Schlagwort-Archive: kfm

Eine andere Geschichte schreiben…

Von einem rastlosen Anarchosyndikalisten im Mexiko der 20er

"Sie kommen an einen Hafen, von dem drei Dampfer in See stechen. Sie wollen verreisen, Sie wollen sich bewegen, die Welt und Sie sollen eins werden, Sie wollen leben. Eines der Dampfschiffe heißt "Zur Scheiße", das andere heißt "Zur Ausbeutung, zur Täuschung, zum Kapital", das andere heißt "Zur sozialen Revolution". Entweder Sie bleiben am Hafen stehen und sehen zu wie die Dampfer losfahren, während Ihre Koffer in einem davon mitfahren, ohne daß Sie entschieden hätten, in welchem, oder Sie wählen aus und steigen ein."

(Sebastian San Vicente in "Auf Durchreise")

Die Geschichte ist verschüttet, nur wenige Stelen ragen heraus, die von den Siegern beschriftet wurden. Diese Sieger sind vielfältig über die Jahrhunderte und den Erdball verteilt. Den Besiegten bleibt das Vergessen. Über Generationen hinweg wird das Ritual der Unterworfenen wiederholt, verallgemeinert, variiert und in das Bewußtsein der Nachkommen verpflanzt. Das Leiden der Arbeiter und Bauern, des gemeinen Volkes, der Widerstand der allenthalben hochkochte, der seine Ideen fand oder sich selbst schuf, der in vielen Revolutionen kulminierte, die in sich die Konkurrenz zwischen autoritärem und freiheitlichem Kommunismus austrug, diese Geschichte von Millionen wird in den Lehrbüchern und in der Öffentlichkeit der Diskurseliten unter Allgemeinem abgehandelt, um sich dann wieder ausführ­lichst den Feldzügen und Streitigkeiten der herrschenden Cliquen zu widmen. Dieses Ungleichgewicht in den Schulbüchern der Geschichte, den Fürsten und Präsidenten bei weitem mehr Platz einzuräumen als den Widerständigen und Gehenkten, zeigt, daß wir das Ende der Geschichte noch lange nicht erreicht haben, daß Geschichte immer davon abhängt, ob man sie von oben oder von unten liest, daß die Klassengesellschaft trotz aller ideologischen Schleier noch existiert.

Wenn wir wissen wollen, was zwischen den Zeilen steht, dann müssen wir uns schon selbst auf die Suche begeben. Dabei reicht es nicht, sich mit Revolutionsikonen wie Che Guevara, W.I. Lenin oder Leo Trotzki zufriedenzugeben, deren autoritärer Kern und ihr tatsächliches Handeln von viel zu vielen Linken immer noch ignoriert wird. Sie dienen oft als Strohhalme in unre­vo­lu­tionären Zeiten, als Haltepunkte und Orientierung in der medialen und ideologischen Überflutung, da mit ihnen eine Identität gegen den Kapitalismus markiert wird. Dabei handelt es sich um rein symbolische Abgrenzungen, die immer mehr kapitalistisch integriert und ihres revolutionären Impetus entkleidet werden: Denn kaum einer, der mit einem Che-T-Shirt rumrennt, kennt die tiefere Geschichte dieses Menschen, geschweige denn die historischen Details der kubanischen Revolution. Diese wurde beileibe nicht nur von Che und Fidel, sondern durch viele verschiedene Akteure und Gruppierungen bestimmt, deren Aktivitäten heute größt­enteils verschüttet sind. Ganz zu schweigen von dem Kasernenkommunismus und der Militarisierung der Gesellschaft, die von der Oligarchie des Castroregimes betrieben wurde. Lenin und Trotzki werden als positive Gegenspieler zu Stalin aufgebaut. Nach dem Motto: Stalin böse, Lenin gut? Dabei hat Lenin letztendlich das Fundament gelegt, auf dem Stalin seine persönliche Diktatur errichten konnte, und auch vor Stalin waren die Gefängnisse gefüllt mit Anarchisten, Sozialrevolutionären und anderen ehemaligen Verbündeten der Bolschewiki, die freiheitlichere Vorstellungen vom Kommunismus hatten. Trotzkis mörderische Rolle bei der Niederschlagung des Aufstands der Matrosen von Kronstadt oder bei der Zerschlagung der anarchistisch inspirierten Machno­bewe­gung durch die Rote Armee, wird ignoriert. Im Mythos wird er seines historischen Lebenslaufs entkleidet.

Es gibt aber auch andere Geschich­te(n), die von libertären Ideen erzählen, von revolutionär-gewerkschaftlicher Organisierung oder Kämpfen für Würde, Land, Freiheit, für den freiheitlichen Kommunismus oder auch "nur" ums nackte Überleben. Diese Underdogs der herrschenden Geschichtsschreibung, ihre Ideen und sozialen Ideale sind es, die uns den Halt geben können, um nicht unterzugehen, um die Hoffnung auf ein Ende der Bevormundung, Zurichtung und Ausbeuterei am Leben zu halten. Diese Geschichten sind keine Heldenepen, auch wenn sie heroische Elemente aufweisen. Sie sind nicht perfekt, auch wenn die Ideen danach streben. Sie haben auch kein happy end, auf das unsere Sehn­sucht drängt. Keine soziale Revolution ohne Sehnsucht nach menschlicher Freiheit und Gleich­heit! Keine soziale Revolution ohne Lei­denschaft, Verhältnisse ab­zu­schüt­­teln, die den Men­­­schen Leiden, Ab­stum­p­fung und Unterwerfung bringen und in denen dies durch staatliche Gewalt, Befehl und Gehorsam, Lohnzettel oder schillernde Kon­sumwelten aufrechterhalten wird! Geschichte kann den ideologischen Schleier zerreißen …

Paco Ignacio Taibo II. erzählt so eine Geschichte, die Geschichte von Sebastian San Vicente Bermúdez, spanischer Seemann, Anarchist und Gewerkschaftsorganisator, Herumreisender im Mexiko der 20er Jahre, mit der "Revolution im Reisegepäck". Es beginnt in Tampiquo, das ihm den Beinamen "der Tampikaner" einbringt, und führt ihn über La Colmena bis nach Vera Cruz, an verschiedene Orte in Mexiko, verfolgt vom FBI und von staatlichen Behörden, die ihn gerne abschieben würden. Er hilft bei der Organisierung der lokalen Gruppen der Confederacion Generale de Trabajadores, dem anarchosyn­dika­lis­tischen Gewerkschaftsverband, und beteiligt sich an Arbeitskämpfen. Er besitzt nichts und wenn er sich von jemanden etwas leiht, dann gibt er es jemanden Anderes zurück, wechselt seinen Schlafplatz wie die Unterhosen und seine Identität wie Hemden.

Vicente hat es wirklich gegeben, von ihm sind jedoch nur bruchstückhafte Informationen überliefert. Die Schilderung von Vicente durch den Autor wird von Zeitungsartikeln, Polizeiberichten, Gewerk­schaftsprotokollen und Augenzeugenberichten zusammengehalten, die in 55 kleinen Kapiteln aufgefächert, verschiedene Stationen seines Weges durch Mexiko beleuchten. Doch wie erzählt man Geschichte ohne in trockenes Aneinan­derreihen von Fakten zu verfallen? Wie erzählt man Geschichte, wenn die Informationen so verstreut sind, wie in diesem Fall? Der Staat und Herausgeber der Lexika und Enzyklopädien hatten sicherlich kein Interesse daran, die Geschichte eines rastlosen Proletariers und Anarchosyndikalisten aufzuschreiben, viele Historiker, Ge­schichts­lehrer und Journalisten kämen nicht mal auf die Idee, daß es so etwas geben könnte. Bleibt das Recherchematerial so lückenhaft, so bietet es sich an, aus der Geschichtsschreibung eine Geschichte, einen Roman zu machen. So erklärt der Autor in seinen Anmerkungen zu Beginn, daß sich schwerlich behaupten lässt, daß es sich um einen Roman handele, daß es jedoch zweifelsohne einer sei. Schlitzohrig kann er sich dennoch die Frage nicht verkneifen: "Was zum Teufel ist eigentlich ein Roman?"

Mit dem Romanhaften wird die historische Figur geflickt und aufgefüllt. Durch diese fiktive Anreicherung Vicentes fließen auch Hoffnungen, Vorstellungen und Vergangenheit des Autors in seine Geschichte ein. So erinnert er sich der Schwierigkeit 1968 in der Studentenbewegung von Mexiko-Stadt Anknüpfungspunkte zu finden, den "dünnen Faden der Kontinuität zu spannen" und er gesteht, daß der Ursprung dieses Buches in der "fixen Idee des Autors" der "nochmaligen Überprüfung und Erweiterung der Legen­den­sammlung der Linken" zu finden ist. Der Autor verwendet einen Erzählstil, der einem die Geschichte ein­gäng­lich und intensiv vermittelt. Leicht und locker werden vielerlei Metaphern in Szene gesetzt und mit der historischen Situation und handelnden Figur ver­knüpft.

Überhaupt steckt diese Ge­­schich­te voller anarchistischer Philosophie und Poesie.* Man möch­te behaupten, daß die Figur Se­bastian San Vicente in gewissem Sinne eine Verkörperung dieser Ideale darstellt. Dabei werden diese zeitweise dichter als die Figur selbst, drängen den Menschen Vicente in den Hintergrund. Anderer­seits macht es vielleicht gerade den Menschen Vicente aus, diese Ideen konsequent leben zu wollen. Vielleicht mag auch bei dem einen oder anderen Leser nach der Lektüre einer Liebe zum Anarchosyndikalismus nichts mehr im Wege stehen …

francis murr

* siehe Zitat oben

Paco Ignacio Taibo II; „Auf Durchreise“, Edition Nautilus, gebunden, 138 Seiten, makuliert
Ebenfalls empfehlenswert:
Zur kubanischen Revolution: Sam Dolgoff; „Leuchtfeuer in der Karibik“
Zur Russischen Revolution: Peter A. Arschinoff; „Geschichte der Machno-Bewegung“ • Alexander Berkman; „Der bolschewistische Mythos“ • Volin; „Der Aufstand von Kronstadt“ • Volin; „Die unbekannte Revolution“
Allgemein: Horst Stowasser; „Leben ohne Chef und Staat“
(die meisten können unter Anderem beim A-Sortiment bestellt werden: www.cafe-libertad.de/mat/enter.htm oder Syndikat A: www.fau.org/fau_medien/syndikat-a
bzw. Lesen und Ausleihen in der Bibliothek des libertären Zentrums Libelle)

Rezension

Montagabend, nichts zu tun?

Die Sommerwelle der Montags­de­mons­­trationen ist nun schon seit zwei Monaten vorbei. Sie endete, ohne sonderlich viel erreicht zu haben. So konnten die Ma­ni­festationen weder die Agenda 2010 kippen noch erreichen, dass allein Hartz IV zu­rückgenommen wird.

Der Druck der Straße hat nicht ausgereicht, auch wenn Regierung, Opposition, bürgerliche Medien und etablierte Verbände anfangs ratlos oder gar panisch reagierten und auf die massiven Proteste mit einer massiven Propagandakampagne antworteten. Allein schon, daß die Regierung ein eigenes Lagezentrum einrichtete, macht deutlich, daß die Demonstrationen im Auge der Regierenden eine gewisse Brisanz besaßen. Ein Punkt dürfte da auch die proklamierte Kontinuität zu den 89er Demonstrationen und die damit implizierte Andeutung des „Regimewechsels“. Spontan und vorerst unkontrol­liert durch die Institutionen zur Integration sozialer Unruhe (DGB-Gewerkschaften, Parteien, Sozialverbände, Attac, Wahl­alternative etc.pp) manövrierten sich die Betroffenen ins Rampenlicht bundesrepublikanischer Realitäten. Verschüchtert, demonstrationsunerfahren und wo­mög­lich von sich selbst überrascht, standen viele am Rande des Nikolaikirchhofs und angelten sich begierig die Flugblätter auf der Suche nach Ursachen und Erklärungen. Wie aus dem Nichts materialisierten sich Tausende auf den Straßen ostdeutscher Städte, auch im Westen sollte es bald Demonstrationen geben, die aber selten die Größenordnung wie in den „neuen Bundesländern“ erreichten. „Wir sind da und wir haben die Macht“, mögen sich einige gedacht haben.

Geschichte wiederholt sich nicht

Die Hoffnung, noch zusätzlich genährt durch anfängliche Korrekturen beim Kin­der­frei­betrag und beim Auszahlungs­ter­min, die Regierung ähnlich wie 1989 schnell zum Einlenken zu bringen, schwand dahin, je mehr Montage ins Land gingen. Es reichte offenbar nicht aus, einfach jeden Montag auf die Straße zu gehen, vor allem wenn zwischendurch sieben Tage aktionslos ins Land gingen. Diese sieben­tägige Untätigkeit bedeutete auch sieben Tage Propaganda auf allen Kanälen: Vereinnahmungs- und Spaltungsversuche, Diffamierungen, Demora­lisierung. Mit der Dominanz von Demonstrationen und Proklamationen und dem Fehlen von Diskussionsprozessen und Initiativen zum Aufbau eigener basisdemokratischer Kommunikations- und Organisationsstrukturen lieferten sich die Demonstranten den etablierten Integrationsstrukturen, den bürgerlichen Propagandaangriffen und dem internen Hickhack von Protestorganisatoren- und managern wehrlos aus. Ohne den Aufbau selbstorganisierter Stukturen, ist eine Bewegung von unten zum Scheitern verurteilt. Sie wird dann nur neue selbsternannte Führer und bezahlte Funktionäre hervorbringen, die das Ruder übernehmen, um das in sie gesetzte Vertrauen schließlich zu enttäuschen. Das tief gehegte Misstrauen gegen Parteien und Gewerkschaften, das durch die Realität ja permanent unterfüttert wird, weiß noch keine organisatorische Alternative. Und ohne diese wird es auch keine inhaltliche Alternative geben. Denn die Forderungen doch pragmatische Alternativen zu liefern, zielen darauf sozialen Protesten den Stachel zu ziehen und unschädlich zu machen. Denn im Diskurs sitzen Regierung und Co am längeren Hebel, nicht die Betroffenen von ALG II oder Entlassungen, Arbeitslose und Arbeitende können nur durch ganz konkreten Druck Regierungen oder auch Unternehmen zum Einlenken zwingen. Demonstrationen alleine, so hat sich diesen Sommer gezeigt, können diesen Druck nicht erzeugen.

Libertäre Interventionen

Die Impulse aus den libertären Zusammenhängen in Richtung Selbstorganisation, Solidarität und Antifaschismus wurden zwar durchaus positiv aufgenommen, die Verteilung der Flugblätter war vor allem bei den ersten Demonstrationen eine wahre Freude, der Redebeitrag aus der Aktionsplattform Leipziger Libertäre heraus stieß auf Jubel und starken Applaus (1), stießen aber auf kaum praktisch erfahrbare Konsequenzen. Hier muß sich wohl auch die Frage gestellt werden, inwieweit die libertären Zusammenhänge fähig sind Menschen anderer Altersgruppen als den unter 30jährigen und von sozialen Schichten außerhalb des studentischen Milieus aufzunehmen und inwieweit sie fähig sind mit der durch unterschiedliche Sozialisation unterschiedlichen Wahrnehmung von gesellschaftlichen Zusammenhängen fruchtbar umzugehen. Auch wenn durchaus einige positive Ansätze zu verzeichnen sind, wie die Initiative des Erwerbslosensyndikats (2), die Bestrebung des libertären Zentrums Libelle auch für Menschen außerhalb des studentischen oder subkulturellen Milieus offen zu bleiben oder auch der Ansatz dieser Zeitung eine Sprache zu sprechen, die auch von Nichtakademikern und Nicht-Szene-Gurus verstanden wird, die prinzipielle Offenheit reicht anscheinend noch nicht aus. Auch die inkonsequente Teilnahme an den Montagsdemons­tra­tionen, das Schwan­ken zwischen Mobilisierung der linken Szene und Organi­sierung eines linken Blocks auf der einen und inhaltlicher Intervention und Impulse zur Selbstorganisation auf der anderen Seite. Beides wurde versucht und beides nicht konsequent umgesetzt, was wohl vor allem daran lag, daß beide Konzepte sich teilweise im Weg standen. Wie können inhaltliche Positionen vermittelt werden, ohne in eine elitäre „Ich erklär Euch jetzt mal wie der Hase läuft“ – Haltung abzugleiten? Diese Frage müssen sich gesellschaftskritische Menschen stellen, wollen sie nicht unter sich bleiben. Eine andere Frage ist die, wie eine libertäre Alternative attraktiv sein kann. Die Erfahrung der Antisozialabbaudemonstrationen in Berlin zeigt, daß ein kämpferischer, offener und lebendiger schwarz-roter Block durchaus Menschen integrieren kann und innerhalb einer größeren Demonstration durchaus auf das Doppelte anwachsen kann. Und letztendlich liegt es auch an der Stärke libertärer Ideen und Bewegungen welche inhaltliche Färbung eine Montagsdemonstration annimmt. Und dahingehend ist es den libertären Zusammenhängen zwar gelungen Akzente zu setzen, aber es konnte keinen stärkeren Block auf der Demo aufgebaut werden. Offensichtliche Nazis konnten zwar blockiert und abgedrängt werden, dadurch waren die Kräfte jedoch gebunden, so daß gegen die harmlos sich gebende rechte Sekte BüSo nichts auszurichten war. Jedoch war es auch wichtig sich nicht nur auf Anti-Nazi-Aktionen zu versteifen. Schließlich ist das Verhindern der Teilnahme von Nazis genauso wichtig, wie die Vermittlung emanzipatorischer Inhalte. Die Thematisierung der sozialen Frage unter Hinblick einer grenzüberschreitenden Solidarität und einer basisdemokratischen Organisierung, kann eine wirksamerere antifaschistische Arbeit sein, als die Diffamierung und Homogenisierung der Arbeitslosen und anderen Montagsdemons­trantInnen als „völkisch“ und das Skandieren von „Bomber Harris – do it again“ (3) am Rande der Demo. Eine gesellschaftliche Veränderung kommt nicht ohne Menschen aus, die diese tragen. Deshalb sind die eigene Organisierung im Alltag, die Intervention in soziale Bewegungen mit libertären Ideen und die Stärkung einer selbstorganisierten Bewegung für ein schönes Leben ohne Staat und Kapital unerlässlich für alle, die es satt haben, ihr ganzes Leben im kapitalistischen Laufrad zu rotieren.

kater francis murr

(1) siehe www.fau.org/ortsgruppen/leipzig/art_040817-160550 Es gab auch Reden der Wertkritischen Kommunisten Leipzig und der Linken StudentInnengruppe.
(2) Das Erwerbslosensyndikat ist über fau-leipzig@gmx.de zu erreichen und trifft sich donnerstags17:00 in der Libelle, Kolonnadenstr. 19
(3) Angekündigte Blockade des Bündnis gegen Realität „… der völkische Ruf nach Arbeit schließt das Bündnis mit den Nazis“; Harris war Oberkommandierender der britischen Luftwaffe, die im 2. Weltkrieg auch Dresden bombardiert hat.

Lokales

Status Quo Vadis

Der Streit um die Studiengebühren geht weiter. Zeit zu schauen, wo er eigentlich steht.

Denn in der Debatte, die für viele gar keine mehr ist, sondern längst beschlossene Sache, stecken ihre Protagonisten fest. Da sind die kategorischen Neinsager auf der einen, die bedingungslosen Gebührenverteidiger auf der anderen Seite und irgendwo dazwischen die „konstruktiven“ Studiengebührenbefürworter (unter bestimmten Voraussetzungen). Die Vertreter der goldenen Mitte beziehen ihre Argumente aus beiden Positionen und verweisen auf alternative Studiengebührenmodelle. Eine solche Alternative hat die Tageszeitung (TAZ) formuliert. Das „TAZ-Modell“ von Christian Füller bezieht sich auf die Idee der „studentischen Selbstverwaltung“ und lässt sich wie folgt beschreiben: Die Höhe der pro Semester abzuführenden Studiengebühren soll von der Studierendenschaft (wer das sein soll, wird nicht genauer spezifiziert) und der Hochschule ausgehandelt werden. Anschließend wird eine Gebührenordnung verabschiedet, nach welcher der Einzug der Gebühren organisiert werden soll. Banken übernehmen die Erhebung der Gebühren, eine „professionelle Organisation“ verwaltet diese und ein „studentisches Gebüh­renmanage­ment“ (auch nicht näher spezifiziert) übt die Kontrolle über die Verteilung der Gelder aus. Dabei sollen Studierende, die sich die Gebühr nicht leisten können, von dieser befreit bleiben. Ziel ist es, die „negativen Effekte“ von Studiengebühren kon­troll­ierbar zu machen. Soweit so gut. Füller verweist bei seiner Argumentation auf den Umstand, dass sich die Studierenden in Hochschulen hauptsächlich aus Aka­demiker­sprößlingen zusammensetzen, und dass diese immer noch „kostenlos“ studieren dürfen, auf den Rücken der Nichtakademiker, die das auch noch über ihre Steuern bezahlen. Dahinter verbirgt sich der Populismus, dass die arme ALDI-Kassiererin den karrieregeilen Advokatensohn finanziert, ohne irgendwie davon zu profitieren. Dabei werden aber Dinge vermengt, die zunächst nichts miteinander zu tun haben. Steuern muß schließlich jeder zahlen und eine gerechte Verteilung stellt sich auch über Studiengebühren nicht her. Über Steuern werden auch kulturelle Einrichtungen subventioniert bis hin zu Großbetrieben, und nicht nur der Bil­dungss­ektor. Um eine steuerliche Gerechtigkeit herstellen zu wollen, müsste man hingegen die stärkeren Kapitalinhaber höher belasten.

Im nächsten Zug verteidigt Füller sein Modell vor den Studiengebührengegnern als „konstruktive“ Herangehensweise. Diese würden sich, so Füller, mit ihrem kategorischen Nein ins politische Off befördern und damit den derzeitigen Status Quo in der Universität zwangsweise beibehalten wollen. Damit versucht Füller, Studiengebühren als unaufhaltsame Entwicklung zu kennzeichnen, jegliche Gegnerschaft bleibt best­en­falls weltfremd. Nur wer sich Gebühren selber aufbürdet, dürfe in der Diskussion noch mitmachen, sei politisch tragbar und realistisch. Füller vergisst dabei, dass es gute Gründe gibt, Studiengebühren kategorisch abzulehnen, denn Studiengebühren und Gerechtigkeit schließen einander aus. Darüber kann auch das glorreiche TAZ-Modell nicht hinwegtäuschen. Es ist einfach keine Lösung, das Problem der Hochschulfinanzierung auf die Studierenden abzuschieben, damit diese sich selbst ausnehmen. Die studentische Selbstbestimmung des Modells ist dabei zwar ein idealistischer Gedanke, vergisst aber, dass mit Studiengebühren, welcher Art auch immer, die Ökonomisierung der Hochschulen, auch im Zuge der Bologna-Reform, noch mehr zementiert wird. Damit sind die nach dem TAZ-Modell ach so selbstbestimmten Studenten plötzlich fremdbestimmt von der unsichtbaren Hand des Marktes. Wer letztlich entscheidet, welche Arbeiten, Forschungen und Studiengänge ökonomisch rentabel sind, ist unerheblich. Im nächsten Zug werden die Hochschulen unterschiedlich hohe Studiengebühren erheben, um damit spezielle Zielgruppen anzulocken. Hochschulen mit höheren Gebühren werden von entsprechenden Studenten besucht, die sich diese auch leisten können. Es besteht die Gefahr, dass sich eine Hochschullandschaft entwickelt, in der die Qualität des Studiums von den finanziellen Möglichkeiten der Studierenden abhängt. Diejenigen mit mehr Barem im Handgepäck besuchen dann eine Hochschule, die für das Mehr an Gebühr auch mehr Bil­dungs­qualität bietet. Die so oft geforderte Eliteuniversität wäre dann – für die entsprechende Oberschicht – nicht mehr weit.

Studiengebühren werden immer den Weg zum Studium blockieren, die Wahl des Faches sowie des ausführenden Berufes beeinflussen und die Freiräume für nicht Kapital bringende Forschung und Studiengänge einschränken. Die Losung, wenn man für Kindertagesstätten zahlt, muss man auch für die Universität zahlen, ist falsch. Kitas sollten genauso kostenfrei sein.

Den Status Quo beizubehalten, ist gerade nicht das Ziel beim Protest gegen die Studiengebühren. Aber eine Bildung, die zur Ware Ausbildung mutiert, ist niemals der bessere Weg. Auch wenn Füller sein Modell als „sozial gerecht“ preist, ist es keine Alternative, sondern das Problem, nur anders aufgerollt.

Aber gerade bei den verschiedenen Standpunkten im Streit um die Studiengebühren muss die Gegnerschaft ihre Kritik erörtern und sich nicht auf platte Parolen und Phrasen reduzieren (siehe jüngst die Leipziger Blutsauger-Rhetorik zur Antigebührendemonstration), um ein gesellschaftliches Bewusstsein bis hinein in die Familie zu schaffen. Aufgabe muss es daher sein, Populismen wie die Gleichsetzung von sozialer Gerechtigkeit mit Studienge­büh­ren, argumentativ zu entlarven und breite Kampagnen für Kritik anzulegen.

Der Protest muss sich verstärken und breiter werden. Alternative Studiengebühren jedenfalls schaffen das Problem nicht aus der Welt.

Karotte

Was bisher geschah – was noch kommt

Am 26.1. 2005 fällte das Bundesverfassungsgericht sein historisches Urteil gegen das Studiengebührenverbot fürs Erststudium. (1) Daraufhin fanden bundesweit Vollversammlungen, Demos und Aktionen statt. Am 27.1. folgte an der Uni Leipzig eine nicht gerade kämpferische Vollversammlung von 1000 Studierenden statt. Aufgerufen wurde auch zur Demonstration gegen Stu­dien­gebühren in fünf Städten, an der bundesweit 20.000 und in Leipzig selbst 8000 Leute teilnahmen. In den Semesterferien selbst blieb es weitgehend ruhig. In München kam es am 18.3. zu einem Schulstreik und einer gemeinsamen Demonstration von SchülerInnen und Studierenden gegen Büchergeld und Studiengebühren. (2) Von einigen Studierenden­vertreterInnen wurde ein heißer Sommer propagiert, so z.B. Aktionstage vom 2. bis 13.5. angekündigt. Am 2.4. trafen sich die Bildungssyndikate der FAU (3) um die bundesweite Zusammenarbeit zu verstärken. Vom 22. bis 24.4. wird an der Universität Leipzig das zweite bundesweite Koor­dinierungs­­treffen gegen Studiengebühren stattfinden. (4) Der heiße Sommer muß sich jedoch erst noch zeigen!

KFM

(1) www.fau.org/artikel/art_050126-141511
(2) www.kostenlose-bildung.de
(3) www.fau.org/syndikate/bsy2
(4)www.stura.uni-leipzig.de

Bildung

Der Fall Smosarski

Internationale Solidarität gegen Polizeiwillkür in Polen

Andrzej Smosarski ist in der anarcho­syndikalis­tisch orientierten „Czerwony Kollektyw – Lewicowa Alternatiwa“ (Rotes Kollektiv – Linke Alternative) aktiv und nahm im Dezember 2000 an der Demon­stration der Krankenschwestern- und Hebammengewerkschaft in Warschau teil, bei der seinen Anfang nahm, was sich dann fünf Jahre hinschleppen sollte – versuchte Hilfeleistung, Anklage, Verurteilung, Berufung, Solidarität…

Das CK-LA schilderte die Ereignisse am 12.12.2000 folgendermaßen: Nach der Auflösung der Demonstration wurde eine Gruppe von Demonstranten, in der sich auch Andrzej befand, von einer Polizei­kette umzingelt. Dabei bemerkte er, dass eine der Frauen dringend medizinische Hilfe benötigte. Trotz seiner Bitten lehnten die Polizeibeamten es ab, die Frau zu den in der Nähe stehenden Kranken­wagen durchzulassen. Daraufhin drückte sich die Gruppe von Demonstranten, in der sich auch Andrzej befand, durch die Polizeikette und bemühte sich um Hilfe für die kranke Frau. Dafür wurde er zusammen mit einem anderen Menschen wegen Körperverletzung gegen einen Polizeibeamten durch einen Tritt in Höhe des Brustkorbs angeklagt, obwohl nichts dergleichen stattgefunden hatte. In seiner Gegenwart sprachen die Polizisten die­se Version der Ereignisse ab.

In dem darauffolgenden Prozess in Warschau wurde Smosarski zu 3000 Zloty plus 800 Zloty Gebühren (um die 1000 Euro) oder wahlweise 100 Tagen Ge­fängnis verurteilt.

Dagegen hat das CK-LA für den 26. 09.2005 im Vorfeld des Berufungstermins polenweit, aber auch international zu Protesten aufgerufen. In Warschau fand eine Kundgebung mit 50 Teil­nehmer­Innen statt, in anderen polnischen Städten wie Bialystok, Szczeczin oder Gdansk bewegten sich die Teilnehmerzahlen zwischen zehn und zwanzig.

Auch in Leipzig forderten ab zwölf Uhr ein gutes Dutzend DemonstrantInnen der Freien ArbeiterInnen-Union zuerst im und dann vor dem Polnischen Generalkonsulat in der Trufanowstrasse den Freispruch von Andrzej Smosarski. Ein Beteiligter be­richtete gegenüber Feierabend!: „Der Eingang stand zur Sprechstunde offen, also stürmten wir mit zehn Leuten rein und konfrontierten die Diplomaten damit, ihre Regie-rung über unsere Forderungen zu infor­mieren. Nach einem kurzen Ge­spräch verließen wir das polnische Hoheitsgebiet und führten eine spontane Kundgebung durch, während die Di­plomaten aus Angst das Eingangstor abschlossen und uns mit der Polizei drohten. Wir warteten noch bis 13 Uhr auf die Polizei, die jedoch nicht kam, und zogen dann zum Pol­nischen Institut am Markt, um dort Infos zu verteilen.“

Außer in Leipzig kam es auch in Stock­holm (Schweden), Valladolid (Spanien) und Frankreich zu Solidaritätsaktionen. Trotz der Proteste wurde die Berufung abgelehnt. Das CK-LA hat weitere Ak­tionen angekündigt.

KFM

…mehr auf www.smosarski.pl

Spanien im „Kampf der Erinnerungen“

Berneckers und Brinkmanns „Kampf der Erinnerungen“ (Verlag Graswurzelrevolution) beschäftigt sich mit dem aktuellen Forschungsstand der Erinnerungskultur in Spanien.

Den Anfang macht ein 70seitiger Abriss über den Spanischen Bürgerkrieg: Kriegsverlauf, internationale (Nicht)Einmischung, die Konflikte im republikanischen und nationalistischen Lager, die Rolle der durch Stalin gesteuerten kommunistischen Partei, die Rolle der Kirche, Anarchismus in der Praxis: die soziale Revolution… Nach dem Niederwerfen des Militärputsches am 19.7. 1936 durch sich selbst bewaffnende Arbeiter und Bauern kam es zu spontanen und dezentralen Kollektivierungen in Landwirtschaft und Industrie. Die Kollektivist/innen waren zu einem großen Teil in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT, mit zwei bis drei Millionen Mitglieder, organisiert, gehörten aber auch zur Basis der, der sozialistischen Partei nahestehenden, UGT. Es fand eine soziale Revolution statt, um eine sozialistische, rätedemokratisch strukturierte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu errichten, die sich gegen die Grundlagen der bestehenden bürgerlich-kapitalistischen Ordnung wandte.

Auch die unter Anderem durch den Kriegsdruck stattgefundenen Wandlungen in den anarchistischen Organisationen, werden beleuchtet … So stellen die Autoren angesichts der Übernahme von Ministerposten durch Anarchist/innen fest: „In dem Maße, in dem die Spontanität der Massen kanalisiert und kontrolliert wurde, nahm die Revolution von ihren ursprünglichen, herrschaftsfreien Zielen Abstand; sie engte ihren eigenen Aktionsraum zusehends ein und erweiterte damit das Wirkungsfeld des Staates, der als übermächtige Struktur schließlich in alle gesellschaftlichen Bereiche vordrang“.

Es folgt eine Darstellung der Repression des Franco-Regimes, wie der Siegerdiskurs installiert und die Diktatur ideologisch legitimiert wurde. Im Anschluß wird der Umgang mit der Repression in der postfaschistischen Gesellschaft beleuchtet. Auch regionale Erinnerungsdiskurse im Baskenland oder Katalonien werden angesprochen. Zu diesem ganzen Komplex haben wir dem Autor Walther Bernecker im Rahmen eines Interviews mit Radio Blau einige Fragen gestellt.

Beim „Syndikat A“ (www.syndikat-a.de) ist zum Thema Soziale Revolution in Spanien vor kurzem eine einführende Broschüre herausgekommen und auf www.fau.org und in der Libelle-Bibliothek gibts auch mehr an Texten und Büchern zu lesen.
Walther L. Bernecker/Sören Brinkmann:
Kampf der Erinnerungen – Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2006
Verlag Graswurzelrevolution, 378 Seiten, 20,50 EUR, ISBN 3-939045-02-0
www.graswurzel.net

 

Interview

Herr Bernecker, können Sie kurz den Hintergrund ihres Buches anreißen?

 

Es geht um die Frage: Wie gehen post­diktatoriale Gesellschaften mit ihrer diktatorialen Vergangenheit um und konkret, wie geht die spanische Gesellschaft mit dem Bürgerkrieg um.

 

Sie hatten bereits einige Veröffentlichungen zu den Themen Bürgerkrieg und Revolution in Spanien. Wie kamen sie dazu? Was hat sie da fasziniert?

 

Also da gibt es zwei Antworten: Die eine Antwort ist rein biographisch, sozusagen lebensweltlich und hängt mit meiner Vergangenheit zusammen. Ich bin in Spanien aufgewachsen, dort auf die Schule gegangen und habe von daher schon immer eine enge Beziehung zu Spanien. Die zweite Antwort ist, dass ich zur Zeit meines Studiums voll in die 68er Bewegung reingekommen bin. Ich gehörte dieser Bewegung an und wir Studenten haben damals alle immer für Autonomie gekämpft, wir haben für Selbstverwaltung plädiert. Und immer wieder kam die Rede auf die Spanische Revolution, auf den Anarchismus in Spanien, auf die Selbstverwaltungskollektive im Spanischen Bürgerkrieg. Aber Tatsache ist, dass keiner von uns so recht darüber Bescheid wußte. Ich bin ja Historiker von Beruf, damals war ich Geschichtsstudent. Da ging ich auf die Suche nach Materialien und stellte fest, dass das ein Thema ist, das noch über­haupt nicht bearbeitet wurde. Ich spreche jetzt wohlgemerkt von der Zeit Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre. Und dann entschied ich, mich mit diesem Thema intensiver zu beschäftigen. Ich wurde ja damals immer wieder gefragt, wie es sich mit dem Anarchismus in Spanien verhielt. Auch ich wußte es damals nicht so genau. Und das ist gewissermaßen der Hintergrund meiner Beschäftigung mit diesem Thema, das mich dann viele Jahre, ja Jahrzehnte nicht mehr losgelassen hat. Ich habe darüber promoviert und auch eine Reihe von Veröffentlichungen vorgelegt und im Grunde beschäftige ich mich noch heute damit.

 

Nun der „Kampf der Erinnerungen“: warum ausgerechnet zur jetzigen Zeit dieses Thema und welche Erinnerungen kämpfen überhaupt miteinander?

 

Also das Thema ist höchst aktuell. Ich muß ein klein wenig ausholen dabei: Natürlich erinnert sich eine Gesellschaft immer ihrer Vergangenheit. Aber im spanischen Fall ist es etwas anders gekommen. Am Ende des Bürgerkriegs bestand für die unterlegenen Republikaner und zwar für die Republikaner aller Schattierungen, damit meine ich Kommunisten, Anarchisten, Sozialisten, Liberale, Demokraten, nicht die Möglichkeit, ihre Vergangenheit in dem Sinne aufzuarbeiten, daß man darüber publiziert, dass man darüber diskutiert. Die Unterlegenen hatten keine Chance der Aufarbeitung. Spanien ist also bis zum Tode Francos 1975 ein Land geblieben, wo über die Frage, was im Bürgerkrieg eigentlich geschehen ist, nicht frei diskutiert werden konnte. Die einzige Sichtwiese die es gab, war immer die offizielle Sichtweise der Sieger. Das hat sich nach 1975 geändert, aber nicht radikal. 1975 wurde zwar die Zensur abgeschafft, aber auch dann ist man in der spanischen Gesellschaft nicht frei mit dem Thema umgegangen, weil es so etwas wie einen unausgesprochenen Pakt gab. Man spricht von einem Pakt des Schweigens. Der Pakt des Schweigens bestand darin, in den Jahren nach Francos Tod im Übergang zur Demokratie diese Themen, also den Bürgerkrieg, die Repression, die Auseinandersetzungen, die Kämpfe, den Bruderkrieg, nicht zu thematisieren, nicht in der Gesellschaft Rechenschaft zu fordern, von den Leuten die noch lebten, damit die Gräben wie sie in den 30er Jahren bestanden in den 70er Jahren nicht wieder aufgerissen würden, damit der Übergang in die Demokratie einigermaßen glimpflich vor sich gehen konnte. Und an diese Maxime hat man sich in Spanien gehalten, mindestens bis weit weit in die 80er und eigentlich bis in die 90er Jahre. Und erst als sich die Demokratie definitiv stabilisiert hatte und auch eine neue Generation herangewachsen war, da hat man begonnen, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Nämlich der Frage, wie sich die spanische Gesellschaft an ihre Vergangenheit erinnert.

Und auf die Frage, welcher Kampf ist das eigentlich, so möchte ich erst einmal einleitend sagen, dass es im Wesentlichen natürlich zwei Sichtweisen gibt: Es gibt die Sichtweise der Sieger, die gibt es bis heute. Und was heute immer stärker zum Tragen kommt, ist die Sichtweise der Besiegten, die endlich, 70 Jahre nachdem der Bürgerkrieg begonnen hat, wirklich die Chance haben in Form von Memoiren, in Form von Literatur, in Form von historischen Darstellungen, ihre Sichtweise durchzusetzen, ihre Sichtweise zum besten zu geben. Und in der Tat: Wenn man sich die Literatur anschaut, dann ist sie überwiegend von Testimonialliteratur geprägt, also von Leuten, die unmittelbar selber betroffen sind, oder von Historikern, die zumeist versuchen, die Perspektive der republikanischen Seite darzustellen. Das aber ist ein Phänomen der letzten ungefähr sieben bis neun Jahre, nicht länger, und wenn wir also bedenken, dass der Bürgerkrieg 36 bis 39 war, und wir sprechen jetzt von einem Phänomen Ende des 20./Anfang des 21. Jahrhunderts, dann sehen wir, welche enorme Zeitspanne verfließen mußte, bis in Spanien endlich definitiv und ernsthaft und ohne Voreingenommenheit über die Probleme diskutiert wird.

 

Welche neuen Erkenntnisse haben sie in ihrem Buch verarbeitet?

 

Wir haben in diesem Buch die historischen Erkenntnisse, der letzten fünf bis sieben Jahre verarbeitet, das sind Dinge, die man vor zehn Jahren noch gar nicht wußte, zum Beispiel die Anzahl der von Franco umgebrachten Personen. Hier konnte man in der Literatur die abenteuerlichsten Zahlen lesen. Das begann bei einer Million Toten über 500 000 oder 300 000 Toten. Heute weiß man ziemlich genau, dass es sich um eine Größenordnung von 140 000 handelt.

Ein weiteres Beispiel: Wie wurden die unterlegenen Republikaner behandelt? Also das ganze System der Konzentrationslager, der Arbeitsbataillone, der Verfolgung, der sozialen Erniedrigung…

 

Sind auch die militärischen Opfer dabei?

 

Nein, ich spreche nicht von den an der Front Gefallenen, ich spreche von denen, die liquidiert worden sind. Aber wir haben auch eine Zahl von denen, die auf republikanischer Seite umgebracht wurden, da bekanntlich auf republikanischer Seite nicht gerade nur gute Menschen waren. Da liegen die Zahlen inzwischen bei ungefähr 50.000*. Also man sieht an der Relation, ungefähr das dreifache an Toten durch die franquistische Seite.

 

Gibt es einen eigenen anarchosyndikalistischen Erinnerungsdiskurs?

 

Diese Erinnerungsdiskurse sind zum großen Teil nicht parteipolitisch, sie sind auch nicht ideologisch in dem Sinne, dass es einen gesonderten Diskurs gäbe, sagen wir der Anarchisten, der Sozialisten, der Kommunisten. Es hat in der Übergangszeit so etwas gegeben. Es hat auch Auseinandersetzungen auf der Seite der Linken gegeben, die unterschiedliche Vorstellungen hatten, was z.B. auf die Mahnmale geschrieben wird, wie man mit den früheren Verbrechern umgehen soll. Aber das waren eher die Ausnahmen. Wir gehen in unserem Buch auf einzelne Beispiele ein. Im Großen und Ganzen muß man aber sagen, geht der Diskurs auf Seiten der unterlegenen Republikaner, in einem weiten Sinne nicht parteipolitisch differenziert, gegen den Diskurs der Sieger vor. Und insofern lässt sich praktisch die Frage gar nicht beantworten, ob es einen eigenen anarchosyndikalistischen Aufarbeitungs- oder Erinnerungsdiskurs gibt. Im Großen und Ganzen, möchte ich meinen, gibt es den nicht. Es gibt auch keinen eigenen sozialistischen oder eigenen kommunistischen. Die Repression der Franquisten war gegenüber den Anarchosyndikalisten genauso wie gegen die Sozialisten oder Kommunisten oder Liberalen. Hier wurde kaum differenziert und deswegen würde es auch wenig Sinn machen, anhand der alten ideologischen Gräben unterschiedliche Diskurse zu führen.

 

Wenn Sie sich die aktuelle Debatte um den rechtsextremen Bestseller Pio Moas anschauen: Ist das ein Rückschlag im Kampf der Erinnerungen?

 

Das ist ein Phänomen. Die ernsthafte Historiographie in Spanien ist heute überwiegend linksliberal. Das Leute wie Pio Moa oder Fesal Vidal oder ähnliche Revisionisten derartigen Erfolg haben, ich meine quantitativen Erfolg, was die Verkaufszahlen dieser Bücher betrifft, das hängt sicherlich damit zusammen, dass es sich hierbei um eine Art Gegenbewegung gegen den Mainstream der Historiographie handelt. Und diese kommt sehr gut an bei einem Großteil der historisch-politisch interessierten Öffentlichkeit, die aber eben nicht die Bücher der etablierten Historiker, sondern gerade die vereinfachte Sicht der Dinge lesen möchte und zwar aus einer konservativen Perspektive. Die ist ja sehr stark in Spanien, wenn man bedenkt, dass die konservative Partei einen Großteil der Bevölkerung erreicht.

 

Ist der Spanische Bürgerkrieg inzwischen erschöpfend erforscht?

 

Der Bürgerkrieg ist sicherlich ein Thema, das außerordentlich gut erforscht ist. Wir haben aber schon wiederholt in der Vergangenheit gesagt, jetzt müsste doch alles erforscht sein, und das war eben nicht der Fall. Zum Beispiel die Frage einer genauen Quantifizierung und auch Systema–tisierung der Repression. Das ist bis heute noch nicht erschöpfend geschehen. Wir wissen heute nur ungefähr von 50 bis 60 % der Provinzen, wie die Repression erfolgte, also 40 % sind noch gar nicht erforscht. Die klassischen Themen sind weitgehend aufgearbeitet: Militärge–schichte, internationale Geschichte, innenpolitische Fragen, sozioökonomische Fragen der Sozialen Revolution. Mögli–cherweise wird es hier auf lokaler und regionaler Ebene immer noch was zu tun geben, aber die großen Fragen sind beantwortet. Wo auch noch viel zu tun sein wird, ist an dem was wir Kulturgeschichte nennen können, und zwar auf beiden Seiten, sowohl auf der republikanischen Seite, wie auf der nationalen Seite. Und ich denke, dass ich mich auch an dieser Diskussion beteiligen werde, wenigstens mit einem kleinen Körnchen Forschung. Also ich habe schon vor bei diesem Thema zu bleiben.

 

 

KFM

* in dieser Zahl sind auch die Opfer innerrepublikanischer Konflikte enthalten, wie z.B. die Repression der stalinistischen Geheimpolizei, wobei es dahingehend keine gesicherten Zahlen gibt.