Stichworte wie „Hartz IV“, „1-Euro-Job“ oder „zweiter Arbeitsmarkt“ dürften bei den meisten Leuten eher negative Assoziationen hervorrufen. Nicht ohne Grund denkt mensch da an Erwerbslose, die zum Laubharken in öffentlichen Grünanlagen abgestellt werden, wilde Plakatierflächen säubern dürfen oder bspw. unter dem Namen Bürgerdienst LE (siehe FA!#24) in Uniformen gesteckt und als Aushilfspolizisten auf Streife geschickt werden. Aber zumindest in Teilen der Institution ARGE scheint man mittlerweile erkannt zu haben, dass reine Beschäftigungstherapie wenig zur angestrebten Wiedereingliederung der Erwerbslosen in den ersten Arbeitsmarkt beiträgt. Sogar Kunst kann im Rahmen von AGH-Maßnahmen (1) entstehen – Theater zum Beispiel. Solche Ausnahmen von der schlechten Regel sind weniger ungewöhnlich, als es scheinen mag. Allein in Leipzig laufen derzeit fünf von der Arbeitsagentur unterstützte Theaterprojekte, an denen gut 80 Erwerbslose teilnehmen.
Who is who?
Klären wir erst mal die großen W-Fragen: Wer macht hier wo was, warum und wozu? Die eine Seite bilden dabei die einzelnen Projekte und deren Träger. Da wäre z.B. der Eutritzscher Geyserhaus e.V. (als freier Träger im Kinder- und Jugendbereich auch für die Betreuung von anderen ARGE-Maßnahmen zuständig), dessen Theaterprojekt Faule Haut nun schon im dritten Jahr läuft. Ebenfalls in der dritten Runde befindet sich derzeit das Projekt Theater am Kanal der Agricola-Institut GmbH. Schon die vierte Maßnahme führt, in Kooperation mit der VILLA-Betriebsgesellschaft mbH, die Theatergruppe DramaVision (siehe FA! 33) durch. Im selben Haus probt und arbeitet zeitgleich auch die Figurentheatergruppe Xp3rim3nt 1 1/4. Als weiterer Träger ist in diesem Jahr der Mischhaus e.V. dazugekommen, dessen Kunst- und Sozialwerkstatt gezielt auf die Interessenlage der Arbeitsagentur (und die entsprechenden Geldmittel) hin konzipiert wurde.
Das Wer und Wo wäre damit geklärt – widmen wir uns also der Frage nach dem Warum und Wozu, nach Motiven und Zielen der beteiligten Instanzen, allen voran der Arbeitsagentur als zentralem Akteur. Diese hat beim Erwerbslosentheater nun nicht einfach ihre kulturelle Ader entdeckt. Die aus solchen „kreativen“ Maßnahmen folgende Imageverbesserung nimmt das Amt als Bonus allerdings gerne mit – auch daraus dürfte sich die vor allem in der Chefetage der Leipziger ARGE gepflegte theaterfreundliche Haltung erklären. Dem steht bei den Arbeitsvermittler_innen das Interesse zur Seite, die eigenen „Klienten“ nicht unnötig zu dequalifizieren – die Theatermaßnahmen dienen dazu, die eigene Angebotsvielfalt zu erhöhen und auch solchen Erwerbslosen Beschäftigung anbieten zu können, die künstlerisch höher gebildet und/oder kreativ veranlagt sind, denen man einförmiges Unkrautzupfen folglich nicht zumuten will.
In erster Linie verfolgt das Amt also auch hier das übliche Ziel, die Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt zu reintegrieren. So sollen die Teilnehmer_innen wieder an Verbindlichkeiten wie pünktliches Erscheinen und Entschuldigung im Krankheitsfall gewöhnt werden. Auch werden Verwaltungs- und sozialpädagogische Betreuungsaufgaben an die Projektträger ausgelagert, was eine erhebliche Entlastung für die ARGE darstellt. Über die geforderte Teilnehmerbeurteilung werden zudem persönliche Daten der Erwerbslosen (vorhandene Qualifizierungen, Begabungen und allgemeine Arbeitseinstellung) für das Amt erhoben, die von diesem selbst nicht erschlossen werden könnten. Die theaterpädagogische Betreuung soll den Zielvorgaben der ARGE nach u.a. dazu dienen, Selbstbewusstsein und Auftreten der Erwerbslosen und damit ihre Chancen bei Bewerbungsgesprächen zu verbessern.
Die künstlerischen Inhalten, die produzierten Stücke selbst sind für die meisten Bürokrat_innen dagegen nur als Mittel zum Zweck interessant. Positiver Nebeneffekt dieser Ignoranz ist immerhin, dass den diversen Theaterprojekten in ihrer kreativen Tätigkeit weitgehend freie Hand gelassen wird und so auch sehr kritische Äußerungen zur Realität der Institution ARGE auf die Bühne kommen.
Für die Träger dagegen sind die Theaterprojekte nicht nur eine Möglichkeit, sich in der öffentlichen Wahrnehmung zu profilieren, sondern sich auch der ARGE als verlässliche Partner anzudienen. Eben das ist für viele Einrichtungen überlebenswichtig, bekommen sie dadurch doch nicht nur praktisch kostenlose Arbeitskräfte, sondern auch zusätzliche finanzielle Mittel vom Amt. Ohne solche Unterstützung müssten einige soziokulturelle Zentren in Leipzig schlicht dichtmachen.
Dabei können die verschiedenen Einrichtungen auf ganz verschiedenem Wege zum Theater kommen. Im Fall der Gruppe DramaVision ging die Initiative von dem Dramaturgen und Theaterpädagogen Matthias Schluttig aus, der schließlich in der VILLA einen geeigneten Träger fand, um 2005 das erste Erwerbslosentheater in Leipzig auf die Bühne zu bringen. Dagegen entstand beim Agricola-Institut die Idee eines eigenen Theaterprojekts daraus, dass im Rahmen des Aus- und Weiterbildungsbetriebes auch Bühnenkulissen gebaut wurden. Hier suchte man sich also einen Theaterpädagogen, um quasi ein passendes Stück zu den Kulissen zu inszenieren. Diesen verschiedenen Ausgangspunkten entsprechen auch in ihrer künstlerischen Qualität sehr unterschiedliche Ergebnisse.
Blick von unten
Die beteiligten Erwerbslosen sollen dabei nicht vergessen werden. Die jeweiligen Gruppen sind anfänglich meist kaum mehr als ein bunter Haufen von Anfänger_innen, Laien mit Theatererfahrung und (ehemaligen) Profis, von irgendwie am Theatermachen Interessierten oder auch gänzlich Uninteressierten, die nur aufgrund des von ARGE-Vermittler_innen ausgeübten Drucks oder des zusätzlichen Verdienstes dabei sind.
Das sind nicht gerade günstige Startbedingungen für einen produktiven gruppendynamischen Prozess, wie ihn Theaterarbeit im besten Fall darstellt. Künstlerischer Anspruch (sofern vorhanden) und institutioneller Rahmen gehen also nicht reibungslos zusammen. Denn die Schwierigkeiten der Theaterarbeit mit Laien potenzieren sich natürlich, wenn mensch nicht nur unausgebildete, sondern auch unmotivierte Schauspieler_innen zu vorzeigbaren Leistungen bringen soll. Mangelnde Motivation macht es auch schwierig Kontinuität aufzubauen, und darunter leidet wiederum die Qualität. Nicht umsonst verzeichnet z.B. das Theaterprojekt des Agricola-Instituts eine Abbrecherquote von knapp 50%. Und so verständlich das Bedürfnis ist, die ARGE-Vorgaben zu erfüllen um die finanzielle Förderung nicht zu gefährden, so unsinnig ist es andererseits, wenn etwa der Hauptdarsteller eines Stücks wegen wiederholten Zuspätkommens gekündigt wird (wie beim Theater des Mischhaus e.V. einen Tag vor der Premiere geschehen) – immerhin wird damit auch die bereits investierte Arbeit zunichte gemacht.
Anders bei DramaVision, wo ein zum Großteil aus Teilnehmer_innen früherer Projekte gebildetes stabiles Ensemble entstanden ist. Motivierte Mitwirkende, die zudem schon über Theatererfahrung verfügen, ermöglichen weitgehend selbständige Arbeit an mehreren Stücken gleichzeitig, ein Umstand, der diese Gruppe auch künstlerisch auszeichnet. Es wäre den Leiter_innen der einzelnen Erwerbslosen-Theaterprojekte also generell größerer Mut bei der Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber der Arbeitsagentur anzuraten – dies würde auch der Qualität der eigenen Arbeit nur dienlich sein.
Dabei sind sie natürlich auf das (längst nicht selbstverständliche) Wohlwollen der jeweiligen Sachbearbeiter_innen angewiesen. Dabei können gerade die „unkonventionellen“ Theaterprojekte einen realen Zugewinn an Selbstbewusstsein und Kompetenzen, Erfahrungen und persönlicher Reife bedeuten, also womöglich auch im Sinne der ARGE mehr erreichen als bloße Beschäftigungstherapie. Mehr noch: Eine gute Theaterarbeit kann Lernprozesse anstoßen, die nicht nur dafür taugen, die eigene Haut möglichst gewinnträchtig zu Markte zu tragen. Theater und lebendiges, überzeugendes Schauspiel braucht schließlich mehr als das widerspruchslose Erledigen von Vorgaben – es erfordert die Auseinandersetzung mit sich selbst, das Einbringen und Austauschen eigener Erfahrungen, Kommunikation und vielfältige Aushandlungsprozesse zwischen den Teilnehmer_innen. Auch um solche Lernprozesse zu ermöglichen, wäre es nötig sich nicht umstandslos den Vorgaben der ARGE zu beugen, sondern solche Theatermaßnahmen als (wenn auch prekäre) Freiräume zu begreifen, die nach ihren eigenen (von allen Beteiligten mitbestimmten) Regeln funktionieren. Das setzt natürlich voraus, dass es Trägern und Projektleiter_innen um mehr geht als nur den Zugriff auf staatliche Finanzmittel.
Anschauen!
Trotz aller Reibungsverluste, die zwischen Kunst und institutionellem Rahmen auftreten, ist es beachtlich, was das Leipziger Erwerbslosentheater in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Es ist eben die besondere Möglichkeit des Theaters, Öffentlichkeit herstellen, Geschichten erzählen zu können, ein Publikum zu berühren. Vielleicht ist dies einer der letzten Orte, wo ein politisches Theater, das diesen Namen verdient, noch stattfinden kann. Ein Theater, das soziale Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern ein stückweit auch real verändert, das nach Innen Freiräume zur Selbstentfaltung schafft und nach Außen zur Selbstermächtigung anregt.
Es dürfte also lohnen, sich das bunte Programm der Ensemble im Sommer mal genauer anzuschauen – umso mehr, da die Zukunft der Erwerbslosentheater eher ungewiss aussieht. Der Etat der Bundesagentur für Arbeit weist riesige Löcher auf und die schwarz-gelbe Regierung plant massive Einschnitte gerade bei Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen. Ob wir also gerade den letzten großen Sommer des Leipziger Erwerbslosentheaters erleben, bleibt abzuwarten. Bis dahin lautet die Parole: Erwerbende und Erwerbslose aller Länder, auf ins Theater!
(justus & clov)
(1) AGH heißt aus dem Amtsdeutsch übersetzt „Arbeitsgelegenheit“. Die AGH MAE (Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung), volkstümlich auch „Ein-Euro-Job“ genannt, ist dabei die unterste Stufe in der Pyramide staatlich gestützter Teil- und Vollzeitjobs, deren höchste Stufe die AGH Entgelt darstellt, bei der 1400,- Euro brutto monatlich verdient werden können.