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Proteste gegen den G8-Gipfel

Demo-Tourismus oder Vorgeschmack einer libertären Gesellschaft?

In der Zeit vom 1. bis zum 3. Juni fand in Evian, dem malerischen französischen Ort am Genfer See, aus dem das berühmte Sprudelwasser kommt, das jährliche Treffen der Regierungschefs der sieben (einfluss-)reichsten Staaten der Welt sowie Russlands statt. Unter dem Titel „G8“ sprachen sie in „gemütlicher Runde“ über ihre Vorstellungen von der Gestaltung der Welt.

Seit einigen Jahren formiert sich immer breiterer Widerstand gegen diese Treffen, was die G8, vor allem nach den großen Protesten 2001 in Genua, die im Tod von Carlo Giuliani gipfelten, dazu zwang, große Städte zu meiden und in unzugängliche Gegenden auszuweichen. Nachdem der Gipfel 2002 hoch oben in den kanadischen Rocky Mountains stattfand, wurde in diesem Jahr das kleine und durch die Lage zwischen Genfer See und den Savoyer Alpen gut abzuriegelnde Evian als Austragungsort der sich ach-so-wichtig gebenden Plauderrunde gewählt.

Auch diesmal riefen verschiedenste Bündnisse, Gruppen und Einzelpersonen dazu auf, den G8 Gipfel mit phantasievollen Aktionen, Demonstrationen und Blockaden zu begleiten bzw. zu behindern. Zwar ist von einigen Seiten immer wieder der Vorwurf zu hören, ein solches „Gipfel-Hopping“ habe nicht gerade sonderlich subversiven Charakter, sondern fördere eine Art selbstgefälligen Demo-Tourismus, und gäbe darüber hinaus dem Treffen der Mächtigen deutlich mehr Aufmerksamkeit und Wichtigkeit als ihm bei genauem Hinschauen zukomme – als Medienspektakel, welches lediglich dazu dient, längst gefasste Beschlüsse der Welt mit lautem „Trara!“ zu verkünden. Doch bieten die in diesem Zusammenhang aus dem Boden sprießenden Camps zur Unterbringung, Versorgung und Koordinierung der von weit her anreisenden Demo-TouristInnen durchaus punktuell die Möglichkeit, gemeinsam einen kleinen Vorgeschmack eines anderen (besseren?) Zusammenlebens zu erträumen und teilweise auch zu erleben.

So entstanden bereits im Vorfeld des Gipfels, begünstigt durch den in mehreren angrenzenden Staaten lohnarbeitsfreien Himmelfahrtsdonnerstag, verschiedene Camps bzw. „Villages“ (frz. für „Dörfer“) in Genf und Lausanne, da in diesen Städten auch die meisten der offiziellen GipfelteilnehmerInnen (1) untergebracht waren, sowie in der Nähe des kleinen Dörfchens Annemasse an der französischschweizer Grenze, zwischen Genf und Evian.

Eines der Dörfer in Annemasse war das VAAAG – „village alternatif, anticapitaliste et anti-guerres“ (alternatives, antikapitalistisches und Anti-Kriegs-Dorf ), an dessen Gestaltung mehrere Tausend Menschen teilnahmen. Geplant wurde das Dorf schon Wochen im voraus von verschiedenen anarchistischen, libertär-kommunistischen und anarchosyndikalistischen Gruppierungen aus ganz Europa, dem „Zusammenschluss der anti-autoritären und anti kapitalistischen Kämpfe gegen die G8“ (ZAAKG8) (2). Deren Ideen für eine libertäre/egalitäre Gesellschaft nach Abschaffung von Kapitalismus und Lohnarbeit möchte ich im Folgenden vorstellen…

Quand on aura aboli le capitalisme et le salariat! (3)

Wenn Kapitalismus und Lohnarbeit abgeschafft sind…

Wir werden eine egalitäre Gesellschaft errichten, zu deren Aufbau und Funktionieren jede ihren Beitrag leistet und in der jede ihre Bedürfnisse befriedigen kann (4). In der jede die Möglichkeit hat, an den Entscheidungen teil zu haben, die sie direkt oder indirekt betreffen. In der jede die Bildung erhält, die sie benötigt, und das gemeinsame Wissen mit allen anderen teilt. Es gilt, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Freiheit der anderen die Garantie für die eigene Freiheit ist. Ziel ist es, Produktion, Verteilung und Konsum so zu gestalten, dass eine jede das erhält, was sie benötigt, und entsprechend ihrer Möglichkeiten, Bedürfnisse und Wünsche an der Produktion teilnimmt und konsumiert…

Es ist klar, dass das aktuelle ökonomische System, welches auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruht, aufgrund der sozialen Klassenunterschiede, die es hervorruft und voraussetzt, abzulehnen ist. Wir wollen, ausgehend von unseren eigenen Idealen, ein vollkommen neues schaffen: Mit einer Ökonomie, die auf sozialer Gleichheit beruht, auf Freiheit, Solidarität und der Selbstorganisierung jeder einzelnen in freier Vereinigung mit anderen.

Die sozialen Rollen und Aufgaben jeder Mitwirkenden müssen neu definiert werden. Wenn jede Zugang zu Bildung und Allgemeinwissen hat, wird jede die Entscheidungen, die sie betreffen, in voller Kenntnis der Sachlage bewältigen können. Abhängig von den Bedürfnissen und Wünschen der anderen sowie den eigenen, wird eine jede in Absprache mit den anderen über den Beitrag entscheiden, den sie leistet, um ihre soziale Rolle als Produzentin zu erfüllen, und darüber, was sie als Konsumentin erwartet. Meine Aufgaben innerhalb der Produktion werden sicherlich von unerwünschten Zwängen begleitet sein. Diese werde ich jedoch in dem Maße akzeptieren können, wie ich sie gleichberechtigt mit den anderen teile und sie als notwendig für die Befriedigung der Bedürfnisse aller erkenne.

Eine solche Neustrukturierung von Produktion, Verteilung und Konsum wird eine neue Art der Bewertung von produzierten Gütern mit sich bringen. Bisher bilden hierfür Angebot und Nachfrage, das Gesetz des Marktes, die Grundlage. Stattdessen könnten die für die Herstellung aufgewandte Mühe sowie die Auswirkungen der Produktion auf die Produzierenden und die Umwelt zur Bewertung der Güter herangezogen werden.

Es wird nicht jede die gleichen Wünsche und Bedürfnisse haben, und es werden nicht alle Lust haben, den gleichen Beitrag zum Wohlbefinden aller zu leisten. Wenn die Gesellschaft nicht in der Lage ist, die Wünsche einer jeden zu befriedigen, werden wir ein neues System einheitlicher und gleichberechtigter Verteilung finden müssen. Einige werden es vorziehen, ihre Bedürfnisse einzuschränken, weniger zu konsumieren und weniger zu produzieren. Andere werden bereit sein, mehr Anstrengung für die Produktion aufzuwenden, um sich und anderen mehr Wünsche erfüllen zu können. Darüber hinaus wird es bestimmte Bedürfnisse geben, die von einer großen Zahl (wenn nicht sogar von allen) geteilt werden und deren Befriedigung notwendig für das Funktionieren der Gesellschaft insgesamt ist.

Es wird die Aufgabe der miteinander verbundenen freien Vereinigungen von Einwohnerinnen, von Produzentinnen und von Konsumentinnen sein, die Bedürfnisse zu bestimmen, die notwendigerweise zu erfüllen sind, damit jede auf bequeme Art und Weise leben kann. Dies sind unter anderem die Wasser- und Energieversorgung der Einwohnerinnen und der Produktionsstätten, Gesundheitsversorgung, Bildungseinrichtungen, wissenschaftliche Forschungseinrichtungen sowie öffentliche Transport- und Kommunikationsmittel samt entsprechender Infrastruktur, in gewissem Maße auch die Versorgung mit bestimmten Nahrungsmitteln und anderen gebräuchlichen Konsumgütern. Wenn wir eine egalitäre Gesellschaft errichten wollen, müssen diese Güter und Leistungen jeder einzelnen zur Verfügung gestellt werden, und zwar ohne eine andere Einschränkung als die durch ihre Verfügbarkeit auferlegte – wobei jede nach ihren Möglichkeiten daran mitwirkt, sie zur Verfügung zu stellen.

Was die individuellen Bedürfnisse angeht, könnte es als egalitär bezeichnet werden, wenn jede entsprechend der Mühe konsumiert, die sie für die Bereitstellung von Gütern und Leistungen aufzuwenden bereit ist. Auch hier werden wir die Art der Bewertung der von jeder aufgebrachten Mühe neu definieren müssen. Tatsächlich basiert zur Zeit das Einkommen aus Lohnarbeit ebenfalls auf Angebot und Nachfrage, auf den physischen und intellektuellen Fähigkeiten einer jeden, auf dem Zugang zu Wissen und Bildung sowie auf der produzierten Menge. Dieses System schafft ungleiche soziale Klassen: Diejenigen, welche die Bildung und das Wissen unter sich aufteilen, dominieren die anderen, gemeinsam mit denen, die das Kapital besitzen. Auch die Arbeitszeit scheint keine gute Art der Bewertung zu sein: Einige ziehen es vor, kürzer und intensiver zu arbeiten, andere jedoch verteilen ihre Mühe lieber über die Zeit. Im Übrigen sind gar keine allgemeinen Regeln nötig, anhand derer die aufgewandte Mühe bewertet wird. Stattdessen wird es die Sache der freien Vereinigungen von Produzentinnen sein, hierfür Kriterien aufzustellen, indem sie sich untereinander absprechen.

Zur Zeit leben wir in einer Gesellschaft, in der körperliche Arbeit meist als von intellektueller Arbeit getrennt betrachtet und letztere überbewertet wird. Im sozialen System existiert jedoch eine deutliche Ungleichheit der Klassen in Bezug auf Bildung und Wissen. Jene, welche durch (Aus-)Bildung ihre intellektuellen Fähigkeiten entwickeln konnten und dadurch einen größeren Zugang zu Wissen erlangt haben, profitieren von diesem Vorteil, indem sie sich einen besseren Platz in der Gesellschaft anmaßen und sich von der mühevollen körperlichen Arbeit befreien. In einer egalitären Gesellschaft werden körperliche und intellektuelle Aufgaben besser verteilt sein und als gleichwertig betrachtet werden.

Die Gestaltung von Produktion, Verteilung und Konsumtion sowie des Beitrages jeder einzelnen werden sich in jeder freien Vereinigung von Produzentinnen, von Konsumentinnen und von Einwohnerinnen von Grund auf herausbilden. Davon ausgehend wird es zu Absprachen und Verständigungen mit anderen freien Vereinigungen kommen, und letztendlich werden bestimmte Vorgehensweisen nicht „von oben“ vorgegeben, sondern durch die Basis festgelegt. Wenn jede in gleichem Maße an für die Produktion notwendigen Aufgaben teilnimmt und die Möglichkeiten der Mechanisierung und Automatisierung weiterentwickelt werden, kann der Teil des Lebens, den jede den gesellschaftlichen Aufgaben widmet, zeitlich reduziert werden. Dies führt dazu, dass wir mehr freie Zeit haben, um individuell und kollektiv aufzublühen, aufzuleben, aufzuleuchten (frz.: s’épanouir). Wir werden mehr Zeit zum Feiern haben!

lilo

(1) Inklusive der JournalistInnen, DolmetscherInnen und einer großen Menge die mächtigen acht Männer hofierenden Begleitpersonals nahmen etwa 10.000 Gäste am G8-Gipfel teil.
(2) frz.: CLAAACG8 – „Convergence des luttes anti-autoritaires et anti-capitalistes contre le G8“ … siehe auch im Internet unter: www.claaacg8.org
(3) Es handelt sich bei diesem Text um eine Übersetzung aus dem Französischen. Der Originaltext entstammt dem Heft „le journal de la CLAAACG8!“ numéro 2, mai 2003.
(4) Anm. d. Red.: Zur Vereinfachung der Lesbarkeit verwendet der Übersetzer hier ausschließlich die weibliche Form. Menschen anderen Geschlechts dürfen sich jedoch stets mitgemeint fühlen.

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