Michail Bakunins Begriff von Freiheit
Im Folgenden soll anhand der politischen Philosophie des Anarchisten Michael Bakunin (1814-1876) eine andere Sichtweise auf Freiheit untersucht werden. Dabei soll es nicht primär darum gehen, Bakunins Freiheitsbegriff auf seine systematische Wasserdichte zu untersuchen um dessen theoretischen Gehalt zu prüfen, sondern dieser Text soll nur einige Punkte seines politischen Denkens betrachten, auf der Suche nach dem Brauchbaren. Es soll auch nicht auf die vielen Widersprüchlichkeiten in Theorie und Praxis des politischen Daseins Michail Bakunins eingegangen werden, als vielmehr anhand seines Hauptwerkes „Gott und der Staat“ seine Vorstellung von Freiheit im Mittelpunkt stehen. Bakunin selber verbrachte fast sein ganzes Leben als „Berufsrevolutionär“ auf den Barrikaden der zahlreichen Revolten Europas im 19. Jahrhundert. Gab es gerade keinen Aufstand, widmete er sich dem Schreiben politischer Schriften, die oft auch Erfahrungsberichte seiner politischen Praxis waren. Die ersten Manuskripte zu „Gott und der Stadt“ erschienen 1871. Freiheit galt für Bakunin durch alle Widersprüchlichkeiten seines politischen Schaffens hindurch als zentrale Kategorie seiner Überzeugung.
Freiheit ist der wohl bewegendste politische Begriff der Moderne. Wenn heute aber auf der politischen Bühne über mehr Freiheit für den Bürger lamentiert wird, heißt das in der gesellschaftlichen Praxis für viele Menschen in erster Linie Abbau von (sozialer) Sicherheit, Stagnation, Rückschritt oder Ohnmacht. Mitunter zu Recht wird geklagt, dass diese prophetisch versprochene Freiheit nur ein paar wenigen Menschen zugute kommt. Denn diese propagierte Freiheit kann nicht verhüllen, was sie ist: Einschränkung der eigenen Möglichkeiten, ein Mehr von Macht für eine Minderheit. Sicherheit steht der Freiheit für alle diametral gegenüber. Das Eine scheint nur unter Verzicht des Anderen greifbar. Wenn die Einen laut zur ökonomischen Liberalisierung aufrufen, um endlich Freiheit zu erreichen, schreien die anderen nach Vater Staat, der einen Garant ihrer Freiheit darstellen soll. Und umgekehrt. Ganze Parteien repräsentieren die eine oder die andere Seite, oder behaupten es zumindest, und schwimmen damit hin und her zwischen Freiheit und Macht.
Was aber kann mensch unter Freiheit verstehen und wodurch ist sie bedingt. Heißt Freiheit nur Freiheit der Wahl, dann ist sie begrenzt durch die Anzahl ihrer Wahlmöglichkeiten. Geht Freiheit aber nicht über die Grenze schlichter Wahlmöglichkeit hinaus und bedeutet sie nicht auch Selbstverwirklichung?
Gott als Produkt der Einbildung
Der Mensch folgt in der Theorie von Bakunin einem Entwicklungsgang hin zur Freiheit. Freiheit versteht er dabei als die Höchste Seinsstufe menschlichen Strebens. Stück für Stück emanzipiert sich der Mensch von seiner tierischen Herkunft – von seiner „Animalität“. Zwei wesentliche Eigenschaften bilden den Motor dieser Bewegung hin zur Freiheit: Das Denken und die Empörung. Jede Art von menschlicher Entwicklung – somit auch und vor allem die Geschichte der Menschheit – ist Resultat dieses Antriebs, denn der Mensch „begann seine eigene Geschichte mit einem Akt des Ungehorsams und der Erkenntnis, das heißt mit der Empörung und des Denkens.“* Insoweit er sich zur Freiheit bewegt, kann der Mensch die Individualität leben, zu der er neigt. Individualität ist also Grundbestandteil menschlicher Freiheit, denn „kollektive Freiheit“ existiert nur „wenn sie die Summe der Freiheit und des Wohlbefindens der Individuen“ (S. 62) darstellt. Der gestärkte Einzelne ist Bestandteil einer humanistischen Gemeinschaft.
Bakunin verortet sich selbst überzeugt als Vertreter des Materialismus. Das ideologische Feinbild sieht er wie selbstverständlich auf der Gegenseite: dem Idealismus. Seine ganze Theorie neigt zu dieser dichotomen Weltsicht, die sich stark vereinfacht auf die Formel bringen lässt: Materialismus gleich Freiheit, Idealismus gleich Unterdrückung. Besonders in seiner Herrschafts- und Ideologiekritik führt er seine materialistische Denkweise als Mittel ins Feld, um gegen „falsche Einbildung“ vorzugehen. Unter den Begriff Materialismus versteht er die Philosophie, die das Sein von der Materie ableitet, das heißt allein die Stofflichkeit bildet und formt die Wirklichkeit. Er lässt nur das materiell Erfahrbare als Grundlage aller Erkenntnis gelten. Die Abwertung des Stofflichen im philosophischen Denken der Idealisten und das Hervorheben abstrakter Ideen als Ursache des Ganzen, führe, Bakunin zufolge, unweigerlich zur Einbildung von Gott. Indem aber nur die (Gottes-)Idee als wahr gelten darf, wird das, was wirklich empirisch sachlich nachweisbar ist, zur bloßen Einbildung und das Eingebildetete zum einzig Wahren.
Gott ist nicht empirisch nachweisbar und so nach wissenschaftlichen Maßstäben nicht existent. Glaube entsteht als solcher für Bakunin aus ideologischer Indoktrinierung zum Zwecke der Herrschaftssicherung, sowie aus Flucht aus der wirklich wahrnehmbaren, kalten sozialen Umwelt. Die Verabsolutierung der Idee stellt diese über die Wirklichkeit und beginnt das Humanum nur zu verwalten, nicht die Inhalte an den konkreten Verhältnissen zu messen.
„Denn wenn Gott existiert, ist er notwendigerweise der ewig höchste, absolute Herr, und wenn ein solcher Herr da ist, dann ist der Mensch der Sklave; wenn er aber Sklave ist, sind für ihn weder Gerechtigkeit noch Gleichheit, Brüderlichkeit, Wohlfahrt möglich“. (S. 125)
Bakunin zufolge produziert das Prinzip der idealistischen Logik, egal in welcher spezifischen Ausprägung es sich zeigt, automatisch eine Herrschaftskonstellation. Die abstrakte Idealisierung steht ausnahmslos im Widerspruch zur Freiheit. Die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit ist demnach die Einsicht in die Abschaffung aller abstrakten Prinzipien. Damit kann Freiheit nur vom materialistischen Standpunkt her Wirklichkeit werden. Freiheit aus idealistischer Sicht, versteht Bakunin als pure Metaphysik, fernab jeglicher realistischen Verwirklichung. Der idealistische Standpunkt muss abstrakt bleiben, weil ihm die Einsicht in die materiellen Gegebenheiten des Menschen fehlt, deswegen kann er die Voraussetzung der wirklichen Freiheit gar nicht entdecken. Bakunin versucht, Freiheit als etwas rein Konkretes zu fassen, was sich verwirklichen kann, dabei aber keine bloß abstrakte Idee ist. Die Idee Gott verklärt die Wirklichkeit, so könnte man mit Bakunin theoretisch sagen. Oder historisch:
Auch im Zuge der bürgerlichen Revolution und der damit einhergehenden Säkularisierung wurde sich nur von der Institution Kirche emanzipiert, nicht von deren idealistischen Selbstverständnis. Herrschaft überdauerte so die Freiheitsstürme in der Konstruktion des bürgerlichen säkularen Staates. Als Verwalter der idealistisch verstandenen Freiheit wird der Staat in der Moderne zur religiös tradierten Instanz gottähnlicher Herrschaft – das erklärt zumindest seine Ausuferung.
Bürgerliche Staatsideologie
Herrschaft, resultierend aus dem göttlichen Prinzip, reproduziert sich auch im liberalen Staatsmodell. Zwar auf andere Weise, diesmal unter dem Banner der Freiheit, aber nur als verabsolutierte Idee, die verwaltet wird. Liberalismus ist im bakuninschen Verständnis eine Art politisierter Idealismus. Er kritisiert, dass liberalistisch verstandene Freiheit nur im Individuum möglich ist und selbiges stellt auch die Grenze dieser Freiheit dar. Eigentum und die Reduzierung menschlicher Assoziation auf die Kleinfamilie sind Grundpfeiler dieses Verständnisses. Der Staat soll die liberale Freiheit schützen und wird dadurch zum Tyrann.
„Sie nennen sich Liberale, weil sie die persönliche Freiheit als Grundlage und Ausgangspunkt ihrer Theorie nehmen, und gerade weil sie diesen Ausgangspunkt oder diese Grundlage haben, müssen sie infolge einer verhängnisvollen Konsequenz, bei der Anerkennung des absoluten Rechts des Staates ankommen“. (S. 126)
Der Ausgangspunkt, Freiheit als angeborene Idee zu betrachten, bleibt für Bakunin in idealistischen Mauern gefangen und kann sich nicht verwirklichen. Freiheit klebt durch ihren göttlichen Ursprung so fest am Individuum, dass dieses nicht Grundlage ihrer Verwirklichung, sondern ihr Gefängnis darstellt. Das macht die liberale Freiheit nur außerhalb einer Gesellschaft möglich; die einzelnen Ideale stoßen sich nur gegenseitig ab. Daher die Trennung von Freizeit und Arbeit, Öffentlichem und Privatem. Das freie Individuum ist sich Selbst das Nächste. Die Vereinzelung gerinnt zur Tugend. Gesellschaft muss staatlich verwaltet werden. Solche Freiheit führt zum Staat und nicht andersherum.
„Jedes [Individuum] mit einer unsterblichen Seele und einer Freiheit oder einem freien Willen, die ihnen nicht genommen werden kann, absolute und als solche in sich und durch sich selbst vollkommene Wesen, die sich selbst genügen und niemanden nötig haben.“ (S. 129)
Freiheit wird als höchstes Ideal postuliert, zerbricht aber an der materiellen Wirklichkeit und wird zur absoluten Herrschaft. Bakunin liest die Entwicklung des modernen Staates als zynische Folge eines idealistischen bzw. idealisierten Freiheitsverständnisses.
Deswegen versucht er Freiheit materialistisch zu fassen. Als Produkt einer materiellen Welt und nicht als unabhängige Größe. In dieser Lesart beginnt der liberal-bürgerliche Grundfehler schon in dem Verständnis, Freiheit außerhalb gesellschaftlicher Organisation zu verorten und nur im Individuum zuzulassen. Freiheit ende dort, wo die Freiheit des anderen beginne – so das Credo. Solche Freiheit versteht das andere Individuum per se als Einschränkung der eigenen Möglichkeiten. Bakunins Verständnis von Freiheit fängt jedoch dort erst an, wo die Bürgerlichkeit aufgibt – beim Anderen. Er hält dem Bürger entgegen, dass Freiheit nur durch den anderen wirklich geschaffen werden kann, sich also durch Gesellschaft konstituiert und nicht durch sie beschnitten wird.
Da er die Menschwerdung als materielle Entwicklung zur Freiheit begreift, schließen sich für ihn ewige Ideen als Voraussetzung aus. Der Mensch wird also nicht frei geboren, sondern gelangt erst zur Freiheit vermittelt durch die Gesellschaft. Der Mensch hat seine Freiheit nicht von oder durch Geburt und nur für sich, sondern gerade durch und in Geselligkeit mit Anderen, das ist Bakunins Punkt.
Durch Gesellschaft zur Freiheit
„Zunächst kann er weder dieses Bewusstsein noch diese Freiheit haben; er kommt in die Welt als wildes Tier und als Sklave, und nur im Schoße der Gesellschaft, die notwendig vor der Entstehung seines Denkens, seiner Sprache und seines Willens da ist, wird er fortschreitend Mensch und frei.“ (S. 131)
Der ideale Mensch genügt sich selbst und hat als logische Folge die Vereinzelung, er ist a-sozial. Als Miteinander kennt er nur den Kampf Aller gegen Aller, die der Staat zentral organisiert. Kollektivität ist dagegen gar nicht als Beschneidung des Individuums zu verstehen, wie so oft naiv oder diffamierend über sie geurteilt wird. Im Gegenteil ist sie die notwendige Voraussetzung, um überhaupt frei sein zu können. Individuelle Freiheit und Individuum werden durch gesellschaftliche Kollektivität erst gesetzt. „Der isolierte Mensch kann kein Bewußtsein seiner Freiheit haben“. (S. 131)
Das Bewusstsein zur Freiheit des Menschen entsteht aus einer freiheitlichen gesellschaftlichen Ausgangslage, denn wenn sich Freiheit durch den anderen konstituiert, muss der Einzelne „von allen ihn umgebenen Menschen als frei anerkannt werden“ (S. 132). Das gilt auch im Gegenzug, für das Individuum. Auch das Individuum vermittelt Freiheit, denn „nur solange ich die Freiheit, und das Menschentum aller Menschen, die mich umgeben, anerkenne, bin ich selbst Mensch und frei“ (S. 132). Seine Freiheit behauptet sich im Zusammenspiel zwischen Individuum und Kollektivität. Freiheit hat sozialen Charakter.
Das Primat der Gesellschaft als Mittler der Individuation des Einzelnen beinhaltet gleichzeitig seine negative Komponente: Da Gesellschaft für das Individuum eine Art zweite Natur darstellt, kann sich der Einzelne der falsch eingerichteten Gesellschaft, d.h. gegen eine Gesellschaft basierend auf dem Herrschaftsprinzip, kaum entziehen. Die Empörung gegen die Gessellschaft ähnelt damit dem Aufbegehren gegen die Naturgesetze. Damit wäre jedoch jede Hoffnung auf Emanzipation hin zur Freiheit aus der unfreien Gesellschaft zum Scheitern verurteilt. Frustration und Pessimismus wären die Folge. Und gerade dieser Punkt macht den Gang zur Freiheit für Bakunin auch so schwierig und markiert auch die Grenzen seiner naiv optimistischen Position des sicheren Ganges zur Freiheit. Deshalb versucht er, das Ganze dynamisch zu denken, als Rebellion. Freiheit bezeichnet Bakunin auch als „negativ“, als Empörung des menschlichen Individuums gegen „jede göttliche und menschliche, gegen jede kollektive und individuelle Autorität“. (S. 133)
Empörung gegen die subtile Macht einer falsch eingerichteten Gesellschaft, bleibt jedoch schwierig, denn Bewusstsein zur Freiheit entsteht nach Bakunins strenger materialistischer Sichtweise nur aus den richtigen materiellen Gegebenheiten heraus. Der Mensch wäre determiniert durch die Gesellschaft.
Es zeigt sich die Grenze Bakunins naiv materialistischer Theorie. Auch Empörung als Triebfeder des Menschen zur Freiheit zu bescheinigen und Bakunins Glauben in ein positiven Entwicklungsgang des Menschen, bleiben am Ende eben auch nur ein Glaube, dessen Begründung an vielen Stellen nicht befriedigt. Er führt zwar an, dass die Verdinglichung der falschen Gesellschaft als staatliche Macht auftritt und dadurch ihre Gewalt deutlich zu spüren sei. Damit gehe ein Aufbegehren gegen den Staat mit dem Aufbegehren gegen die Macht der falsch eingerichteten Gesellschaft einher. Doch den Staat als Voraussetzung seiner Abschaffung zu bezeichnen, reicht nicht aus.
Darin liegt zwar eine große Schwäche, aber immerhin begeht Bakunin nicht den Fehler, Gesellschaft und Staat in eins zu setzen. Gerade dies wurde im 20. Jahrhunder immer wieder getan. Nicht dass man Gesellschaftliches mit Staatlichem verwechselt hätte, sondern gerade umgekehrt wurden staatliche Maßnahmen zunehmend als gesellschaftliches Tun verklärt. Aber mit Bakunin und über ihn hinaus kann der Staat stets bestenfalls Mittel selbstverwirklichter Freiheit sein, nicht ihr Zweck. Die freie Gesellschaft weist dementsprechend immer über Staat hinaus.
Und hier hat auch Bakunins Konzeption von Freiheit ihr Gewicht: Eine Freiheit, die sich erst in und durch kollektive Praxis verwirklicht. Eine Freiheit, die über das Individuum hinausgeht, um es zu retten. Erst durch eine kollektive Praxis ist es möglich Räume der Freiheit zu schaffen, selbst wenn sie erst einmal nur marginal entwickelt werden können. Freiheit muss als Prozess verstanden werden, der nicht passiv vorhanden ist, oder wie ein Rechtstitel an uns klebt, sondern aus einer Tätigkeit entspringt, aus dem In- und Durcheinander menschlichen Handelns. Und das nicht allein, sondern zusammen. Eine Freiheit, die durch das Kollektiv das Individuum stark und frei macht, ist auch in der Lage, gegen eine gesellschaftliche Übermacht handlungsfähig zu bleiben. Niemand ist alleine in der Lage, seine individuelle Freiheit gegen gesellschaftliche Repression zu erhalten, gerade wenn diese systematisch und totalitär auftritt. Erst als Kollektiv können Räume erschlossen und vernetzt werden. Macht, die Freiheit unterdrückt, ist nur Gemeinsam zu bewältigen; das vereinzelte Individuum bleibt immer ohnmächtig.
karotte