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Die Großstadtindianer (Folge 0)

Ich erinnere mich noch als wäre es heute. Kalle und ich, wir waren wieder einmal unterwegs auf einem unserer Streifzüge durch die Städtische Bibliothek. Mit einiger Not hatten wir uns an den gestrengen Blicken der bebrillten Damen am Empfang vorbeigedrückt. Kalle war es zuvor gelungen, den Wachmann gleich neben der Eingangstür mit seinem altbewährten Trick abzulenken. Und da standen wir nun, inmitten der unzähligen Regale, die im schmalen Licht der Fenster unter der Last der Bücher gedankenschwer ächzten. Während ich unschlüssig meinen Zeigefinger über die Bücherrücken gleiten ließ, hatte sich Kalle sofort auf das Regal mit den Piratengeschichten gestürzt. Er liebte diese Erzählungen über raubeinige Seeleute. Das Meer als letztes Reservat von Freiheit und Müßiggang, das war Kalles Lieblingsgedanke. Ich blätterte etwas lustlos in Godwins Roman über den Bauernsohn Caleb Williams. Doch konnte ich mich nicht so recht entschließen, es einzustecken, und schob das Buch deshalb zurück ins Regal. Als plötzlich Kalles Warnruf neben meinem Ohr raunte: „Achtung, Aufsicht!“ Blitzschnell verschwanden wir über die nächste Treppe Richtung Keller. Ich spürte Kalles gefaßten Atem hinter mir, stieß die hindernde Tür vor uns mit dem Fuß auf und wir drückten uns hindurch.

„Materiallager“ hatte in fetten Lettern auf der Tür gestanden. Das matt zuckende Licht mehrerer defekter Neonlampen ließ die Ausmaße des Raumes nur schwer erkennen. Über die Regale zogen endlose Schlangen eingestaubter Bücher, auf dem Boden türmten sich Berge von Zeitungen und Papier. „Mann, das ist ja ein richtiger Freibeuterschatz!“, entfuhr es dem staunenden Kalle. Er rammte mir seinen Ellenbogen in die Seite und ging zu einem der Regale, „Sieh dir das an, Finn! Marx, Engels, Lenin, ganze Regale, und ein Haufen Literatur dazu.“ Er drehte sich zu mir: „Warum die das wohl hier horten?“ Ich zuckte etwas ratlos mit den Schultern: „Vielleicht hoffen sie auf bessere Zeiten.“ Kalle schmunzelte: „Mit Marx und Engels? Und Lenin??“ Im Vorbeigehen strich er über die Bücher. Ich folgte ihm und brummte: „Immerhin ein Anfang.“ Dabei blieb mein Fuß an einem der Papierberge hängen, die sich auf dem Boden stapelten, und riß ihn zur Hälfte um. „Paß doch auf!“, zischte Kalle, „Muß ja keiner merken, daß wir hier rumgeschnüffelt haben.“ Ich beugte mich über das lose Papier. Es waren Manuskripte, manche handschriftliche Kopien alter Zeitungen. Einige auch geheftet und gebunden. Beim Überfliegen las ich Titel wie: „Sozialist“, „Der arme Konrad“, oder „Die Revolution“. Als ich tiefer kramte, entdeckte ich zwischen den Seiten einer Ausgabe von 1895 ein kleines, schwarzes Büchlein mit rotgefärbten Seiten. Ich schlug es auf, doch die meisten Seiten waren leer, nur am Anfang waren einige Sätze in feiner Handschrift eingetragen. Ich begann zu lesen: „Für den Finder. Dieses Buch ist kein gewöhnliches. In seiner Entstehungszeit wurden nur wenige Dutzend von ihm angefertigt. Damals, es waren unruhige Zeiten, ging die Sage von einer neuen Zeit, die anbrechen sollte. Die Diener der dunklen Macht sollten endlich geschlagen und vom Erdenball verdrängt werden. Ein jeder mit reinem Herzen wartete auf jene Helden der neuen Zeit, doch sie kamen nicht. Von Jahr zu Jahr geriet jene alte Sage mehr in Vergessenheit, bis nur noch wenige Gelehrte sich an sie erinnerten. Aus jener Zeit stammt dieses kleine Büchlein …“, ein Geräusch ließ mich hochschrecken. Kalle stürzte um die Ecke und fiel beinahe über mich. Er presste hektisch zwischen seinen Zähnen hervor: „Sie haben uns entdeckt! Da hinten! Eins, zwei drei Leute, der Wachmann ist auch dabei. Los schnell! Wir hauen ab!!!“ Schon stob er in wilder Panik Richtung Tür. Schnell stopfte ich das Büchlein zwischen Gürtel und Hüfte und stürmte Kalle hinterher, der zielstrebig, zwei Stufen in einem nehmend, Richtung Hauptausgang flüchtete. Hinter uns hörte ich noch den Wachmann fluchen: „Verdammtes Pack!“ Dann waren wir durch die aufheulenden Kontrollsperren ins Freie gelangt. Die Sonne empfing uns herzlich warm. Es war ein später Frühlingstag im Jahre 1999. Ich lege den Stift beiseite und schlage das kleine, schwarze Buch mit den roten Seiten zu.

(Fortsetzung folgt)

clov

…eine Geschichte

Die Großstadtindianer (Folge 1)

Eine Heimat, ein Springer und ein paar Gläser I

„Ist das das Buch aus der Bibliothek?“ Kalle war hereingekommen und hatte sich das kleine, schwarze Büchlein vom Tisch geangelt. „Ja, steht aber nicht viel drin, nur die ersten paar Seiten sind bedruckt.“, ich verdrehte etwas die Augen, „Ziemlich mystisch.“. Kalle blätterte nachdenklich durch die rotschimmernden Seiten: „Merkwürdig!?“ „Ja, der Autor wartete wohl auf irgendwelche Helden, die alles Böse für immer vernichten würden.“ „Hmm.“ „Vielleicht wollte er ja ihre Taten aufschreiben, und die Helden sind nicht gekommen.“, ich lächelte Kalle etwas ungläubig zu, „Komische Vorstellungen hatten die damals – ach, wenn das alles so einfach wäre.“ Er brummte wenig überzeugt und vertiefte sich in die wenigen Zeilen.

Ich ließ ihn lesen, ging zum hinteren Fenster und sah hinaus. Von hier konnte man die Ausmaße unseres kleinen Fleckchens Erde nur erahnen. Der Blick fiel geradewegs auf die langsam vor sich hin bröckelnden Ruinen des zusammengesackten Fabrikgebäudes von Gegenüber. Nur die Backsteine erinnerten noch an den einstigen Reichtum. Davor hatten wir mit viel Mühe einen winzigen Acker aufgeschüttet. Es reichte zumindest für das Notwendigste – Kartoffeln, Mohrrüben, ein paar hochgeschoßene Bohnenranken, allerei Gewürze und einiges mehr. Die Vielfalt ließ den Boden gesund bleiben und der eigene Schweiß sorgte für den doppelten Genuß. Wenn man die Nase an dem Fenster nach links plattdrückte, sah man noch geradeso die Verschläge fürs Holz, das Werkzeug und Anderes. Rechts blies der Wind kraftlos in die Wäsche. Die Sonne lachte. Zwischen den Bohnen tauchte kurz ein rot-schwarzer Haarwuschel auf. Mir fiel ein, daß sich Moni ja heute um die Pflanzen kümmern wollte. Ich spähte nach unserem Gartenengel, aber sie war schon wieder zwischen den Pflanzen verschwunden.

Kalle räusperte sich in meinem Rücken und ich drehte mich zurück zu ihm. Er hielt das Buch mit einer aufgeschlagenen Seite über eine der Kerzen. Mir fiel es schwer, nicht lauthals loszulachen. Mein Glucksen schien ihn ein wenig zu ärgern. „Man kann ja nie wissen, vielleicht hätte sich irgendein Hinweis versteckt, Wachsstifte waren einmal sehr beliebt!“, rechtfertigte er sich vorwurfsvoll. „Du bist aber auch immer auf Schatzsuche“, ich nahm ihm das Buch aus der Hand, „Das wird mein neues Notizbuch.“ Kalle starrte mich kurz an, aber dann gefiel ihm plötzlich die Idee. „Genau Finn, du wirst unser Chronist. Die Schreiberei lag dir ja schon immer nah. Wir reißen die beschriebenen Seiten einfach raus und schreiben unsere eigenen Taten hinein. Unsere Geschichte …“ Seine Augen blitzten auf und glitten über die sieben Weltmeere seiner Phantasie. „Das wird aber dann keine Piratengeschichte.“ Ich versuchte seine aufkeimende Euphorie ein wenig zu bremsen, weil ich mir über die Idee selbst noch nicht ganz im Klaren war, aber Kalle sah schon die Lagerfeuer vor sich, an denen unsere Taten erzählt würden: „Naja, ein kleinwenig wie Piraten sind wir schon. Los, Finn, die Idee ist gut. Schlag ein!“ Er streckte mir die Hand entgegen. „Ich probier mal ein wenig herum, aber versprochen ist nichts, ok.“ Kalle wollte gerade zu einer seiner fünfminütigen Predigten ansetzen, über die Notwendigkeiten, die Dinge beim Schopfe zu packen, Ideen immer sofort in die Tat umzusetzen, den Zweifel zu überwinden … als Boris in eiligem Schritt durch die Tür trat. „Kalle? Finn? Es ist soweit.“ Sein Atem war noch auf dem Weg zu uns. „Der Buggemüller ist losgefahren – das Tuch – das Tuch hängt am Wagen …“ Er verschnaufte kurz. Wenn Buggemüller das Zeichen gegeben hatte, dann blieb uns noch gut eine Stunde, dachte ich, er würde warten. Sein Ehrgeiz war unersättlich. Ich sah zu Kalle. „Du bist unser Mann für die Springerzange.“ Er grinste. „Kein Problem. Den Buggemüller steck‘ ich noch im Halbschlaf weg.“ „Na dann los, wir nehmen den Wagen, die Kiepen und vielleicht noch ein zwei Leute und dann holen wir uns die Gläser!!“ Über unsere Gesichter huschte ein Hauch von Vorfreude und wir stoben in drei Richtungen auseinander, um alles vorzubereiten.

(Fortsetzung folgt.)

clov

…eine Geschichte

Spontan zur Demonstration

Der Streit um die Nutzung des ehemaligen Bimbo-Town-Geländes in der Fockestraße 80 geht in eine neue Runde. Am Freitag, den 28. Mai 2003, versuchten Polizei und Ordnungsamt durch erhöhte Präsenz und Beschlagnahmungsdrohungen (bzw. Androhung von Ingewahrsamnahme) eine für den Abend vorbereitete Party mit/und Konzert zu unterbinden. Der Passus in der Allgemeinverfügung lautet: „Die Untersagung der Durchführung dieser Veranstaltung ist geeignet, um drohenden Gefahren für die Sicherheit und Ordnung abzuwehren.“ Und ist im Wesentlichen auf das öffentliche Plakatieren für die Veranstaltung bezogen. Unter dem Druck der Ordnungskräfte entschlossen sich die BewohnerInnen des Wagenplatzes kurzerhand, Party und Konzert ins nahegelegene ZORO zu verlegen. So und aufgrund einiger heißer Drähte kam es, daß zwischen 23 und 24 Uhr spontan zirka 100 Leute, trotz alledem gut gelaunt, vom Wagenplatz zum ZORO zogen. So mancher und so manche machte seinem/ihrem politischen Unwillen Luft und beteiligte sich an den Sprechchören gegen Kapital und Arbeit und für mehr Wagenplätze (so z.B.: „Gegen Arbeitshetze und Gesetze, für mehr Bauwagenplätze“). Da sich auch die Polizei zurückhielt und in ihren Autos eher wie ein aufgescheuchter Schwarm Insekten ohne Stacheln wirkte, blieb die spontane Demonstration gegen die Repression der städtischen Ordnung friedlich und erinnerte an einen größeren, gemeinsamen Spaziergang durch die Nacht. Die Party im ZORO soll dann auch noch ordentlich in Fahrt gekommen sein.

Nichtsdestotrotz schwebt die angekündigte Räumung wie ein Damoklesschwert über dem Wagenplatz. Die Stadt beharrt weiter auf der Verlegung in die Raschwitzer Straße und seit dem endgültigen Auszug des Bimbo-Town-Projektes halten die BewohnerInnen der Fockestraße 80 den Platz offiziell besetzt. Zur Zeit ist die Lage allerdings noch ruhig. Anlaß also, um sich zu informieren, zu organisieren und Solidarität zu üben. Eine gute Möglichkeit, um über die Probleme des Platzes ins Gespräch zu kommen, bietet das am Montag regelmäßig für alle hungrigen Mäuler stattfindende „öffentliche Festmahl“ gegen 20 Uhr. Unter der Telefonnummer 2285756 können aktuelle Informationen erfragt werden, und sollte es kurzfristig Aktionen der städtischen Behörden geben, wird sich der Hilferuf vom Wagenplatz aus schnell verbreiten. Also, ruhig Blut und einen klaren Kopf. Haltet Euch bereit!

clov

Die Großstadtindianer (Folge 6)

Streifzüge – zur Kritik

Als ich Kalles Kapitel fertig gelesen hatte und er mich erwartungsvoll und lobessicher ansah, hätte ich die Seiten am liebsten aus dem Notizbuch herausgerissen. Sicher auch ein wenig wegen meines verletzten Stolzes. Ganz bestimmt aber, weil ich nicht glauben konnte, daß Kalle gerade in dem schwierigen Verhältnis zur Gewalt so verklärt, so kritiklos gedacht hatte. Eine harmlose Rempelei, für die Addi mit einem Urlaubstag wegen eines verstauchten Knöchels löhnen mußte; und an der er im Übrigen nicht ganz unschuldig war. Der Alleingang gegen jede Abmachung. Und nicht zuletzt der Zahn, den Kalle sich quasi selbst ausschlug, als er versuchte, eine harmlose Tür zu öffnen. Das Ganze aufgebauscht zu einer Blut-und-Ehre-Geschichte, Zahn um Zahn … nach einigem persönlichen Hickhack haben wir dann doch noch sehr lang und ausführlich über die ganze Sache diskutiert und uns auf die obige Formel der Kritik geeinigt. Danach war unsere erste Idee, die Diskussion als Weiterführung der Geschichte wiederzugeben. Als jedoch Boris, Moni und Schlumpf von dem Projekt mit dem Büchlein und unserem Streit erfuhren, mußten wir kurzerhand auf eine Gruppendiskussion umplanen, so sehr hatte die Idee die drei entflammt. Außerdem wollte jeder von ihnen in Kürze selbst eine Anekdote zum besten geben. Ein verheißungsvoller Gedanke, der mich schon jetzt entzückt.

Wir trafen uns also am Abend auf dem Dach des Wohnhauses. Kalle hatte eine erste Kostprobe des diesjährigen Holunderblütenweins vorbereitet, Moni einen mühlsteinförmigen Käse in der Käserei erworben und ich aus unserem eigenen Mehl drei Brote gebacken. Die Diskussion unter einem phantastischen Sternenzelt dauerte die halbe Nacht, und ich kann sie hier leider nur ungenügend, auf Grundlage einer Mitschrift wiedergeben, die im späteren Abend nicht zuletzt wegen des schweren aber äußerst mundenden Weins immer unsauberer wurde: …

Kalle: Ich glaub‘ halt, daß man sich ab und an auch wehren muß, als damals die Kameraden vom Oststurm vorm Tor standen, hat auch keiner daran gedacht, daß alles hier aufzugeben.

Schlumpf: Ich weiß nicht …

Finn: Wenn wir hier gewaltbereiter gewesen wären, hätte die Lage viel schneller eskalieren können. Außerdem Kalle, ging dem Ganzen ja eine Kette von Provokationen voraus.

Kalle: Die wär’n auch so irgendwann gekommen, glaub‘ mir.

Moni: Das Problem ist doch, daß gerade diese Leute auf politischen Widerstand mit Gewalt antworten. Was bei uns aus einer Folge von Provokationen erwächst, ist bei denen schon von Anfang an mitgedacht.

Finn: Aber wer sind DIESE Leute, Moni?

Moni: Sexisten, Rassisten und Faschisten. Frauen im Schnitt weniger. Das kann man doch klar belegen.

Boris: Titel! Nichts als Titel. Ideologische Negativsubjekte. Selbst ein Arbeitgeber kann in Folge wechselnder Lebenslagen zum Arbeitnehmer werden. Das Leben ist im Fluß …

Moni: … Man muß das doch benennen können! Ich kenne genug Sexisten, auch einige Rassistinnen. Und die Leute damals, Finn, die vor unserem Tor standen, das waren organisierte Faschisten.

Finn: Woher weißt Du das so genau?

Moni: Demonstrationen, Flugblätter, Aktionen – aus ihrem politischen Handeln und ihrer Ideologie. Hier hat doch schon immer unsere Kritik angesetzt.

Kalle: Und unser Kampf gegen die Strukturen, die Logistik, die Kader …

Schlumpf: Drei von den jüngeren habe ich wiedererkannt. Wir haben mal zusammen ein Feuerchen gemacht. Am Badesee. Da kamen sie mir ganz nett vor, ein bißchen naiv, aber ganz harmlos.

Boris: Die haben sich halt beeinflussen lassen. Da fällt der Groschen vielleicht noch. Gerade solche sollten wir aufklären.

Kalle: Ja, vor allen Dingen, wenn sie mit Knüppeln vor Deiner Tür stehen …

Finn: Du bist unfair, Kalle. In Deiner Geschichte zieht ihr auch los, um den ‚Anderen‘ einen Denkzettel zu verpassen, „einen Hinterhalt legen“. Ich kann den Unterschied gerade nicht sehen.

Kalle: Die hatten es verdient!

Boris: Wir …

Schlumpf: Aber Addi hatte doch schon den ganzen Abend Stunk gemacht und …

Finn: … er war sturzbetrunken. Jemand hat ihm ein Bein gestellt. Nicht fein, aber davon geht doch die Welt nicht unter.

Boris: Wir… wir kannten die doch. Langjährige Kameraden.

Finn: Eben. Euer politischer Widerstand ist in Gewalt umgeschlagen. Murphy sei dank, ging die Sache glimpflich ab.

Moni: Finn, verharmlost Du das nicht? Addi hatte schließlich Glück. Die ganze Geschichte hätte auch viel böser enden können.

Boris: Es reicht eben nicht, nur ihre Ideologie zu kritisieren. Man muß auch handgreiflich werden, da hat Kalle schon recht.

Schlumpf: Physische Gewalt mit einbegriffen? Da renn ich doch lieber weg.

Finn: Ich glaub‘ auch nicht, daß jemals jemand durch den berüchtigten Schlag auf den Hinterkopf auf ganz neue Ideen gekommen ist. Jedenfalls nicht unmittelbar … oder wollt ihr den ‚Anderen‘ darniederstrecken, am Ende vernichten?

Boris: Und doch muß man sich schützen können.

Moni: Und nicht erst, wenn es zu spät ist!

Finn: Aktive Prävention, heißt dann für Euch: Dem ‚Anderen‘ eins überbraten, bevor der anfängt?Das ist doch absurd.

Kalle: Der Kampf wurde schon längst begonnen, Finn. Gegen Arbeiterinnen, Kommunisten, gegen Schwarze und Jüdinnen, gegen Anarchisten, Frauen und Ausländer, gegen indigene Stämme, gegen Volksgruppen, Minderheiten und das ‚Abnorme‘. Wieviele wurden umgebracht, Finn, wieviele.

Moni: Ich denke auch, daß man hier Gewalt von Gewalt unterscheiden muß. Man darf solchen Ideen nie wieder eine Chance geben.

Schlumpf: Und die Menschen dahinter total verteufeln?

Boris: Nein. Natürlich nicht. Aber sie sind es schließlich, die für ihr Tun und Lassen in Verantwortung gesetzt werden müssen. Das heißt auch, sich an heißen Kartoffeln die Finger zu verbrennen.

Finn: Ich glaub‘ halt nicht, daß das große Lernerfolge zeitigt. Jeder hat doch viel mehr davon, wenn man ihm erklärt, warum es besser ist, heiße Kartoffeln nicht anzufassen.

Kalle: Gerade Leute, die für ihr offenes Ohr und ihr Verständnis berüchtigt sind? Ich weiß nicht.

Boris: Aber ganz unrecht hat Finn nicht. Das Gespräch abzubrechen, ist auch ein gewisses Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit. Im Gespräch hat man immer noch die besten Chancen, den ‚Anderen‘ abzubringen, vom Besseren zu überzeugen.

Schlumpf: Schließlich wollen wir es selber ja auch besser machen, als die. Politischer Widerstand bedeutet deshalb für mich auch in gewisser Form Gewaltlosigkeit gegen andere Körper und Geister. Ich will weder das Bewußtsein noch die Tatkraft eines anderen manipulieren, sondern ich will, daß er selbst weiterkommt.

Moni: Du hast ja recht, aber trotzdem müssen wir uns und Schwächere schützen und gerüstet sein, damit ihre Gewalttätigkeit wirkungslos bleibt. Das ist ja kein Spiel, irgendwann kann man einfach keinen Schritt mehr zurückgehen, dann bleibt nur noch, sich zur Wehr zu setzen.

Finn: Aber erst dann. Vorher steht die Kritik der Ideen und Mittel ihrer Umsetzung, der Widerstand gegen politische Wirkungsmacht und kulturelle Repression. Die Taktik des Ausweichens und Aussprechens. Gewalt resigniert am Menschen. Das sollte mensch auch niemandem vorleben und schon gar nicht kritiklos verherrlichen.

Kalle: Da sind wir uns doch einig, oder?

(Fortsetzung folgt.)

clov

…eine Geschichte

PIERRE-JOSEPH PROUDHON

Ein Blick zurück in die Geschichte eröffnet zuweilen mehr Möglichkeiten des Weiterdenkens, Zuwiderhandelns oder Neuerfindens als der einfache Blick nach vorn. Denn wer nicht erinnert, der vergißt! Deshalb wollen wir in loser Folge auch Exkurse in die Geschichte anarchistischer Ideen eröffnen. Nicht so sehr, um über Denker wie Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder Landauer und ihre Gedanken zu urteilen, als vielmehr zur Beschäftigung mit dererlei Überlegungen anzuregen.

Betritt man in heutiger Zeit den Politzirkus der polemischen Meinungen, ist man im ersten Moment von den gebotenen Attraktionen fasziniert. Hartz-Komissionen, Riester-Rente, Vermögenssteuer, Kindergeld oder Studiengebühren, das bunte Chaos hat demokratischen Anschein. Doch blickt man länger in die Manege, fällt es schwer, nicht in Zweifel über den Wert und Sinn der sich darbietenden Veranstaltung zu verfallen, angesichts der Böllermänner, Spätzünder und Stimmenfischer, die eher als hölzern-statische Artisten denn als virtuose erscheinen. Dererlei Zweifel an den ‚guten alten‘ demokratischen Traditionen hegend, sieht man sich seit je her schon mit einem Bilderverbot belegt. Dabei geht gerade heute vielen Menschen die Geschichte der guten Idee der Demokratie verloren. Der kritisch-kluge Mensch hat es aber ebenso seit je her verstanden, diese Idee gegen ihre institutionelle Erstarrung, gegen die Machtübernahme Einiger zu wenden. Kritik am Staat, welcher sich selbst als demokratisch verfaßt bezeichnete, war sie nicht reaktionär, ging so einher mit einem radikaleren Demokratieverständnis bzw. mit einem radikaleren Verständnis des Begriffs von ihr. Die Debatten um die außerparlamentarische Opposition (APO) der 68er Bewegung, die kritischen Strömungen der Weimarer Republik, die politischen Unruhen des 19. Jahrhunderts zeugen davon.

Hier, sage ich Ihnen, unter dem Säbel Bonapartes, unter der Zuchtrute der Jesuiten und dem Kneiper der Polizei, ist es, wo wir an der Emanzipation des Menschengeschlechts zu arbeiten haben. Es gibt für uns keinen günstigeren Himmel, keine fruchtbarere Erde.“

Es gibt keinen Platz für mich in der Welt, ich betrachte mich als im Zustand ständigen Aufstands gegen die Ordnung der Dinge befindlich.“

(P.-J. Proudhon, 1852)

Hier, am Wurzelwerk der modernen Staatsbildung, ist das Leben und Wirken Pierre-Joseph Proudhons situiert. Mit seinem politischen, intellektuellen und sozialen Engagement, seinem regen Interesse für die Vorgänge seiner Gegenwart ist er über sie hinausgewachsen und hat sich in die Geschichte der französischen Kultur eingeschrieben. Seine Staatskritik auf Grundlage eines radikalen Demokratieverständnisses gehört auch heute noch zu den Eckpfeilern anarchistischer Skepsis gegenüber Regierung und Regierenden. Der Durchgang durch die Herrschaft Aller mittels unlauterer Vertreter sollte zur Herrschaft jedes Einzelnen führen, zur Herrschaftslosigkeit der Gesellschaft, zum Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen. „Die Politiker endlich […] sträuben sich unüberwindlich gegen die An-archie, welche sie mit dem Chaos für identisch halten, als wenn die Demokratie sich anders als durch Machtverteilung verwirklichen ließe und der wahre Sinn des Wortes Demokratie nicht Abschaffung der Regierung wäre.“ (1a) Aufgrund des umfangreichen Schriftenmaterials, von dem noch immer nicht alles übersetzt zu sein scheint (2), wäre es illusorisch anzunehmen, ein solcher Artikel könnte alle Facetten des Proudhonschen Denkens aufzeigen und letztlich eine weiterführende Lektüre ersparen. Ich will demzufolge nur einige Lesezeichen setzen.

Sozialismus vs. Liberalismus

Ohne Zweifel schließt Proudhon an die sozialistischen Traditionen seiner Zeit an. In dem politisch unruhigen Frankreich Anfang des 19. Jahrhunderts groß geworden, kennt er die Gefahren der absolutistischen oder konservativen Reaktion und verteidigt gegen sie die Ideen und Errungenschaften des sozialen Fortschritts (z.B. Stimmrecht. Organisierung o. Redefreiheit). Aufklärerischer Idealismus und soziale Ideen verbinden sich in seinem Werk organisch. „Geboren und auferzogen im Schoß der arbeitenden Klasse …“ (1a, S.93) schenkt er den liberalen Mythen von der Naturwüchsigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse nur wenig Glauben. Ob als Druckereiarbeiter, gewählter Vertreter, Häftling oder Barrikadenbauer – überall erscheint ihm Gesellschaft als von Menschen gemachter und beeinflußbarer Zusammenhang, als Sozietät zwischen Menschen, aus deren Spielräumen der Stoff sozialer Fragen entspringt. Aus dem Studium der sozialistischen Traditionen des 17. Jahrhunderts heraus richtete er seine Kritik gegen die liberalen Theorien mit ihrer Projektion von allem Bösen, Schlechten und Noch-Nicht-Gewordenen in den Naturzustand, vor jeder Gesellschaft, vor jeder Vergesellschaftung. Dererlei Überlegungen spalteten den Menschen von vornherein mitten entzwei, in einen zur liberalen Gesellschaft fähigen und einen dazu unfähigen Teil. (2) Auch schienen die liberalen Vorstellungen zur Zeit Proudhons zunehmend an Erklärungskraft zu verlieren. Industrialisierung und politische Revolte hatten ungeheure gesellschaftliche Dynamiken entfesselt. Phänomenen wie dem im 19. Jh. grassierenden Pauperismus stand die liberale Theorie ratlos gegenüber. Für Proudhon war so früh klar, daß die liberale Vorstellung der Demokratie zu kurz fassen mußte. Für sein Freiheitsverständnis wird diese Einsicht fruchtbar…

Mutualismus und Freiheitsbegriff

„Es gibt zwei Arten von Freiheit; eine einfache: dies ist die Freiheit des Barbaren, auch des zivilisierten Menschen, sobald er kein anderes Gesetz anerkennt als das des ‚jeder in seinen vier Pfählen und jeder für sich‘; – eine zusammengesetzte*, wenn sie für ihr Dasein die Mitwirkung von zwei oder mehreren Freiheiten voraussetzt.“ (1a)

Die liberale Idee der individuellen Freiheit des Einzelnen erscheint im Proudhonschen Denken radikal gewendet, nicht als Ziel und Zweck gesellschaftlicher Verhältnisse zwischen Menschen, sondern als deren Voraussetzung. Durch die individuelle Freiheit hindurch wird eine Freiheit höherer Qualität möglich, die durch Gegenseitigkeit. Der Andere ist nicht mehr nur die Grenze der eigenen Freiheit, er wird zur Bedingung der Möglichkeit größerer Freiheit. Das Prinzip der Gegenseitigkeit bildet den Kern der Lehre vom Mutualismus, so wie Proudhon ihn vertrat. Der freieste Liberale ist letztlich allein auf der Welt, die freieste Mutualistin dagegen pflegt die meisten Beziehungen zu anderen Menschen. Während Proudhon die mutualistische Idee der Gegenseitigkeit noch im Kopf herumschwirrt, betreibt er ökonomische Studien … ja auch er sah das Elend schon heraufsteigen.

Proudhons Ökonomie und der große Bruder Marx

Das Urteil, welches des kalt rationale Karl Marx über seinen älteren Zeitgenossen fällt, ist vernichtend. „Vulgärökonomie“, Proudhon sei der „lebende Widerspruch“, das „Elend der Philosophie“. Der autoritäre Charakter des ‚absoluten Geists‘ seines Meisters Hegel kehrt im jungen Marx zurück. Ein weites Feld. Doch auch wenn die ökonomischen Überlegungen Proudhons in Konsequenz, Reichweite und Tiefe denen Marxens nicht im mindesten das Wasser reichen können, so fehlt ihnen auch der Dogmatismus der Methode, nach dem Proudhon vielleicht sein Leben lang vergeblich trachtete. Der Inhalt scheint durch die organische Form des Proudhonschen Denkens. Zwei gute Ideen…

Eigentumskritik und Volksbank

„Während ich so, als der einzige meiner Schule, gegen die Bollwerke der alten politischen Ökonomie die Laufgraben eröffnete…“ (1a) Was ist Eigentum, fragte Proudhon 1840 und gab auch gleich die Anwort: Eigentum ist Diebstahl! So oder so ähnlich ist es in die „gängige“ Geschichte eingegangen. Und auch heute noch wird diese These, so verkürzt dargestellt, gegen anarchistische Eigentumskritik ins Feld geführt. Doch auch wenn Proudhon nicht zu den großen Dialektikern zählt, sieht er doch den doppelten Charakter des Eigentums, als wohlstandsschaffendes und wohlstandsverhinderndes Moment. Proudhons Denken kennt nicht die Tiefe einer „Akkumulation durchs Kapital“, aber als guter Beobachter sieht er sehr wohl die Schieflage in der Verteilung der gesellschaftlichen Güter, seiner Zeit, die politische (durch Reaktionen im Frankreich des frühen 19. Jh.’s immer wieder gefährdet) aber nicht ökonomische Entmachtung der alten Feudalherren. Sein Idealismus treibt ihn dazu, den Eigentumsbegriff unkritisch in seine ökonomischen Überlegungen einzubetten. Das Zauberwort heißt hier: Zirkulation. Den Schlüssel hingegen bietet seine mutualistische Grundidee. Die „Zirkulation der Werte“ ist für Proudhon letztlich ein Zusammenhang menschlicher Verhältnisse, je mehr Zirkulation um so besser. Im Prinzip der Gegenseitigkeit sieht er den fairen (gerechten) Betrieb der Zirkulation gesichert. Privateigentum (relevanter Menge) wirkt sich, so gedacht, immer hemmend auf Zirkulation und Freiheit der ökonomisch Betroffenen aus.

Von hier versteht sich, warum Proudhon für eine soziale Ökonomie des Staates, gegen eine private Ökonomie desselben argumentiert (gerade eben gegen heutige Vorstellungen des Staates als privatisiertes Unternehmen, sprich gegen die „Deutschland-AG“). Der Proudhonsche Gedanke der „Volksbank“ beruht auf der fixen Idee des unentgeltlichen Kredits (3), der freie Zirkulation innerhalb der Mitglieder sichern sollte. Er glaubte daran, dass durch diesen (organisiert) freien Zugriff aller auf die gemeinsam zirkulierenden Werte, eine egalitäre Gesellschaft möglich wäre; in der schließlich an die Stelle der Diktatur der Mehrheit die freie, demokratische (weil auf Gegenseitigkeit beruhende) Regierung (mächtige Verantwortlichkeit) jedes Einzelnen tritt. Die Idee der Volksbank wird so zum Fallbeispiel der programmatischen Verortung Proudhons zwischen sozialistischen und anarchistischen Gedanken. Sie ist die Vorstellung vom Staat ohne Regierung, „nur“ zentralisierte Institution. Und dabei ohne Macht? Die tiefe Skepsis gegenüber den korrupten politischen Verhältnissen, die man aus seinen polemischen Beschreibungen immer wieder entnehmen kann, treiben Proudhon dazu, seine Hoffnungen in die Veränderbarkeit und Veränderung der Gesellschaft auf ein radikaleres Demokratieverständnis zu gründen. Es war mehr als Sozialismus … Der Anarchismus begann zu laufen …

Aber ist das nicht alles aus der Luft gegriffen?

Betrachtet man das Proudhonsche Schriftwerk im Ganzen, lässt sich ein systematische Philosophie nur schwer erschließen. Teils im Gefängnis, teils „zwischen der Schicht“ geschrieben, ist die Funktion seiner theoretischen Arbeiten oft praktisch angelegt, ob als Programm, Stellungnahme oder Bericht. So gewinnt sein Werk organischen Charakter. Wie der gesamte unkritische Idealismus verwechselt er jedoch seine eigene Logik (Sprache) mit der Logik der Welt (Geschichte). Sein System der Widersprüche, seine Serien widersprechender Pole, seine empirischen Datenreihen – nach deren Notwendigkeiten sich die Welt bewegen soll – es sind die Trugbilder der eigenen, subjektiven Erfahrung; die Täuschung über die eigene Sprache. Daß Proudhon aber an die Harmonisierung, an das Gleichgewicht sich gegenseitig haltender Pole glauben konnte, an die Versöhnung der Widersprüche, an ein Bild sich gegenseitig zur Hilfe fähiger Menschen … ist die positive Seite des Idealismus …

Und?

Ein Schuß Idealismus könnte den heutigen pragmatischen Zeiten nicht schaden. Schließlich ist es der Glaube an die Kraft zur Veränderung, die Menschen handeln lässt.

Ein Beispiel: Angenommen der Rawl’sche Schleier des Nichtwissens liegt über uns. Keiner hat eine Ahnung, in welcher sozialen Position er sich befindet. Oder etwas aufgeweicht: Angenommen die zunehmende Flexibilisierung führt zu größerer Unsicherheit bei der Bestimmung derselben (heute noch Büro, morgen Umschulung, Drittstudium, Straße, dann wieder im Restaurant etc. pp.). Wo liegen meine Interessen während des Arbeitskampfes, der sich gerade in Europa zusammenbraut. Profitiere ich, wenn die Gewerkschaften schlecht abschließen oder nicht? (Höhere Löhne und mehr private Vorsorge vs. Niedrigere Löhne und staatliche Umverteilung?) Vom Klassenstandpunkt scheint die Frage nur ungenügend beantwortet. Schließlich könnte auch die sozialistische Regierung das Klasseninteresse vertreten (Ich verteile, soviel ich kann nach unten, kann aber gerade nicht.).

Zwei Tipps von Proudhon:

– Stell Dich auf den Standpunkt des Schwächsten, also des prekär abhängigen (soziale statt individuelle Vernunft), betrachte von dort die Verhältnisse der Gesellschaft (heute z.B. die gesamtwirtschaftliche Krise), und habe die Kraft daran zu glauben, mit den Schwächsten die Verhältnisse zum Besseren wenden zu können (soziale Utopie).

– Hoffe auf keine Regierung! In Friedenszeiten würde sie jeden Einzelnen fürs Gemeinwohl verraten und in Krisenzeiten das Gemeinwohl gegen jeden Einzelnen wenden.

Zumindest gegen die Schwächsten! Pah! Solche Macht begehre ich nicht! Laßt andere Wege uns finden!

clov

Zur Lektüre einiger ausgewählter Schriften:
(1a) „Bekenntnisse eines Revolutionärs …“ (1849), Rowohlt, Hamburg, 1969
(2a) „Was ist Eigentum?“ (1840); teilw. in: Proudhon, „Ausgewählte Werke“, hrsg. v. Thilo Ramm, Stuttgart, 1963
(3a) „Philosophie d. Staatsökonomie o. Notwendigkeit des Elends“, Darmstadt, 1847
(4a) „Das Recht auf Arbeit, das Eigentumsrecht und …“, Leipzig, 1849
(5a) „Die Volksbank“ (1849), übers. v. Ludwig Bamberger, Frankfurt (M.),1849
(6a) „Ein Wahlmanifest Proudhons (8.6.1864). … zur Vorgeschichte d. Kommune.“; in: „Die neue Gesellschaft“, Mntstft. f. Sozialws (1.Jh.), Zürich, 1877/78
Fußnoten:
(2) der unfähige Teil ist dann auch das Schlachtfeld auf dem die zahllosen Hüter der Ordnung (Erzieher, Offiziere, Therapeuten, Richter oder Polizisten etc. pp.) um die „liberalen Seelen“ ihrer Mitmenschen ringen.
(3) Anfang 1849 gab es tatsächlich für drei Monate eine Volksbank, mit bis zu 60000 Mitgliedern. Nach der Verhaftung Proudhons (Direktor) mußte die Bank jedoch Konkurs anmelden.
* „Vis unita major.“ – Größere Kraft durch Einheit, mensch denke an Solidarität.

Theorie & Praxis

„Ich singe den Frieden, mitten im Krieg.“

(Textzeile von Wolf Biermann)

Die Frage auf den Frieden zu stellen, grenzt in den derzeitigen Diskussionen um militärische Intervention, Terroreinsatz und Sicherheitsgefühl geradezu an die Vorstellung eines sentimental-trauernden Pierrots, dem, auf einem Drahtseil taumelnd, der Magen sich vom Fuße auf den Kopf verdreht. ‚Notwendig, einzig möglich, unabwendbar, richtig‘ … Eine ganze Welt steht auf, erkennt sich; den Feind … und greift zur Bombe! Das Kriegsgeschrei ertönt in allen Lagern. Das Säbelrasseln wird zum Summen der Rotoren. Die alten Militanten haben‘s immer schon gewußt. Die Jungen wissen‘s auch nicht besser. Oh Elend! Und wieder zieht der Rauch durch Trümmerfelder und Ruinen, wieder tote Kinder, wieder weinen Mütter, sterben Väter, wieder, wieder, wieder

Naja, was sind schon zehn, hundert oder tausend – die Verluste sind gering, die meisten unter ihnen zählten eh‘ zum Feind. Oh Patria – glorreiches Land deiner Väter! Was ist denn schon das Leben eines Einzigen wert, wenn doch sein Tod das von hundert retten könnte? Und munter spielt man Nutzen gegen Kosten und umgekehrt. Schwindelerregendes Zahlenspiel. Schwindelei!

Nun hör‘ schon auf! Stell‘ dir doch vor, was unvorstellbar ist … Gift in der U-Bahn, Atompilze in San Francisco, Tel Aviv, Paris, Berlin. Da gibt es keine Möglichkeit – als den Krieg zu Land, zu Wasser und in der Luft. Ehrlich! Alle Experten zucken mit den tonnenschweren Schultern, ihre trüben Blicke schweifen in die Ferne … Wovon träumen sie? Von der letzten Schlacht? Dem ewigen Frieden nach dem letzten Krieg? ‚Wer Frieden will, muß Frieden halten.‘, so geht ein Satz der Alten, ‚Wer Kriege führt, wird stets bekriegt‘. Die Geschichten unserer Kulturen sind voll von solchen Bildern. Doch was schert uns schon Geschichte? Heute. Wo doch alles anders ist, wir doch alles besser wissen … müßten …

Die Ideen geh‘n baden – ganz privat. Und wieder rufen Demagogen beider Seiten auf zum Kampf um Leben oder Tod. Der Andere ist abstrakt, der Feind. Am Screen oder auf dem Pergamentpapier, skizzenhafte Fratze seiner taktischen Position. Die Technik erspart den Blick von Aug‘ zu Aug‘. Warum auch nur, den Anderen von Angesicht zu Angesicht erblicken, man selber steht doch auf der richtigen Seite… …und nicht er … Sieh‘ ihm in die Augen und dann drück‘ ab. Meine Hoffnung ist, Du vermagst es nicht, den Finger noch zu krümmen. Soll‘n es denn wirklich wieder Kriege sein, die über‘s Schicksal vieler Menschen richten? Menschen über Menschen, ohne sich zu kennen? Soll wieder unschuldiges Blut die Rache an den Schuldnern tünchen? Der Krieg ist keine Wahl, noch höchstens Ausdruck, keine Wahl zu haben. Hilfloser Würgegriff der Macht, die Reichweite ihrer Herren auszuweiten. Das Recht zu leben schließt das Recht zum Töten nimmer ein. Die Idee, den And‘ren einfach hinzumorden, kann nur als falsche menschliches Zusammenleben prägen. Soviel Kultur und soviel Leid, soviel Weisheit und soviel verbrannte Erde … und noch immer keine Einsicht weit und breit.

Lieber Moslem, lieber Christ, lieber Jude, lieber Atheist – laßt im Wettstreit der Ideen unsere Gedanken aneinander wetzen, anstatt uns in den Schützengraben gegenseitig zu zerfetzen. Im großen Kriege um die Macht und um die Gier haben stets die großen Macher nur gesiegt, all die Bin Ladens, Bushs, Blairs, Scharons, Putins und Arafats dieser Welt. Den Mensch am Abzug hat die Kugel stets noch angetroffen.

Für die ‚gute‘ Sache einzusteh‘n, ist wichtig, doch wird sie nur durch ihre Mittel richtig. Für den Schwächeren Partei ergreifen, heißt auch: für den Stärkeren Verantwortung mitzutragen. Aber nicht ihn richten! Gottes Stimme allein sollte dies vermögen. Doch sie spricht nicht durch uns Menschen. Keines unsere Worte, Schriften, Gedanken oder Gefühle, keines Menschen Tat kann ihr Urteil in der Welt verkünden.

Warum nur ist der Krieg heut wieder einzig möglich, unabwendbar, richtig? Warum haben die Geschichten so wenig nur gelehrt? Ich wüßte gern die Antwort auf die Frage. Sie ist auf meine Friedenshoffnung nur gestellt. Warum nur diktiert ihr die Menschen zu den Waffen, warum nur Menschen, greift ihr zu? „Hört auf damit und haltet Frieden!“ ruft Euch ein Freund im Herzen mutig und entschieden zwar entgegen, doch zaudernd bei der Frage: wie man so jung sein kann, und schon sooooo sentimental!

clov

Standpunkt

Die Großstadtindianer (Folge 2)

Eine Heimat, ein Springer und ein paar Gläser II

Nachdem Kalle die Idee meines neuen Amtes als Chronist geboren hatte, war es Boris gewesen, der mich vor einer alle Zweifel vertilgenden Predigt Kalles bewahrte. Freilich, seine Euphorie hatte mich angesteckt: Eine Geschichte unserer eigenen Taten. Aber ich scheute gerade vor den unumgänglich selbstreflexiven Zügen solch einer Unternehmung. Schließlich würde sie ohne kritischen Selbstbezug aus der Feder eines einäugig Blinden stammen. In dererlei Zweifel war Boris mit seiner Nachricht von Buggemüller gestürzt, jenem fettleibigen Fuhrunternehmer der Stadt, und hatte jedwede tiefergehende Diskussion just abgeschnitten. Wollten wir unseren rasant abnehmenden Vorrat an Einweckgläsern wieder mit Nachschub versorgen, mußte sofort gehandelt werden. Buggemüller war der (vertraglich abgesicherte) Entsorger der kleinen Fast-Food-Fabrik am östlichen Ende der Stadt. Sein Job bestand einfach darin, den in der Fabrik anfallenden Müll an die entsprechenden Stellen zu entsorgen. In der Fabrikleitung hatte man unsere Bitten nur mißmutig angehört. Satzfetzen wie: „Wenn da jeder kommen würde.“, „Das geht einfach nicht!“, oder „Der Herr Buggemüller würde anfangen, um seinen Job zu bangen. Und das wollen wir doch alle nicht.“ Ja, ja! Noch immer spukten sie durch meinen Kopf. Dabei wäre alles so einfach gewesen. Ein Anruf und wir hätten die Gläser abgeholt, direkt vom Fabriksgelände und ohne Kosten!? Doch der Mythos vom Fortschritt durch Kostenminimierung hatte einen zutiefst konservativen Kern: Hauptsache alles bleibt, wie es ist! Wegen dieser Halsstarrigkeit mußten wir einen anderen Weg finden, um an die für uns so wichtigen Gläser heranzukommen. Unser Obst war schließlich in der ganzen Gegend beliebt. Nicht nur weil niemand mehr so leicht an Eingewecktes herankam, sondern vor allen Dingen weil jeder es bei uns so ziemlich gegen alles eintauschen konnte: Ob gegen eine überflüssige Packung frische Eier, ein loses Stromkabel oder ein paar saubere Mauersteine. Zum Verkauf sollte nur im äußersten Notfall gegriffen werden, dieser Vorsatz galt wie Ungeschriebenes. Von Geld konnte mensch zwar alles kaufen, was es eben gab, aber selten das, was mensch wirklich brauchte. Daraus mußte man keine Theorie machen, das wußte jeder.

Am Anfang dachten wir daran, in die Deponie einzusteigen und die Gläser einfach zu mopsen. Doch der Stacheldraht der Halde lag hoch, die Hunde gehörten dringend in die Therapie und es wäre auch schwierig gewesen, die Kameras auszuschalten. In einem Wort, der Müll der Stadt war zu gut bewacht und außerdem mußte man davon ausgehen, daß ein Großteil der Gläser beim Entladen schon zerbrochen war. Wie also an die Gläser herankommen? Die Lösung hieß: BUGGEMÜLLER. Während ich darüber nachdachte, wie wir auf Buggemüller gekommen waren, hatten sich meine Schritte denen Kalles und Boris‘ angeschlossen, doch kurz vorm Schuppen wandte ich sie noch einmal Richtung Feld. „Moni!?“ Sie war nirgends zu sehen, nur das Gartengerät faulenzte träge in der Sonne. „Au!!“ Ein Apfel traf mich zielgenau am Hinterkopf und purzelte vor meine Füße. Ich drehte mich jäh herum, doch niemand war zu sehen. Aus der Baumkrone über mir kicherte es leise. „Moni?“

Ihr Wuschelkopf erschien zwischen den Ästen. „Suchste mich?“ „Äh, ja.“, ich rieb mir die kaum noch wahrnehmbare Trefferstelle am Hinterkopf, „Du, der Buggemüller ist mit Gläsern unterwegs. Will’ste mitkommen?“ Moni hangelte vom Baum. „Nee. Laß mal. Das Feld ist fertig und jetzt mach‘ ich gar nichts mehr. Ich leg‘ mich nur noch in die Hängematte und genieße die Sonne.“ Sie wollte an mir vorbeigehen, überlegte, und sagte dann noch: „Außerdem mag ich den Buggemüller nicht!“. Sie blies in meine Haare an der Stelle, wo mich der Apfel getroffen hatte und flüsterte: „Ich mache jetzt die Beine lang, er hebe hoch, der Müßiggang!“ Noch ehe ich reagieren konnte, war sie schnell zwischen die Bohnenranken abgetaucht.

Ich zuckte etwas hilflos mit den Schultern und ging zurück zum Schuppen. In meinem Rücken hörte ich Moni noch rufen: „Du Finn, ihr wascht mir die Gläser doch hinterher noch aus. Die stinken immer so nach saurer Gurke. Pfui, Pfui.“ Ich mußte lächeln. Dieses ‚Pfui, pfui‘ – so wie Moni es sagte – das war Moni. Und sie wußte das. Es erinnerte an die unzähligen Male zuvor, an gemeinsam Erlebtes, an Moni und ihr ‚Pfui, pfui.‘. „Hallo, Herr Tagträumer!“ Ich stolperte fast über Kalle, der mit den Holzkiepen aus dem Schuppen kam. „Nimmst du den Wagen? Boris ist zum Wohnhaus. Er will fragen, ob noch jemand mitkommt. Wir treffen uns vorn, an der Ecke.“ „Gut.“ Ich griff nach der Achse des Wagens. „Und was ist mit Moni?“ „Sie will …“, ich erinnerte mich an ihren Flüsterton, „ …müßiggehen.“ „Aha, soll sie mal. Soviel ist nun auch wieder nicht zu tun. Na dann los.“ Als wir die Ecke erreichten, kam uns Boris mit Schlumpf und Schmatz entgegen. ‚Die beiden …‘, dachte ich und sagte zu Kalle: „Für den Spaßfaktor ist damit auf jeden Fall gesorgt.“ Er lachte nur und gemeinsam gingen wir den Berg hinab, von dem sich die Straße zwischen die städtischen Viertel schlängelte; unsere Heimat im Rücken und unsere Aufgabe weit voraus.

(Fortsetzung folgt.)

clov

…eine Geschichte

Briefpakete aus Bologna!?

Anarchismus und bewaffneter Kampf in Italien

Als um die Jahreswende mehrere Briefpakete mit der Sprengkraft von Tischfeuerwerken in den Poststellen verschiedener EU-Institutionen eingehen, ist die Verbindung mit zwei brennenden Mülltonnen und einem präparierten Brief an die Privatadresse Romano Prodis schnell hergestellt. In der allgemeinen Presse werden die Konstrukte der italienischen Behörden kritiklos übernommen. Italienische AnarchistInnen sollen hinter der Briefserie stecken, organisiert, aber schwer zu kriegen, flexibel und dezentral. Die Regierung Berlusconi scheut sich nicht, Verbindungslinien von el Qaida bis zu attac, von den alten und neuen Roten Brigaden bis zu Europposition zu ziehen, um die europäische Öffentlichkeit auf die Gefährlichkeit der AnarchistInnen, insbesondere der italienischen und sardinischen, einzuschwören.

Und allen schlottern die Knie. Kaum eine/r fragt, was eigentlich das Interesse der Berlusconi-Regierung an einer derartigen Kampagne ist, wenige wagen den Blick in die italienische Geschichte – ich meine, was ist nicht alles allein in Bologna passiert! Nö, da latscht die Journaille lieber dpa-Meldungen aus, kommentiert die Phrasen der italienischen Politiker im Stile eines mode-moderierenden Sportreporters und ist dabei nicht mal in der Lage, die einfachsten Fakten zusammenzutragen. Aber auch in der kritischen und emanzipatorischen Presse werden weithin nur die eigenen Vorurteile bestärkt, alte Verschwörungstheorien gepflegt und letztlich kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung geführt. Da redet mensch vom Wiederaufleben der „Strategie der Spannung“ und den „bleiernen Jahren“ (s. unten). Als wenn Tischfeuerwerke mit Bombenanschlägen, Morde mit Ermittlungen zu verwechseln wären. Unbestritten, die italienische Regierung nutzt die Vorfälle, wo sie nur kann, ideologisch, politisch, strategisch. Ist deshalb alles fingiert? Vielleicht sind wirklich nur die brennenden Mülltonnen das Werk der bekennenden FAI. Auf dem zweiten Schreiben, das sich zeitlich nur noch auf das Briefpaket für Prodi beziehen läßt, ist ja nicht mal die Stellungnahme der ausführenden Gruppe (in Schablonenschrift s. Kasten) zu finden und damit fehlt der einzige direkte Bezug zu der Aktion. Ich glaube dennoch, die schriftliche Bekennung ist echt, wegen dem lokalen Bezug zu Bologna, dem spezifischen Milieu, der taktischen Wahl von Ziel und Mitteln, der Art und inhaltlichen Tiefe des Bekennungsschreibens, der historischen Kontinuitäten im bewaffneten Kampf Italiens und auch wegen der absichtlichen Abkürzungsverwechslung mit der „offiziellen“ Anarchistischen Föderation Italien (FAI.), die das angefügte PS ironisch entschuldigt (alle mit Kürzel erwähnten Gruppierungen sind auf S. 22 näher erläutert).

Die große Masse ahnt natürlich nichts von den Diskussionen, welche in unserem Lager geführt werden. Da sie keine andere Ansicht vernimmt als die Verleumdungen der Tagespresse ist sie auch der Ansicht, der Anarchismus sei nichts anderes als Mord und Bomben, Anarchisten seien eine Art von blutrünstigen Tieren, die von nichts als Mord und Zerstörung träumen.“ (1)

Errico Malatesta (1918)

Zweifel indes hege ich ebenfalls gegenüber der europäischen Dimension der ganzen Aktion. Der Zusammenhang mit den Briefpaketen an die EU-Institutionen ist weder zeitlich noch durch das BekennerInnenschreiben gedeckt. Mittel und Zielwahl sind anders. Niemand bekennt sich, weiterhin. Alles beruht auf den spärlichen Aussagen der italienischen Ermittlungsbehörden und verantwortlichen Minister, die außer der gleichen Bauweise der Pakete und dem Aufgabeort Bologna, außer der Behauptung von unbekannten personellen Verbindungen zu verschiedenen europakritischen Gruppen eigentlich nichts in der Hand haben. Wenn mensch dann noch bedenkt, daß die Briefpaketeserie schon ein günstiger Anlaß war, eine lang geplante europäische Antiterrorrunde unter italienischem Vorsitz durchzuführen, prompt die anarchistische Bewegung auf die Agenda zu setzen2 und dann eine Sondereinheit unter italienischer Führung zu bilden, die sich mit allgemeinen Ermittlungen gegen die anarchistische Bewegung in ganz Europa richtet. Das riecht förmlich nach einer politischen Strategie der italienischen Regierung und ihrer Helfershelfer, schmeckt zumindest mach einer Taktik, um dieses Gremium zu dominieren. Und ehrlich gesagt, wäre das auch keine historische Neuheit.

Wir konnten uns die Freude nicht vorenthalten, aktiv Kritik an dem ausgehenden italienischen Präsidentschaftssemester auszuüben …“

*FAI

Aber auch ohne die Reichweite der Aktion und eventuelle Einflußnahmen genau bestimmen zu können, erscheint es mir als richtig und wichtig, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Bekennungsschreiben zu wagen, dessen zweiter Teil einen „offenen Brief an die anarchistische und antiautoritäre Bewegung“ enthält. Eine Auseinandersetzung, die auch lohnt, weil sie Fragen der Organisierung, mit der nach dem bewaffneten und militanten Kampf, die anarchistische Idee der Revolution mit historischen wie aktuellen Taktiken zur Erreichung derselben verbindet. Ein Anfang liegt hier vor. Der spezifisch italienische Hintergrund mußte aus Platzmangel leider größtenteils in die Kästchen wandern, wie auch die zwei historischen Exkurse.

FAI. – Operation Santa Claus

So hat das bekennende Bündnis aus mehreren Gruppen den ersten Teil ihres Schreibens überschrieben. Titel der „ersten Kampfkampagne der Informellen Anarchistischen Föderation“ (alle folg. Zitate aus eben dem). Gegen wen sich diese Kampagne richtet, wird nach einer kurzen Analyse der Verhältnisse innerhalb der Europäischen Union deutlich. Ihre Konsolidierung (Verfassungsvertrag) bedeute den Ausbau von Herrschaft und Macht, durch intensivierte Repression nach Innen (Sicherheitspolitik) wie Außen (Migrationspolitik). Eine weitere Stärkung der Zentralgewalten mit neuen Praktiken der Ausbeutung und Unterdrückung anstelle der Zersetzung derselben (vgl. auch Feierabend! #10 S. 17 bzw. in diesem Heft S. 1/8). Als taktische Ziele jenes Kampfes gelten deshalb die verschiedenen Polizeien, das europäische Heer, das Haftsystem und die Bürokraten und PolitikerInnen, die diesen Institutionen das Überleben sichern. Eine Zielwahl, die sicher auch eng mit den historischen Erfahrungen der Gruppen insbesondere der spanischen wie italienischen C5 verknüpft ist. Dann erklären die BekennerInnen, daß die Aktionen in Technik, Zeit und Modalität so ausgerichtet sind, daß sie das „zu Schaden kommen“ Unschuldiger möglichst ausschließen. Sie betonen ihre Entschlossenheit, weiter gegen die „.Herrschaft des Menschen über den Menschen und des Menschen über die Natur“ zu kämpfen, und enden mit der vorsichtigen Hoffnung, daß die „destruktive/konstruktive Spannung für eine bessere Welt“ auf den Straßen wächst. Angefügt ist – zumindest im ersten Brief an die Tageszeitung La Repubblica – ein kurzer Teil in Schablonenschrift, offenbar von der direkt ausführenden Gruppe handwerkliche Genossenschaft für Feuer und Ähnliches, die hierin Romano Prodi und seiner Familie ziemlich niveaulos droht, sich auf einige tote, anarchistische Aktivisten in Italien (allesamt durch Polizeigewalt Getötete) bezieht und letztlich Anarchie und FAI. hochleben läßt.

Unsere Mittel sind diejenigen, die uns die Umstände gestatten und aufzwingen. Gewiss möchten wir niemandem ein Haar krümmen; wir möchten gern alle Tränen trocknen, ohne eine vergießen zu lassen. Doch andrerseits müssen wir in dieser Welt, wie sie ist, kämpfen, wenn wir nicht unfruchtbare Träumer bleiben wollen.“ (4)

Errico Malatesta

Die Aktion (Kampagne), ob sie sich nun auf die zwei Mülltonnen für sich oder/und auf den präparierten Brief an Prodi beschränkt oder doch alle Briefpakete an die EU-Institutionen mit umfasst, ist sicher in der Tradition des bewaffneten Kampfes der außerparlamentarischen Strömungen in Italien zu sehen, eine Nähe, die das Schreiben auch an verschiedenen Stellen suggeriert. Nichtsdestotrotz läßt der Text die Wahl der Mittel prinzipiell offen, und nicht unberechtigt ist die Frage, inwieweit brennende Abfalltonnen und verschicktes Tischfeuerwerk überhaupt zum bewaffneten Kampf zu zählen wären. Auch wenn Analyse, Kritik und auch Ziel- und Mittelwahl durchaus anarchistischen Idealen folgen, zeigt doch gerade die Ermangelung solidarischer Bekundungen innerhalb und außerhalb von Italien, die tendenzielle Isolation der involvierten Gruppen und ihrer „Kampfkampagne“. Der Rechtfertigung über die Freiheit jedes/R Einzelnen, seiner/ihrer Empörung gegen Herrschaft, Ausbeutung und Diskriminierung im Hier und Jetzt Ausdruck zu verleihen, stehen dabei die Einvernahme durch die staatlichen Behörden (die darauf nur gewartet haben!) und die jetzt einsetzende Repression gegen die anarchistische Bewegung in ganz Europa entgegen. Mildernd bleibt da nur: Niemand kam bis jetzt ernstlich zu Schaden.

Wer wir sind. – FAI.

Nur ein dummer Bubenstreich, verübt von einer handvoll Leuten, die einmal zu oft in der Geschichte des italienischen Widerstandes geblättert haben? Nein. Gerade der zweite Teil des Schreibens, der „offene Brief an die anarchistische und antiautoritäre Bewegung“, zeugt von einer tiefen inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Fragen der Organisierung in idealistischer und historischer Dimension und kann so gesehen als kurze Programmatik verstanden werden. Während unter den Schlagwörtern ‚Föderation‘ und ‚Anarchistisch‘ weitestgehend Gemeinplätze der historisch anarchistischen Diskussion berührt werden – die freie Assoziation von Gruppen und Individuen in horizontalen Strukturen zum Zwecke der Auflösung von Staat und Kapital, die Wirksamkeit der „direkten Aktion“ und ihrer „Propaganda durch die Tat“ – bereitet doch gerade der informelle Charakter dieser Art der Organisation – ja auch im Bündnisnamen FAI. Ausschlaggebend – einige Kopfschmerzen. Informell – weil nicht demokratisch, ohne Delegierte, Komitees oder Plena samt ihren Organen, um das Entstehen von charismatischen WortführerInnen zu vermeiden. Informell – weil gestützt auf eine weitestgehend anonym geführte Debatte allein durch die Propaganda der Tat (+Bekennung und evtl. Kampagnenaufrufe). Informell – weil die Erfahrungen der Roten Brigaden gezeigt haben, wie angreifbar eine Organisationsform ist, die mit festen Strukturen aus dem Untergrund heraus agiert (Reguläre/ Irreguläre KämpferInnen). Informell – um der staatlichen Repression besser ausweichen zu können.

Nur die globale Revolution, nach anarchistischen Prinzipien, kann garantieren, dass Terrorismus auf den Platz verwiesen wird, der ihm innerhalb der menschlichen Zivilisation zukommt – in den Abfalleimer der autoritären Ideen.“ (4)

Falls der revolutionär anarchistische Ansatz geteilt wird, kann prinzipiell jede Gruppe oder Einzelperson unter Wahrung der Anonymität zur FAI. gehören, indem sie durch Aktionen „revolutionäre Solidarität“ übt mit Inhaftierten oder von staatlicher Willkür Betroffenen bzw. „revolutionäre Kampagnen“ startet, die nach dem Vorbild des vorliegenden Textes und der dazugehörigen Aktionen gestaltet sind. Kritik innerhalb der FAI. könne sich ebenfalls über „Aktionen/Communiqués konkretisieren“. Ganz nebenbei werden „Informationsinstrumente der Bewegung“ erwähnt, die ebenfalls an der Verbreitung von Theorie und Kritik mitwirkten. Informelle Gegenseitigkeit? Die Kulturfrage bleibt unbeantwortet.

Auch wenn ich viele organisatorische Bedenken der BekennerInnen der FAI. teile, ziehe ich doch den direkten Kontakt, das Gespräch, dem anonymen vor. Auch liegt mir, wie der sich distanzierenden Anarchistischen Förderation Italiens, der Transparenzgedanke näher als der der Informalität, jeder Repression zum Trotz. Und schließlich respektiere ich zwar die historische Dimension der bewaffneten Kämpfe in Italien, wie die prekäre Situation von politischen AktivistInnen speziell der italienischen, wage aber dennoch die Frage, ob nicht die ein oder andere Diskussion, so mancher kritische Gedanke, dazu beigetragen hätte, eine Aktion zu konzipieren, die in ihrer Art und schließlich auch in ihrer Zielwahl nicht so kläglich ausgefallen wäre, wie die „Operation Santa Claus“. Dabei müßte zuförderst geklärt werden, ob der bewaffnete Widerstand zum jetzigen Zeitpunkt und überhaupt ein Mittel darstellt, die Bevölkerungen für den Kampf gegen die kapitalistischen Verhältnisse, für anarchistische Ideen und die Möglichkeit einer anderen Vergesellschaftung zu gewinnen. Sowohl durch die Propaganda der Tat als auch durch direkte Aktionen kann heute subversiv viel erreicht werden, wenn sie klug gesetzt und vermittelbar sind. Waffen und Konfrontationen dagegen, bleiben den Beweis ihrer dauerhaften Wirksamkeit in der Geschichte des weltweiten Kampfes gegen Staat und Kapital bis heute schuldig.

clov

*Die Übersetzung des BekennerInnenSchreibens unter: www.de.indymedia. org/2004/01/71608. shtml
Dementi der FAI unter: www.de.indymedia.org/2004/01/72208. shtml
Zu den alten und neuen Roten Brigaden: www.geocities.com/aufbaulist/Zeitung/Artikel_26/Nachrichten.htm oder antifa.unihannover.tripod.com/rote_Brigaden.html
Zur P2-Loge und Gladio: zoom.mediaweb.at/zoom_4596/italien.html
Zur parlamentarischen Geschichte Italiens ab 1989: www.uni-duisburg.de/AL/BASTA/b1-96-5.htm
Zur Strategie der Spannung: www. malmoe.org/artikel/top/494

(1) aus Errico Malatesta, „Anarchismus und Gewalt“ (1918), Edition Anares, 1987, www.Anares.org
(2) die gerade in Italien so manche Regierung unter Druck setzte, durch Militanz und ihren Rückhalt in der Bevölkerung
(3) zit. n. Hector Zoccoli, „Die Anarchie“, Kramer, Berlin 1976
(4) Anarchistisches Kollektiv „Slobodna Krajina“ (Banjaluka-Bosnia and Herzegovina) ab_useyu@yahoo.co.uk
(5) Max Nettlau, „Geschichte der Anarchie“, Bd. 3, Impuls Verl.

Was geschah? Chronik der Ereignisse:

SON 21.12.2003

Zwei Mülltonnen in der Nähe von Romano Prodis Familienhaus in Bologna gehen in Flammen auf.

DIE 23.12.2003

In der örtlichen Redaktion der Tageszeitung La Repubblica geht mit Poststempel CMP 21/12/2003 ein zweiteiliges BekennerInnenschreiben der FAI – Informelle anarchistische Föderation ein.

SAM 27.12.2003

Ein präparierter Brief geht in den Händen des EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi mit einer Stichflamme in die Luft. Der auf Verdacht vorsichtige Prodi kann das an seine Frau adressierte Buchpaket noch rechtzeitig von sich schleudern. Leicht Verletzte: ein Möbelstück und ein Teppich.

SON 28.12.2003

Die FAI – Italienische Anarchistische Föderation dementiert jeden Zusammenhang mit dem BekennerInnen-Schreiben und den Briefen.

MON 29.12.2003

Mit Poststempel Bologna CMP 22/12/2003 trifft ein weiteres Schreiben der Informellen anarchistischen Föderation ein. Diesmal bei der mailändischen Redaktion der Tageszeitung Libero. Das Gleiche wie in Bologna, bloß ein Zusatz in Schablonenschrift fehlt. Ein entzündliches Briefpaket wird in der Poststelle der EZB abgefangen. Adressat: Jean-Claude Trichet, Präsident der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Niemand wurde verletzt.

In einer Einrichtung von Europol in Den Haag wird ein Brief entschärft. Adressat hier: Jürgen Storbeck, Chef der Polizeibehörde Europol. Verletzte: Niemand.

DIE 30.12.2003

Die EU-Agentur für grenzüberschreitende Kriminalität Eurojust in Den Haag erhält ebenfalls ein Briefpaket. Experten können es entschärfen, bevor es seine stichflammenartige Wirkung entfaltet.

MON 05.01.2004

Im Abstand weniger Stunden gehen zwei präparierte Briefe in Flammen auf. Einmal im Brüsseler Büro des deutschen EU-Parlamentariers Hans-Gert Pöttering (Europäische Volkspartei [EVP]) und zum anderen im Büro des britischen EU-Parlamentariers Gary Titley (Sozialdemokratische Partei Europa [SPE]) in Manchester. Verletzt wurde dabei niemand.

Ein drittes Briefpaket, das an den konservativen spanischen Abgeordneten Jose Ignacio Salafranca adressiert war, wurde im Europaparlament rechtzeitig abgefangen. Keine Verletzten. Am selben Tag treffen sich in Rom mehrere Anti-Terrorexperten aus europäischen Ländern. Die bereits seit längerem geplanten Runde steht unter der Leitung des italienischen Polizeichefs Gianni De Gennaro. Sie beschließen die Einrichtung einer „Sondereinheit zur Aufklärung anarchistisch aufständischer Gewalt“. Diese soll innerhalb von zwei Monaten das Phänomen untersuchen und die Ermittlungsergebnisse der verschiedenen Länder zusammenbringen. Geleitet wird die Ermittlungsgruppe vom Chef der italienischen Antiterroreinheit, Gianni Luperini.

Exkurs: Direkte Aktion

Aber der Kongress betrachtet es als die Aufgabe der Anarchisten in

den Organisationen das revolutionäre Element zu bilden und nur

jene Arten von ‚direkter Aktion‘ zu propagieren und zu unterstützen

(Streik, Boykott, Sabotage etc.), die in sich selbst einen

revolutionären Charakter im Sinne der sozialen Umgestaltung

tragen.“

Internationaler anarchistischer Kongreß in Amsterdam,

25.-31. August 1907

Diese taktische Bezeichnung ist innerhalb des revolutionären Syndikalismus bzw. Anarcho-Syndikalismus entstanden, der um die Jahrhundertwende durch das verstärkte politische Interesse und den wachsenden Organisierungsgrad der ArbeiterInnenbewegung vermehrt anarchistische Ideen in die Fabriken tragen konnte. Alle wesentlichen Elemente der „Propaganda durch die Tat“ kehren mit der „direkten Aktion“ wieder. Allerdings wurde heftig über das Ziel solcher Aktionen diskutiert, die sich in ihrer Reichweite auf einen einzelnen Arbeitskampf beschränkten. Wie revolutionär oder reformistisch konnten sie sein? Schließlich gab es unter den AnarchistInnen auch einige Skepsis darüber, inwieweit sich die anarcho-syndikalistische Bewegung vom Marxismus, den Gewerkschaften abheben könnte; nicht den Kampf einer Klasse zu führen, ihr gar zur Diktatur zu verhelfen.

Die Anarchisten betrachten die syndikalistische Bewegung und

den Generalstreik als mächtige Kampfmittel, aber nicht als Ersatz

der sozialen Revolution.“ Ebenda.

Die Spannungen zwischen Anarchismus und Syndikalismus haben viele Früchte getragen. Direkte Aktion – heißt seinen Arbeitsplatz als einen ausgezeichneten Raum politischer Aktion wahrzunehmen, heißt die unmittelbare, individuelle oder kollektive Intervention gegen Herrschaft, Ausbeutung und Diskriminierung an dem Ort, wo sie ursächlich beginnt, und mit dem Ziel jene Machtformen von Menschen über Menschen für immer zu beseitigen.

Propaganda durch die Tat…

Die italienische Förderation glaubt, daß die insurrektionelle [aufständische] Tat, die dazu bestimmt ist durch die Tat die sozialistischen Prinzipien zu verkünden, das allerwirksamste Propagandamittel ist, und das einzige, das ohne die Massen zu korrumpieren oder zu betrügen, bis zu den allertiefsten sozialen Schichten eindringen und die lebendigen Kräfte der Menschheit für den Kampf gewinnen kann, der von der Internationale geführt wird.“ (5)

Die ital. Delegierten Carlo Cafiero und Errico Malatesta auf einem internationalen Kongreß im Oktober 1876.

…bezeichnet eine spezifische Taktik der anarchistischen Bewegung, die insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jh. heftig diskutiert wurde. Sie zielt darauf ab, anarchistischen Ideen, der Aufklärung über die Verhältnisse und ihre Angreifbarkeit, der anarchistischen Gesellschaftlichkeit den Weg zu den Menschen zu bahnen. Und zwar nicht nur in Wort und Schrift, sondern durch die direkte Tat. Gemäß dem Ideal der Handlungsautonomie jedes/r Einzelnen und der Freiheit von Jedem, sich auch im Hier und Jetzt zur Wehr zu setzen, anstatt das individuelle oder kollektive Bedürfnis nach Revolte auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu vertrösten. In der konventionellen Geschichte ist diese Taktik leider nur im bewaffneten Kampf aufgefallen (Attentate gegen Monarchie u. Polizei/Militär), während die ethische Dimension der tätigen Teilhabe am Anderen, der Versuch Freiräume zu erobern und zu schützen, die Selbstorganisierung und handgreifliche Solidarität, die wesentlich stärkeren Facetten „der Tat“ waren. Der Beschluß der IAA (Internationale ArbeiterInnen Assoziation) 1881 in London – er fußt auf den Erfahrungen der zurückliegenden Jahre unter dem allgemeinen Eindruck des Erstarkens der ArbeiterInnenbewegung und der zunehmenden Repression durch die Behörden – bringt die taktische Diskussion zu einem vorläufigen Ende:

In Erwägung, daß die IAA. es für notwendig erkannt hat, der mündlichen und schriftlichen Propaganda die Propaganda durch die Tat anzuschließen, in fernerer Erwägung, daß die Zeit eines allgemeinen Ausbruchs nicht fern ist und daß die revolutionären Elemente aller Länder berufen sein werden all ihre Aktionskraft zu entfalten, spricht der Kongreß den Wunsch aus, daß die sich der IAA. anschließenden Organisationen folgende Vorschläge beachten: Es ist von strikter Notwendigkeit, alle Anstrengungen zu machen, durch Taten die revolutionäre Idee und den Geist der Empörung in dem Teil der Volksmassen zu propagieren, der sich noch abseits von der Bewegung befindet und Illusionen über die Legalität und die Wirksamkeit der legalen Mittel hegt.“ (5)

Exkurs: Strategie der Spannung…

Die Rechten stellen sich selbst in den Dienst des Staatsapparates, in dem sie eine Strategie unterstützen, die man als Strategie der Spannung bezeichnet. Dreißig Jahre lang bis in die achtziger Jahre wurde die Bevölkerung absichtlich in Unruhe und Angst vor einem Ausnahmezustand gehalten. Bis sie bereit war, einen Teil ihrer persönlichen Rechte im Austausch für größere Sicherheit aufzugeben, für die alltägliche Sicherheit, die Straße entlang zu gehen, mit der Bahn oder dem Flugzeug zu reisen, in eine Bank zu gehen. Die Menschen in diese Haltung zu zwingen, das ist die Logik, die hinter den Verbrechen steckt. Und da der Staat dahinter steht, der sich nicht selbst belasten wird, werden diese Verbrechen unaufgeklärt bleiben.“

Vincenzo Vinciguerra, wegen der Morde von Peteano 1972 zu lebenslanger Haft verurteilter Neofaschist und Gladiator.

…bezeichnet eine Taktik, die in den Siebzigern von faschistischen und neofaschistischen Zellen (MSI u.a.) im Umfeld der Gladio-Strukturen, unter Mithilfe von CIA und Federführung von P2- Mitgliedern gegen die historisch starke Linke in Italien forciert wurde. Die PCI konnte absehbar nicht mehr an einer Regierungsteilnahme gehindert werden. Ein klarer „Bündnisfall“. Der bewaffnete Kampf der Roten Brigaden wurde instrumentalisiert, wie entfacht, um die AkivistInnen von der Bevölkerung zu trennen und das allgemeine Sicherheitsbedürfnis zu erhöhen. In Italien brechen die „bleiernen Jahre“ an:

28. Mai 1974, Brescia, Piazza della Loggia. Während einer antifaschistischen Demonstration der Gewerkschaft explodiert eine Bombe, die 9 Tote und 90 Verletzte fordert …

4. August 1974, „Italicus“-Express. Die Explosion einer Bombe in einem Schnellzug auf der Strecke Florenz-Bologna tötet 12 Fahrgäste und verletzt 48 …

2. August 1980, Bologna, Bahnhof. Eine Bombe tötet 85 Menschen und verletzt 200 weitere …

Faschisten und Geheimdienst sind fast immer verwickelt. Gleichzeitig startet eine ungeahnte Repressionswelle gegen die linke und außerparlamentarische Bewegung und ihre Strukturen. Hunderttausende wandern hinter Gitter, während die katastrophalen Ermittlungen und Prozesse gegen die Attentäter und ihre Helfershelfer fast immer mit Freisprüchen enden. Ein Gruselkapitel der italienischen Staatsgeschichte. Zu dessen Alt-Mimen gehört auch, mensch höre und staune, der Silvio …

Nachbarn

Die GroßstadtIndianer (Folge 10)

Kein Krieg, Kein Gott, kein Vaterland I

Etwas kitzelt mir die Nase, ‚verdammt‘, ich muß niesen. Ganz kurz, aber der Moment reicht und mein Traum hat sich verkrochen. Da hilft auch kein Suchen mehr. Durch meine verquollenen Augen blinzelt mich der Tag an. Ich zwinkere zurück: ‚Auch noch nicht so alt, Bursche‘. Meine großen Zehen tasten nach den Latschen. ‚Und so schön bist du auch wieder nicht!‘ Mißmutig schiebt er sich eine handvoll Wolken vors Gesicht und macht einen sehr unentschlossenen Eindruck. Morgentoilette – alltäglich, unaufgeregt. Erst als ich über den Platz zum Frühstück trotte, spüre ich, wie einer meiner Lebensgeister aus seiner Flasche kriecht. Aber die anderen, die sind dann echt das Morgengrauen. Finn nagt versunken an einem Kanten Schwarzbrot, Kalle ist früh morgens sowieso kaum ansprechbar und Moni und Schlumpf kann ich an den Augenringen ablesen, wie wenig sie letzte Nacht geschlafen haben. Beim genauen Auszählen der Falten trifft mich Monis Blick, etwas vorwurfsvoll. Ich sehe verlegen zu Schmatz, der im Moment nur Augen für seinen Napf hat. ‚Na wenigstens einer ist heut gut drauf‘, als ich über sein Fell fahre, knurrt er versunken, aber bestimmt. ‚Der will also auch nicht gestört werden!‘ „Na, guten Morgen!“ Der Gedankenfetzen rutscht mir einfach so raus und meine Zunge ist sein williger Helfer. Plötzlich sitze ich im Kreuzfeuer. Alle starren mich an, als würde ich ihnen gleich erklären, warum ihr Tag so scheiße begonnen hat. Ich lasse das aber lieber und entscheide mich stattdessen für einen positiven Ausblick. „Mensch Leute, mit der Einstellung, da kann die Demo ja nur ein Reinfall werden!“ Finn winkt zwar ab, scheint mir jedoch etwas dankbar für den Versuch der allgemeinen Aufmunterung. Kalle macht eine Mundbewegung wie ein Karpfen und will gerade ansetzen, mir auseinanderzunehmen, warum er diese Demo gerade so blöd und unsinnig findet, aber Moni schneidet ihm aber erstaunlich geistesgegenwärtig das Wort ab. „Laß mal gut sein, Kalle, das hatten wir doch gestern schon alles.“ Schlumpf nickt. „Wir ziehen das jetzt einfach durch. Die anderen verlassen sich schließlich auf uns.“ Kalle verzieht sein Gesicht: „Ja, ja und kuscheln sich jetzt noch in ihre Betten. Das ganze Pack von Meuterern. Und auf welchen Schultern lastet wieder die ganze Verantwortung? Na, na?“ Aufreizend blickt er in die Runde. „Steck den Muffel wieder weg, du Seeräuberhauptmann.“ Tatsächlich, Finn grinst ein wenig. „Freibeuter, bitte!“ Alle nicken verständnisvoll. Wenig später sind wir dann auch schon unterwegs: Finn und Moni vorneweg, das Transparent geschultert, ich und Schlumpf hinterher – er hatte Schmatz aus technischen Gründen, mit den Worten: „Streunender Hund von Polizei totgetrampelt, nein Schmatz, das ist denen keine Schlagzeile wert. Du paßt hier auf und sicherst uns den Rückzug.“ gebeten, auf dem Hof zu bleiben – und Kalle trabt etwas abseits, von Zeit zu Zeit einen Kieselstein traktierend. Er hat ja auch Recht, eine Demonstration gegen die Kürzungen und Sparpläne von oben, initiiert von ein paar Bürgervereinen, den Gewerkschaften und der Kirche ist nicht gerade das, von dem sich unser jugendlicher Idealismus eine substanzielle Veränderung der Verhältnisse erwartet. Und schließlich werden wir allenorten wieder den naiven Nationalismus zu hören kriegen, nach dem Motto: „Deutschland muß es wieder besser gehen.“, die banale Logik, den eigenen Landstrich als wirtschaftliche Einheit, als Standort in Konkurrenz mit anderen zu sehen. Aber es werden auch sicher einige Leute mehr kommen als sonst und diese Möglichkeit, auf der ohne Zweifel politischen Veranstaltung, für unsere Ideen, Aktionen und Projekte zu werben, vielleicht die eine oder den anderen aus seinem Taumel zu reißen, dies durften wir uns nicht entgehen lassen, eben wegen unserer politischen Verantwortung. Auch wenn es schwerfallen wird. Ein Sixpack kommt den Berg hinaufgeknattert. Schlumpf pfeift betont und rammt mir den Ellenbogen in die Seite. „Die hatten den Kofferraum voll! Was meinst du, wie die heute drauf sind? Ich hab gestern von Puschel und Locke gehört, daß die Polente schon den ganzen Abend angereist ist. Hamburg, München, Stuttgart, Rostock, Frankfurt Oder, Leipzig, von überall. Die haben angeblich ein Flugblatt abgefangen, in dem zum schwarzen Block aufgerufen wird.“ Ich kratze mir das Haupthaar, „Naja, soviele Militante gibt‘s in unserem Städ‘le ja nun auch nicht. Hoffentlich sind die nicht gestern schon angereist, in den selben Autos wie die Polizei, meine ich.“ „Scheiß Strategie!“ flucht Schlumpf und versucht grimmig dreinzuschauen. Ich muß lachen, „So bist du aber noch einfacher zu provozieren.“ Er starrt mich leicht irritiert an, läßt sich dann aber von meinem Grinsen anstecken. „Du hast recht.“ und beginnt eine tiefergehende Konversation über die Geschichte der Provokateure, einen Monolog eher, den ich nur mit einem Ohr verfolge. Ich blicke zu Kalle. Der doziert, einen Stein mit kleinen Tritten vor sich her treibend, wahrscheinlich eben jenem, noch einmal ausführlich seine Gründe gegen die überhobene Vorstellung nationaler Kollektive und Borniertheit der Standortideologie. Hofft er in dem jahrtausendealten Stein einen ebenbürtigen Gesprächspartner gefunden zu haben? Ich verwerfe den Gedanken und laufe prompt auf Finn und Moni auf. „Autsch.“ Beide drehen sich um. Während der Schmerz aus Finns Gesicht huscht, lächelt Moni mich an. Das Licht hat die Müdigkeitsfalten geglättet und frische Farbe in ihre Wangen getrieben, „Nicht so stürmisch. Du kannst wohl die Demo kaum erwarten, wie?“ Ich muß einem gezielten Schlag von Finns Transparentstange ausweichen und ziehe mich „sorry, sorry“ murmelnd hinter Schlumpf zurück. Der plustert auch sofort seine schmale Brust auf und geht in Kampfhaltung, bereit seinen Kumpel gegen den Angriff zu verteidigen. Doch bevor die Situation überhaupt die Chance hätte zu eskalieren, ist es Kalle, der ruft: „Hey seht mal, da laufen die ersten mit Transparenten. Kennen wir die nicht?“ Ja sicher, es sind die Leute vom Wohnprojekt und wenig später biegt auch noch ein Dutzend vom Jugendclub um die Ecke. Moni und Finn entrollen unser Spruchband. „Kein Krieg, Kein Gott, Kein Vaterland“ …

(Fortsetzung folgt.)

clov

Lyrik & Prosa

Wer nicht kämpft, hat auch nichts zu lachen!

Als ich ein kleiner Junge war, glaubte ich an die parlamentarische Demokratie, so unerschütterlich wie ich an die Allwissenheit meiner Eltern glaubte. Ich wuchs. Und mit jedem Zentimeter sammelten sich Zweifel. Skepsis gegenüber den Konventionen, den Normen, Regeln und gegenüber den Gesetzen. Ich traute meinen Augen nicht. Der Widerspruch zwischen dem Idealismus meiner Jugend und den Erfahrungen, die ich zwischen Gesellschaft und Staat lebte, schwoll langsam und grub eine erste Falte in meine Stirn. Mißtrauen geriet mit zwischen Selbsteinschätzung und elterliches Wissen. Ich emanzipierte mich von ihrer Autorität.

Kein Verdruss, denn ich konnte ja bald wählen gehen. Ja was? Was eigentlich? Meine Lebensform in ihrem Verlauf? Die Rahmenbedingungen meiner Projekte und Taten, meines Handelns? Nein. Die Möglichkeiten meiner Wünsche, Träume und Bedürfnisse? Nein. Spielräume und ihre Sanktionen? Territorien und ihre Verfassung? Zeiten und ihre Gesetze? Nein. Nein. Nein. Nicht mal Staat und Status konnte ich wählen. Sondern lediglich eine der dutzend konkurrierenden Parteien und ihre ListenkandidatInnen. Von denen lediglich zwei überhaupt in der Lage (also mit der Macht ausgestattet) schienen, die Durchsetzungsgeschichte meiner Ideen zu schreiben. Die Autorität dieser Gegenüber wirkte wie ein Anachronismus, ein Überbleibsel einstiger Frontlinien, wie ein zahnloser Dinosaurier. Eher lächerlich denn ernst zu nehmen. Mein junges Blut stürzte sich in das Getümmel und kochte dann sehr schnell über. Jedes Kreuz stimmte verdrießlicher. Die Tatenlosigkeit bewirkte schlechtes Gewissen. Die Pandemie* des Parlamentarismus.

Der Traum war aus. Keine dieser Parteien und Koalitionen war willens und mächtig, meine Vorstellungen ins Werk zu setzen. Im Gegenteil! Ein neuer Widerspruch erwachte. Der zwischen den Versprechen der parlamentarischen Politik und der Wirklichkeit derselben. Ich rieb mir einen zweiten Faltenberg auf die Stirn und überlegte lange, bis ich mich entschloss, dieses Spiel nicht mehr weiter mitzumachen – mitzuwählen, als ginge es darum, den neuen Superstar des allerneusten Hollywood-Streifens zu bestimmen. Nein Schluß! Ich war reif genug, für mich selbst zu stehen. Der Weimarer Putsch wär wohl auch gelungen, hätten noch mehr gewählt. Das war einfach nicht das Problem. StammwählerInnen und Überzeugungstäter hielten den Status quo.

Doch konnte ich denn allein Rahmenbedingungen setzen, Möglichkeiten ausschöpfen – Territorium und Spielraum, Verfassung und Verlauf meiner Lebensform bestimmen? War ich überhaupt allein? Ich schaute mich um, in Geschichte und Gegenwart und musste nicht lange suchen. Überall lebten Menschen, die so dachten und fühlten wie ich. Mein Vertrauen wuchs mit dem Tatendrang. Wir machten gemeinsame Sache, direkt und gegenseitig. Wir verzichteten auf Päpste und Könige, Politiker, Bürokraten und Polizisten. Wir setzten Rahmen, griffen nach Möglichkeiten und bestimmten deren Verlauf. Insoweit es gelang, fühlte ich mich frei und mir war wohl. Doch ich musste auch feststellen, dass der Parlamentarismus mit all seinen Organen viel viel mächtiger war als wir, die WählerInnen weit in der Überzahl. Die süße Verführung der parlamentarischen Versprechen umspielte immer wieder meine Sinne und Gedanken, benebelte sie. Ich blieb standhaft gegen diese Altersschwäche, auch wenn meine ganze Generation zu kippen schien. Meine Freunde gaben mir Kraft. Auf meiner Stirn indes entstand eine dritte Hautverwerfung, die von dem Widerspruch rührte, nicht mit der größten verfügbaren Macht zu kooperieren (und deren Versprechen zu glauben), um meine Ideen durchzusetzen, sondern mit der sehr kleinen (der nicht institutionalisierten). Daß zudem sich beide Mächte nicht nebeneinander durchsetzen ließen, ohne alle Vorstellungen besserer Verhältnisse aufzugeben. Und trotzdem! Die Hoffnung wurde stets durch die kleinen Erfolge der Selbstbestimmung genährt. Durch symbolische Siege und handfeste Feiern, durch gelungene Aktionen und erreichte Ziele. Durch ernsthafte Kritik, Ironie, Sarkasmus und auch heilsamen Zynismus.

So fahre ich im hohen Alter selbstbewusst über meine dritte Falte auf der Stirn, streiche sie liebevoll in Richtung der Grübchen über meinen Mundwinkeln und beginne in glücklicher Erinnerung still zu lächeln. Kämpfe!

clov

* Pandemie – weitreichende Epidemie

Politik & Prosa