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Demographische Bewegungen

Es geht wieder was in Leipzig. Nicht un­bedingt in dieselbe Richtung oder zur glei­chen Zeit. Dafür aber mit Ausdauer und ei­ner gewissen Trotzigkeit. Seit Anfang Ap­ril häu­fen sich für wachsame Beo­bachter­In­nen die Gelegenheiten in der Innenstadt oder ent­lang der Karli Demon­strationen von mehre­ren hundert Men­schen an sich vor­überziehen zu lassen.

Die Ersten, denen es nach dem Winter zu eng in den Häusern wurde, waren die sog. „Links­autonomen“, Antifas und Leute aus dem libertären Spektrum. Zur Verteidigung des inzwischen ger­äum­ten Ungdomshuset (Ju­gend­haus) in Kopen­hagen, zogen einige Hundert Men­schen von Connewitz Rich­tung In­nenstadt. Das Ungdomshuset war ein Ge­bäu­de im Ko­pen­hagener Stadtteil Nørrebro. Ur­sprüng­lich Zentrum der Ar­bei­ter­bewe­gung, stellte es die Stadt 1982 nach einer Be­setzung als Jugendzentrum zur Ver­­fügung. Es fun­gierte seitdem als Treff­punkt verschiede­ner linker Gruppen, sowie als Veranstaltungs­ort von Konzerten und Festivals.

Kaum war dieser Anlass verschwunden, tauch­te der nächste auf: Nazis sollen einige Pun­­­ker vorm Hauptbahnhof überfallen, ei­nen Welpen getötet und einen Punker kran­ken­­hausreif geprügelt haben. Die Spon­tan­­de­mo aufgrund dieses Überfalls mit etwa 300 Menschen ließ nicht lange auf sich warten.

Nächster Anlass für spontane Wut waren die Durchsuchungen der Polizei am 9. Mai von auto­nomen Projekten, wie der „roten Flora“ (Ham­burg) im Vorfeld des G8-Gip­fels, die nicht einfach so hin­genommen wer­den konn­ten. Insgesamt sechs Mal liefen mehrere hun­dert Leute von Conne­witz Richtung Innen­stadt, um die Legi­timität von Anti-G8-Protesten zu unter­streichen.

Para­llel dazu machten sms-Ketten die Run­de, die zu Spontandemos gegen Na­zis aufriefen, bei der so mancher Nach­mit­tag und Abend drauf ging. Insgesamt fünf Mal hieß es: „raus auf die Straße und Ge­sicht gegen Faschismus zeigen“. Der har­te Kern traf sich am 18. Mai zur vor­erst letzten Antifa-Spontan-Demo am Haus Leip­zig, welche auf dem Nach­hau­se­­weg am Szeneladen „Unter­grund“ vor­bei­­­skan­dierte: „Unter­grund wir sind da, Au­tonome Antifa!“. Wat mut, dat mut.

So manche/R der/die glaubte, die näch­sten Abende könne mensch sich ruhigen Ge­­wissens in die Kneipe oder zum Tisch­­ten­nis ins Zoro begeben, hatte sich geirrt. Am 24. Mai hieß es erneut raus auf den As­phalt und zwar für eine Stadt für alle! Also eine, die nicht Wach­dien­sten, La­den­besitzern, Einkaufs­meilen und Über­wa­chungs­kameras gehört. 700 Leu­te fan­den sich ein, darunter einige Rebel-Ar­my-Clowns und trafen auf leicht reizbare Cops. Da reichte es schon mit Kreide ein Dienst­fahrzeug anzuma­len, um film­reif ver­­haftet zu werden. Da nun aber die Leip­ziger­Innen eine gewis­se Rou­tine ha­ben, blieb die Demo ein­fach so lange vor Kar­stadt stehen, bis der Clown wieder ge­hen konnte.

Die „Faszination Protest“ hat – nach­dem die Telekom-Chefs mit miesen neu­en Ar­beitsverträgen den Anlass dazu ge­­liefert hat­ten – auch auf einige ihrer Arbeiter­Innen übergegriffen. Am 23. und 30. Mai liefen die Gewerk­schaftler­Innen für ihre Ar­beitsplätze durchs Zentrum. Und wol­len dies bei Fort­bestehen des An­lasses auch weiter tun.

Wer trotz dieses vielfältigen An­ge­botes noch nicht die Demo(s) seiner Wahl ge­fun­den hat, könnte auch bei den wieder­belebten Mon­tags­pro­testen mit­gehen. Der Grund für diesen Protest existiert schließ­lich auch immer noch.

(hannah)

P.S: Man ahnte es zwar kaum, aber natürlich waren auch am 6. Juni spontan und parallel zu Heiligen­damm Leipziger auf der Straße. Wofür: unklar, wogegen? Gegen Polizei­repres­sion zu G8.

Beißen Revierköter, die bellen?

Gedicht-Foto-Band Leipziger KünstlerInnen

Sie sind vor allem Eines: Authentisch. Sie streunen um die Ecken und Kanten dieser Stadt, erkennen ihre Viertel am Geruch und erneuern beständig ihre Mar­ken, die sie an allen Ecken hinter­lassen. Revier­köter, die echten, nicht die künstlich aufgemotzten der Kultur­industrie, kläffen sich – wenn sie Grund dazu haben – gegenseitig an oder heulen gemein­schaftlich in Richtung des halb­herzigen Mondes. Sie würden auch gerne mal kräftig zubeißen, den ergrauten Leip­ziger Kul­tur­be­­trieb or­dent­­lich durch­­schüt­teln.

Das Rudel, wel­­ches sich in der vor­lie­gen­den Pu­bli­kat­ion ver­sam­melt hat, ist über­schaubar: Fünf Wort­akrobaten und zwei Zellu­loid­künstler­Innen. Wenn es zum ent­scheidenden Biss auch nicht ganz reicht, gelingt es den AutorInnen doch zumindest, das Bein zu heben und den Kultur­ver­äußerern ans Gewand zu pin­keln.

2007 fanden sich fünf Künstler zusammen, um den Geburtstag von Hauke v. Grimm mit einer gemeinsamen Veranstaltung zu begehen. Um diese zu be­wer­ben, ver­anstalteten sie ein Foto­shooting, mit befreundeten Fotografen. Die zahlreichen dabei entstandenen Bilder sollten nicht im Dataspace vergammeln und so war die Idee zu dem Buch „RevierKöter LE-Allstar-Team“ geboren.

Das LE-Allstar-Team sind: Bob der Brau­meis­ter, Kurt Mondaugen, Michael Schwe­ßinger, Volly Tanner, Hauke von Grimm, so­wie die beiden Fotografen „Schmieda“, ei­gent­lich Frank Schmied­bauer und Nora Blum­berg. Zwischen den Buchdeckeln dieser handlichen Mischung aus Lese- und Bilder-Buch finden sich biographische Selbst­zu­schreibungen der Mitwirkenden, gefolgt von ihren Schriften und Fotos, Schwarz auf Weiß.

Die Autoren

Der erste, der sich die Ehre gibt, ist Bob, der Braumeister: Wie alle anderen auch, hat er schätzungsweise zwischen 25 und 40 Jahre im Lebenslauf zu füllen. Bob, bürgerlich auch Oliver Dietrich genannt, gewann schon im zarten Alter von sieben Jahren einen Rezitatoren-Wettbewerb. Er ver­mittelt uns Einblicke, die wir eigentlich gar nicht haben wollen, so z.B. in das Universum des WG-eigenem Wasserklosetts.

Kurt Mondaugen holt den Leser schleunigst in die schnöde und doch lebensbedrohliche Welt der „ALG II-Veteranen der ersten Stunde“ zurück. Er lässt uns an seinen Erfahrungen bei einem Ein-Euro-Prak­tikum teilhaben und macht verständlich, wieso der Um­gang mit Forma­lin­leichen bisweilen zusätzliche Opfer fordert – PISA sei dank.

Michael Schweßinger, der die längste Biografie zu sich und seinen verschiedenen Ichs verfasst hat, lässt sein ethnologisch versiertes Ich sprechen. Er berichtet in einer sehr aufschlussreichen Abhandlung von seinen wissenschaftlichen For­schun­gen zu den Sitten und Bräuchen des indigenen Lin­denauers an sich.

Volly Tanner eröffnet der geneigten Leserschaft schwarz-rot gefärbte Einblicke in die Leipziger Bohème, die im­mer wie­der aufsteht und unverdrossen gegen die Mauer in den Köpfen an­rennt.

Hauke von Grimm schließlich bringt dem Leser ein­dringlich nahe, warum er Geburtstage hasst und was das mit Pegel­trinkern im Familienkreis zu tun hat und vor allem, warum man sich mit süf­figen Geburtstags­geschenken bei ihm nachhaltig unbeliebt machen kann.

Die Fotografen

Schmieda hat mich zugebenermaßen von den beiden Motivkünstlern am ehesten überzeugt. Auf den angenehm großen Fotos spielt er mit Motiven, Licht, Schärfe, Schatten und Strukturen. Die von ihm abgelichteten Künstler werden hinter ihren Mikrofonen hervorgezerrt: wirre Haare, glasige Augen, offen stehende Münder werden sichtbar.

Nora Blumberg, die Jüngste und einzige Frau in der Runde, scheint eine Vorliebe für Fotostrecken zu haben. Diese sind teils gelungen, allerdings gehen durch die Vielzahl und die dadurch erzwungene Kleinheit der Fotos leider einige interes­sante Effekte unter. Ihr bestes Foto ist zu Recht auf der Titelseite ab­gebildet.

Alle zusammen

Die verschiedenen Texte verweben sich beim Lesen ineinander, ergänzen sich, kurz: treten in Beziehung zueinander. Zwischen den Zeilen schwebt beständig ein vages, zurück­haltend einladendes „Wir“. Der Leser begleitet das jeweilige Ich, das zweifelt, stirbt, trinkt, kläfft und sich nach durch­wachten Nächten die zerkratzte Schnauze kühlt.

Es handelt sich um bissige Straßenköter-Vorstadt-Poesie, schwankend zwischen Träumen von Revolte und Selbstreflexion. Die eigenwilligen Texte – erschienen im alternativen Leipziger Verlag Paperone – lesen sich wie Hass-Liebeserklärung an den Leipziger Westen, Süden und Osten. Angenehm wirkt auch das großzügige Layout, welches durch den durchgängigen Schwarz-Weiß-Kontrast besticht.

Was bleibt, ist ein Schwanken zwischen dem Wunsch, von und mit Kunst leben zu können und der ungeheuchelten Ver­achtung der Konsum-Kultur-Industrie. Michael Schwe­ßinger dazu: „Um die Antithese ein­zunehmen, braucht man immer noch die These, also ohne Kultur­industrie auch keine „alternativen“ Entwürfe, das gehört schon irgendwie zusammen.“

(hannah)

Blumberg, Nora/Grimm, Hauke von (Hg.): „Revierköter – LE-Allstar-Team“, Paperone Edition, Leipzig, 2007, 109 Seiten, 9,95 Euro.

Leipzig und der Stadtwerke-Verkauf

– schon zwei Mal gescheitert – Bürgerentscheid am 27.1.2008 –

Wer ist noch nicht über sie gestolpert, die Plakate der Bürgerinitiative APRIL (Anti­PRivatisierungsInitiative-Leipzig), die zum JA-Sagen am 27. Januar beim Bürger­entscheid auffor­dern? Opti­mistische Aller­welt­s­­gesichter grinsen da auf einen herunter und ver­kün­den: „Wir sagen Ja! – Stim­me abgeben und Ein­fluss be­­hal­ten“.

Wozu eigentlich? Ja dazu, dass die Stadt­verwaltung sieben kom­munale Betriebe in den nächsten drei Jahren nicht verkaufen darf, weder ganz noch anteilig.

Machen am 27. Januar 103000 von den rund 400 000 Stimmberechtigten (ent­spricht 25 Prozent) ihr Kreuz bei Ja (kein Ver­kauf), dürfen die betroffe­nen Unter­nehmen bis 2011 keine neuen Eigentümer bekommen.

Worum geht’s? Ende letzten Jahres kamen Ober­bür­ger­meister Burk­hard Jung und eine knappe Mehrheit im Stadtrat – be­stehend aus Ver­tretern der CDU, SPD, FDP – auf den Gedanken, den Schul­den­berg der Stadt Leip­­zig von knapp 900 Mio. Euro ab­zu­bauen, in­dem 49,9 Pro­zent der Stadt­wer­ke Leipzig (SWL) an einen Pri­vat­­investor ver­kauft wer­den. Der fran­zö­sische Kon­zern Gaz de France S.A. (1) ist bereit 520 Millionen Eu­­ro da­für hinzu­blät­tern und hat damit das Rennen ge­macht. Mit die­sem Geld hat die Stadt viel vor. So sollen die Schulden abgebaut werden, Schu­len, Kinder­gärten und Straßen saniert und durch Aufträge an mittelständische Unter­nehmen Arbeits­plätze geschaffen wer­den. Soweit die Wunschträume der Befürworter des Ver­kaufs.

Die Anti­PRivatisierungs­Initiative­Leipzig, die ein Spektrum von Attac, über zahl­reiche Bürgervereine, Stadträte, der IG Metall, den Grünen, der Linken bis zu Pfarrer Führer umfasst, sieht dies natürlich völlig anders: Um diesen Anteilsverkauf und vorsorglich auch den der anderen städtischen Unternehmen zu verhindern, startete sie im September 2007 ein Bürger­begehren, um einen Bürger­entscheid zu erzwingen.

Innerhalb von zwei Monaten sammelte die Ini­tiative – vorrangig bestehend aus den Grup­pen und Vereinen, die auch die Mon­tags­­demon­strationen getragen haben – Un­ter­schriften von 10 Prozent der Leipziger Wahl­­berechtigten. (2)

Da man befürchtet, dass es letztlich nicht nur um die SWL geht, sondern prinzipiell al­le großen kom­munalen Unter­nehmen un­ter dem Dach der Hol­ding Leip­ziger Ver­sor­gungs- und Ver­kehrsbetriebe (LVV) (3) „pri­va­tisierungs­gefährdet“ sind, ist die Fra­ge­stellung entsprechend weit gefasst:

Sind Sie dafür, dass die kommunalen Un­ter­nehmen und Betriebe der Stadt Leipzig, die der Daseinsvorsorge dienen, weiterhin zu 100% in kommunalem Eigentum ver­bleiben?“

Der Grund für diese Befürchtung liegt da­rin, dass die zahlreichen städtischen Unter­neh­men sich gegenseitig quer sub­ven­tio­nie­ren und so die Daseinsvorsorge (4) für die Stadt kostenneutral gewährleisten. Die jähr­lichen Gewinne der Wasser-, sowie der Stadt­werke (5) werden zum Ausgleich der De­fi­zite bei den Verkehrsbetrieben heran­ge­zo­gen und ermöglichen sowohl das ge­gen­wärtige Preisniveau als auch den Be­trieb und Erhalt des Verkehrsnetzes.

Hier setzt das Hauptargument der Gegner des Verkaufs an: Indem ein Mit-Eigner ins Boot geholt wird, werden die Handlungs­spiel­räume der Stadt und ihr Einfluss auf die Preisgestaltung, Auf­trags­vergabe, Ent­schei­dungen auf Investitions- und Förder­tä­tig­keiten langfristig entspre­chend ver­rin­gert. Kurz: Man verkauft das Huhn und wun­dert sich dann, keine Eier mehr zum Früh­­stück zu haben.

Die SWL spielen nicht nur als Strom­ver­sor­­ger, sondern auch als Sponsor des kultu­rel­­len und sportlichen Lebens der Stadt ei­ne bedeutsame Rolle und ermöglichen so Vie­­len die Teilnahme an Veranstaltungen, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Eben­­so fördern die Stadtwerke durch ihre Auf­­tragspolitik bereits regionale mittel­stän­di­ge Unternehmen, da anfallende Aufträge von der LVV zu 67 Prozent an eben solche Be­­triebe vergeben werden und es fraglich er­scheint, ob ein privater Investor ein ähnlich star­kes regionales Engagement entwickeln wür­­de.

Dass die Sorge um weitere (Teil)­Privatisie­run­­gen nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, ver­­deutlicht die Episode des „Opernballkom­pro­­misses“. So soll Ober­bürgermeister Jung im November 2006 am Rande des alljähr­lichen Opernballs – einer High-Society-Ver­an­­staltung bei dem sich alles trifft, was Rang, dicke Konten und Namen hat – mit der CDU-Fraktion im Stadtrat einen politischen Kom­­promiss ausgehandelt haben.

Der Deal: Die CDU-Fraktion stimmt dem an­teiligen Verkauf der Stadtwerke zu. Im Ge­gen­zug versprach der OB die spätere Priva­ti­sierung weiterer Unternehmen unter dem Dach der LVV. Entsprechend brachte die CDU im November letzten Jahres den Vor­schlag ein, auch die LVB teilweise zu privati­sieren. Dieses Hick-Hack ist derzeit zwar von geringerer Bedeutung, wird aber in dem Mo­ment interessant, in dem der Bürger­ent­scheid nicht genügend Ja-Stim­men erhält und diese Entscheidung an den Stadtrat zu­rück delegiert wird.

Zurück zum aktuellen Verkaufs­vor­haben, den Stadtwerken Leipzig. Hier springen vor allem zwei Ungereimtheiten ins Auge: Er­stens sind die SWL weit davon entfernt, ein marodes Unternehmen zu sein und zweitens wurde das Unternehmen schon zwei Mal in Tei­len verkauft und wieder zurück gekauft.

Nicht nur, dass die Stadtwerke zu einem nicht unerheblichen Teil den Nahverkehr, sportliche und kulturelle Ereignisse sub­ven­tionieren, sie sind außerdem klar auf Ex­pan­sionskurs. Die Bilanz für 2006 wies ei­nen Gewinn von 54 Mio. Euro auf, für 2007 wird mit einem ähnlichen Ergebnis gerech­net, was 2008 noch übertroffen werden soll. Abgesehen davon halten die Stadtwerke seit 2003 75 Prozent der Anteile des Danziger Fern­­wärmeunternehmens Gdanskie Prze­dsie­biorstwo Energetiky Cieplnej (GPEC), sowie An­teile von Fern­wärme­versorgern in Tczew und Staro­gard Gdanski. Sie sind ebenfalls an Unter­nehmen in Bulgarien (KES AG So­fia), Litauen (Klaipedos Energija) und Tsche­chien (Teplarny Jablonec a. s.) beteiligt.

Und: In Leipzig sammelte man bereits zwei­mal Erfahrungen mit Privatisierungen und deren Rückgängigmachung. Sowohl 1992 als auch 1998 wurden je 40 Prozent der Stadt­werke verkauft und die Verträge wenige Jah­re später rückgängig gemacht. Im Jahr 1992, als die Stadtwerke gegründet wurden, hielt RWE (Rheinisch-West­fälisches Elektrizitätswerk AG) einen Anteil von 40 Prozent. Drei Jahre später stellte man fest, dass die Partnerschaft nicht die gewünschten Er­folge brachte und die Stadt kaufte die An­teile zurück. Der zweite Versuch erfolgte 1998 – erneut wurden 40 Prozent veräußert und zwar an die MEAG (Mitteldeutsche Energie­Ver­sorgung AG). Diese Aktiengesell­schaft wurde später von RWE aufgekauft, die ihren Anteil an ihre Tochter EnviaM über­gab. Damit hielt einmal mehr der RWE-Kon­zern 40 Prozent der Leipziger Stadt­werke und über­raschen­der­weise hatten Stadt und Konzern sich 2003 über die Strategie der SWL so sehr zerstritten, dass man ver­kün­dete: „dass die strategische Ausrich­tung von EnviaM und den Stadt­werken Leipzig in spezifischen Markt­segmenten nicht kom­patibel sind“(6) und trennte sich erneut. Das heißt, die Stadt nahm Kredite auf und kaufte erneut die Anteile zurück und zwar mit einem Verlust von 16 Millio­nen Euro. Un­ter anderem dieser finanzielle Ver­lust soll nun durch einen dritten An­teils­verkauf wie­der aus­geglichen wer­den… manche lernen eben nie aus…

Bleibt die Frage, ob unsere Stadtober­häup­ter schlicht äußerst vergesslich und dilet­tan­­tisch sind, oder ob doch mehr dahinter steckt? Denn nicht nur die Stadt Leipzig pri­va­­tisiert kom­munale Un­te­rnehmen. Schon im let­zten Jahr­hun­dert, Ende der 90er Jahre, ver­kauften mehrere deut­sche Kom­munen und Ge­meinden die jewei­li­gen Ei­gen­be­trie­be und er­hielten so eine re­la­tiv große Sum­me auf einen Streich. (7) Damit ist späte­stens jetzt die EU-Privati­sie­rungspolitik, die sich in Abkommen wie dem GATS (Gene­ral Agreement on Trades and Services) nie­der­­schlägt, auch hier vor Ort an­gekommen. Zum Wohle des freien Marktes und dessen un­sichtbarer Hand, die es letztlich richten soll, werden Städte und Gemeinden dazu an­ge­halten, sich durch Privatisierungen mög­lichst komplett zu entschulden.

Wer dabei auf der Strecke bleibt, sind die Kon­­sumenten, die finanziell nicht in der La­ge sind, Preiserhöhungen für Wasser, Strom und andere grundlegende Ressour­cen mit zu tragen. Diese politische Ent­wick­lung ist also nicht neu, nun kommt der Neo­li­be­ralismus langsam aber sicher auch in der so­genannten Ersten Welt auf der kom­mu­nalen Ebene und damit bei je­dem Einzelnen und seinem Portemonnaie an.

Was hier geschieht, kann mensch seit Jahr­zehn­ten in politikwissenschaftlichen Lehr­bü­chern nachschlagen: weg vom Sozialstaat, der seine Bürger mit dem Nötigen versorgt, (wie eben Infrastruktur, Grundversorgung zu erschwinglichen Preisen, Kranken-und Ren­ten­­ver­sicherungs­systemen) hin zu ei­nem Nacht­wächterstaat, der nur noch in nach­gewiesenen Not­situationen einspringt. Mensch könnte sich für den Fall der Stadt­werke das Szenario vorstellen, dass diejeni­gen, die den Markt­preis für Strom nicht zah­len können und dies bei der Stadt­ver­wal­tung nachgewiesen haben, von der Stadt ge­kaufte Strom­kontingente zugewiesen be­kom­men kön­nten. Oder um in der Realität zu bleiben: Arbeitslose, die eine 120-pro­zen­tige Kürzung erhalten haben, dann eben Le­bens­mittelgutscheine (8) erhalten.

So gesehen schrumpft das auf den ersten Blick ritterliche Ansinnen der Bürger­ini­tia­tive zum konservativen Ruf nach Papa So­zial­staat. Mensch wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die entsprechenden Ent­wick­lungen, aber leider erst dann, wenn die Angst um das ganz persönliche Porte­mon­naie um sich greift. So löblich es auch ist, dass mindestens 10 Prozent der Leipziger Be­völkerung dafür sind, über diese Frage di­rekt zu entscheiden – es kostet ja auch nur eine Unterschrift und die hat mensch oft genug geübt – umso bedauerlicher ist es, dass selbst dieses bürgerschaftliche En­ga­gement nur auf drei Jahre hin seine Wir­kung entfalten soll und letztlich mit 25 Pro­zent Ja-Stimmen noch immer eine ziemlich gro­ße Hürde zu nehmen ist. Kann mensch tat­sächlich von demokratischer Mitgestal­tung sprechen, wenn die Ent­scheidung bei ei­ner hoch komplexen Frage wie dieser, stumpf auf ein Kreuz bei „Ja“ oder „Nein“ re­du­ziert wird? Das eine Auge lacht, ob der sich scheinbar bietenden Partizipations­mög­lichkeit, das andere weint, ob des Gefühls, in­nerhalb des Politiktheaters einmal mehr ver­höhnt zu werden.

(hannah)

 

(1) Gaz de France ist mit ca. 50.000 Mit­arbei­tern, 13,8 Mio. Kunden und einer Börsenkapi­ta­lisierung von ca. 34 Milliarden Euro einer der größ­ten Energieversorger Europas. Die Ge­schäfts­aktivitäten umfassen die Erzeugung, Ver­tei­lung und den Verkauf von Energie (insbe­son­de­re Erdgas, aber auch Strom sowie Energie­dienst­leistung in mehr als 30 Ländern). Seit 1976 ist Gaz de France über die Gaz de France Deutsch­land GmbH mit inzwischen 700 Mit­ar­bei­terInnen auf dem deutschen Markt vertreten und u. a. an der GASAG in Berlin beteiligt.

 

(2) Nach der Gesetzeslage wären auch 5 Prozent aus­reichend gewesen, um einen Bürgerentscheid her­bei zu führen. Damit wurde die Entschei­dung über den Anteilsverkauf aus den Händen des Stadtrates genommen und den Wahlberech­tig­ten in Leipzig als Sachentscheidung vorgelegt.

 

(3) Die Holding LVV umfasst: die Stadtwerke Leipzig GmbH, die Leipziger Wohnungs- und Bau­gesellschaft mbH, das Klinikum St. Georg GmbH, die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) GmbH, die Kommunale Wasserwerke Leipzig GmbH und den Eigenbetrieb Stadtreinigung Leipzig.

 

(4) Daseinsvorsorge: Nach dem Zweite Welt­krieg in Westeuropa vom Staat übernommene Auf­­gabe zur Bereitstellung der notwendigen Grund­versorgung, die letztlich das Funk­tio­nie­ren der Menschen im kapitalistischen System ge­­währ­leistet. Dazu zählt die Bereitstellung von öf­­fent­lichen Einrichtungen für die All­ge­mein­heit, also Verkehrs- und Beförderungswesen, Gas-, Wasser-, und Elek­trizitätsversorgung, Müll­abfuhr, Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Krankenhäuser, Fried­höfe usw. Dabei handelt es sich größtenteils um Betätigungen, die heute von kom­munal­wirt­schaftlichen Betrieben wahrgenommen werden.

 

(5) Nach Angaben der APRIL erwirtschaften die Wasserwerke jährlich ca. 22 Mio. Euro und die Stadtwerke ca. 50 Mio. Euro.

 

(6) www.rwe.com/generator.aspx/presse/language=de/id=178406?pmid=4000344.

 

(7) 1998 verkaufte Potsdam seine Wasserwerke zu 49 Prozent an Eurowasser und kaufte diese nach 1,5 Jahren zurück – Hamburg veräußerte 1999 die kommunalen Elektrizitätswerke an den Vatten­fallkonzern – die Stadt Dresden sämtliche 48000 kommunale Wohnungen für 1,7 Milliar­den Euro an die US-Investorengruppe Fortress.

 

(8) Gutscheine erhalten neben erwähnten Lang­zeitarbeitslosen vor allem AsylbewerberInnen, siehe Seite 5ff.