstest unterziehen. Trotzdem konnte die Landesregierung in Folge nicht nachweisen, dass sie mit Hilfe des Erlasses so genannte Terrorverdächtige aufgespürt hat. Verdächtig macht sich bei derartigen Instrumentarien darum vor allem die Regierung, die hier ohne Kontrolle des Parlaments und unter Ausschluss der Öffentlichkeit derartige Maßnahmen beschliessen und durchführen kann.

„We are the media“

Eigenen Berechnungen des Faltblattes „Migranten in Leipzig 2009“ (4), bei dem LeipzigerInnen mit Migrationhintergrund u.a. nach Ländern aufgeschlüsselt aufgelistet werden, handelt es sich um insgesamt 3.293 Menschen, die sich dem Gesinnungstest in Leipzig unterziehen müssen. Laut der offiziellen „Ausländerstatistik“, wäre das jeder 14. Mensch mit Migrationshintergrund. Das Beispiel von Mourad Qourtas hat deutlich gemacht, dass das Generalverdacht-Instrumentarium zum Einsatz kommt – solange nicht dagegen geklagt wird. Möglichkeiten dazu, haben alle Betroffenen. Studierende können sich über ihre Studierendenvertretung (z.B. RAS – Referat Ausländischer Studierender der Universität Leipzig) einen Rechtshilfeschein besorgen, mit dem sie eine kostenlose Rechtsberatung in Anspruch nehmen können. Der RAS schreibt auf der Homepage des StudentInnenrats ausdrücklich, dass er es sich zum Ziel gesetzt hat „die Interessen der ausländischen Studierenden gegenüber den jeweiligen Stellen, Ämtern und Behörden zu vertreten“ (5). Nicht-StudentInnen können sich bei der Roten Hilfe melden, wo Rechtsfonds für Menschen eingerichtet sind, die sich den Rechtsbeistand nicht leisten können.

Aber es gibt auch andere Alternativen. Massenboykotts der Betroffenen beispielsweise, eine Option, die allerdings hohes Organisationsvermögen voraussetzt. Eine andere Möglichkeit wäre es, eine Petition zu schalten. Dass diese von 50.000 Menschen in den ersten drei Wochen unterzeichnet wird – eine Voraussetzung dafür, dass der so genannte Petent im Parlament angehört wird – ist nur möglich, wenn ausreichend viele Menschen über den Test informiert werden. Die Medien haben ihre Möglichkeit eine kritische Öffentlichkeit durch Information zu schaffen, bislang versäumt oder zumindest nicht einmal hinreichend ausgeschöpft. Stattdessen werden in der Mehrzahl der Texte, die MigrantInnen behandeln, weiterhin munter islamische Themen aufgegriffen, die in der Regel mit Terror-Themen verknüpft werden. Eine Medien-Strategie, die sich in der post-9/11-Ära bewahrt hat und starke Ressentiments gegenüber Muslimen in der Bevölkerung ausgelöst hat. „We the media“ titelte Dan Gillmor 2004 sein Buch über Graswurzel-Journalismus. In diesem Sinne sollten wir uns nicht auf die Informationsverbreitung massentauglicher Medien verlassen, sondern unsere eigenen Kanäle anzapfen, wichtige Informationen wie diese zu streuen. Aktiv werden müssen aber in erster Linie die Betroffenen selbst. Was wir tun können? Sie ermutigen und sie über ihre Rechte aufklären.

Fünf Monate, nachdem Abbas den Gesinnungstest abgelegt hatte, führte ihn sein Weg erneut zur Ausländerbehörde. Diesmal musste er seine Fiktionsbescheinigung verlängern lassen, die an diesem Tag auslief. Doch die Behörde sah sich nicht befugt die Verlängerung der Fiktionsbescheinigung auszustellen. Die Ergebnisse der Sicherheitsprüfung lägen noch nicht vor, so ein Mitarbeiter. Erst wenn die Ergebnisse es erlauben, könne eine Verlängerung ausgestellt werden. Abbas verwies darauf, dass die Mitarbeiterin der Ausländerbehörde ihm damals gesagt habe, dass die Ergebnisse bereits nach drei Monaten einträfen, was nicht geschehen sei. Das sei bedauerlich, teilte mensch ihm mit, doch ändere nichts an der Tatsache, dass er seine Fiktionsbescheinigung nicht verlängern lassen könne. Abbas solle wiederkommen, wenn sie auslaufe. „Gibt es denn noch eine Bescheinigung, die den Bescheid der Fiktionsbescheinigung weiter in die Länge zögert? So etwas wie eine Hyperfiktionsbescheinigung?“ frage ich Abbas, als er mir von seiner Odyssee erzählt und muss unweigerlich grinsen. „Schau sie dir mal an,“ sagt Abbas und streckt mir die Fiktionsbescheinigung hin, als wäre sie die Antwort auf meine Frage. Dann ergänzt er: „Sie sieht genauso aus wie ein Abschiebe-Papier. Genauso. Nur, dass beim Abschiebe-Papier ein roter Strich quer durch das Dokument geht“. Ein roter Strich, der dem Warten ein jähes Ende setzt. Ein roter Strich auf einem Papier, der entscheidet wie ein Mensch zu leben hat. Ein roter Strich, der auf wundersame Weise die Verbindungslinie zwischen „Fiktionsbescheinigung“ und „Terrortest“ sein könnte.

(Klara Fall)

 

(1) Ein Oxymoron  (griechisch oxys, „scharf(sinnig)“, und moros, „dumm“) ist eine rhetorische Figur bei der eine Formulierung aus zwei gegensätzlichen, einander (scheinbar) widersprechenden oder sich gegenseitig ausschließenden Begriffen gebildet wird. Das Wort „Oxymoron“ selbst ist bereits ein Oxymoron. Der innere Widerspruch eines Oxymorons ist gewollt und dient der pointierten Darstellung eines doppelbödigen, mehrdeutigen oder vielschichtigen Inhalts, indem das Sowohl-als-auch des Sachverhaltes begrifflich widergespiegelt wird.

(2) Dazu zählen alle Menschen aus Afghanistan, Algerien, Bahrein, Indonesien, Irak, Iran, Jemen, Jordanien, Katar, Kolumbien, Kuwait, Libanon, Libyen, Marokko, Nordkorea, Oman, Pakistan, Philippinen, Saudi-Arabien, Somalia, Sudan, Surinam, Syrien, Tunesien und den Vereinigten Arabischen Emirate.

(3) Der gesamte Gesinnungstest kann mensch auf folgender Seite herunterladen: semesterspiegel.uni-muenster.de/index.php?option=com_content&view=article&id=60:ssp-383-erschienen&catid=36:pdfs

(4) Das Faltblatt der Stadt Leipzig gibt es zum download unter : www.leipzig.de/imperia/md/content/18_auslaenderbeauftragter/statistik/lz_fb_migranten.pdf

(5) Referat Ausländischer Studierender der Universität Leipzig: www.stura.uni-leipzig.de/1322.html