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Der lange Sommer der Autonomie (Teil 5)

Operaismus für Anfänger_innen

 

Bislang habe ich in dieser Artikelreihe dargestellt, wie sich die operaistische Theorie und Bewegung vom Ende der 1950er Jahre bis 1970 entwickelte. Den weiteren Verlauf werde ich in den letzten beiden Teilen sozusagen im Schnelldurchlauf behandeln. Nicht etwa, weil dazu nichts Wichtiges mehr zu sagen wäre – die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, dass die Lage ab diesem Zeitpunkt zusehends unübersichtlich wird.

Ein kurzer Überblick darüber, wie sich die operaistische Bewegung organisatorisch entwickelte, mag das Problem verdeutlichen: Ganz zu Anfang, 1960, bestand sie nur aus einer Handvoll linker Aktivist_innen, die sich um die Zeitung Quaderni Rossi sammelten und Untersuchungen in den Fabriken durchführten. Erst wesentlich später im „Heißen Herbst“, den wilden Streiks von 1969 (siehe FA! #50), gewann der Operaismus eine wirkliche Massenbasis. Hier wurde die Szenerie durch die großen Gruppen der „organisierten Autonomie“, namentlich Potere Operaio und Lotta Continua geprägt, die mit jeweils mehreren tausend Mitgliedern landesweit aktiv waren.

Dagegen entstand Anfang der 70er eine neue autonome Bewegung, die durch zahllose kleine Gruppen und lose, informelle Zusammenhänge geprägt war. Neue Subjekte, Frauen, Arbeitslose, Jugendliche usw. traten mit eigenen Forderungen auf den Plan. Die Autonomia knüpfte einerseits an die vorangegangenen Kämpfe der Fabrikarbeiter_innen an, weitete den Konflikt aber auf ein größeres Terrain aus und entwickelte eine Kritik und Praxis, die alle Aspekte des Alltagslebens einbezog – von der Wohnsituation bis zur Kindererziehung, vom Bildungssystem bis zur Lage in den psychiatrischen Einrichtungen und Knästen…

 

Organisierte Autonomie“ und Frauenbewegung

Der erste Anstoß für diese Neuzusammensetzung der sozialen Kämpfe „von unten her“ kam dabei von Aktivistinnen der neuen Frauenbewegung, die 1970 entstand. Viele, wenn nicht die meisten dieser Frauen waren in den einschlägigen linken Organisationen sozialisiert worden. Sie machten aber rasch die Erfahrung, dass sie dort – egal wie „revolutionär“ sich diese Organisationen nach außen darstellen mochten – doch immer nur eine untergeordnete Stellung gegenüber den männlichen Militanten einnahmen. Die logische Antwort war, sich unabhängig zu organisieren, autonom sowohl den etablierten Parteien und Gewerkschaften als auch den großen linksradikalen Organisationen gegenüber. (1)

Dies betraf auch die operaistischen Gruppen, allen voran Potere Operaio. So traten 1971 eine ganze Reihe von Aktivistinnen, darunter Mariarosa Dalla Costa, Leopoldina Fortunati und andere, aus der Organisation aus. Daraus entstand bald eine neue Gruppe, nämlich Lotta Femminista („Feministischer Kampf“), die in der italienischen und internationalen Frauenbewegung eine wichtige Rolle spielte.

Zu den Gründen ihres Austritts erklärt die Feministin Mariarosa Dalla Costa im Rückblick: „Wenn ich gefragt würde, warum ich Potere Operaio im Juni 1971 verließ und eine Gruppe von Frauen sammelte, aus der später der erste Keim von Lotta Femminista wurde, dann würde ich antworten: ‚Es war eine Sache persönlicher Würde’. Zu dieser Zeit war das Verhältnis von Mann und Frau, gerade in diesem Umfeld von intellektuellen Genossen, nicht so, dass ich mich hinreichend gewürdigt fühlen konnte.“ (2)

Das Problem war freilich nicht nur, dass sich das Rollenverhalten der männlichen Aktivisten nicht unbedingt positiv von der Mehrheitsgesellschaft abhob. Auch in den theoretischen Debatten bei Potere Operaio fand die Lebenslage der weiblichen Lohnabhängigen keine Beachtung. Vielmehr wurde das „Proletariat“ fast selbstverständlich als „männlich“ vorausgesetzt. Das hatte sicher auch reale Gründe – die niedrig qualifizierten „Massenarbeiter“, welche Ende der 60er Jahre die zahlenmäßig größte Fraktion der Arbeiterschaft in den norditalienischen Industriegebieten darstellten, waren ja tatsächlich zum Großteil junge Männer.

Bei FIAT waren bis zum „Heißen Herbst“ von 1969 überhaupt keine Frauen in der Produktion tätig – erst Anfang 1970 und in Reaktion auf die wilden Streiks begann die Konzernleitung Tausende von jungen Frauen einzustellen. Damit wurden einerseits die männlichen Montagearbeiter an den Fließbändern ersetzt, die in den vorangegangenen Kämpfen eine treibende Rolle gespielt hatten. Zugleich nutzte das Unternehmen die Chance, um die Lohnkosten zu senken: Die Frauen übten zwar eine Tätigkeit aus, die der dritten Lohnkategorie entsprach, sie wurden aber nach der (niedrigeren) vierten Lohnkategorie bezahlt.

Das warf Fragen auf, die von den männlichen Theoretikern von Potere Operaio allerdings nur mit wenigen flapsigen Worten abgetan wurde, wie in einem Artikel vom Februar 1970: „Die Einstellung von Frauen bei FIAT Mirafiori ist vergleichbar mit der Einstellung von Schwarzen in der Autoindustrie von Detroit in den dreißiger Jahren. Es ist Zeit damit aufzuhören, vor lauter Sorge um die ‚Gleichstellung’ der Frauen zu vergehen, die wie jede Unterweisung in Sachen Bürgerrechten vollkommen daneben ist. Das Kapital hat die Frauen bei Mirafiori längst ‚gleichgestellt, indem es sie an die Fließbänder geschickt hat.“ (3) Es handelte sich um ein Spaltungsmanöver des Kapitals, die Frauen sollten sich eben organisieren und den Kampf der männlichen Arbeiter unterstützen – ein besonderes Problem gab es da nicht.

Diese Analyse war sicherlich mangelhaft und trug eher dazu bei, gerade die Spaltungen zwischen verschiedenen Fraktionen des Proletariats zu befördern, die sie doch verhindern wollte. Dazu stellt die italienische Feministin Leopoldina Fortunati, fest: „Die Debatte bei Potere Operaio war sehr weit entwickelt, soweit es darum ging, die neuen Fabriken, die Rolle der neuen Arbeitergeneration innerhalb des gegenwärtigen kapitalistischen Systems zu analysieren, aber sie war sehr arm in Bezug auf Fragen der Hausarbeit, Affekte, Emotionen, Sexualität, Bildung, Familie, zwischenmenschliche Beziehungen, Miteinander usw.“ (4)

Bei aller Kritik betont Fortunati aber auch, wie wichtig die Leistungen der operaistischen Theoretiker für sie gewesen seien: „Sie verwandelten das Vermächtnis der Marxschen Theorie in etwas Dynamisches und nutzten es, um die Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts analysieren und verstehen zu können, und das war es, was sie den Graswurzelaktivist_innen wie mir mitgaben: die Fähigkeit, Marx ohne falsche Ehrerbietung zu nutzen.“ (4) Mit anderen Worten: Der Operaismus bot ein brauchbares theoretisches Rüstzeug, mit dem sich auch die Stellung der Frauen innerhalb der kapitalistischen Arbeitsteilung besser verstehen ließ – es war nur nötig, dieses Rüstzeug angemessen respektlos zu gebrauchen.

 

Kritik der Hausarbeit

Genau das taten die Feministinnen auch, und erweiterten dabei die operaistische Kritik der Fabrikarbeit um eine Kritik der Hausarbeit. Die Grundzüge dieser Analyse entwickelte Dalla Costa in ihrem Text „Die Macht der Frau und die Umwälzung der Gesellschaft“ (5). Dieser war zunächst als internes Papier für die Debatten bei Potere Operaio verfasst, wurde von Dalla Costa aber später überarbeitet und als Broschüre veröffentlicht. Der Text fand in der internationalen feministischen Bewegung großen Anklang und wurde mehrfach übersetzt.

Dalla Costa zufolge beruht die Macht des Kapitals nicht allein auf der produktiven Arbeit des „doppelt freien Lohnarbeiters“. Das Kapital ist ebenso auf die unbezahlte Arbeit der Frauen angewiesen, die nötig ist, um die Arbeitskraft des (männlichen) Lohnarbeiters zu reproduzieren. „Seit Marx ist klar, dass das Kapital mittels des Arbeitslohns herrscht und sich entwickelt, das heißt, dass der oder die Lohnarbeiter_in und deren Ausbeutung die Basis der kapitalistischen Gesellschaft bildet. Was weder klar war noch seitens der Organisationen der Arbeiterbewegung bemerkt wurde, war der Fakt, dass genau durch den Arbeitslohn die Ausbeutung der unbezahlten Arbeit organisiert wurde. […] Das heißt, über den Lohn wurde eine größere Menge an Arbeit kommandiert, als in der für die Fabrikarbeit gezahlten Geldsumme auftauchte.“

Dass diese Arbeit prinzipiell ohne Lohn geleistet wurde, wirkte sich nicht nur auf die Profitrate aus. Es trug auch dazu bei, zu verschleiern, dass es sich an dieser Stelle überhaupt um ein Zwangs- und Ausbeutungsverhältnis handelte. Diese Arbeit der Frauen schien vielmehr „ein persönlicher, außerhalb des Kapitalverhältnisses geleisteter Dienst zu sein.“ Ihre Funktion „im Zyklus der gesellschaftlichen Produktion blieb unsichtbar, weil von dort aus nur das Endprodukt ihrer Arbeit, der Arbeiter, zu sehen war. Sie selbst blieb dabei in prä-kapitalistischen Arbeitsverhältnissen gefangen“.

Lotta Femminista waren, ähnlich wie Potere Operaio (siehe FA! #50), vor allem in den norditalienischen Regionen Veneto und Emiliana aktiv, ebenso in Rom. Die Gruppe war in ihrer Tätigkeit aber auch sehr stark international ausgerichtet. So wurde 1972 in Padua das International Feminist Collective gegründet, ein Netzwerk, das neben Italien auch in den USA und Kanada, aber auch in Großbritannien und Deutschland sehr aktiv war. Aus diesem heraus wurde eine internationale Kampagne gestartet – „Lohn für Hausarbeit“. (5)

 

Internationale Debatten

Die Forderung stieß innerhalb der Frauenbewegung keinesfalls auf ungeteilte Zustimmung. Im Gegenteil sahen viele Feministinnen gerade die gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben als das beste Mittel, um die Emanzipation der Frauen voranzubringen. Eine Bezahlung für Hausarbeit einzufordern, schien ihnen dagegen vor allem eine Bestätigung des Status quo zu sein und wurde von ihnen harsch kritisiert.

Demgegenüber verteidigte die in den USA lebende Feministin Silvia Federici, ein Gründungsmitglied des International Feminist Collective, in einem Text von 1974 die Kampagne gegen etwaige Missverständnisse. Es handle sich vielmehr um einen „Lohn gegen Hausarbeit“ (6). Die Lohnforderung sei nur das gewählte Mittel, nicht etwa das Ziel der Kampagne. Die Forderung bedeute auch nicht, „dass wir diese Arbeit weiterhin verrichten werden, sofern wir dafür bezahlt werden. Es bedeutet genau das Gegenteil.“

Denn Hausarbeit sei eben keine Arbeit „wie jede andere”: „Einen Lohn zu erhalten, heißt Teil eines Vertragsverhältnisses zu sein, und es gibt keine Unklarheit, was dessen Inhalt betrifft: Du arbeitest, nicht weil du es gerne tust oder weil es dir eben so einfällt, sondern weil dir nur unter dieser Bedingung erlaubt wird zu leben. Aber egal wie sehr du auch ausgebeutet wirst, du bist mit deiner Arbeit nicht identisch.”

Bei der Hausarbeit stelle sich dies grundlegend anders dar. Diese sei zwar ebenfalls ein Ausbeutungsverhältnis – aber gerade weil für die geleistete Arbeit kein Lohn gezahlt werde, erscheine sie nicht als Arbeit im eigentlichen Sinn. Es sei nicht nur so, dass die Hausarbeit den Frauen zugeteilt und aufgezwungen werde, zugleich „wurde sie in ein scheinbar natürliches Merkmal unserer Körperlichkeit und Persönlichkeit als Frauen verwandelt, in ein inneres Bedürfnis, ein Drang, der angeblich aus den Tiefen unseres weiblichen Charakters entspringt.“

Die Ausbeutung würde also verschleiert und mystifiziert – sie erscheine als Produkt der „Liebe“ oder der „weiblichen Natur“. Genau diese Mystifikation solle mit der Kampagne durchbrochen werden, die Lohnforderung solle die Hausarbeit wieder als Zwangs- und Ausbeutungsverhältnis kenntlich machen.

Von diesem Punkt aus kritisierte Federici auch die Institution der Kleinfamilie. Trotz aller romantischer Vorstellungen, die sich daran knüpften, stelle diese die kleinste basale Einheit der kapitalistischen Gesellschaft dar. Die Ausbeutung im Haushalt lasse sich nur im Verhältnis zur Ausbeutung in der Fabrik verstehen: „Es ist kein Zufall, dass die meisten Männer gerade dann anfangen an Heirat zu denken, wenn sie ihren ersten Job kriegen. Nicht nur, weil sie es sich leisten können – jemanden zu Hause zu haben, der sich um einen kümmert, ist die einzige Möglichkeit, nach einem langen Tag am Fließband oder Schreibtisch nicht durchzudrehen. […] Und auch in diesem Fall gilt, dass die Sklaverei der Frau sich umso tiefgreifender gestaltet, je ärmer die Familie ist, und dies nicht nur aus monetären Gründen. Tatsächlich verfolgt das Kapital eine doppelte Politik, eine für die Mittelklasse und eine für die proletarische Familie. Es ist kein Zufall, dass wir den stumpfesten Machismo gerade in Familien der Arbeiterklasse finden: Je mehr Schläge der Mann auf Arbeit einstecken muss, umso mehr muss die Frau darauf getrimmt sein, sie aufzufangen, umso mehr wird es ihm freigestellt, sein Ego auf ihre Kosten.wieder aufzubessern. Du schlägst deine Frau, wenn du frustriert oder fertig von der Arbeit bist oder wenn du eine Niederlage einstecken musstest (und zur Arbeit in die Fabrik zu gehen ist an sich schon eine Niederlage).“

Federici erklärte es für absurd, diesen Kampf der Frauen für eine Bezahlung ihrer Arbeit mit den Lohnkämpfen zu vergleichen, wie sie von den männlichen Fabrikarbeitern geführt wurden. Die Ausgangslage stelle sich bei den Hausfrauen nämlich komplett anders dar: „Der Lohnarbeiter stellt, indem er mehr Lohn fordert, seine soziale Rolle in Frage und bleibt doch in ihrem Rahmen. Wenn wir für eine Bezahlung unserer Arbeit kämpfen, dann kämpfen wir ohne Zweideutigkeit und direkt gegen unsere soziale Rolle.“

Dabei ginge es nicht darum, sich „einen Platz innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse zu erkämpfen, weil wir niemals außerhalb derselben waren.“ Das Ziel sei vielmehr, den kapitalistischen Plan zu durchkreuzen, das Kapital anzugreifen und damit zu zwingen, „die sozialen Verhältnisse in einer Weise neu zu strukturieren, die für vorteilhafter für uns selbst ist und in der Folge auch vorteilhafter, um eine Einigkeit der Klasse zu erreichen.“

 

Italienische Verhältnisse

Das war ziemlich nah an der politischen Linie, die auch Potere Operaio in den Jahren von 1969 bis 1973 verfolgten. So erinnerte der „Lohn für Hausarbeit“ nicht von ungefähr an das Konzept des „politischen Lohns“, also die Strategie, mit immer neuen Lohnforderungen das Kapital in die Krise zu treiben – nur mit dem von Federici erwähnten Unterschied, dass die männlichen Lohnarbeiter dabei allemal „im Rahmen ihrer Rolle“ blieben. So gerieten Potere Operaio rasch in eine Krise, zumal sie sich nicht nur strategisch eingleisig auf immer neue Lohnforderungen festlegten, sondern sich zugleich auch in ihrer Klassenanalyse ziemlich verrannten und alle Akteur_innen abseits der jungen, unqualifizierten, männlichen „Massenarbeiter“ weitgehend ignorierten. Welche Folgen dies für die operaistischen Debatten hatte, werde ich im nächsten (letzten) Teil dieser Serie noch genauer darstellen.

Jedenfalls liefen die feministischen und die operaistischen Debatten in ihrer weiteren Entwicklung weitgehend bezugslos nebeneinander her – wie Mariarosa Dalla Costa im Rückblick feststellte (2): „Ich selbst hatte meine ersten Schritte bei Potere Operaio gemacht, deswegen war es frustrierend zu sehen, wie sehr diese ganze Debatte abgeblockt wurde. Männliche Genossen, die nichts über die Entwicklung unseres Diskurses oder die für uns zentralen Themen wussten, konnten uns nicht folgen und nur auf dem Niveau von Höhlenmenschen argumentieren wenn sie mit uns zusammentrafen. Umgekehrt blieben ihre Debatten für uns undurchschaubar, während es dringend nötig gewesen wäre, eine gemeinsame Diskussion zu führen.“

Zugleich wuchs die Frauenbewegung in Italien rasch. So versammelten sich bei einer landesweiten Konferenz 1974 etwa 10.000 Frauen, und am 18. Januar 1975 fand in Rom eine große Demonstration für die Legalisierung der Abtreibung mit 20.000 Teilnehmerinnen statt – das waren Größenordnungen, die im internationalen Vergleich wohl einzigartig waren.

Die Bewegung erhielt teilweise Unterstützung durch die Gewerkschaften und Organisationen der radikalen Linken – so bildeten sich z.B. bei Lotta Continua eigene Frauengruppen. Zugleich blieb das Verhältnis zwischen der Frauenbewegung und der restlichen Linken gespannt. So kam es am Rande der erwähnten Anti-Abtreibungs-Demonstration 1975 zu Handgreiflichkeiten, als einige männliche Aktivisten die Reihen des Ordnungsdienstes durchbrechen wollten.

Alisa Del Re, eine andere ehemalige Aktivistin von Potere Operaio, die aber von dort zur kommunistischen Partei wechselte, bemerkte dazu: „Ich hatte mit Frauen zu tun, die in außerparlamentarischen Gruppen aktiv und zugleich Feministinnen waren, und die waren zu dramatischen Entscheidungen gezwungen […] Der Gegner war oft im eigenen Heim: Wenn eine Frau persönliche Autonomie erlangen und zugleich die Beziehungen aufrecht erhalten wollte, zu Geliebten, Freunden, Gatten, Vätern oder zu Männern, die in der Linken engagiert waren und somit viele ihrer Ideen von einem grundsätzlichen Wandel der Gesellschaft teilten, dann war das für sie mit viel Unbehagen verbunden.“ (8)

Während die männlichen Aktivisten den Feministinnen ihren „Separatismus“ vorwarfen, kritisierte die Frauenbewegung umgekehrt die Aktionsformen der Linksradikalen – allen voran die Gewalt bis hin zum Schusswaffengebrauch bei Demonstrationen, die sich oft genug mit allerlei Macho-Attitüden verband. In strategischer Hinsicht sollten die Feministinnen damit recht behalten: Die zunehmende Militarisierung der autonomen Bewegung (wobei natürlich auch die harte, von der Polizei ausgehende Gewalt ihre Rolle spielte) führte zunehmend in eine Sackgasse. Ab 1978 – nachdem der ehemalige Ministerpräsident Aldo Moro durch die Stadtguerillagruppe der Roten Brigaden ermordet worden war – wurde die radikale Linke durch massive staatliche Repression zerschlagen, viele hunderte Aktivist_innen wanderten ins Gefängnis.

Im Zuge dessen wurde auch die feministisch-marxistische Theorielinie von Lotta Femminista aus dem akademischen und allgemeinen Diskurs verdrängt, wie Mariarosa Dalla Costa beschreibt: „In den 1980ern, Jahren der Repression und Normalisierung, ersetzte eine grundlegend ‘kulturelle’ Ausformung des Feminismus diese großen Kämpfe und Forderungen, und das hatte die Funktion, die Forderungen und Wortmeldungen der Frauen zu kontrollieren und zu selektieren. […] Zu sagen, dass unsere Arbeiten nicht frei zirkulieren konnten, wäre noch allzu beschönigend ausgedrückt. Sie verschwanden geradezu, […] sie wurden überwältigt, von einen entgegengesetzten politischen Willen und einer Unmenge an Studien zur ‘Frauenfrage’, die von einer gänzlich anderen Perspektive aus durchgeführt wurden.“ (2)

Mit den vorangegangenen Seiten habe ich hoffentlich ein wenig dazu beigetragen, dem Vergessen entgegen zu wirken. Im nächsten Heft werde ich diese Artikelreihe dann (endlich!) zum Abschluss bringen – dort wird dann Antonio Negri und dessen Konzept des „gesellschaftlichen Arbeiters“ das Thema sein. Ihr dürft also weiterhin gespannt sein.

justus

 

(1) Darauf verweist z.B. Patrick Cuninghame: „Italian feminism, workerism and autonomy in the 1970s: The struggle against unpaid reproductive labour and violence”, online unter:

libcom.org/history/italian-feminism-workerism-autonomy-1970s-struggle-against-unpaid-reproductive-labour-vi

(2) Mariarosa Dalla Costa: „The door to the garden: Feminism and Operaismo“

(Vortrag von 2002), online unter libcom.org/library/the-door-to-the-garden-feminism-and-operaismo-mariarosa-dalla-costa

(3) zitiert nach Steve Wright: „Den Himmel stürmen – Eine Theoriegeschichte des Operaismus”, Assoziation A, Berlin/Hamburg 2005, S. 146.

(4) Leopoldina Fortunati: „Learning to struggle: My story between workerism and feminism”

libcom.org/library/learning-struggle-my-story-between-workerism-feminism-leopoldina-fortunati

(5) Mariarosa Dalla Costa: „Women and the subversion of the community”, www.commoner.org.uk

(6) vgl. www.citsee.eu/interview/organising-and-living-interview-silvia-federici

(7) Silvia Federici: „Wages Against Housework”, http://caringlabor.wordpress.com/2010/09/15/silvia-federici-wages-against-housework/

(8) zitiert nach Patrick Cuninghame, a.A.o.

Allein unter Menschen

Über die „Friedensbewegung 2014“

Er sei weder links noch rechts, sondern einfach ein Mensch – so erklärte es ein Redner bei der Montagskundgebung, die am 28. April auf dem Leipziger Augustus­platz stattfand. Diese Formel scheint sich innerhalb der „neuen Friedensbewegung“ mittlerweile flächendeckend durchgesetzt zu haben. So mittig zu sein, dass man im Prinzip überhaupt keine besondere Position mehr vertritt, ist freilich ein hoch gesteckter Anspruch. Solange man sich nur auf die Forderung nach Frieden beschränkt, mag es noch angehen – darauf könnten sich vermutlich auch Merkel, Putin und Obama einigen. Sobald mensch von diesem Minimum abgeht, wird es schwierig: Letztlich klappt es einfach nicht, sich rein „als Mensch“ überhaupt keine Gedanken zu machen. Auch der Redner auf dem Leipziger Augustusplatz konnte nicht ganz verbergen, was für Ideen er so hat und wo er diese herhat – spätestens als er gegen „Politikerdarsteller“ und die angeblich stattfindende „Umverteilung von Fleißig nach Reich“ zu wettern begann.

Die Formulierungen stammen aus dem von Andreas Popp und Rico Albrecht verfassten Manifest „Plan B – Revolution des Systems für eine tatsächliche Neuordnung“ (1), welches sich offenbar großer Beliebtheit in der neuen „Bewegung“ erfreut. Dabei machen Popp und Albrecht kein großes Geheimnis daraus, in welcher Traditionslinie sie sich bewegen: Sie beziehen sich in ihrem „Plan B“ unverhohlen positiv auf den nationalsozialistischen Ökonomen Gottfried Feder und dessen „Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft“ von 1919. So klagen die beiden Autoren, dieser „große Wirtschaftstheoretiker“ würde leider „noch immer mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht, obwohl er ab 1933 keine Rolle mehr spielte und seine Zinskritik von da an von Kapitalisten, Kommunisten und Nationalsozialisten gleichzeitig bekämpft wurde.“

Popp und Albrecht scheinen ihr Publikum für ziemlich dumm zu halten. Eine fünfminütige Internetrecherche reicht, um herauszufinden, dass Gottfried Feder selbst ein überzeugter Nazi und Antisemit war, wovon etwa seine 1927 verfasste Schrift über „Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundlagen“ (2) beredtes Zeugnis ablegt. Und wer wissen will, mit welch brachialen Mitteln Feder von den Nazis „bekämpft“ wurde, muss nur mal bei Wikipedia nachlesen: „Nach der ‚Machtergreifung’ Hitlers 1933 wandte sich die Wirtschaftspolitik der NSDAP von der antikapitalistischen, jedoch nicht von der antisemitischen Haltung Feders ab. Er wurde entgegen seinen Hoffnungen im Juni 1933 nur zum Staatssekretär im Reichsministerium für Wirtschaft ernannt.“ (3)

Auch Lars Mährholz, der als Organisator der Proteste in Berlin und überregional eine wichtige Rolle spielt, vertritt eine ähnliche „Zinskritik“, die freilich noch ein wenig platter daherkommt als bei Popp und Albrecht. Mährholz betont gerne, dass er erst in den letzten Monaten begonnen habe, sich mit Politik auseinanderzusetzen. Immerhin hat er sich schon ein gut strukturiertes Weltbild zugelegt, das auf einer einzigen Grundannahme beruht: Die US-amerikanische Notenbank Fed ist die Wurzel allen Übels. So meinte Mährholz in einem Interview im Leipzig Fernsehen: „Die Privatbank Federal Reserve ist sozusagen das Krebsgeschwür des Planeten.“ Man ahnt schon, wo der Mann sich in den letzten Monaten informiert hat… Fast dieselbe Metapher findet sich jedenfalls auch bei Popp und Albrecht, die schreiben: „Das System selbst verhält sich wie eine Wucherung und wuchert unersättlich. Aber auch innerhalb des Systems wird gewuchert, und zwar in Form von Zinswucher.“ Ein Schelm, wer da an Antisemitismus denkt, an das Klischee vom „wuchernden Geldjuden“ oder gar an eine mögliche „Zersetzung“ oder „Entartung“ des gesunden Volkskörpers!

Mährholz hat ja auch vernünftige Gründe für seine Abneigung gegen die Fed – die ist nämlich verantwortlich für alle Kriege in der Welt: „Das ist sozusagen der Hauptgrund, wieso Amerika Kriege führt: hauptsächlich, um ihre eigene Währung zu stabilisieren. Und das nicht mal freiwillig, sondern auf Druck der Federal Reserve.“ (4)

Fragt sich nur, wie da die anderen Akteure der Ukraine-Krise (Deutschland, die EU, Russland) reinpassen. Dass die auch durchaus eigene, vom Willen der USA oder der Fed unabhängige strategische Interessen haben, scheint für Mährholz glatt undenkbar. Ähnlich undenkbar scheint für ihn zu sein, dass am redlichen Profit der industriellen Großkonzerne irgendwas auszusetzen sein könnte. Er empört sich nur über den „ungerechten“ Profit, den er im Zins verkörpert sieht, etwa wenn er rhetorisch fragt: „Woran kann das liegen, woran kann diese ganze Ungerechtigkeit liegen? Dieses Zinssystem sorgt doch für eine absolut ungerechte Verteilung des Geldes.“

In diesem Kontext darf der notorische Jürgen Elsässer natürlich nicht fehlen – dieser trat, neben Mährholz, Popp und Albrecht, bei der Kundgebung in Berlin am 21. April als Redner auf. Wer ihn noch nicht kennt: Elsässer ist Herausgeber des verschwörungstheoretischen Compact-Magazins, wohnt seit einiger Zeit in Leipzig und ist hier schon öfter unangenehm aufgefallen – so im November 2013 mit einer Konferenz, bei der unter dem Motto „Für die Zukunft der Familie!“ gegen Homosexuelle agitiert wurde (5).

Bei seiner Rede in Berlin erklärte auch er erstmal alle politischen Unterscheidungen zwischen links und rechts für überholt: „Warum? Weil sich die heutige Gesellschaft nicht mehr hauptsächlich in Arbeiter und Kapitalisten spaltet“. Elsässer wünscht Volksgemeinschaft statt Klassenkampf, er möchte „die 99 Prozent der Ehrlichen und Arbeitenden“ gegen „das eine Prozent der internationalen Finanzoligarchie“ in Stellung bringen. Im Anschluss geht es wieder gegen die amerikanische Notenbank, nur entlarvt Elsässer alles noch ein Stückchen gründlicher: Hinter der verschwörerischen Macht der Fed steht nämlich noch eine weitere Verschwörung! Während die Fed die US-Regierung lenkt, wird sie selbst wiederum von anderen Leuten gelenkt, als da wären „Rockefeller, Rothschild, Soros, Chodorkowski, das englische Königshaus, das saudische Königshaus. Warum dürfen wir nicht sagen, dass sich diese Superreichen der Federal Reserve bedienen? Warum sollte das antisemitisch sein? Diese Oligarchen haben keine Religion, […] sie huldigen nur einem einzigen Götzen, nämlich dem kalten Mammon. Reden wir über dieses eine Prozent Finanzoligarchie, reden wir über die Verbrechen dieser Heuschrecken – und lassen wir uns den Mund nicht verbieten!“ (6)

Wenn er kritisiert wird, glaubt Elsässer sofort, man wolle ihm den Mund verbieten. Stellen wir also bloß mal fest, was ziemlich offensichtlich ist: Dieses Gerede klingt wieder verdächtig nach Gottfried Feder bzw. nach der bekannten Unterscheidung von „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital. Während Elsässer den internationalen „Heuschrecken“ alle erdenkbaren Greueltaten zutraut, hat er für die ehrlichen einheimischen Ausbeuter nur wärmste Worte übrig. So erklärt er im aktuellen Compact-Editorial (7), warum er seit neuestem für den Frieden ist: „300.000 Arbeitsplätze hängen am Russland-Geschäft: Für VW ist das Riesenreich die derzeit wichtigste Wachstumsregion, Siemens baut den neuen Hochgeschwindigkeitszug Sapsan, für unseren Maschinenbau ist es der viertwichtigste Exportmarkt. […] Amis und Briten ist diese zahlungskräftige Nachfrage im Osten wurscht, weil sie außer Genmais, Drogen und Waffen ohnedies nichts zu exportieren haben. Aber uns als Industrieland kann es nicht gleichgültig sein, wenn ein weiterer guter Kunde zerschossen wird.“ Jetzt wissen wir immerhin, wie der Mann sein krudes Hochglanzmagazin finanziert: Er wird wahrscheinlich von VW bezahlt.

Und was ist mit den Protestierenden auf den öffentlichen Plätzen? Die militärischen Drohgebärden der EU, Russlands und der USA sind sicherlich nicht gerade beruhigend – und die propagandistische Begleitung, die von den deutschen Medien dazu geliefert wird, ist manchmal geradezu widerlich. Dass Leute deswegen besorgt sind, ist allemal verständlich. Aber die derzeitigen Proteste liefern meist keine adäquate Antwort darauf. Vielerorts werden sie von Verschwörungstheoretiker_innen oder Politsekten wie der Bürgerrechtsbewegung Solidarität (siehe FA! #21) dominiert. Neben „braven Bürger_innen“, die ihr Ideal demokratischer Herrschaft enttäuscht sehen und entsprechend empört reagieren, beteiligen sich auch eindeutige Neonazis und versuchen den Protest in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Aber auch wenn die Mittel, mit denen die Protestierenden versuchen, sich das Weltgeschehen zu erklären, oft mehr als mangelhaft sind, sollte mensch sie nicht mit Typen wie Elsässer allein lassen. Statt sich nur auf das eigene Besserwissen zurückzuziehen, sollte man auch die Fehler der Bewegung ernst nehmen und sich ebenso offensiv wie kritisch damit auseinandersetzen. Immerhin drückt sich dort, in wie verzerrter und verdrehter Form auch immer, ein reales Unbehagen an den Verhältnissen aus. Daran knüpfen die Verschwörungstheorien an. Sie wirken nicht nur beruhigend, indem sie vermeintlich eindeutige Ursachen für alles Übel liefern. Sie helfen auch, die gefühlte Machtlosigkeit erträglich zu machen, sich als Teil eines großen (nationalen) Kollektivs zu fühlen, während der „Feind“ immer außerhalb steht… Ist es nicht beruhigend zu wissen, dass auch die Chefs von VW oder Daimler auf derselben Seite stehen wie man selbst?

Solche Ideologie ist hartnäckig. Solange es nicht einer linken Bewegung gelingt, die Klassengesellschaft ernsthaft in Frage zu stellen, solange es also keine wirksame gesellschaftskritische Praxis gibt, wird es schwierig sein, den Leuten ihre theoretischen Fehler auszureden. Bei einem geschlossenen verschwörungstheoretischen Weltbild dürften solche Therapieversuche ohnehin nicht anschlagen – darin besteht ja die schlichte (und ein wenig stumpfsinnige) Eleganz solcher Erklärungsmuster, dass sich hinter praktisch allen Geschehnissen in der Welt dieselbe große Verschwörung vermuten lässt. Die Frage ist, ob die „Friedensbewegung 2014“ auf ihrem jetzigen Niveau verbleibt oder doch einige Lernprozesse stattfinden. Sich mit Berufung auf das eigene „Menschsein“ vor allen inhaltlichen Auseinandersetzungen zu drücken, reicht in jedem Fall nicht aus.

justus

(1) www.wissensmanufaktur.net/plan-b

(2) Zu finden unter https://archive.org/details/Feder-Gottfried-Das-Programm-der-NSDAP

(3) http://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Feder

(4) siehe www.youtube.com/watch?v=sUpmgI1ps8g

(5) Bei dieser durften u.a. der Eugenik-Experte Thilo Sarrazin, Frauke Petry von der Alternative für Deutschland sowie die russische Duma-Abgeordnete Elena Misulina gegen eine angeblich drohende „sexuelle Umerziehung“ wettern und sich um das Erbgut der europäischen Völker Sorgen machen – siehe auch FA! #50.

(6) Vgl. juergenelsaesser.wordpress.com/2014/04/22/elsasser-auf-der-montagsdemo-nicht-links-gegen-rechts-sondern-unten-gegen-oben/#more-6424

(7) juergenelsaesser.wordpress.com/2014/03/24/krieg-gegen-putin-wer-stoppt-die-nato/

Lokales

Post vom Verfassungsschutz

Gut Ding will bekanntlich Weile haben. So sind Polizeibehörden und Geheimdienste, wenn sie das im Grundgesetz verankerte Post- und Fernmeldegeheimnis einschränken, also den Brief- und Telefonverkehr von „Verdächtigen“ überwachen, eigentlich dazu verpflichtet, die Betroffenen nach Ende der Maßnahme schriftlich zu informieren. Nur manchmal muss mensch darauf etwas länger warten – mitunter mehr als zehn Jahre.
So erhielten in den vergangenen Wochen verschiedene linke Gruppen und Projekte in Leipzig überraschend Post vom sächsischen Verfassungsschutz, der ja für Kompetenz und Tatkraft allenthalben bekannt ist – ihnen wurde mitgeteilt, dass sie zwischen 1996 und 2001 ins Visier „erweiterter Überwachungsmaßnahmen“ gekommen waren. Betroffen war davon u.a. der Buchladen el libro. Aber auch das Conne Island wurde von Februar 1999 bis Oktober 2000 durch den Verfassungsschutz überwacht (1), wobei sich das besondere Interesse der Behörde vor allem auf die Antifa-Gruppen Rote Antifaschistische Aktion Leipzig und das Bündnis gegen Rechts richtete. Für ein Strafverfahren oder ähnliches reichte es nie, aber Informationen sammeln kann man ja trotzdem mal…
Jetzt ist die Empörung groß. So wies das Plenum des Conne Island den Vorwurf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichteter Bestrebungen entschieden zurück: „Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der Überwachten in erster Linie damit beschäftigt war, sich gegen rechte Gewalt und den rassistischen und antisemitischen Konsens in der Gesellschaft zu engagieren, kann dieser Verdacht nur als Frechheit verstanden werden.“ (2) Daher reichte der Trägerverein des Conne Island am 5. Mai 2014 Klage ein und fordert nun u.a. Akteneinsicht. Mal sehen, was daraus erwächst – in fünf oder zehn Jahren wissen wir sicherlich mehr.

justus

(1) www.conne-island.de/news/160.html

(2) www.l-iz.de/Politik/Sachsen/2014/05/Verfassungsschutz-raeumt-Bespitzelung-von-Conne-ein-55195.html

Lokales

Der lange Sommer der Autonomie (Teil 4)

Operaismus für Anfänger_innen

In den ersten drei Teilen die­ser Arti­kel­reihe habe ich die Ent­stehung der operaistischen Theorie nach­zu­zeichnen versucht: von der Gründung der Zeitschrift Quaderni Rossi und die „militanten Untersuchungen“ bei Olivetti und FIAT, über die Streiks und Riots von 1962, die schließlich zur Gründung der Gruppe Classe Operaia führten.

Bis dahin waren die Operaist_innen kaum mehr als eine linkskommunistische Splittergruppe. Ihre Untersuchungen in den Fabriken lieferten zwar auf­schlussreiche Theorien, und ihre Inter­ventionen waren wirkungsvoll genug, um die Routinen der Gewerk­schafts- und Parteipolitik zu stören. Aber insgesamt waren sie weit entfernt, die kapitalistische Gesellschaft ernst­haft zu gefährden. Das änderte sich mit dem „Heißen Herbst“ von 1969. Eben diese ereignisreichen Jahre von 1968 bis 1973, in denen Italien nicht nur die größte Streikwelle nach dem 2. Weltkrieg erlebte, sondern wohl tatsächlich haarscharf an einer Revolution vorbeischrammte, will ich in diesem Teil behandeln.

Freilich lässt sich die Komplexität der Bewegung, die Vielzahl der Akteure und rasche Folge der Ereignisse hier nicht mal ansatzweise vollständig darstellen, sondern bestenfalls skizzieren – dies als dezente Warnung vorweg.

Arbeitermacht in Porto Marghera

Im Jahr 1967 war von den kommenden Unruhen noch wenig zu ahnen, und die Organisation Classe Operaia, die so etwas wie die Keimzelle der operaistischen „Bewegung“ bildete, hatte sich gerade in ihre Einzelteile zerlegt. Eine ganze Anzahl der Militanten (allen voran Mario Tronti) trat wieder in die PCI, die kommunistische Partei ein. (1) Die andere Fraktion entschied sich dafür, die eigene Unabhängigkeit zu bewahren und gründete die Organisation Potere Operaio („Arbeitermacht“) – oder besser Potere Operaio veneto-emiliano, abgekürzt PO-ve, so benannt nach den Regionen Emilio-Romagna und Venetien im Norden Italiens, auf die sich der Aktionsradius der Gruppe damals begrenzte.

Vorerst gelang es der Organisation nur in der Region von Porto Marghera an Einfluss zu gewinnen, wo sich in der Nähe von Venedig die petrochemische Industrie angesiedelt hatte. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass die PO-ve sich so aus­gerechnet in einem Industriezweig fest­setzen konnte, wo Angestellte und technisches Personal die Mehrheit bil­deten, während sonst vor allem die unqualifizierten „Massenarbeiter“ im Fokus der opera­istischen Debatte standen. (2)

Vor allem beim Unter­nehmen Montedison gelang es den Militanten, Kontakt zu den Be­schäftigten aufzubauen und Einfluss zu ge­winnen. Einen ersten großen Erfolg konnten sie dabei im Sommer 1968 erzielen. Aus Anlass der anstehenden Tarifverhandlungen, bei denen die Gewerkschaft wie üblich eine mäßige prozentuale Lohnerhöhung anpeilte, stellten die Aktivist_innen der PO-ve ihre eigene Forderung in den Raum: 10.000 Lire mehr im Monat, und zwar für alle! Von den Beschäftigten wurde dies begeistert aufgenommen, und auch die Gewerkschaft schloss sich widerwillig an, um die Kontrolle über die Lage nicht zu verlieren. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung war im August 1968 erreicht, als tausende Streikende zur nahen Stadt Mestre zogen und die Verbindungsstraßen nach Venedig blockierten. Wenig später brach die Gewerkschaft den Streik ab und einigte sich mit dem Management, wie üblich, auf eine prozentuale Lohnerhöhung.

Die Forderung nach gleichen Lohn­erhöhungen für alle kam in den Kämpfen dieser Jahre immer wieder auf. Den Arbeiter_innen war voll bewusst, dass das System der Lohn­kategorien vor allem dazu diente, die Masse der Beschäftigten in viele kleine Untergruppen zu zerlegen und so die Macht der Unter­nehmer zu sichern. Und jede prozentuale Lohn­erhöhung verstärkte die Unterschiede zwischen den Kategorien, weil in einer niedrigen Lohnkategorie natürlich auch die Er­höhung niedriger ausfiel.

Die Frage des Lohns war aber auch für die operaistische Theorie und Praxis dieser Zeit von zentraler Bedeutung. Schon der frühe Operaismus hatte die Planung als elementaren Bestandteil der kapitalistischen Wirtschaft erkannt. Das war einerseits ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem Parteimarxismus, für den jedes „Mehr“ an Planung ein Schritt in Richtung Sozialismus war. Allerdings neigten die Operaist_innen dazu, nun ihrerseits in umgekehrter Richtung zu übertreiben. Ihre Befürchtung war, dass es durch ein Programm der staatlich gelenkten und geplanten Wirtschaftentwicklung (wie es damals vor allem die sozialistische Partei PSI vertrat) gelingen könnte, die Kämpfe der Arbeiter_innen zu befrieden.

Von diesem Punkt aus lässt sich das Konzept des „politischen Lohns“ ver­stehen, das Mario Tronti schon Jahre zuvor formuliert hatte: „Vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus ist ein Kampf dann politisch, wenn er bewusst die Krise der ökonomischen Abläufe der kapitalistischen Entwicklung herbeiführt.“ Und der Lohn schien der geeignete He­bel zu sein, um so eine Krise her­bei­zuführen, wie Tronti meinte: „Das Ungleichgewicht, das Auseinanderfallen von Löhnen und Produktivität, ist ein politischer Fakt. Er muss als solches verstanden und benutzt werden.“ (3) Wenn Lohnerhöhungen, die strikt an die Steigerung der Produktivität gekoppelt blieben, ein Mittel der Kontrolle wa­ren, dann war die Entkopplung von Lohn und Produktivität ein Mittel der Revolution – so lautete der Umkehr­schluss, der auch die Politik von Potere Operaio in den Kämpfen des „Heißen Herbsts“ bestimmte.

Unzufriedene Jugend

Entscheidender Auslöser für die landes­weite Revolte waren dabei die Kämpfe bei FIAT, entsprechend der Rolle, die dieser Konzern in der italienischen Wirtschaft einnahm. Das Unternehmen produzierte 3% des Bruttoinlandsprodukts, 6% des Gesamtexports und 20% des Exports der Maschinenindustrie. Der Konzern besaß auch die zweitgrößte Tageszeitung Italiens, La Stampa, und hatte damit großen Einfluss auf die Politik und die „öffentliche Meinung“.

Die Erneuerung und Modernisierung der Anlagen war bei FIAT zu diesem Zeitpunkt weitgehend abgeschlossen. Steigerungen in der Produktivität wurden vor allem durch die immer stärkere Beschleunigung der Arbeitsrhythmen erzielt. Viele Beschäftigte sahen sich darum gezwungen der Arbeit tageweise fernzubleiben, um unter der Belastung nicht zusammenzubrechen – trotz der Lohneinbußen, die das zur Folge hatte. Rund 13% der Belegschaft waren so be­ständig abwesend. Zugleich verließen jedes Jahr etwa 10% der Beschäftigten das Unternehmen. Bei den neu Eingestellten waren es sogar 40%, die nach zwei oder drei Monaten wieder kündigten.

Im Vergleich zu den Gewinnen des Konzerns waren die Löhne im Laufe der 1960er nur unwesentlich gestiegen. Der gezahlte Grundlohn lag noch unter dem Existenzminimum. Die Arbeiter waren so zu allerlei Zusatzleistungen ge­zwungen, um über Prämien und Zu­lagen eine Summe zu erzielen, die halbwegs reichte, um die hohen Lebens­haltungskosten zu decken. Ein drängendes Problem waren vor allem die Wohnverhältnisse: Viele Arbeiter zahlten horrende Preise für ihre Schlafplätze, und hunderte mussten in den Bahnhöfen der Stadt oder im Auto übernachten, weil der Wohnungsbau mit dem Zustrom immer neuer Arbeitskräfte nach Turin bei weitem nicht Schritt hielt.

Gut die Hälfte der Turiner Stadt­bevöl­kerung war wirtschaftlich direkt oder indirekt von FIAT abhängig. Und die Zahl der Beschäftigten in den Werken war in den ver­­gangenen zwei Jahr­zehn­ten rasch ge­stiegen, von 71.000 im Jahr 1952 auf beinahe 160.000 im Jahr 1968.

Der Großteil davon, 80%, waren Arbeitsmigranten aus dem Süden des Landes – eben jene „Massenarbeitern“, die ich in dieser Artikelreihe schon öfter behandelt habe. Die meisten von ihnen waren männlich (alleinstehend oder mit Familie), zwischen 20 und 30 Jahre alt, verfügten kaum über Schulbildung und übten in der Fabrik gering qualifizierte, monotone Tätigkeiten aus.

Gegen Ende der 1960er stellten diese jungen unqualifizierten Arbeiter die Mehrheit in vielen Unternehmen (wozu die Konzerne selbst viel beitrugen, indem sie in der Rezession ab 1965 gezielt vor allem Frauen und ältere Arbeiter entließen). Und sie waren auch das treibende Subjekt im „Heißen Herbst“ bei FIAT.

In ihrem Kampf gegen die Arbeit drückte sich praktisch aus, was Mario Tronti in marxistischer Theoriesprache einige Jahre zuvor so ausgedrückt hatte: Die Arbeiter müssten ihren eigenen Status als Ware infrage stellen, sich weigern, als Arbeitskraft zu fungieren, um das Kapitalverhältnis von innen heraus zu sprengen. Die Arbeiterklasse müsse folglich dahin kommen, „das gesamte Kapital zum Feind zu haben: daher auch sich selbst, insofern sie selbst Teil des Kapitals ist. Die Arbeit muss die Arbeitskraft, insofern sie Ware ist, als ihren eigenen Feind ansehen.“ (6) Das war abstrakt genug formuliert, ließ sich aber erstaunlich gut auf die Alltagslage der jungen Arbeiter übertragen – die meisten von ihnen hassten ihren Job und wollten ihr Dasein als Lohnabhängige lieber heut als morgen beenden.

Allerdings war es nicht Mario Tronti, der diese jungen Arbeiter politisierte und zum Widerstand anregte. Weitaus wichtiger war dabei die Studentenbewegung, die ab 1967 auch in Italien als neue Kraft eindrucksvoll in Erscheinung trat – mit Uni­versitätsbesetzungen, De­mons­­trationen und Kämpfe mit der Polizei.

Die studentischen Militanten suchten dabei von Anfang an den Schulterschluss mit der Arbeiterschaft. Viele von ihnen stammten selbst aus proletarischen Familien, finanzierten sich das Studium mit mies bezahlten Gelegenheitsjobs und wohnten in denselben Vierteln wie die Arbeitsmigranten aus dem Süden. So entstand ein gemeinsames Milieu der Unzufriedenen, in dem auch die Theorien der operaistischen Gruppen an Einfluss gewannen. Indem sich der studentische Protest mit den Revolten und wilden Streiks in den Fabriken verband, gewann die Bewegung eine Brisanz und Ausdauer, die europaweit einzigartig war – letztlich sollte es in Italien ein rundes Jahrzehnt dauern, bis diese Revolte beendet war.

Revolte bei FIAT

Aber der Reihe nach. Schon 1967 hatten junge Aktivist_innen damit be­­gon­nen, vor den Werkstoren bei FIAT zu agitieren und Flugblätter zu ver­teilen. So entstanden erste Kontakte zu den Arbeitern und in die einzelnen Werkstätten hinein.

Bereits 1968 kam es bei FIAT zu ersten Streiks. Aber der ganze angestaute Un­mut entlud sich erst im Frühjahr 1969. In der Metallindustrie standen neue Tarifverhandlungen an. Die Ge­werkschaften planten, nach dem üb­lichen Modus zu verfahren: erste Ver­handlungen in den Sommermonaten, wenn die meisten Beschäftigten im Urlaub waren. Danach einige weitgehend symbolische Arbeitsniederlegungen, die für FIAT keine ernsten Einbußen brachten – die meisten Aufträge wurden vor der Sommerpause abgear­beitet, und da war der Konzern auch besonders auf reibungslose Abläufe an­gewiesen.

Nur diesmal lief es anders. Schon ab April 1969 kam es im FIAT-Werk von Mirafiori immer öfter zu Versammlungen, und schließlich wurde in einer Kundgebung von 8000 Arbeitern ein Streik be­schlossen. Die Initi­ative dazu kam von den gewerkschaftlich organisierten Fach­­arbeitern, die für die Wartung der Anlagen zuständig waren. Sie for­der­ten u.a. Lohnerhöhungen und die Ab­schaffung der niedrigsten Kategorie. Ab 11. Mai 1969 begann eine Reihe von je zweistündigen, noch gewerkschaftlich kontrollierten Arbeitsniederlegungen. Bald schlossen sich andere Abteilungen an, die Arbeiter der Zulieferabteilungen traten nun auf eigene Initiative in den Streik. Dadurch wurde der gesamte Produktionsablauf stillgelegt. Und als die Arbeit an den Montagebändern stockte, wo der Groß­teil der jungen „Massenarbeiter“ beschäftigt war, tra­ten auch diese in den Streik und tru­gen im Folgenden viel dazu bei, die Formen der Auseinandersetzung zu radikalisieren – durch zeitweilige Beset­zung einzelner Abteilungen, durch Sabotage, durch Militanz auf der Straße, aber auch durch neue und kreative Aktionsformen. So wurden etwa mit Demonstrationszügen durch die Fabrik die noch unbeteiligten Kollegen agitiert, sich den Streiks an­zuschließen.

Bald entstand eine regelmäßige „Ver­samm­lung der Arbeiter und Studenten“, die sich nach Schichtende in einem Lokal nahe Mirafiori trafen. Daraus wurde ein regelmäßiges Treffen, bei dem die Arbeiter der verschie­de­nen Werk­stätten In­for­mationen aus­­­­­tauschten und Aktionen für die folgenden Tage geplant wurden (5). Die allgemeineren Probleme und Fragen der Strategie wurden auf Versammlungen debattiert, die bald regelmäßig jeden Sonntag stattfanden. Aus diesem Kreis heraus entstanden Flugblätter, die vor den Fabriktoren verteilt und mit der Formel „la lotta continua“ (der Kampf geht weiter) unterzeichnet wurden – nach dieser Losung benannte sich später die gleichnamige Organisation, von der weiter unten noch die Rede sein wird.

Gewerkschaften und Bosse

Die Gewerkschaften sahen sich durch dieses autonome Handeln der Arbeiter in Bedrängnis gebracht. Sie mühten sich, die allgemeine Revolte in eine geregelte Choreografie zu überführen, bei der nur in einzelnen Abteilungen der Reihe nach gestreikt und gesondert verhandelt wurde. Das misslang erstmal gründlich. So begannen am 29. Mai die Arbeiter auf eigene Faust zu streiken, ohne den von den Gewerkschaften angesetzten Termin abzuwarten. Und als die Gewerkschaften Mitte Juni ei­nen neuen Vertrag für die Arbeiter an den Montagebändern präsentierten, reagierten diese mit offe­ner Ablehnung und traten zwei Tage später erneut in den Streik.

Andererseits konnten die Gewerk­schaf­­ten die Unruhe nutzen, um ihre ei­gene Position stärken, die bei FIAT traditionell eher schwach war. Bereits 1955 hatte FIAT die meis­ten Kader der Metall­­ge­werkschaft FIOM und der kom­­mu­nis­­­tischen Partei ge­feuert und zu­gleich eine eigene „gelbe“ Gewerkschaft gegründet. So war Ende der 1960er der Einfluss der unabhängigen Ge­werkschaften bei FIAT gering – nur ein Viertel der Beschäftigten war in ihnen organisiert.

Ihre wichtigste Forderung war nun die Anerkennung sog. „Abteilungs­delegierter“, mit denen sie ihre Entschei­dungsmacht im Werk zu vergrößern hofften. Mit Erfolg: Der Abschluss am 27. Juni 1969 beinhaltete u.a. die Anerkennung von 56 solcher Delegierten. Ebenso wurden Abteilungskomitees (comitati di linea) eingerichtet, die jeweils mit vier Repräsentanten je einer Gewerkschaft besetzt wurden.

Die Konzernleitung, zumindest de­ren „progressiver“ Flügel, war durchaus zum Entgegenkommen an diesem Punkt bereit. Denn damit die Gewerkschaften von den Arbeitern als offizielles Vertretungsorgan anerkannt wurden, mussten sie auch Erfolge vorweisen können, und dafür mussten man ihnen größere „Rechte“ zugestehen. Darüber war sich auch die Konzernleitung klar, wie sich deutlich an der Berichterstattung der von FIAT kontrollierten Tageszeitung La Stampa und dem Tenor der dort veröffentlichten Artikel zeigte. Zugleich versuchte La Stampa aber auch, gegen die linksradikalen „Agitatoren“ Stimmung zu machen, und intern legte die Kon­zern­leitung Listen mit den Namen vermeintlicher Rädelsführer an, die bei nächster Gelegenheit entlassen oder versetzt werden sollten.

Für den 3. Juli riefen die Gewerkschaften zum Generalstreik in Turin auf, um gegen den „Mietwucher“ zu protestieren und beim Parlament Aufmerksamkeit für ihre Forderungen zu schaffen. Sie verfehlten jedoch ihr Ziel, einerseits die Initiative und damit die Kontrolle zurückgewinnen, andererseits den Unmut auf andere Ziele zu lenken. Gegen Mittag sammelte sich vor dem Werk in Mirafiori ein etwa 3000 Per­sonen starker Demonstrationszug von Arbeiter_innen und Student_innen. Dieser wurde fast unmittelbar von der Polizei angegriffen. Das ließ die Lage eskalieren. Barrikadenkämpfe begannen, die bis in die Nacht dauerten und sich bis in die Vororte der Stadt ausbreiteten. Am Ende mussten die Polizeikräfte sich zurückziehen.

Die „organisierte Autonomie“ und der Staat

Nach dem 3. Juli breiteten sich die Kämpfe auf andere Industriezweige und Regionen aus. Bei Alfa Romeo, Innocenti, Sit-Siemens, Seat, Michelin, Lancia und Phillips wurde ebenso gestreikt wie bei Olivetti, in den Chemiefabriken von Porto Marghera ebenso wie in Rom, Bologna, Pisa und Florenz. Und auch bei FIAT gingen die Arbeitskämpfe nach der Sommerpause unvermindert weiter. Die Konzernleitung setzte nun auf harte Repression und begnügte sich nicht mehr damit, einzelne „Rädelsführer“ zu entlassen. Ihre Maßnahmen richteten sich vielmehr gegen alle, die an den Streiks beteiligt waren. Am 3. September wurden so insgesamt 40.000 Arbeiter „suspendiert“, die Hälfte davon aus Mira­fiori. Am Folgetag stürmten meh­­­­rere tausend der Entlassenen das Fa­briksgelände, zogen durch die Werk­­stätten und zet­tel­ten dort Ver­samm­lungen und Diskussionen an.

Die Bewegung weitete sich aus, trotz der Repression, die auch von der Polizei ausgeübt wurde. Am Generalstreik am 19. November beteiligten sich schließlich etwa 20 Millionen Arbeiter_innen. In diesem Kontext entwickelte sich Potere Operaio zu einer landesweiten Organisation mit zeitweilig bis zu 4000 Mitgliedern. Schon ab Frühjahr 1969 gab sie die Zeitung La Classe heraus, die ab Herbst auch überregional im Wochentakt erschien und für die De­batten der Bewegung sehr wichtig war. Daneben entwickelte sich Lotta Continua zur größten Gruppe der „organisierten Autonomie“. Ursprüng­lich wurde sie von studentischen Aktivist_innen gegründet, die nach Turin gekommen waren, um bei den FIAT-Kämpfen mitzumischen, und bildete sich bald zu einer landesweiten Organisation weiter. Ab November 1969 gab sie eine eigene Zeitung heraus. Die Organisation war auch weiterhin stark in der studentischen Linken verankert, hatte aber auch unter den jungen Fabrik­arbeiter_innen großen Einfluss.

Auch die Militanten dieser Grup­pen sahen sich einer zunehmenden staat­lichen Repression ausgesetzt. Eine dras­tische Wendung erhielt die Situation durch die Bombenanschläge vom 12. Dezember 1969. Eine Bombe detonierte in der Mailänder Land­wirtschaftsbank, 16 Menschen wur­­den getötet und wei­tere 80 verletzt. Auch in Rom explodierten drei Bomben, hier gab es keine Toten, aber viele Verletzte. Tatsächlich waren diese An­schläge von faschistischen Grup­pen durchgeführt und von staat­lichen Ins­tanzen, Mili­tär und Geheim­diensten, un­ter­stützt worden. Die Poli­zei kon­zentrierte sich mit ihren Er­mitt­lungen aber ausschließlich auf die radikale Linke und konnte umgehend die angeblichen Täter präsentieren. Eine Rei­he von Anarchisten wurde ver­haftet. Einer von ihnen, Pino Pinelli, stürzte bei einem Verhör aus einem Fenster im vierten Stock und starb.

Um diese Zusammenhänge halbwegs erschöpfend darzustellen, wäre frei­lich mindestens ein eigener Artikel notwendig (6). Jedenfalls erfüllte das „Staatsmassaker“ von Mailand seinen un­mittelbaren Zweck. Es begann eine Pressekampagne gegen die Streikenden und die studentischen Unruhestifter. Unter diesem Druck beeilten sich die Ge­werkschaften zu verhandeln. Am 21. Dezember 1969 wurde der letzte Tarif­vertrag bei FIAT abgeschlossen. Der „Frieden“ war vorerst gerettet.

Die staatliche Repression und die geheim­dienstliche „Strategie der Spannung“ soll­ten die linke Bewegung die ganzen 1970er hindurch prägen und langfristig auch zu ihrem Ende führen. Mittelfristig führten sie dazu, dass sich die Politik großen linksradikalen Gruppen, Potere Operaio und Lotta Continua, von den Fa­bri­ken auf die Straße verlagerte. An­ti­faschistische Demonstrationen und Kämpfe mit der Poli­zei spielten eine immer größere Rol­le. Zugleich verschärften und ver­engten sich die internen Debatten – die Konfrontation mit der Staatsmacht wurde nun zum wichtigsten Punkt. Der „Aufbau der bewaffneten Partei“ wurde eine gängige Parole, sowohl bei Potere Operaio als auch bei Lotta Continua.

Dies war dem An­spruch der Gruppen, von den Kämpfen „an der Basis“ aus­­zugehen, eigent­lich diametral ent­gegen­gesetzt. Die­ser Widerspruch ließ sich letztlich nicht lösen – und zumindest die Aktivist_innen von Potere Operaio waren konsequent genug, sich dies einzugestehen und be­schlossen auf der letzten nationalen Kon­ferenz der Or­ga­­­nisation im Mai 1973 die Auflösung. Mit den Ursachen dieser Entscheidung werde ich mich im nächsten Heft noch beschäftigen. Dabei wird vor allem die feministische Gruppe Lotta Femminista im Fokus stehen, die als Abspaltung von Potere Operaio entstand und die operaistische Kritik der „produktiven Arbeit“ in der Fabrik um eine Kritik der Hausarbeit erweiterte. Damit spielte sie nicht nur für die italienische Frauenbewegung, sondern auch die autonome Bewegung der 70er Jahre eine wichtige Rolle. Im letzten Teil dieser Artikelreihe will ich dann vor allem Toni Negri Thesen vom „gesellschaftlichen Arbeiter“ als neuem revolutionären Subjekt beleuchten. Ihr dürft gespannt sein.

(justus)
(1) Wichtige Hinweise zu Trontis weiterer Entwicklung gibt Theodor Sander: „Von der Theorie der Arbeitersubjektivität zur antiproletarischen Propaganda“, Universität Osnabrück 1999.

(2) Bezeichnend ist die Haltung Mario Trontis, der 1967 das technische Personal als „eine Handvoll Techniker“ abtat, „die sich damit brüsten, Mehrwert zu produzieren, indem sie Knöpfe drücken“. Vgl. Steve Wright: „Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus“, Assoziation A, Hamburg/Berlin 2005, S. 115

(3) zitiert nach Steve Wright 2005, S. 78.

(4) Mario Tronti, „Arbeiter und Kapital“, online unter www.kommunismus.narod.ru/knigi/pdf/Mario_Tronti_-_Arbeiter_und_Kapital.pdf, vgl. „Fabrik und Gesellschaft“, S.22 im PDF.

(5) Wolfgang Rieland (Hg.): „FIAT-Streiks – Massenkampf und Organisationsfrage“, Trikont Verlagskooperative München, 1970, S. 72.

(6) Literatur zum Thema ist jedenfalls genug vorhanden. Vgl. z.B. Luciano Lanza: „Bomben und Geheimnisse – Geschichte des Massakers von der Piazza Fontana“, Edition Nautilus, Hamburg 1999, oder Dario Fos Theaterstück „Zufälliger Tod eines Anarchisten“, das die Ereignisse literarisch verarbeitet.

Weitere verwendete Literatur:
Nanni Ballestrini/Primo Moroni: „Die goldene Horde – Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien“, Assoziation A, Berlin 2002

Theorie & Praxis

Die Kirche im Dorf lassen!

„Leipzig sagt nein!“ So steht es auf den Schildern. An die hundert Bürgerinnen und Bürger haben sich trotz des nasskalten Novemberwetters eingefunden. Dicht gedrängt stehen sie auf dem Parkplatz vor dem Neuen Rathaus, halten Fackeln, Transparente, Mistgabeln. Ab und an branden Sprech­chöre auf: „Die Kirche muss weg! Wir sind das Volk!“

Die Menschen sind wütend, das ist deutlich zu spüren. Denn hier am Innenstadtring soll in naher Zukunft ein katholisches Gotteshaus stehen. Der Rohbau steht bereits, in klotzigem Beton zeichnet er sich grau vor dem abendlichen Himmel ab. 600 Plätze soll das Gebäude am Ende fassen, der größte Kirchenbau im Osten seit der Wiedervereinigung.

Doch nun sehen viele Anwohnerinnen und Anwohner sich und die heimische Kultur bedroht. Seit Wochen laufen sie Sturm gegen das Bauvorhaben. Renate R.* lässt ihrem Zorn freien Lauf, als wir sie ansprechen: „Dafür sind wir 1989 nicht auf die Straße gegangen! Da ging es um Frei­heit und De­mo­kra­tie. Katholischen Hasspredigern den Raum für ihre Pro­paganda zu geben, das war nicht der Sinn der Sache.“ Ein älterer Mit­demons­trant empört sich: „Warum tre­ten die hier le­ben­den Katholiken nicht zum evangelischen Glauben über? Das würde in der Be­völ­ke­rung wirk­lich gut an­kom­men und einen ech­ten Bei­trag zur In­te­gra­ti­on leis­ten!“

Nahezu täglich finden Protest­kundgebungen statt, fast 2000 Men­schen haben die On­line­pe­ti­ti­on bereits un­ter­schrie­ben. Initiiert wurde die Unterschriftensammlung von Rolf-​Diet­er Pfost, der für die DSU im sächsischen Land­tag sitzt. Seit über zwanzig Jahren wohnt Pfost bereits in Leipzig. Ein katholisches Gebetshaus an diesem zentralen Standort sei eine Provokation, sagt er und fügt kopf­schüttelnd hinzu: „Hier in unmittelbarer Nähe gibt es auch eine Schule und ei­nen Kin­der­­gar­ten. Ich weiß wirk­­­lich nicht, was die Stadtoberen sich dabei ge­dacht haben.“

Dagegen mahnte der Leipziger Poli­zei­präsident Bernd Merbitz zur Be­sonnenheit. Etwaige Befürchtungen vor einem möglichen Anstieg der Krimi­nalität seien unbegründet: „Aus den Statistiken, die wir haben, lässt sich das nicht ablesen. Die meisten Katholiken halten sich an die Gesetze. Aber wenn es konkrete Hinweise oder Beschwerden aus der Bevölkerung gibt, werden wir diesen natürlich nachgehen.“

Die Katholiken sind eine Minderheit in Leipzig. Nur 4% der Bevölkerung hängen dieser Glaubensrichtung an, die meisten hier sind Lutheraner. Auch Bert Kühne, Vor­sit­zen­der des Evan­ge­li­schen Ar­beits­kreises der Stadt, zeig­t sich entsprechend „be­frem­det“. Der ­­katholi­sche­ Glau­­­be er­schei­ne „vie­len als sehr ­­in­to­le­­rant, wenig auf­ge­klärt und protestan­ten­feind­lich“.

Rolf-Dieter Pfost dagegen spricht geradezu von einer „Unterwan­de­rungs­strategie“ der katholischen Kirche. Seiner Meinung nach ist es kein Zu­fall, dass der Katholikentag 2016 ausgerechnet in Leipzig stattfinden soll. Rund 100.000 Katholiken sollen dann die Straßen der Stadt bevölkern. „Die katholische Kirche tritt offensiv missionarisch auf”, sagt Pfost. Solch schleichende Katholisierung löse bei vielen Menschen Ängste aus. Die müsse man ernst nehmen und dürfe die Leute nicht in die rechte Ecke stellen.

Protest kommt auch von der Jugendorganisation der FDP. Die hat eine eigene Kampagne „Vorfahrt für Autos!“ gestartet. Ihr Sprecher Lutz Fadquasel erklärt auf unsere Anfrage hin: „Die Wirtschaftsregion Leipzig lebt vom Verkehr. Angesichts des Parkplatzmangels in der Leip­ziger Innenstadt ist es geradezu un­ver­antwortlich, wie hier weitere wichtige Flä­chen für ein dubioses Bau­vorhaben ge­opfert werden!“ Zwar sei die Reli­gionsfreiheit ein schützenswertes Gut, erklärt Fadquasel: „Aber um Leipzig nach vorne zu bringen, brauchen wir zukunftsweisende Kon­zep­te, keinen Ökosozialismus oder Multikulti-Luft­schlösser!“ Auch der Wurstverband Leipzig e.V. unterstützt die Kampagne.

(justus)

*Name von der Redaktion geändert.

Das kleinere Übel schlägt wieder zu

Nachträgliches zur Bundestagswahl

 

Bundestagswahl? War da was? Irgend­etwas Weltbewegendes passiert? Man weiß es nicht, auch wenn die Wahlplakate wie immer hartnäckig den Eindruck zu vermitteln suchten, dass diesmal (DIESMAL!) tatsächlich alles anders würde – wenn mensch sich für die richtige Partei entscheide. Aber Klappern gehört bekanntlich zum Handwerk, Beweiskraft hat es nicht.

Ohnehin ist das Muster viel zu regelmäßig, als dass es bloßer Zufall sein könnte: Während die Parteien ihrem Wahlvolk alles Gute versprechen, ist jede neue Regierung dann doch nur damit beschäftigt, das alte Elend weiter zu verwalten und womöglich zu verschärfen. Keinem Berliner Erwerbs­losen geht es besser, nur weil die LINKE in der Landesregierung sitzt. Die pazifistischen Grünen können im Zweifel deutlich bessere Kriegs­propaganda machen als die CDU. Und dass die SPD, wenn sie nur könnte, sofort die Folgeschäden der Agenda 2010 beseitigen würde, mag glauben wer will.

Die Wähler_innen wissen das natürlich und stellen schulterzuckend fest: „Die da oben machen doch eh was sie wollen.“ Dem Glauben an die Demokratie tut das aber nur bedingt Abbruch. Mit jedem Wahlgang verbindet sich die Illusion, dass man doch etwas mitbestimmen und den Gang der Dinge beeinflussen kann.

So knüpfen sich an die Wahlen als angeblich zentralem Bestandteil „unse­rer“ Demokratie haufenweise Fik­tio­nen und widersprüchliche Vorstellungen an. (Manche machen einem glatt Knoten im Gehirn, wenn man lange drüber nachdenkt: Was hat es z.B. mit dieser seltsamen Substanz namens „Legitimität“ auf sich, die im Wahlakt angeblich produziert wird?!) Und auch der folgende Artikel kommt um diese inneren Widersprüche nicht herum. Um es mal ganz widersprüchlich zu formulieren: Die Wichtigkeit der Wahl mag reine Fiktion sein – aber gerade die Fiktion ist in diesem Fall enorm wichtig.

Sie möchten Ihre Situation verbessern? Das geht ganz einfach: Dann stimmen Sie bei der Bundestagswahl ab. Wählen Sie die Partei, die sich am besten für Sie einsetzt. Wählen Sie den Kandidaten, der Sie am besten versteht.“

Dieses Zitat stammt von der Website der Bundeszentrale für politische Bildung (1). So eingängig es sich liest, verbergen sich dahinter doch reichlich abstrakte Denkvoraussetzungen. Zunächst mal unterstellt es eine klassenlose Gesellschaft, das Staatsvolk wird als große Gemeinschaft von Freien und Gleichen gedacht. Zwar gibt es individuelle Benachteiligungen, aber die sind wesentlich zufällig und können problemlos im Rahmen der herrschenden Ordnung beseitigt werden. Jede_r Staatsbürger_in hat gleiches Recht und gleiche Möglichkeit, das Gemeinwesen mitzugestalten.

Das sind schon eine ganze Menge Voraussetzungen: Alle Bürger_innen sind gleich. Die Stimmabgabe ist die wichtigste (praktisch die einzige) Form der politischen Betätigung. Und natürlich wird unterstellt, dass sich damit tatsächlich was bewirken lässt. Und noch eine Voraussetzung: Natürlich müssen die Leute regiert werden. Es ist allein Aufgabe der Parteien bzw. Abgeordneten, den Willen der Wähler_innen umzusetzen. Politik? Das sollen lieber mal die Profis machen!

Das ist als Fiktion ja ganz hübsch, nur mit der Realität hat es wenig zu tun. Selbst der verständnisvollste Kandidat wäre hoffnungslos überfordert, wenn er rund 62 Millionen Wahlberechtigte allesamt „verstehen“ sollte. Ebenso unklar bleibt, wie die Wähler_innen sich verständlich machen sollen. Denn tatsächlich werden sie beim eigentlichen Wahlvorgang gar nicht danach gefragt, was sie nun an ihrer Lebenssituation gebessert haben wollen, welche Politik sie sich wünschen, welche Meinung sie zu einzelnen Programmpunkten oder sachlichen Problemen haben.

Die Wähler_innen können nur ent­scheiden, von welcher Person bzw. Partei sie künftig regiert werden wollen, also wer die nächsten vier Jahre dann die sachlichen Entscheidungen für sie treffen soll. Darauf ist das gesamte Wahlverfahren zugeschnitten: Es geht darum, eine Regierung einzusetzen und zu legitimieren – die Möglichkeit zur Mitbestimmung erschöpft sich darin, dass am Ende andere bestimmen dürfen.

Denn im demokratischen Alltagsgeschäft haben die Wähler_innen nur wenig Möglichkeiten, ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt haben sie ihre Stimme ohnehin schon abgegeben, also die beste Möglichkeit der demokratischen Einflussnahme bereits verschenkt. Und die Abgeordneten sind keineswegs verpflichtet, auf eventuelle Forderungen der Regierten einzugehen – so erklärt es jedenfalls Artikel 38 des Grundgesetzes:

 

„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

 

Das sagt schon ganz gut, wie sich die Demokratie als „Volksherrschaft“ gestaltet, wie die Herrschaft durch das Volk mit der Herrschaft über das Volk zusammengeht. Die Wahl bedeutet jedenfalls nicht, dass die Abgeordneten an die „Aufträge und Weisungen“ ihrer jeweiligen Wählerschaft gebun­den wären – sie sollen vielmehr als „Vertreter des ganzen Volkes“ handeln. Wir lernen: Das große Ganze hat den Vorrang vor irgend­wel­chen Partikularinteressen.

Um zu verstehen, was damit gemeint ist, müssen wir uns dieses große Ganze mal genauer anschauen. Was hat es mit dem „Volk“ auf sich, das da vertreten werden soll?

Wir haben weiter oben schon eine Ahnung gewonnen, wie sich die Frage in der Theorie beantwortet: Die Gesellschaft setzt sich demzufolge aus freien und gleichen Rechtssubjekten zusammen. Alle Mitglieder dieser Gesellschaft haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte, und auf diesen Rechten beruht wiederum die Freiheit der Person. Am konsequentesten wird das in der liberalen Vertragstheorie ausformuliert: Diese geht von einem vorgesellschaftlichen „Naturzustand“ der Individuen aus, worin diese vollkommen frei und unabhängig voneinander existieren. Die Individuen schließen dann aus freiem Willensentschluss einen „Gesellschaftsvertrag“ untereinander ab (2) und schließen sich in einem Staat zusammen – erst dadurch wird ein sozialer Zusammenhang zwischen ihnen gebildet.

Aufgabe des Staates ist es in die­ser Konzeption, die rechtlichen Rah­men­bedingungen festzulegen und die Einhaltung der Verträge zu kon­trollieren, welche die Staatsbürger_innen miteinander schließen. Die Fiktion der klassenlosen Gesellschaft ergibt sich ganz zwanglos, weil „Klassen“ gar nicht gedacht werden können, wenn man die Gesellschaft nur als Anhäufung von Individuen betrachtet. Wirtschaftlicher Erfolg ist nur das Ergebnis von individuellem „Unternehmergeist“, so wie am Misserfolg allemal das Individuum selbst schuld ist.

So drückt z.B. auch der Abschluss eines Arbeitsvertrages nur den indivi­duellen, selbstbestimmten Ent­schluss des „Arbeitnehmers“ aus, auch wenn dieser „freie Entschluss“ sich leicht auf handfeste gesellschaftlichen Zwänge zurückführen lässt – immerhin ist der Verkauf der eigenen Arbeitskraft für die meisten Menschen die einzige Möglichkeit, sich einen halbwegs tragbaren Lebensunterhalt zu sichern. Diese Zwänge werden in der Fiktion des freien Rechtssubjekts konsequent ausgeblendet – der Vertrag gilt, auch wenn er nicht aus freien Stücken unterzeichnet wurde.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Parteien ist nicht zu erkennen: Beide treten sich in der Unterzeichnung des Vertrages gleichermaßen als Eigentümer gegenüber. Die eine Seite verfügt über ihre Arbeitskraft als Eigen­tum, welches sie nun veräußert. Die an­dere Seite verfügt über Kapital, um diese Arbeitskraft kaufen und gewinn­bringend anwenden zu können. (Um diese Anwendung zu ermöglichen, braucht es ja noch weitere Mittel, etwa Gebäude, Maschinen, Rohstoffe usw. Dass diese Mittel sich allesamt auf Seiten des „Arbeitgebers“ konzentrieren, ist entscheidend für den ganzen Vor­gang: Der „Arbeitnehmer“ kann seine Arbeitskraft eben nicht selbst anwenden und verwerten – er ist also einerseits rechtlich frei, den Vertrag zu unterzeichnen, und gleichzeitig ökonomisch dazu gezwungen.)

 

Das große und hauptsächliche Ziel sich unter einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter Regierung stellen, ist … die Erhaltung ihres Eigentums.“

(John Locke) (3)

 

Es mag scheinen, als hätten wir uns recht weit von der Anfangsfrage entfernt. Aber immerhin erklärt das Gesagte, wie der Staat das leisten kann, was er angeblich leistet, nämlich gleichermaßen alle („das ganze Volk“) und jede_n Einzelne_n zu vertreten. Dass beides zusammengeht, ist ja keineswegs selbstverständlich: Ernsthaft gegensätzliche Interessen darf es jedenfalls nicht geben.

Davon kann man unter den eben skiz­zier­ten Umständen nicht unbedingt ausgehen: Denn der „Arbeitgeber“ lässt den „Arbeitnehmer“ ja nicht aus reiner Menschenliebe für sich arbeiten – sein Ziel ist vielmehr, einen Mehrwert für sich zu erzielen: Der Marktwert der von der Arbeitskraft produzierten Waren muss höher liegen als der Arbeitslohn. Ist diese Bedingung nicht gegeben, macht der „Arbeitgeber“ keinen Gewinn und wird den „Arbeitnehmer“ vermutlich entlassen. Dieser sieht sich so seines Einkommens beraubt. Hoppla, gegensätzliche Interessen!

Aber wenn wir uns die Voraussetzungen der liberalen Theorie halten, kann der Staat den Zwiespalt tatsächlich auflösen. Er sichert beiden Seiten ihr Recht, soweit sie eben Eigentümer sind: Eigentümer von Arbeitskraft, Eigentümer von Kapi­tal – kein wesentlicher Unterschied zu erkennen. Das vom Staat geschützte Eigentumsrecht gilt für alle gleich und hält gerade deshalb den grundlegenden Unterschied zwischen Besitzenden und Besitzlosen aufrecht: Der „Arbeitgeber“ hat das Recht, über sein Kapital zu verfügen und es gewinnbringend ein­zusetzen. Der „Arbeitnehmer“ hat ein Recht darauf, dass seine Arbeitskraft erhalten bleibt – die könnte ja noch gebraucht werden. Indem der Staat „das ganze Volk“, d.h. tatsächlich alle vertritt, verewigt er also das Klassenverhältnis in einem Kompromiss, der dem Status Quo zum Verwechseln ähnlich sieht: Die „Arbeitgeber“ lassen Leute für sich arbeiten und Mehrwert produzieren. Die Lohnabhängigen dürfen weiter arbeiten und kriegen dafür (im Optimalfall) den Lohn, den sie brauchen um ihre Arbeitskraft zu erhalten und weiter arbeiten zu können.

Wer alles gibt, muss mehr bekommen! Jetzt 8,50 Euro Mindestlohn wählen!“

(SPD-Wahlslogan)

 

Das schließt natürlich staatliche Umver­tei­lung keineswegs aus. Tatsächlich eig­net sich der Staat ständig einen Teil des gesellschaftlichen Gesamtprofits an und verteilt diesen um. Das gilt für den demokratischen Sozialstaat ebenso wie für die fieseste Militärdiktatur – auch wenn jene die einkassierten Steuergelder eher für die Ausrüstung der Armee und den Bau von Autobahnen verwendet. Die Umverteilung als solche hat also noch nichts Fortschrittliches an sich.

Aber wie gesagt, der Staat greift auch ein, um die Arbeitskraft der Lohnabhängigen zu erhalten. Insofern müht er sich tatsächlich, ihr Leben zu „verbessern“. Er bietet Sozialleistungen (um Zeiten der Erwerbslosigkeit zu überbrücken), Bildung (damit die Arbeitskräfte später auch komplizierte Maschinen bedienen können) und nicht zuletzt Rente (weil man die Alten nach einem langen Berufsleben ja nicht einfach auf der Müllhalde verklappen kann (4)).

Voraussetzung dafür ist aber allemal, dass die Mehrwertproduktion weitergeht – wollte der Staat diese beenden, so würde er sich damit selbst die ökonomischen Grundlagen entziehen. Auch die menschenfreundlichste Sozialpolitik kommt über diesen inneren Widerspruch nicht hinaus: Bevor irgendwelcher Mehrwert verteilt werden kann, muss er erstmal produziert werden.

Der oben zitierte SPD-Slogan bringt diesen Widerspruch auf den Punkt: Es ist ja ganz buchstäblich so, dass die Lohnabhängigen alles geben – nicht, weil sie so furchtbar motiviert sind, sondern weil sie keine andere Wahl haben. So wie sie nicht über die Produktionsmittel verfügen, so gehört auch das Arbeitsprodukt nicht ihnen – der Arbeitgeber eignet sich dieses an und zahlt den Beschäftigten einen Teil davon als Lohn zurück. Jedes „Einkommen“ (auch ein staatlich garantiertes so­­ge­nanntes „bedingungsloses Grund­­­einkommen“) setzt dieses Abhän­gigkeitsverhältnis voraus. Wer alles gibt, kriegt ein Stück davon zurück…Durch Umverteilungspolitik lässt sich dieses Verhältnis nicht aufheben, auch sie behandelt die Menschen nur als Einzelne und Eigentümer_innen – als Konsument_innen in diesem Fall, während die Produktion im Ganzen unverändert weitergeht.

Durch Appelle an den Staat, auch wenn sie von Zehntausenden auf der Straße vorgetragen werden, lässt sich die Vereinzelung nicht aufheben. Nötig wäre es dagegen, die Perspektive umzudrehen: festzustellen, dass man nicht nur ein abstraktes Rechtssubjekt, ist, sondern sich als reales Lebewesen schon immer in (ziemlich unschönen) sozialen Zusammenhängen befindet. Nicht an eine übergeordnete Instanz zu appellieren, sondern sich selbst aus der Machtlosigkeit zu befreien. Vom eigenen Interesse auszugehen, statt es immer wieder dem Wohl des „ganzen Volkes“ unterzuordnen. Dann haben wir auch eine Möglichkeit, unsere Lage tatsächlich zu verbessern.

(justus)

 

(1) www.bpb.de/politik/wahlen/bundestagswahl-2013/165860/die-bundestagswahl-waehlen-ist-wichtig

(2) Ich denke hier nicht nur an Jean-Jaques Rouseau, auch wenn das Stichwort des „Gesellschaftsvertrags“ von diesem entlehnt ist. In seinem „Leviathan“ hatte auch Thomas Hobbes ein ähnliches Konzept entwickelt.

(3) Das Zitat stammt aus Lockes „Zwei Abhandlungen über die Regierung“.

(4) Für die Volkswirtschaft wäre es allerdings günstig, wenn die Alten mal etwas Patriotismus und Eigeninitiative zeigen und sich um ein „sozialverträgliches Frühableben“ bemühen würden (so lautete das Unwort des Jahres 1998).

Der lange Sommer der Autonomie (Teil 3)

Operaismus für Anfänger_innen

Bevor wir in den dritten Teil unserer Operaismus-Reihe einsteigen, ist es wohl sinnvoll, noch einmal einen Blick zurückzuwerfen, auf das, was bisher geschah: 1961 gründete sich in Turin die Zeitschrift Quaderni Rossi. Die Initiative dazu ging von Raniero Panzieri aus, der zuvor lange Zeit in der sozialistischen Partei Italiens (der PSI) aktiv gewesen war. Seiner Einschätzung nach hatten sich die Gewerkschaften und die linken Parteien, die PSI ebenso wie die kommunistische PCI, gründlich von ihrer proletarischen Mitgliederbasis entfremdet. Die rasante Modernisierung der norditalienischen Industrie hatte neue Probleme und Konfliktfelder ge­schaffen, aber die Organisationen der Arbeiterbewegung wussten darauf nicht zu reagieren.

Die Gruppe aus dem Umfeld der Quaderni Rossi setzte es sich dagegen zum Ziel, die Verhältnisse in den Fabriken zu erforschen. Wichtig war dabei vor allem die Initiative von Romano Alquati, mit der ich mich im letzten Heft be­schäftigt habe. Für Alquati sollten die Arbeiter_innen nicht passive Objekte der Untersuchung sein, sondern diese selbst vorantreiben. Dieser Plan konnte nur bedingt umgesetzt werden, aber immerhin gewann man bei FIAT und OLIVETTI wichtige Einsichten in das Innenleben der Fabriken. Gerade unter den jungen Arbeiter_innen war die Unzufriedenheit allgemein verbreitet – und Alquati meinte, dass gerade diese „neuen Kräfte“ in den Klassenkonflikten, die sich bereits am Horizont abzeichneten, eine zentrale Rolle spielen würden.

Aufstand auf der Piazza Statuto

Der Wendepunkt kam schneller als vermutet. Das Jahr 1962 markierte den Übergang von der Ära des „Wiederaufbaus“ und der relativen Ruhe der 50er Jahre zu einem neuen Zyklus der Klassenkämpfe. In vielen Unternehmen standen neue Tarifverhandlungen an. Bei diesem Anlass entlud sich der Unmut, der sich schon lange angestaut hatte. Zentrum der Unruhe war Turin, wo auch die Redaktion der Quaderni Rossi ihren Sitz hatte.

Schon Anfang des Jahres traten die Arbeiter_innen bei Lancia und Michelin in den Streik. Bald schlossen sich die Belegschaften der anderen Metallbetriebe an. Und anders als in den Jahren zuvor wurde diesmal auch in den ­FIAT-Fabriken – Gießerei, Flugzeug­werk, Luftfahrttechnik und Walzwerk – die Arbeit niedergelegt. Auf dem Höhepunkt waren in Turin 250.000 Arbeiter_innen im Streik.

Die Unternehmensführung von FIAT bemühte sich, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Sie schloss nicht nur mit der ‚gelben’ (also von der Unternehmerseite selbst aufgebauten) Gewerkschaft SIDA eine separate Vereinbarung ab. Auch die sozialistische Gewerkschaft UIL (Unione Italiana del Lavoro) war zu gesonderten Verhandlungen bereit. Der Vertrag, auf den sie sich schließlich mit dem Management einigte, beinhaltete zwar Zugeständnisse beim Lohn, aber wesentlich wichtigere Fragen z.B. der Arbeitsorganisation wurden darin gar nicht berührt.

Es gelang freilich nicht, mit diesem Schachzug die Streikenden zu spalten und den „Frieden“ wieder herzustellen. Eher im Gegenteil: Am 7. Juli wurde nicht nur wie geplant gestreikt und die ganze Stadt lahmgelegt. Am frühen Nachmittag sammelte sich außerdem eine Menge von aufgebrachten Arbei­ter_innen vor dem Sitz der UIL auf der Piazza Statuto. Die Zahl der Protestierenden (viele von ihnen waren selbst Mitglieder der Gewerkschaft) wuchs rasch, bald belagerten Tausende die UIL-Zentrale. Es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die sich rasch zu Straßenschlachten auswuchsen und drei Tage andauerten.

Die „scontri di Piazza Statuto“ (Zusammenstöße auf der Piazza Statuto) waren in mehrfacher Hinsicht bedeutend. Nicht nur trat hier deutlich zu Tage, wie sehr die wechselseitige Entfremdung zwischen den Arbeiter_innen und den sie vertretenden Organisationen mittler­weile gediehen war. Zugleich betrat hier zum ersten Mal unübersehbar die Figur des „Massenarbeiters“, die bald eine zentrale Rolle in der operaistischen Debatte einnehmen sollte, die politische Bühne.

Schon Romano Alquati hatte in seinen Untersuchungen bei OLIVETTI und FIAT die Rolle der jungen, gering qualifizierten Arbeiter_innen erkannt und beschrieben. Diese „Massenarbeiter“ zeigte sehr spezifische Merkmale: Sie waren typischerweise männlich (FIAT begann erst ab 1970 verstärkt Frauen einzustellen), zwischen 20 und 30 Jahre alt, und stammten zumeist aus dem verarmten, agrarisch geprägten Süden Italiens. Die Fabrik war für sie zunächst ein fremdes Terrain. Sie hatten wenig Bezug zur Kultur der älteren Arbeitergeneration, die oft noch von der Erfahrung der Resistenza, des antifaschistischen Wider­stands, geprägt war, und standen den Gewerkschaften und linken Parteien distanziert gegenüber. Und die stupide, monotone Arbeit am Fließband bot ihnen kaum Gelegenheit, sich einen „Berufsstolz“ zuzulegen, wie er bei den älteren Facharbeitern noch verbreitet war. Daraus ergaben sich auch andere politische Perspektiven. Eine Selbstverwaltung, also die eigenverantwortliche Übernahme der Produktion konnte für die jungen Arbeiter_innen nicht das erste Ziel sein – wenn sie politisch aktiv wurden, dann aus dem klaren Bewusstsein heraus, dass sie diese Produktion ganz sicher nicht weiterführen wollten. Das schlug sich auch in ihren Aktionsformen nieder, z.B. in Sabotageakten, bei denen auch die Zerstörung der Ma­schi­­nerie in Kauf genommen wurde.

Die Spaltung

Die neuartige Qualität der Ereignisse brachte auch die Redaktion der Qua­derni Rossi in schwere innere Konflikte. Während sie die Streiks sehr gründlich analysierten, äußerten sie sich zu „den Ereignissen auf der Piazza Statuto“ nur sehr zurückhaltend.

Einzelne Funktionäre der Turiner CGIL (des kommunistischen Gewerkschaftsverbands) und der Metallgewerkschaft FIOM hatten die Intervention zwar zunächst unterstützt. Und schon im August 1961 war es gelungen, einen Streik in den FIAT-Eisenhütten zu organisieren, der sehr dazu beitrug, den Rückhalt der FIOM unter den Arbeiter_innen zu verstärken – bei den nachfolgenden Wahlen zur Betriebskommission schnitt die Gewerkschaft jedenfalls deutlich besser ab. Danach wurden die Gewerkschafter_innen jedoch von der PCI (der kommunistischen Partei) unter Druck gesetzt und brachen die Kooperation mit den Quaderni Rossi ab.

Raniero Panzieri versuchte in dieser verfahrenen Lage zu vermitteln. Er hoffte bis zuletzt darauf, eine Erneuerung innerhalb der alten Arbeiterbewegung zu erreichen und konnte sich nicht dazu durchringen, mit den linken Parteien und Gewerkschaften zu brechen.

Aber auf lange Sicht ließ sich die Konfrontation nicht vermeiden. Die Aktivist_innen aus dem Umfeld der Zeitung waren zwar nur eine kleine und politisch weitgehend machtlose Gruppe. Aber indem sie sich auf das Terrain der Fabrik begaben, brachten sie zugleich die eingefahrene Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften und Partei, die säuberliche Trennung von „Ökonomie“ und „Politik“ durcheinander. Das mochte noch angehen, solange sie sich „nur“ auf die Untersuchung beschränkten. Aber sobald die Einmischung eine offen politische Form annahm, konnte dies – gerade in einer so angespannten Lage – nicht mehr hingenommen werden. Als einige Aktivist_innen im Frühjahr 1962 während des Lancia-Streiks Flugblätter vor den Fabriktoren verteilten, führte das bereits zum offenen Konflikt mit der Gewerkschaft.

In der Folge wurden die beteiligten Mitglieder der PCI aus der Partei ausgeschlossen (1). Zugleich zerlegte sich die Redaktion der Quaderni Rossi in ihre Bestandteile. Die Spaltungslinie verlief zwischen jenem Teil der Redaktion, der sich am Vorbild der amerikanischen Industrie­soziologie orientierte und wenig politische Ambitionen hatte, und denen, die an die neuen Kämpfe der Arbeiter_innen anknüpfen und eine revolutionäre Politik machen wollten. Panzieri schlug sich letztlich auf die Seite der „Wissenschaftler“, während die anderen die Redaktion verließen – sie gründeten die Zeitschrift Classe Operaia („Arbeiterklasse“), deren erste Ausgabe Ende 1963 erschien. Auch Romano Alquati schloss sich dieser Fraktion an, da er mit dieser das Ziel teilte, politisch zu intervenieren – der vermeintlichen „Neutralität“ der Industriesoziologie stand er dagegen skeptisch gegenüber (2).

Die Quaderni Rossi erschienen zwar noch bis 1968, aber nach dem plötzlichen Tod Panzieris (er starb 1964 überraschend an einer Hirnembolie) war das Konzept praktisch erledigt. Nennenswerte revolutionäre Impulse gingen von der Zeitung jedenfalls nicht mehr aus.

Eine neue Arbeiterzeitung?

Classe Operaia dagegen sollte nun „eine neue Form der Arbeiterzeitung“ darstellen – so schrieb Mario Tronti in seinem Artikel „Lenin in England“, der in der ersten Ausgabe erschien (3) und als eine Art Gründungs­manifest aufgefasst werden kann. Der Titel des Textes deu­te­te schon an, was Tronti vor­schweb­te: Einerseits eine Rückkehr zu den Ursprüngen der Arbeiterbewegung und des Marxismus (England), um von da aus eine entschiedene revolutionäre Politik zu betreiben – dafür stand der Name Lenins, mit dem Tronti sich offenbar identifizierte.

Tronti hatte seine ersten politischen Erfahrungen in Rom, in der Jugendorganisation der PCI gesammelt und war 1961 mit seiner Gruppe zur Redaktion der QR gestoßen. Schon in seinem Artikel „Fabrik und Gesellschaft“, der in der zweiten Ausgabe der Quaderni Rossi erschien (4), fiel er als scharfsinniger Marx-­­Interpret auf. Tronti spielte eine wichtige Rolle dabei, den Operaismus in eine ausformu­lierte Theorie zu überführen. Das war sein unbestrittenes Talent, aber (wie sich zeigen wird) auch seine Schwäche: Denn was als empirischer Befund durchaus richtig war, wurde leicht zu Unsinn, wenn man darauf eine große Geschichtsphilosophie aufbauen wollte.

Dies galt etwa für die Feststellung ­Panzieris, dass die Einführung des Fließ­bands nicht nur die Produk­tivität steigerte, sondern den Unternehmern auch dazu diente, bestimmte widerständige Ver­haltensweisen der Arbeiter_innen zu kontrollieren. Tronti zog daraus eine kühne, aber keineswegs zwingende Schlussfolgerung: Das Proletariat geht dem Kapital­verhältnis voraus, es sitzt dem Kapital gegenüber also immer schon am längeren Hebel.

In „Lenin in England“ formulierte er dies so: „Auch wir haben erst die kapitalistische Entwicklung gesehen und dann die Arbeiterkämpfe. Das ist ein Irrtum. Man muss das Problem umdrehen, das Vorzeichen ändern, wieder vom Prinzip ausgehen: und das Prinzip ist der proletarische Klassenkampf.“ Laut Tronti war also „die kapitalistische Entwicklung den Arbeiterkämpfen nachgeordnet, sie kommt nach ihnen“. (5) Das Proletariat treibt die kapitalistische Entwicklung voran, die letztlich unumgänglich in der Revolution enden muss.

Das klang als These erstmal ziemlich schmissig und originell. Dennoch führte Trontis Forderung nach einer „neuen marxistischen Praxis“ ihn umgehend zur einem altbekannten Modell zurück: zur „Arbeiterpartei“ (mit Betonung auf „Partei“). Ähnliches ließ sich über die gesuchte „neue Form der Arbeiterzeitung“ sagen. Was Tronti vorschwebte, war „eine Zeitung, die nicht unmittelbar alle partikularen Erfahrungen wiederholt und aufnimmt, sondern sie in einem allgemein politischen Diskurs fokussiert. Die Zeitung ist in diesem Sinne ein Kontrollpunkt“… Dabei müsse das gängige Verfahren entschieden umgestülpt werden. Denn: „Der politische Diskurs überprüft die Korrektheit der partikularen Erfahrung und nicht umgekehrt. Denn der politische Diskurs ist der umfassende Klassenstandpunkt und daher die wirkliche materiale Gegebenheit.“ (6)

Schon hier zeigte sich die fatale Neigung Trontis, alle Schwierigkeiten und offenen Fragen durch Rhetorik zu überspielen. Die zuletzt zitierte Aussage war jedenfalls kaum mehr als die großspurige Ankündigung, man werde sich künftig durch die Fakten nicht mehr irritieren lassen: Wenn der „politische Diskurs“ der Theoretiker die „wirkliche materiale Gegebenheit“ darstellt, dann kann die Theorie natürlich nur recht behalten – wenn die Tatsachen ihr widersprechen, sind sie eben nicht korrekt.

Auch in politischer Hinsicht ließ das nichts Gutes erahnen: Letztlich war es eben Aufgabe der Intellektuellen, die „Parteilinie“ festzulegen, an der sich die Erfahrungen und Interessen der Arbeiter_innen zu bemessen hatten. Wenige Sätze weiter distanzierte Tronti sich zwar vom leninistischen Modell der Avantgarde-Partei. Freilich nur, weil er davon ausging, dass die benötigte politische Organisation bereits bestehe und schon entdeckt sei – in der „kompak­ten sozialen Masse“ der Arbeiterklasse. Antonio Negri formulierte das wenig später noch etwas schmissiger: „Heut­zutage ist die ganze kämpfende Arbeiterklasse die Avantgarde.“ (7) Den Kleinkram und die mühsame Aufbauarbeit konnte man sich da natürlich sparen…

Von der Klasse … zurück zur Partei

Ohnehin lagen Rationalität und Irrationalität auf den Seiten von Classe Operaia dicht beieinander. Das wird deutlich, wenn man zum Vergleich Romano Alquatis Artikel über den „Kampf bei FIAT“ heranzieht, der ebenfalls in der ersten Ausgabe der Zeitung erschien (8). Alquati analysierte darin die wilden Streiks, zu denen es Mitte Oktober 1962 in den FIAT-Walzwerken gekommen war. Dabei verwarf er zunächst einmal entschieden die Vorstellung, dass Arbei­ter_innen nicht organisiert seien, nur weil sie keiner Organisation angehörten oder den bestehenden Organisationen distanziert gegenüberstanden. Er betonte: „Der ‚Wildkatzen’-Streik ist keine anarchoide Protestform von Arbeitern, die unfähig sind, in kollektiver und organisierter Form zu kämpfen; im Gegenteil: Er erfordert ein hohes Niveau an Organisation und Zusammenhalt“. Der wilde Streik sei gerade deshalb so bedeutsam, weil er gezeigt habe, dass „sich bei FIAT eine Arbeiterorganisation entwickelt, die stark genug ist, einen solchen Streik durchzuführen – absolut außerhalb der historischen, offiziellen Organisationen.“

Daran schloss Alquati nahtlos eine Kritik der gängigen Avantgarde-Konzepte an: „Der ‚Wildkatzen’-Streik bei FIAT eliminierte die alte Idee, nach der der Arbeiterkampf auf dieser Ebene von einem besonderen internen ‚Kern’ organisiert wird, der das Monopol über das antagonistische Arbeiterbewusstsein hat. Der Streik vom 15./16. Oktober ist direkt von der ganzen und kompakten ‚gesellschaftlichen Masse’ der Arbeiter der Werke, die daran teilgenommen haben, organisiert worden.“

Alquati verwendete hier exakt die glei­chen Worte wie Tronti, beide sprachen von den Arbeiter_innen als „kompakter sozialer Masse“ („compatta massa sociale“). Alquati meinte damit aber etwas durchaus Anderes – nämlich zunächst einmal nur, dass die Aktionen nicht bestimmten Personen oder Gruppen zugerechnet werden konnten. Und während Tronti bei der Rede von der „kompakten Masse“ wohl vor allem an Geschlossenheit und Kampfkraft dachte, verwies sie bei Alquati vor allem auf die Schwierigkeiten der Analyse: Die Masse war eben auch ziemlich undurchsichtig, und es ließ sich kaum sagen, was für kollektive Prozesse da im Inneren abliefen. (9)

Alquati argumentierte nicht nur theoretisch deutlich nüchterner. Dass er in seiner Untersuchungsarbeit konsequent von den „partikularen Erfahrungen“ der Arbeiter_innen ausging, bewahrte ihn auch vor revolutionären Allmachtsphantasien und parteipolitischen Ambitionen. Dagegen verloren Tronti und andere aus der römischen Gruppe die Vorgänge in den Fabriken mehr und mehr aus den Augen – mit der 1964 einsetzenden Rezession ebbten die Streiks ohnehin erstmal ab. Dagegen wurde wieder die kommunistische Partei der wichtigste Bezug für Tronti, der hoffte, die PCI „benutzen“ und gegen die Reformpolitik der PSI (der sozialistischen Partei, die seit 1963 zusammen mit den Christdemokraten regierte) auf einen revolutionären Kurs bringen zu können. Diese Annäherungsversuche stießen jedoch bei der Partei auf wenig Gegenliebe. Eher im Gegenteil: In einem im Frühjahr 1964 veröffentlichten Artikel griff z.B. die PCI-Zeitung L´Unità die Gruppe um Classe Operaia heftig an und beschuldigte sie, bezahlte Agenten des Kapitals zu sein.

Auch sonst blieb das Projekt, trotz aller hochgesteckten Ziele, politisch weitgehend einflusslos. 1967 hatte sich der Herausgeber_innenkreis hoffnungslos zerstritten. Die römische Fraktion trat wieder in die PCI ein, um künftig im Inneren der Partei eine „revolutionäre“ Politik zu betreiben. Die Veneto-Gruppe um Antonio Negri gründete derweil die Organisation Potere Operaio („Arbei­termacht“), die in den Fabrikkämpfen ab 1967 eine große, wenn auch nicht unbedingt glorreiche Rolle spielte. Ohnehin waren die Streiks und Unruhen des Jahres 1962 nur ein Vorgeplänkel. Im „Heißen Herbst“ 1969 schien die Revolution tatsächlich zum Greifen nah zu sein. Die autonomen Kämpfe der Arbeiter_innen bei FIAT und anderswo stürzten das italienische Kapital und den Staat in eine Krise, wie es sie nie zuvor gegeben hatte. Aber damit werde ich mich im nächsten Heft befassen.

justus

(1) Vgl. dazu die detaillierte Darstellung von Wolfgang Rieland im Vorwort von Wolfgang Rieland/Romano Alquati, „Klassenanalyse als Klassenkampf – Arbeiteruntersuchungen bei FIAT und OLIVETTI“, Athenäum Fischer, Frankfurt a.M. 1974.
(2) Schon in seiner Untersuchung bei OLIVETTI hatte er dies bemerkt: „Unter den Genossen, aber auch unter dem Arbeitern in Ivrea besteht ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Soziologie: viel Aktivisten dort kennen sie nur allzu gut […] denn sehr viele der bekanntesten italienischen Soziologen – und insbesondere die ‚linken’ – sind bei OLIVETTI ausgebildet worden […] Die Soziologie, die bei OLIVETTI blühte – und noch immer blüht –, so sagen diese Genossen, ‚haben wir dann am eigenen Leibe ausprobieren dürfen’: in der Gestalt der neuen Arbeitsrhythmen.“ Vgl. Rieland/Alquati 1974, S. 103.
(3) www.kommunismus.narod.ru/knigi/pdf/Mario_Tronti_-_Arbeiter_und_Kapital.pdf
(4) Eine deutsche Übersetzung findet sich in Nanni Ballestrini/Primo Moroni: „Die goldene Horde – Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien“, Assoziation A, Berlin 2002, S. 86ff.
(5) ebd. S. 87. Als geistiges Aufputschmittel für frustrierte Aktivist_innen funktioniert so eine Theorie natürlich wunderbar. Daraus erklärt sich wohl auch die Popularität Antonio Negris, der knapp vierzig Jahre später in seinem Bestseller „Empire“ noch ganz ähnliche Sätze von sich gab: „Tatsächlich erfindet das Proletariat die gesellschaftlichen Formen und die Formen der Produktion, die das Kapital für die Zukunft zu übernehmen gezwungen ist.“ (vgl.Antonio Negri/Michael Hardt, „Empire“, Campus Verlag Frankfurt/New York, 2002, S. 279).
(6) vgl. Ballestrini/Moroni 2002, S. 92. Bei den letzten beiden Sätzen halte mich hier allerdings an die Übersetzung von Bodo Schulze, da diese klarer verständlich ist. Vgl. Bodo Schulze: „Autonomia – Vom Neoleninismus zur Lebensphilosophie. Über den Verfall einer Revolutionstheorie“, in Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 10 (1989), S. 152. Schulze übt darin auch eine lesenswerte Kritik an Tronti und Negri. Online ist dieser Text unter www.wildcat-www.de/material/m009schul.htm zu finden.
(7) Zitiert nach Steve Wright: „Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus“, Assoziation A, Hamburg/Berlin 2005, S. 90.
(8) www.wildcat-www.de/thekla/06/t06wild2.htm
(9) Das war kein Mangel seiner Theorie, sondern aus der Sache selbst bedingt. Bodo Schulze drückt das ziemlich treffend aus: „Autonomie ist ein zerbrechlich Ding – oder vielmehr: Autonomie ist gar kein Ding, sondern eine bestimmte Verkehrsform von Individuen, die sich zum Zweck der Zerstörung jeglicher Herrschaftsverhältnisse assoziieren. Diese Verkehrsform ist nicht theoriefähig.“ Vgl. Schulze, a.A.o., S. 167.

Theorie & Praxis

Die Redaktion … fühlt

INNEN sein. innen SEIN

Wenn ich an fühlen denke, steckt da für mich meine ganze Welt drin. Ich finde, Gefühle sind etwas ganz wunderbares. Ich ziehe das Fühlen dem Denken vor. Denken strengt mich an, denn das impliziert bei mir, dass ich auch Taten folgen lassen muss. Im Fühlen aber bin ich weich und fließend. Und mit allem was ist oder nicht ist, was dem Fühlen folgt oder nicht folgt, bin ich milde und gnädig zu mir, denn es ist ja mein Gefühl. Mein tiefes Inneres – und da drinnen in mir ist alles erlaubt und alles herzlich willkommen.

Wenn ich an Fühlen denke, denke ich auch daran, mit mir im Kontakt zu sein, mit dem zu sein, was für mich zählt. Und ich denke an Wachsen. Insbesondere in den Momenten, in denen Gefühle wie Schmerz, Enttäuschung, Trauer, Ungeduld oder Wut da sind, versuche ich (mal mehr mal weniger, aber dafür immer besser) diese bewusst wahrzunehmen. Sie wahrzunehmen, indem ich sie einfach nur benenne. Und zwar ohne sie gleich zu bewerten oder, was mein Kopf sehr oft versucht, sie zu kategorisieren und den Ursprung erklärbar machen zu wollen. Und das bedeutet für mich, meine Gefühle weder festhalten zu wollen – also mich in meinem Schmerz baden, noch, sie wegzudrücken und zu ignorieren im Sinne davon, dass es ja wenn ich es mal ganz objektiv und nüchtern betrachte, schon gar nicht so schlimm ist. Bei dieser Art von Innenschau, zumindest zu den Zeitpunkten, wo mir das gelingt, spüre ich, dass daraus Entwicklungsschritte erwachsen. Im Rückblick zumindest fühlt es sich so an, Dinge zu mir genommen zu haben und zwar so wie sie waren – weder verharmlosend noch dramatisierend. Und damit fühlt es sich an, dass ich selbst die Verantwortung für mein Leben übernehme. Ich projiziere und leugne nicht und will auch nicht festhalten, was doch gerade so schön ist. Vielmehr stelle ich mich dem, was genau im Hier und Jetzt, in diesem Moment in mir ist und wachse daran, dringe in tiefe Schichten meines Selbst vor und erlebe dabei ganz bizarrerweise auch, dass ich mehr bin als meine Gefühle.

Und indem ich meinen Gefühlen so unbewertet in die Augen blicke, sie versuche einfach nur wahrzunehmen, schärft sich in mir die Gewissheit, dass ich so wie ich bin, mit all diesen meinen Gefühlen, genau richtig bin und das alles in mir sein darf. Das da drinnen, in meinem Fühlen, eine Welt – und zwar meine ganze Welt – liegt. Und der Welt da draußen, darf ich mich und meine Themen, mein Innenleben zumuten, ich darf meinen Raum haben. Das wiederum lässt mich eigenverantwortlich in meine Kraft kommen und Situationen nehmen wie sie sind. Und indem ich das tue, im besten Falle natürlich mit liebevollem Blick auf mich selbst, komme ich irgendwann ganz bei mir an und sehe immer klarer, wozu mich das Leben ruft. Ich wachse in die Person hinein, die ich bin.

Mein Blick wird frei von dem, was ich nicht habe, und geht zu dem, was ich alles habe. Er lässt mich erkennen, das ganz egal welcher Schmerz da auch war, ich alles mitbekommen habe, was ich brauche. So wachse ich in die Tiefe und stoße auf das wertvollste, das ich habe – meine Liebe.

mona d

…dieses und jenes

Gefühle sind ja ihrem Wesen nach unbeständig, unklar und fließend. Doch im Moment fühle ich mich tatsächlich verunsichert, oder besser: irritiert. Es flimmert in meinem Blick, immer mehr, je länger ich auf die Buchstaben hinstarre. Ich schließe mein eines Auge. Mit dem anderen peile ich über die Nasenspitze weg, zögere kurz, ehe ich dem Monitor links und rechts ein paar hinter die nicht vorhandenen Ohren gebe. Jetzt geht es besser, ich atme auf. Nur ein technischer Defekt, mit meinen Augen ist alles okay. Da kann ich ja weiter über Gefühle schreiben…

Männlich sozialisierte Wesen wie ich haben damit ja so ihre Probleme. Am einfachsten wäre es wohl, ich würde die Frage nach meinem Innenleben so beantworten wie Nelson, der hässliche Junge bei den Simpsons – mit einem mürrischen Achselzucken und den Worten: „In mir sind Gedärme.“ Das stimmt natürlich, technisch gesehen, ist eben nur ein wenig unterkomplex. Ich könnte auch heucheln und behaupten, dass ich gerade unheimlichen Zorn in mir fühle. Ja, Zorn! Einen rechtschaffenen Zorn natürlich, gegen Kapitalisten und Kriegshetzer, sowieso gegen Neonazis und die allgemeine Gesamtscheiße.

Aber wenn ich ehrlich bin, dann bin ich gerade mal überhaupt nicht zornig. Viel eher schon ist es ein leichter Weltschmerz, ein sanftes Gefühl von ennui (um es mal so schön frankophil bzw. frankophon zu formulieren), das mich da von innen her anrührt. Nein, ich bin nicht traurig – das Gefühl ist eigentlich ganz angenehm. Ein Gefühl von Herbst und milder, in Eichenholz gereifter Melancholie, wie sie mich regelmäßig befällt, wenn ich so rumsitze und darüber nachdenke, dass ich nun schon gut dreißig Jahre meiner Lebenszeit ziemlich zweckfrei verplempert habe. Ganz angenehm soweit. Ich sollte wohl noch mehr Schnaps trinken und mich mehr mit meinen Gefühlen beschäftigen, um auch die verbleibende Lebenszeit noch gut über die Runden zu bringen.

justus

Was fühlen…

…und wann?

Ich nehme einfach die jetzige Situation.

Ich schreibe einen Artikel für den Feierabend! und fühle Angst.

Wird der Artikel gefallen? Oder wird er zerrissen?

Er wird sicher zerrissen, antworte ich mir. Ich kann das doch nicht richtig. Mit Sicherheit bin ich nicht gut genug.

Schluss jetzt! Mach halt. Keine Angst, das wird schon, schließlich ist ja auch keiner perfekt und selbst wenn etwas geändert werden muss – passt schon. Aber doch bleiben die Zweifel und die machen es nur noch viel schwerer. Ich mache es mir quasi selber schwer. Jedes Wort wird mehrmals unter die Lupe genommen, bis es passen könnte und immer noch, bei all der „Sicherheit“ die ich langsam bekomme. Im Hinterkopf bleibt sie, diese Unbestimmte Versagensangst. Es bleibt nur dagegen anzukämpfen. Einfach schreiben. Reinhängen, denken.

Langsam wird es besser. Ich sehe was ich geschafft habe und werde ruhiger. Lese und lese dennoch immer wieder alles durch. Vielleicht ist es das, was mir die Sicherheit gibt. Ich kann es vielleicht ja doch und mach mich nur klein. Also nochmal, sage ich mir – reiß dich zusammen!

Aber die Anderen werden bestimmt viel tollere Texte haben, da kann ich ganz klar nicht mithalten.

Das Gerüst beginnt wieder zu brechen, doch nicht ganz. Immer wieder muss ich mich selber beruhigen und es funktioniert. Er ist fast fertig, der Artikel. Es wird leichter. Innere Euphorie beginnt aufzukeimen. Ich habe den Kampf mit mir gewonnen.

…Es folgt der Moment des Absendens und die Kritik der restlichen Redaktion. Der Puls steigt – was wird passieren? Die Gedanken überschlagen sich nun wieder. Aber sei es drum.Ich habe es gemacht, habe meinen Arsch hoch bekommen und geschrieben.

Und da ist es doch wie bei allem. Wir müssen es probieren, denn wenn wir das nicht machen, dann wird die Angst nie überwunden, dann bleiben wir stehen und entwickeln uns nie weiter. Also Mut zum Streit mit sich selber.

R!

Gefühlsexpertin?

Eigentlich halte ich mich ja voll für die Gefühlsexpertin: ich nehme sie bei mir und Anderen oft wahr, kann sie einordnen, reflektieren, analysieren und über Ursachen und Wirkungen philosophieren. Ständig umgeben von meinen Gefühlen, die zwischen Bergen und Tälern des Lebens wandern, machen sie mir das Leben mal leicht, mal schwer. Unbemerkt bleiben sie nur, wenn sie auf gerader Strecke laufen. Das gibt dann zwar meinem rationalen Ich mehr Raum, ist aber eigentlich auch ziemlich langweilig.

So und jetzt zum „eigentlich“ – denn eigentlich mach ich mir da auch ganz schön viel vor, mich selbst als Gefühlsexpertin zu sehen: Denn ich sehe meist nur, was ich sehen will – Negatives blende ich auch gern mal aus, wenns nicht passt oder rede es mir schön. Reflexion wird schnell zur Grübelei und die Analyse von Ursache und Wirkung verhindert vor allem eines: sie einfach mal anzugehen. Mal spontan so zu handeln, wie das Gefühl signalisiert. Nicht darauf zu achten, ob es jetzt in den Kontext passt, oder irgendwen verletzt, oder mich in komisches Licht stellt, oder die Situation ungünstig beeinflusst. Gefühle fühlen ist das eine – danach zu handeln etwas anderes. Gerade diese zweite Kunst ist noch mein Lernfeld. Aber es geht voran 🙂

momo

GEFÜHLE…

Echt jetzt? Muss ich wirklich über GEFÜHLE schreiben. Blöder B…m… Na ja, besser als über GEFÜHLE sprechen zu müssen. Da das hier ein politisches Heft ist, könnte ich ja mal erkunden, was mich da so umtreibt. Wie wäre es mit Empörung über gewisse soziale und politische Verhältnisse? Empört bin ich über die weit verbreitete Sinnfreiheit medialer Berichterstattung. Aktuelles Beispiel: Skiunfälle. Tragisch ja, aber muss das zwei Wochen lang auf Titelseiten prangen, nur weil es dem Schumi passiert ist?

Erschüttert war ich in letzter Zeit auch angesichts der rassistischen Ressentiments, die mal wieder verstärkt in der Mitte der Gesellschaft aufschwappen und sich in der aktuellen Diskussion um Flüchtlinge und Asylsuchende in Leipzig und Umland manifestieren.

Und einfach angepisst hat mich neulich ein Gespräch mit jemanden, der sich hauptberuflich als Sohn bezeichnete und dessen großes Lebensziel es ist, eine Menge Geld zu haben und sich ein schickes Auto zu kaufen, weil das ja schon irgendwie cool wäre. Idiot.

Aber wohin führt die Erkundung solcher GEFÜHLE? Im schlimmsten Fall lediglich zu einer Diskussion über diese GEFÜHLE. Mit etwas Glück aber auch zum Erkennen von Missständen und zum Drang, etwas daran zu ändern: Die sinnfreie Berichterstattung lese ich einfach nicht mehr und mache stattdessen meine eigene Zeitung. Den Alltagsrassismus akzeptiere ich nicht und gehe auf die Strasse oder werde aktiv in Initiativen, die versuchen das Leben der Asylsuchenden in den Unterkünften zu verbessern. Kapitalistische Lackaffen argumentiere ich nieder und verbreite den Gedanken von sozialem und bewusstem Konsum.

Was zu sagen bleibt: Gefühlt ist schon halb gekämpft. Also los rein ins erste Haus… Geschichte wird gemacht, es geht voran, es geht voran.

wanst

Die Redaktion … hört

Vinyl, best sound since 1930, your local record dealer

Knacksen und Knistern, Rauschen und Springen. Das schwarze Gold klingt nicht immer sauber, aber das macht es nur umso menschlicher. Die Tiefe der Bässe, das durch die physischen Übergänge der Klangspitzen entstehende Wärmegefühl, das von Vinylliebhaber_innen immer wieder gelobt wird, die prinzipielle Haptik und eine Umdrehungszahl, die dem menschlichen Auge gerecht wird. Und immer wieder Unsauberheiten, die eine Anziehung ausstrahlen wie das ewige Versprechen von Freiheit.

Empfohlen sei exemplarisch der von DJ Premier produzierte Beat „Statik“, auf den Jeru the Damaja rappen darf. Die knisternde klAuslaufrille geloopt und mit schlichten Drums und Bass hinterlegt, ist eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, wie gut Staub klingen kann. Auf Vinyl!

shy

Los Fastidios

Los Fastidios ist eine Streetpunkband aus Verona, die im Jahr 1991 gegründet wurde. Ihre Musik setzt sich aus kraftvollen Hardcore und Oi Punk zusammen, aber auch die melodischen Einflüsse aus Rock ‘n Roll und Ska sind deutlich herauszuhören. Durch diese musikalische Vielfältigkeit und durch Texte in italienischer und englischer Sprache entstehen abwechslungsreiche Alben und Konzerte. Die Band bezieht in ihren Texten eine eindeutig linke Stellung. Themenschwerpunkte, die sie dabei aufgreift, sind hauptsächlich sozialkritische politische Themen und Fußball. Eine Band, die vom politisch aktiven Ska-Tänzer bis zum antifaschistischen Fußballfan alles abdeckt und sich zu einer meiner Lieblingsbands entwickelt hat.

Klaus Cancely

Astrid Lindgren

Ob Karlsson vom Dach, Lotta aus der Krachmacherstraße, die Brüder Löwenherz oder Mio, mein Mio. Alle Geschichten von Astrid Lindgren sind mir, wie so vielen, bekannt. Und immer noch schaffen es diese Geschichten mich mitzunehmen auf eine Reise weit weg von hier, der Realität. Wenn ich die Zeit über Bord werfe und pfeife: „Faul sein ist wunderschön!“

Vogel

Kythibong 10th Anniversary Compilation – „Décennie: Couverture“

Kythibong, was´n das? Antwort: ein sympathisches kleines Label aus Frankreich, das ebenso wie unsere Postille vor Kurzem gerade sein zehnjähriges Bestehen feierte. Dazu gibt´s eine Compilation mit einem ebenso einfachen wie bestechenden Konzept: 18 Bands (die meisten ziemlich unbekannt, dafür aber gut) sind hier versammelt und covern sich gegenseitig. Das Ergebnis ist stilistisch gemischt, zwischen elektronischem Vier-Vierteltakt und instrumentalem Gitarrengefrickel, dazu Indierock, hippiesker Folk, Pop mit komischen Geräuschen drin und vieles mehr. Durchgehend hörenswert und von vorn bis hinten unterhaltsam. Gibt´s auch zum kostenlosen Download unter www.kythibong.org/KTB31/KTB31.html

justus

Die Redaktion demonstriert…

…gegen Pro Deutschland in Connewitz

Die rechte „Bürgerbewegung“ Pro Deutschland will groß rauskommen. Zum diesjährigen Wahlkampf startete sie deshalb eine große Tour durch diverse deutsche Städte und gastierte am 16. September mit ihrem Bürgerbewegungs-Bus auch in Leipzig, um dort u.a. in der Nähe des Conne Island eine zweistündige Kundgebung abzuhalten.

Momentan ist die Bürgerbewegung aber noch klein. Gerade mal fünf Leute schienen da zu stehen, obwohl auch das nur gemutmaßt werden konnte. Die Polizei war mit gut zwanzig Mannschaftswagen vor Ort, und von diesen wurde die Kundgebung nun derart fachmännisch umstellt und zugeparkt, dass sie gar nicht mehr zu sehen war. Nur eine einzelne Deutschlandfahne war zu erkennen, die einer da gelegentlich hinter den Polizeifahrzeugen schwenkte. Etwa fünfzig Linke hatten sich eingefunden und beobachteten das klägliche Treiben. Die Redebeiträge waren selbst von der gegenüberliegenden Straßenseite nur schwer bis gar nicht zu verstehen – die kleine Bewegung konnte sich vermutlich keine großen Lautsprecher leisten. Aber vielleicht hat sich ja der eine oder die andere der umstehenden Polizist_innen von diesem Auftritt überzeugen lassen.

Sonst noch was? Ja, am Ende der Veranstaltung nutzte ein unbekannter Chaot noch fix die Gelegenheit, eine Silvesterrakete in Richtung der Kundgebung abzuschießen – die alten Böller müssen ja auch irgendwann weg… Aber auch dieser Versuch, der lahmen Aktion ein wenig Glamour zu verleihen, verpuffte wirkungslos auf halber Strecke. Vielleicht ein kleiner Tipp zum Schluss: Beim nächsten Mal das Spritgeld sparen und dafür bessere Lautsprecher kaufen.

justus

…im Protestcamp mit den Flüchtlingen in Bitterfeld

Die Unterkünfte Friedersdorf und Marke im Landkreis Anhalt-Bitterfeld/Sachsen-Anhalt sind, wie so viele andere Sammelunterkünfte auch, isoliert von Aktivitäts- und Kontaktmöglichkeiten und ohne Privatsphäre. Die Kritik der Zustände bestand schon seit längerem, jedoch ohne, dass von Seiten des Landkreises was passierte. Daraufhin schlossen sich am 1. August hier mehrere Flüchtlinge zusammen, errichteten auf dem Bitterfelder Marktplatz ein Protestcamp und traten in einen Hungerstreik – insbesondere, um sich für verbesserte Unterbringungsbedingungen und das Recht auf Arbeit einzusetzen. Der Streik endete nach 16 Tagen, als die Landesintegrationsbeauftragte vor Ort ins Gespräch kam und einen Runden Tisch mit den zuständigen Behörden und handelnden Personen einberief.

Nun bleibt abzuwarten, ob sich für die Menschen tatsächlich etwas ändern wird. Im Rahmen der Möglichkeiten von kommunalen Ausländerbehörden bzw. Sozialämtern der Landkreise liegen immerhin Aspekte wie Sozial­leistungen, medizinische Versorgung d.h. Überweisung zum Facharzt und Therapien, Arbeitserlaubnisse, Erteilung der Verlassenserlaubnis zur Reise in andere Bundesländer sowie Abschiebungs­anordnungen. Hoffentlich bald nicht mehr zu Ungunsten der Betroffenen. Für ein Recht auf Rechte!

mona d.

… bei einer Fahrraddemo gegen die ­staatlichen Repressionen in Russland

Der unmittelbare Anlass war der gewaltsame Übergriff der russischen Spezialeinheit Omon auf das transnationale Austauschtreffen Vostok Forum bei Murmansk. Das Forum war von der deutschen Netzwerk AG Russland mitorganisiert worden. Dieser Angriff reiht sich ein in eine Kette repressiver Aktivitäten gegen regimekritische Menschen in Russland. Am bekanntesten dürfte die Verurteilung der Punkband Pussy Riot wegen Blasphemie sein. Dort hört es jedoch nicht auf. Seit 2012 müssen sich russische Nichtregierungsorganisationen als „ausländische Agenten“ registrieren lassen, um Geld aus dem Ausland erhalten und politisch tätig sein zu können. Und die Kriminalisierung geht weiter. Das neue „Homo-Propaganda-Gesetz“ verbietet es, in Anwesenheit von Minderjährigen oder in öffentlichen Medien positiv über gleichgeschlechtliche Lebensweisen zu sprechen.

All dies war Grund genug, am 13. August 2013 in Leipzig von der Blechbüchse zum russischen Generalkonsulat in Gohlis zu ziehen. Der bunte Haufen wurde eifrig vom Konsulatsmitarbeiter abfotografiert. Ob nur für die Pressemappe oder um beim nächsten Visaantrag seine Kritiker zu erkennen, wird sich zeigen. Solidarität mit den Betroffenen staatlicher Repressionen in Russland! Informiert Euch und andere!

wanst

www.ag-russland.de

… beim ­­diesjährigen Leipziger Christopher Street Day, Motto: „L(i)eben und L(i)eben lassen“

Meinen ersten Eindruck vom CSD prägten neben dem mit Ständen gefüllten Marktplatz und der sich vor dem sich Rathaus formierenden Demonstrationszug vor allem drei Junggesell(inn)­enabschiede, die dem Ganzen einen gewissen realistischen Rahmen boten. Die Frauengruppe in schwarz-pink war gar nicht weiter erwähnenswert. Die sieben Männer hingegen, die betrunken gröhlend ihren im rosa Tütü gekleideten Jungesellen anfeuerten und CSD-Besucher_innen von ihrem Party-Tandem zuwinkten, ernteten wenig verwunderte oder gar ablehnende Blicke. Im Gegenteil – die Leute vom Marktplatz winkten teilweise freundlich zurück. Für mich eine fast surreale Situation.

So wunderte ich mich dann aber nicht mehr über einen Stand der Jungen Union, freute mich hingegen über einen der Queeramnesty Leipzig. Den ersten Redebeitrag der Demo verfolgte ich mit Interesse, hatte ich doch das Glück, hinter dem Wagen der Redner_innen zu sein, während auf dem zweiten Wagen munter die Partymusik weiterlief. Besonders der Redebeitrag der diesjährigen Schirmherrin Lucie Veith (Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V.) war hörenswert. Sie erklärte, dass zum ersten Mal nicht nur LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual und Trans), sondern explizit auch Intersexuelle mit angesprochen und sich mit ihnen (v.a. im Kontext von Genitalverstümmelungen) solidarisiert werden sollte. Es war diesmal also ein CSD von und für “LGBT(I)”, was sich auch im Motto widerspiegelte. Und für Heten war auch Platz. 😉

shy