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the (konter)revolution will not be motorized

Der Beifahrer des weiß-grünen Autos neben mir leierte die Scheibe herunter und bat mich höflich anzuhalten. Ich betätigte vorsichtig den Rücktritt und kam langsam hinter ihnen zum Stehen. Die beiden Uniformträger stiegen aus und ich hörte den Fahrer schon von weitem irgendwas gegen Radfahrer brabbeln. Ich rollte innerlich die Augen in böser Vorahnung. Zum Glück wollte… äh, konnte ich mich nicht aus­­weisen und so bekam ich nur den beliebten „Schuß vor’n Bug“: „Ein Autofahrer wäre bei ‘ner roten Ampel gleich mal einen Monat seinen Führerschein los!“ meinte er sichtlich parteiisch. Ich nickte brav und erklärte auf Nachfrage des anderen Polizisten, daß meine empirischen Beobachtungen mich zu der Annahme brachten, die Ampel würde eine halbe Sekunde später auf grün schalten. „Letzte Woche auf der Fahrraddemo ham se gesagt, daß Radfahrer ja die seien, die sich an die Regeln halten … „ sagte er sichtlich stolz über den soeben erbrachten Beweis, daß eben doch die Radfahrer das Übel sind. Ich ließ ihn lieber im Unklaren darüber, daß ich einer der Teilnehmer_innen der Demo war und die dor­tige Distanzierung von den schwarzen Schafen (zu denen ich mich gerne zähle) schon vernommen habe. Doch langsam, welche Fahrraddemo überhaupt?

 

Am Mittwoch, dem 28.Oktober 2009, fand eine vom StudentInnenRat Leipzig organisierte Fahrraddemonstration statt, die auf die fahrradunfreundlichen Bedingungen des hiesigen Straßenverkehrs aufmerksam machen sollte. Etwa 350 Fahrräder rollten gemächlich und unter dauerndem Klingeln vom Connewitzer Kreuz die Karl-Liebknecht-Straße entlang zum Petersteinweg, auf dem sie eine etwas andere Zwischenkundgebung abhielten und mit bunter Straßenmalkreide ihren Forderungen auf dem grauen Asphalt Ausdruck verliehen. Anschließend ging es kurz über den Ring und ab dem Augustus­platz wurde durch die radverkehrfreien Zonen bis zum Neuen Rathaus geschoben, vor dem die Abschlußkundgebung stattfand. Dort echauffierte sich dann vor allem der ehemalige StuRa-Sprecher Sven Deichfuß hauptsächlich über die Fahrradverbote in der Innenstadt, welche angeblich in keines Menschen Interesse wären und nur der Idiotie der Stadtoberen entsprängen. Idiotie und Irrsinn waren überhaupt seine vorherrschenden Argumente – auf die Idee, daß hinter Fahrradverboten im Speziellen und der Verkehrspolitik im Allgemeinen auch schlichte ökonomische Interessen (bspw. der Innenstadt-Geschäfts­be­trei­ber_innen) stecken können, kam er wohl nicht. Wie auch, wenn Radfahren in der Argumentation von vornherein immer nur als rein positiv besetzte Prämisse vorkommt, welches geradezu alles Gute auf Erden vereint und – wenn wir nur alle radfahren würden – auch das Hungerproblem in Afrika lösen und endlich den Weltfrieden bringen würde?! Zudem skandalisierte er neben der Innenstadtpolitik noch die polizeiliche Repression gegenüber den Rad­ak­ti­vist_innen der Critical Mass (CM), auf die im zweiten Teil dieses Artikels eingegangen werden soll. Dieser Repression dichtete er gleich mehrere gegen Fahrrad­fahrer_innen gerichtete Maschinenpistolen an und rief es mehrfach in die Menge hinaus, die sich allerdings nicht dadurch aufheizen ließ.

Im Anschluß kam glücklicherweise noch Katharina Krefft von Bündnis 90/Die Grünen zu Wort, die sachlich auf die insgesamt beklagenswerten rechtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen des nicht motorisierten Verkehrs hinwies und ein grundsätzliches Umdenken forderte. Trotz ihrer Parteizugehörigkeit hatte sie einige vertretbare (wenn auch realpolitische) Sachen zu sagen und zeigte neben dem Hinweis auf das gravierende Problem fehlender Radwege bzw. Radfahrstreifen stellvertretend politische Handlungsmög­lich­keiten auf, wie etwa Haus­besit­zer_innen gesetzlich zur Bereitstellung von Abstellmöglichkeiten zu verpflichten; als eine Maßnahme um Radverkehr allgemein zu fördern und die Bedingungen für einen Ver­­kehrswandel grundlegend zu verbessern.

Nach diesen zwei doch sehr unterschiedlichen Redebeiträgen wurden noch einmal die zentralen Forderungen des offenen Briefes (1) verlesen, den mehr als 1.000 Menschen unterzeichnet hatten und sogleich einem Vertreter der Stadt im Rathaus überreicht. Was der sich wohl beim Lesen der Forderungen u.a. nach einer Karl-Liebknecht-Fahrradstraße und einem Tempo-30-Gebot im gesamten Stadtgebiet gedacht hat?! Stellenweise vielleicht sogar dasselbe wie ich – nämlich daß durch Verdrängen von PKW und LKW von einer Hauptverkehrsader in die noch ruhigen, lebenswerten und radfahrsicheren Seitenstraßen ohne ein verkehrsveränderndes Gesamtkonzept rein gar nichts gewonnen ist, eher im Gegenteil. Ebenso mit Tempo-30 – wer will schon noch langsamere Autos und somit noch mehr Abgas, noch mehr Stau, noch mehr Frust im Verkehr?! Und wahrscheinlich kam er sich vor wie in Tarifverhandlungen – Utopisches fordern, um ein Minimum zu erreichen. Dieses Minimum allerdings ist teilweise doch noch sehr vernünftige und beinhaltet sicher für jede_n Leipziger Radfahrer_in nachvollziehbare Forderungen nach ganz konkreten Radfahrstreifen, Ampelanlagen und anderen Maßnahmen in besonders befahrenen und berüchtigten Straßen der Stadt.

Daß sich gar nichts tut von städtischer Seite, der Eindruck sollte indes nicht aufkommen! Rühmt sich die Stadt doch mit innovativen Errungenschaften wie dem Aufstellen von 500 „Leipziger Bügeln“ allein in der Innenstadt (2). Ja, vor allem dort, wo mensch das Rad zum Anschließen erst einmal hinschieben muß.

Die Demonstration gegen diese Zustände war alles in allem eine gelungene Aktion, die aber mehr Potenzial gehabt hätte. Die auch etwas mehr Publicity schon im Vorfeld hätte gebrauchen können, erfuhren viele radaffine Menschen doch erst hinterher von dem Protest. Viel Raum auch in der Analyse und Bewertung ökonomischer und ökologischer Fragen, denn dort gibt es noch einiges zu tun. Das Herunterbeten von Vorteilen des Radfahrens (bspw. für das Klima) nutzt am Ende genausowenig etwas wie die Forderung nach einer Problemverdrängungspolitik. Denn solange Standortlogik und Ver­wertungsdenken die (Verkehrs)Politik der Stadt bestimmen, solange lässt sich weder mit angemeldeten Demonstrationen wie dieser als auch mit trendigeren, alternativen Aktionen wie der Critical Mass viel ausrichten.

Critical Mass – Eine kritische Masse?

Mehr als 15 Radfahrer_innen können in der Bundesrepublik laut § 27 StVO einen geschlossenen Verband bilden. Sie dürfen dann paarweise eine gesamte Fahrspur benutzen, bei roter Ampel dem_der noch bei Grün gefahreren Verbandsführer_in folgen und sind nicht mehr auf Radwege gezwungen. Nutzen tun diese Sonderregelung im Verkehrsrecht nicht nur Schulklassen auf Landerkundungstour, der Sonntagsausflug des Kleintierzüchterverbandes oder eine Anti-AKW-Fahrradkarawane, sondern rechtlich abgesichert auch Rad­fahr­er_innen der Critical Mass:

„Es handelt sich um eine friedliche Protestform, bei der sich scheinbar zufällig und unorganisiert Fahrradfahrer an einem bestimmten Ort treffen um gemeinsam eine Strecke durch ihre Stadt zu fahren. Mit ihrem Auftreten als Masse wollen sie auf ihre Rechte im Straßenverkehr aufmerksam machen.“ (3)

Erste Massenradfahrten mit Protestcharakter fanden schon in den frühen 70er Jahren in Stockholm und ab 1990 mehr als 10 Jahre lang wöchentlich in Wien unter dem Namen „Radfahren am Freitag“ (RaF) statt. Ziele des Protestes waren auch damals schon eine Verbesserung der Bedingungen für den Fahrradverkehr, Förderung ökologischer Politik, sowie überhaupt ein Bewußtmachen der Existenz und Interessen von Radfahrer_innen im kraft­fahr­zeugdominierten Verkehr, nach dem Motto: „Wie blockieren nicht den Verkehr, wir sind der Verkehr!“

Trotz dieser gleichen Ziele und strukturellen Merkmale wie das Fehlen einer Anmeldung und eines Verantwortlichen oder einem Ziel wird der Ursprung der heutigen Critical Mass in San Francisco verortet. Dort fand im September 1992 unter dem Namen „Commute Clot“ (4) durch 48 Teilnehmer_innen eine vorher durch Flugblätter beworbene Fahrt in einen nahen Fahrradladen statt, in dem die Dokumentation „Return of the Scorcher“ von gezeigt wurde. In dem Film erzählte der Fahrraddesigner George Bliss, daß sich in China Auto- und Rad­fahrer_innen an Kreuzungen ganz ohne Signale verständigen. Der Radverkehr staut sich solange auf, bis eine „kritische Masse“ erreicht wird und diese dann quasi automatisch und gefahrlos die Kreuzung passiert. Der Begriff „Critical Mass“ ersetzte bei der zweiten Fahrt das „Commute Clot“ und seitdem bezeichnen sich regelmäßige Massenfahrten in über 300 Städten quer über den Erdball so. In den meisten dieser Städte fahren monatlich (traditionell am jeweils letzten Freitag) zwischen 20 und (mehreren) hundert Menschen gemeinsam Rad. Höhepunkte sind die zweimal im Jahr stattfindenden Fahr­rad­umzüge in Bu­dapest, wo zuletzt 80.000 Menschen zeitgleich in die Pedalen traten.

Aber es gibt auch andere Höhepunkte der Critical Mass. Ein solcher war zweifelsohne die Critical Mass zur Republican National Convention 2004 in New York. Bei den rollenden Protesten gegen die alle vier Jahre stattfindende Parteiversammlung der Republikaner sperrte die New Yorker Polizei ganze Straßenzüge für Radfahrer_innen und ging mit einiger Härte gegen sie vor. 264 Personen wurden festgenommen und hunderte Räder beschlagnahmt. Es war eine in diesem Ausmaß noch nicht dage­wesene Repression gegen fast 5.000 Menschen, die nur friedlich gegen die damalige Politik George W. Bushs und dessen erneute Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten radeln wollten. Aber auch bei kleineren und unbedrohlichen CMs reagieren die Gesetz­es­hüter – meist durch Unwissen – nicht gerade rechtskonform und angemessen auf das monatliche Radfahren.

So geschehen auch diesen Sommer in Leipzig. Die Critical Mass wachte gerade wieder aus dem Winterschlaf auf, fuhr im April mit etwa 60 Leuten eine angenehme Runde und wollte dies am 29. Mai wiederholen. Die abermals relativ große Gruppe wurde nach einiger Verfolgung durch die Polizei rüde gestoppt, ein Teilnehmer brutal vom Rad gezogen. Personalien wurden aufgenommen und knapp 3 Monate später Bußgeldbescheide an mind. 25 Teil­nehmer_innen wegen Überfahrens einer roten Ampel verschickt. Es folgten CMs im Juni und Juli (5), an denen die Polizei filmte und durch ihre massive Präsenz weiter Druck machte. Im August war sogar ein Kamerateam des MDR vor Ort und filmte die Schikanen, die neben übermäßigen Kontrollen der Verkehrstüch­tigkeit der Räder auch noch dazu führten, daß sich ein Mensch bereiterklärte, der unrechtmäßigen Forderung nach einem Verantwortlichen nachzugehen und seine Personalien hergab. Der erste Schritt war also gemacht. Den zweiten setzte der Leipziger Polizeipräsident Wawrzynski schon vorher an, indem er die Rad­fahrer_innen zu Gesprächen bat, welche nach der CM im August stattfanden. Man einigte sich auf eine „Zusammenarbeit“ mit der Staatsgewalt, indem man der haltlosen Forderung, immer einen Verantwortlichen für’s Radfahren zu benennen, nachkam. Im Gegenzug begleitet die Polizei die Critical Mass nur noch mit minimalem Aufgebot, hat aber immer schön ein Auge auf und so letztlich die Kontrolle über sie.

Eine „legale Critical Mass“ – ein Widerspruch in sich, möchte man meinen. Doch scheinbar geht es den aktuellen Leipziger CMler_innen nicht um den oben erwähnten Protest oder den subversiven Charakter ihrer Aktion, auch wenn sie sich durch den Pakt mit dem Teufel den Status einer politischen Versammlung zugestehen. Ein Schlag in’s Gesicht derjenigen jedenfalls, die die Critical Mass wegen ihres politischen Anspruchs, der anarchistischen Organisationsform und der damit verbundenen Hoffnung auf Veränderung wegen kennen und lieben lernten. Und sei es nur die Hoffnung auf die Solidarität und Verbundenheit der radfahrenden Klasse, deren Befreiung vom Joch des motorisierten Verkehrs nur ihr Werk selbst sein kann. In diesem Sinne halten wir’s doch mit einem Kreidezitat von der Leipziger Raddemo:

„Radfahrer aller Länder vereinigt euch! Ihr habt nichts zu verlieren außer eure Ketten!!“

 

shy

 

(1) Zu finden und noch online zu unterzeichnen unter www.stura.uni-leipzig.de/stura-cms/1467.html

(2) Siehe: www.leipzig.de/de/buerger/stadtentw/verkehr/rad/

(3) cmleipzig.blogspot.com/

(4) Frei übersetzt in etwa „Pendelgerinnsel“ – da die Pedalritter_innen den zähesten Verkehr in der Pendelzeit (Rush Hour) benutzten, um dann einem Gerinnsel gleich Verkehrsadern zu verstopfen.

(5) Hier hatte einer der Beamten die mitt­lerweile berühmt-berüchtigte Maschinenpistole umhängen, während er neben seinem Fahrzeug der Bereitschaftspolizei stand. Die Polizei erklärt das Bild damit, daß dieser zur Nachtschicht eingeteilt war und diese insb. des Diskokriegs wegen stärker bewaffnet ist, diese Waffen aber nicht einfach abgelegen dürfen.

Desorientiert gegen Deutschland

„Still not loving Germany“-Demonstration in Leipzig

Die Veranstalter_innen hatten wohl mit mehr Zuspruch gerechnet. Aber obwohl vom Lautsprecherwagen aus stolz verkündet wurde, man hätte im Vorfeld euro­paweit mobilisiert, waren es doch nur knapp 500 Leute, die sich am 10. Oktober zusammenfanden, um unter dem Motto „Still not loving Germany“ durch die Leipziger Innenstadt zu marschieren. Weder griechische Anarchos noch britische Kommunist_innen waren in der Menge auszumachen, und auch die Berliner Autonomen waren an diesem Tag mit der Verhinderung eines zeitgleich in der Hauptstadt stattfindenden Naziaufmarsches genug beschäftigt. Sogar viele Ortsansässige schienen angesichts der ungemütlich nasskalten Witterung lieber zu Hause geblieben zu sein.

Zahlreich vor Ort war hingegen die Polizei, die sich allerdings zurückhielt. Für die direkte Betreuung der Demo waren relativ zivil in Lederjacken gekleidete Beamte zuständig, während die hochgerüsteten Sondereinheiten sich auf die umliegenden Seitenstraßen verteilten. So verlief die Demonstration erwartungsgemäß ruhig. Die Passant_innen verfolgten das Geschehen mit Kopfschütteln, manch eine(r) reagierte sichtlich erbost („Geht mal arbeiten!“), während für viele wohl gänzlich unklar blieb, was ihnen da vermittelt werden sollte. Kein Wunder, gingen von dem Demonstrationszug doch für unbedarfte Beobachter_innen reichlich widersprüchlich erscheinende Signale aus. Auch die Demonstrant_innen selbst schienen nicht genau zu wissen, wogegen es denn gerade ging: Gegen Nationalismus oder doch nur gegen deutschen Nationalismus?

Eine gewisse Inkonsistenz war da vorprogrammiert. Auf die obli­ga­torischen Israelfah­nen war mensch schon vor­­bereitet, aber auch ameri­ka­nische, britische und sowjetische Nationalflaggen wur­­den stolz geschwenkt. Sonst könnte ja noch wer auf die Idee kommen, man hätte was gegen Nationalstaaten im allgemeinen… Um den Flag­gen­wald noch ein wenig dichter zu machen, wurden vor Beginn der Demo zusätzlich kleine Papierfähnchen in der Menge verteilt. Niedlich war auch das mit „No border, no nation“ beschriftete Plakat, welches ein etwas übereifriger Demonstrant zusätzlich mit je einer kleinen USA- und Israelfahne aus Papier dekoriert hatte. Auf inhaltliche Widersprüche muss man eh keine Rücksicht nehmen, wenn es nicht um Inhalt, sondern nur um Style geht.

Passend dazu übten sich auch die Redebeiträge (z.B. der Initiative gegen jeden Extremismusbegriff) eifrig im Differenzieren: Natürlich seien Nationalstaaten und Nationalismus generell ein Ausdruck der falschen Verhältnisse, aber in Deutschland seien die Verhältnisse eben ganz besonders falsch. Die praktische Schlussfolgerung lautet dann: „Nationen abschaffen, fangen wir mit Deutschland an!“ (1) Als ob die Weltrevolution ausgerechnet hier anfangen würde! Da hätte mensch noch mal bei Lenin nachlesen sollen. Der wusste schon vor 100 Jahren: Die Deutschen können keine Revolution machen, weil in Deutschland das Betreten des Rasens verboten ist.

Ohnehin herrschte bei den meisten Redebeiträgen ein an Adorno geschulter Sozio­logenslang vor, was auf Dauer etwas ermüdend wirkte. Eine Rede z.B. mit dem Hinweis zu beenden, dass bei aller Kritik am Nationalismus im allgemeinen die deutschen Spezifika nicht vernachlässigt werden dürften (wie es die Sprecher der ehemaligen Antinationalen Gruppe taten), ist gut gemeint, aber etwas mehr Mut zum Populismus wäre insgesamt doch wünschenswert gewesen.

Derlei theoretische Trockenübungen dürften aber auch ein Indiz dafür sein, dass manchen An­­ti­­deutschen die alten Parolen nicht mehr so flott über die Lippen kommen. Denn auch szeneintern gab es Kritik. So verteilten z.B. Leute von der Hallenser Gruppe No Tears For Krauts Flugblätter (2), in denen sie hart mit den Organi­sator_innen der Demonstration in´s Gericht gingen. Die seien irgendwo in den 90er Jahren hängengeblieben, das Deutsch­land, gegen das sie ihre Kritik richteten, sei „schon seit gestern nicht mehr existent. Immerhin seien z.B. die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen auch schon fast 20 Jahre her, der oft beschworene „rechte Konsens“ sei ein Hirngespinst, vielmehr hätte sich mittlerweile eher ein „antirassistischer Konsens“ durchgesetzt. Kurz: Die Demo­veranstalter_innen wüssten „offensichtlich nicht so richtig, warum sie Deutschland nicht lieben sollen.“

In eine ähnliche Kerbe haute auch Hannes Gießler in einem Cee-Ieh-Artikel (3), dessen Inhalt sich grob mit den Worten „So schlimm ist es doch gar nicht“ zusammenfassen lässt. Dabei schien Gießler in den letzten drei Jahren mit seiner Theoriebildung nicht wesentlich weiter gekommen zu sein: Schon anlässlich der Fußball-WM 2006 erschöpfte sich sein Vorbehalt gegen den neuen deutschen Party-Nationalismus (4) darin, dass dieser doch irgendwie „borniert“ sei. Wer am Nationalismus nur das zu kritisieren hat, der hat im Grunde gar keine Kritik, sondern reduziert politische Meinung zur bloßen Geschmackssache. Das ist die Kehrseite des antideutschen Rumreitens auf dem deutschen Sonderstatus: Wenn man doch mal bemerkt, dass der deutsche Nationalismus gar nicht so besonders ist, kann man schon mal die Orientierung verlieren. So wird die „Du-bist-Deutschland“-Werbung für Gießler zur antirassistischen Kampagne, und auch an der gängigen Abschiebepraxis hat er wenig auszusetzen: Die sei schließlich nicht rassistisch, sondern rein pragmatisch motiviert. Als ob für die Beurteilung einer bestimmten Praxis der Geisteszustand der Verantwortlichen entscheidend wäre und nicht vielmehr das, was hinten rauskommt…

Für so viel „ideelles Deutschlandfahnenschwenken“ wird Gießler wiederum von den No-Tears-For-Krauts-Schreiber_innen gedisst. Aber auch die haben Probleme mit der Suche nach einem Feind, der den Dauerzustand moralischer Empörung rechtfertigen könnte. Viel fällt ihnen dabei nicht ein. Nur im multikulturalistischen „Antirassismus“ meinen sie, noch den alten völkischen Nationalismus weiterleben zu sehen. Dort würde „die antiimperia­listische Liebe zum Volk“ konserviert. Im Zentrum stünde dabei „längst nicht mehr das Individuum, das für seine Handlungen verantwortlich gemacht und kritisiert werden kann. Die Menschen in der Dritten Welt, die hiesigen Migranten und die von Abschiebung Bedrohten werden – und das zeigt nicht zuletzt die Narrenfreiheit, die Sexis­ten mit Mi­gra­tions­hintergrund in so man­chem besetzten Haus genießen – in­zwi­schen in Blut-und-Boden-Manier als Exemplar ihrer Kultur begriffen: Sie kommen halt aus einem anderen Kulturkreis.“

Das kann natürlich mit Recht kritisiert werden, in erster Linie, weil solches Denken gerade nicht antirassistisch ist. Was aber an einem linksalternativen Multikul­tura­lismus, der Antirassismus auf die Forderung reduziert, alle sollten sich doch bitteschön liebhaben, so neu oder gefährlich sein soll, können die Autor_innen nicht erklären. Dieser Mangel an ernsthaften Gegnern wirkt auf Dauer natürlich frustrierend. So erklärt sich wohl der vorwurfsvolle Tonfall, den die No-Tears-For-Krauts-Autor_innen zum Ende ihres vierseitigen Pamphlets gegen die Demo­orga­nisator_innen anschlagen: „Ihnen geht es nicht um Wahrheit; ihnen geht es nicht darum, die Frage ´was deutsch ist´ kritisch – und vor allem: auf der Höhe der Zeit – auf den Begriff zu bringen.“

Mag sein, aber ist das nicht ein wenig viel verlangt? Auf die Frage „was deutsch ist“ haben schließlich auch die völkischen Nationalist_innen in den letzten 200 Jahren keine befriedigende Antwort geben können – die konnten höchs­tens sagen, „was nicht deutsch ist“ (nämlich z.B. die Franzosen, Polen, Engländer usw.). Es dürfte sinnvoller sein, die Denkkategorien des Gegners kritisch auseinanderzunehmen, anstatt sie „kritisch auf den Begriff zu bringen“. Dann würde man eventuell auch merken, wie hohl diese Kategorien sind. Es gibt kein „deutsches Wesen“, das „deutsche Volk“ ist eine Fiktion, die nur den Zweck hat, das gemeinsame Unterworfensein unter eine Staatsräson ideologisch zu überhöhen. Die Bundesrepublik Deutschland ist nichts Besonderes, sondern ein stinknormaler Nationalstaat. Dass dieser Staat noch immer existiert und dass man selber darin leben muss, ist Grund genug, um dagegen zu sein.

(justus)

 

(1) antide2009.blogsport.de/contributions/

(2) nokrauts.antifa.net/

(3) www.conne-island.de/nf/169/29.html

(4) www.conne-island.de/nf/133/3.html

Leipzig schwarz-rot (Teil 2)

Ein Rückblick auf 20 Jahre autonome Linke in Leipzig

In der unmittelbaren Nachwendezeit schien in der Hausbesetzer_innenszene, die sich vor allem in Leipzig-Connewitz konzentrierte, noch weitgehende Harmonie zu herrschen. Die städtischen Behörden versuchten, die um Legalität bemühten, im Verein Connewitzer Alternative organisierten „Instandbesetzer_innen“ in die eigenen Stadtentwicklungskonzepte einzubinden. Und auch die eher autonom-staatsferne, durch Punk und Hardcore sozialisierte Fraktion hatte von der in dieser Übergangsphase ohnehin überforderten Staatsmacht wenig zu befürchten. Die Bedrohung durch Neonazis war zwar allgegenwärtig, sorgte aber auch dafür, dass man sich nach innen umso enger zusam­menschloß. Die internen Widersprüche der „Szene“ wurden da nur zu leicht übersehen. Im November 1992 brachen sie dafür um so heftiger auf.

Eskalation

Als Katalysator fungierte dabei eine Gruppe von etwa einem Dutzend Teenagern zwischen 14 und 18 Jahren, die wegen ihrer Vorliebe für Autorennen mit gestohlenen Wagen die „Crashkids“ genannt wurden. Diese Clique hatte ursprünglich ein Haus in der Innenstadt besetzt, nach einem Neonaziüberfall zogen sie aber nach Connewitz um. Die „Crashkids“ waren Auslöser der Straßenschlacht in der Nacht vom 27. zum 28. November 1992, die einen wichtigen Wendepunkt für die Connewitzer Szene bedeutete.

Viele Details lassen sich dabei nur noch schwer rekonstruieren. Alles begann wohl damit, dass die „Crashkids“, nachdem sie im Pulk randalierend durch die Straßen gezogen waren, Ärger mit der Polizei bekamen. Sie holten Hilfe aus dem Zoro, wo eines Konzerts wegen gerade viele Leute vor Ort waren. Zur Eskalation kam es schließlich, als ein Jugendlicher von einer Polizistin angeschossen wurde. Dem zweifelhaft erscheinenden Polizeibericht zufolge waren die Beamten von einer ca. 30 Mann starken Gruppe mit Steinen und Molotow-Cocktails angegriffen worden. Die Polizistin hätte daraufhin zwei Warnschüsse abgegeben und einen der Angreifer in die Hüfte getroffen.

Die Nachricht von den vermeintlichen Todesschüsse verbreitete sich in Windeseile. An vielen Orten wurden Barrikaden errichtet, bis in die frühen Morgenstunden lieferten sich die Hausbesetzer_innen Scharmützel mit den Beamten. Am Ende der Nacht waren zwischen 200 und 400 Polizisten im Einsatz, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Ihnen standen ca. 1-200 „Autonome“ gegenüber. Die LVZ meldete 38 Verletzte, davon 24 Polizisten. Auch dieses Zahlenverhältnis wirkt nicht ganz glaubwürdig, denn auch die Polizei ging mit großer Härte vor, z.B. als sie im Laufe der Auseinandersetzungen das Zoro stürmte. Augenzeug_innen berichten, dass es dabei zu gezielten Misshandlungen der Gäste kam.

In der Hausbesetzer_innenszene kursierten nach der Straßenschlacht Gerüchte, die Polizei hätte es gezielt auf eine Eskalation angelegt. So seien auffällig rasch Hundertschaften als Verstärkung aus anderen Städten herbeigeordert worden. Diese Gerüchte sind wohl eher als Indiz für die aufgewühlte Stimmung nach den Ereignissen zu sehen. Andererseits ist die Existenz von Verschwörungstheorien noch kein Beweis dafür, dass es keine Verschwörung gab. Auch in diesem Fall gilt: Nichts genaues weiß man nicht.

Leipziger Linienziehungen

Die Straßenschlacht rückte die Conne­witzer Szene schlagartig in den Mittelpunkt des Interesses. Die LVZ übte sich in ihrem Kommentar in Ausgewogenheit: „Es spricht gegen die Connewitzer Alternativen, daß ihnen ein von einer Polizeikugel getroffener junger Mensch genügt, gleich einen Straßenkampf zu beginnen. Es spricht aber auch gegen die Polizei, mit einem sogenannten `Warnschuss` über­haupt jemanden zu treffen“ (LVZ, 30. 11. 92). Womöglich wäre die Partei­nah­me eindeutiger ausgefallen, wenn bei den Ausschreitungen nicht auch ein LVZ-Reporter von der Polizei zusammengeschlagen worden wäre: Er hatte Beamte dabei fotografiert, wie sie auf einen am Boden liegenden Hausbesetzer einprügelten.

Auch die in der LVZ zitierten Bürgerstimmen zeigten eine gespaltene Stimmung: Während manche hartes Durchgreifen forderten („Am besten alle alten Häuser hier abreißen, dann gibt es nichts mehr zu besetzen“), bekundeten andere ihre Sympathie für die „Autonomen“. Hinzu kamen diverse abwägende, zwischen „guten“ und „bösen“ Beset­zer­_innen trennende Äußerungen.

Eine weitere Folge der Straßenschlacht war die Gründung eines maßgeblich von örtlichen Geschäftsleuten getragenen Bür­ger­verein. Hauptakteur war dabei der Hotelbesitzer Frithjof Schilling, der in den folgenden Jahren einen wahren Kleinkrieg gegen die Connewitzer Szene führte. Erste Amtshandlung des Vereins war ein Offener Brief an den Oberbürgermeister, in dem erklärt wurde, die Einwohner_innen und Gewerbetreibenden in Connewitz seien nicht daran interessiert, mit „Chaoten und Kriminellen“ zusammen zu leben (LVZ, 19./20.12.92). Mit ähnlichen Briefen sollte Schilling auch künftig allen Verantwortlichen vom Stadtrat bis zur Landesregierung auf die Nerven gehen.

Unterdessen war auch die Stadtverwaltung nicht untätig. In der am 30.11.92 stattfindenden Krisensitzung des Stadtrats kristallisierte sich rasch die künftige „Leipziger Linie“ heraus. Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube brachte das Konzept in der LVZ vom 17.12.92 so auf den Punkt: „Mit friedfertigen Hausbesetzern schließt die Stadt Verträge ab, ein kriminelles Umfeld werden wir aber nicht dulden.“ Und weiter: „Wir unternehmen alles Notwendige, damit Connewitz nicht zum Zentrum alternativen Wohnens wird.“

Es ging also darum, eine Trennung von „gutwilligen“ Hausbesetzer_innen und „Gewalttätern“ zu erreichen. Dazu wurden zunächst einmal die Verhandlungen mit den in der Connewitzer Alternative organisierten Besetzer_innen forciert. Schon eine Woche später konnte Holger Tschense (damals Leiter des Amts für Wohnungswesen) erste Erfolge melden: „Sechs weitere Häuser haben die ihnen angebotenen Mietverträge (…) akzeptiert“. Entsprechend der Doppelstrategie der Stadt enthielten die Mietverträge eine Klausel, die die Bewohner_innen der Häuser verpflichtete, für die „Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ Sorge zu tragen – ansonsten drohte fristlose Kündigung. Um Neubesetzungen zu verhindern, wurde ab Januar 1993 damit begonnen, die Eingänge noch leerstehender Häuser in Conne­witz zu vermauern. Illegal besetzte Häuser sollten künftig sofort geräumt werden.

Polizei und Staatsanwaltschaft reagierten derweil auf ihre Weise. Drei Staatsanwälte wurden in den Wochen nach der Straßenschlacht für die Ermittlungen abkommandiert. Die Szene reagierte auf diese Entwicklungen u.a. mit der Gründung des Koordinierungsgruppenbüros (KGB), das für die Antirepressionsarbeit zuständig war.

Und auch auf Landesebene interessierte mensch sich für Connewitz. So wurde im Dezember 1992 eine interne „Arbeitsgruppe Connewitz“ im sächsischen Regierungspräsidium gebildet. Diese aus Leuten des Landeskriminalamts, der Landespolizeidirektion und der Staatsanwaltschaft bestehende „Expertenrunde“ machte sich für ein hartes Vorgehen gegen die Connewitzer Hausbesetzerszene stark. Wohl auch aus parteipolitischen Erwägungen heraus: Die CDU-Landesregierung glaubte wohl, im SPD-regierten Leipzig mit „law and order“-Parolen punkten zu können (LVZ, 23.8.1993).

Zerwürfnisse

Nur einen knappen Monat später sorgte ein weiteres Ereignis für Aufsehen: die Ermordung von Steffen Thüm (genannt Thümi) in der Nacht zum 23. Dezember 1992. Auch dabei spielte die Clique der „Crashkids“ eine eher unrühmliche Rolle. Ein Autodiebstahl brachte den Stein ins Rollen. Beim Besitzer des Wagens handelte es sich, wie die Polizei rasch ermitteln konnte, um einen an der Leipziger Uniklinik beschäftigten Arzt. Dieser hatte sich wegen des Autodiebstahls hilfesuchend an den Freund seiner Tochter gewandt, der gute Kontakte im kriminellen Milieu hatte. So kam es, dass in dieser Nacht eine Gruppe von etwa 15, laut LVZ mutmaßlich der Zuhälterszene zugehörigen Leuten zunächst in der Dürerstraße auftauchte, wo der gestohlene Wagen stand. Nachdem sie einen Hausbesetzer gekidnappt und in den Kofferraum gesperrt hatten, fuhr die Gruppe weiter in die Leopoldstraße, um dort einige der mutmaßlichen Autodiebe zu stellen. Auf den deswegen ausgelösten Alarm hin wollte Steffen Thüm (in der Annahme, es handele sich um einen der zu dieser Zeit üblichen Naziangriffe) mit einigen anderen Menschen zu Hilfe kommen. Die Angreifer flüchteten mit einem Auto, wobei sie mit einem Schnellfeuergewehr (!) aus dem Seitenfenster schossen. Steffen Thüm wurde dabei getroffen, er starb einige Stunden später an seinen Verletzungen.

Warum es zu diesem Zeitpunkt der Ereignisse zu einer solchen Eskalation kam, lässt sich heute nicht mehr klären. Die LVZ kolportierte Gerüchte, denen zufolge möglicherweise eine größere Menge an Drogen im Kofferraum des gestohlenen Wagens versteckt war. Die Autodiebe hätten das Paket gefunden und bei Seite geschafft. Die Angreifer hätten damit ein konkretes Eigeninteresse bei der ganzen Angelegenheit gehabt. Aber das bleibt Spekulation. Das 1994 eröffnete Gerichtsverfahren gegen die drei Hauptverdäch­tigen verlief schließlich im Sande.

Die Connewitzer Alternativen hatten sich schon nach der Straßenschlacht um eine Distanzierung von den kriminellen „Crashkids“ bemüht. Der Mord an Steffen Thüm brachte das Fass nun zum Überlaufen: Auf einem kurz nach dem Mord einberufenen Plenum wurde beschlossen, selbst aktiv gegen die Autodiebe vorzugehen, sie also aus dem Viertel zu vertreiben. Das führte immer­hin dazu, dass sich die Clique zerschlug und auf verschiedene Häuser verteilte.

Die Straßenschlacht und der Mord an „Thümi“ machten auch die internen Widersprüche der „Szene“ sichtbar. Je nachdem konnten sich mit den Hausbesetzun­gen schließlich ganz unterschiedliche Zielsetzungen verbinden – für die einen nur ein Mittel an billigen Wohnraum zu kommen, für die anderen ein politischer Akt, ein bewusster Angriff auf die geltende Eigentumsordnung. Daraus folgten je nachdem auch ganz unterschiedliche Strategien z.B. beim Umgang mit der Staatsmacht. Jetzt kam es zu einer stärkeren Polarisierung zwischen „Pazifisten“ und „Militanten“, Alternativen und Autonomen. Während für die einen die Straßenschlacht den „Mythos Connewitz“, die Überzeugung von der eigenen Militanz und Schlagkraft begründete, verstärkten die anderen die Kooperation mit den Behörden und bemühten sich um ein sauberes Image.

Trotz aller Diskrepanzen innerhalb der „Szene“ ging die von den Behörden verfolgte Strategie der Spaltung aber nicht ganz auf. Die „Leipziger Linie“ brachte nämlich auch für die um Legalität bemühten Projekte Probleme mit sich. Schuld daran war die städtische Dezen­trali­sierungspolitik. Der „Hausbeset­zungs-Ballungsraum Connewitz“ sollte aufgelöst, die einzelnen Projekte auf andere Gegenden der Stadt verteilt werden. Die Be­setzer_innen mussten also zu Recht um den Erhalt ihrer Häuser bangen. Mehr oder weniger notgedrungen rauf­te mensch sich also immer wieder zusammen. Aber dazu mehr im nächsten Heft…

(justus)

Plaque e.V. kauft Industriestraße 101

27. Oktober, 11 Uhr, Amtsgericht Leipzig, Raum 101:

Die zweite Zwangsversteigerung (1) von Haus und Hof in der Industriestraße 101 beginnt und im Laufe der Verhandlung wird sich der Gerichtssaal noch mit ca. 30 Bewohner- und Unter­stützer_innen des linken Hausprojektes Plaque füllen. Der junge Herr Vorsitzende betet die Formalitäten im teilweise kryptischen Amtsdeutsch runter, Rechtsanwalt und Gläubigervertreter Günter von der Florian Vermögensgesellschaft lächelt immer wieder verschmitzt in die Zuschauerrunde und Zwangsverwalter Helmut kommt 10 Minuten zu spät.

Es ist sehr still im Raum als um 11:12 Uhr die auf eine halbe Stunde angesetzte Versteigerung ihren Anfang nimmt. Das große Warten beginnt und es wird unruhig im Saal. Ein Vertreter des Vereinsvorstandes muss vortreten und Unterlagen wie Bürgschaft und Auszug aus dem Vereinsregister etc. vorlegen. Um 11:30 Uhr wird dann das Gebot des Vereins bekannt gegeben: 100.000 Euro. Die Nervosität wächst und die Frage, ob nun noch andere Mitbieter zu dieser Versteigerung erscheinen werden, hängt schwer und unausgesprochen in der Luft. Um 11:43 fällt endlich der (imaginäre) Hammer – verkauft! Herzlichen Glückwunsch lieber Plaque e.V., Ihr seid neuer Hausbesitzer und Eigentümer.

RM943

Eigentlich wäre das Plaque im Oktober diesen Jahres bereits mutige 15 Jahre alt geworden. Von Frühjahr bis Herbst 1994 kam es zu einer Besetzung der Häuser in der Aurelienstr. 56-58, gleich hinterm heutigen Jahr­tau­send­feld und so im Grenzbereich Plagwitz/Lindenau im Leipziger Westen. Die neuen Bewohner­innen der zuvor leer stehenden Altbauten wollen zusammen leben und gründen den Verein RM943 e.V. Sie richten Werkstätten, Kneipe und Lesecafé ein, veranstalten Konzerte und suchen jenseits der starken Naziaktivitäten in Grünau, bürgerlichen Einzimmerwohnungen sowie Conne Island in Connewitz sich selbst zu finden.

Was fehlte und auch nicht vermisst wurde, machte den ca. 14 Be­wohn­er_innen letztlich doch den Strich durch die Rechnung. Unerwartet und unvorbereitet wurden sie am frühen Morgen des 20. Oktober 1994 mit gezogener Waffe aus dem Bett gezerrt, eingefahren, ED-be­handelt und erst am Abend wieder frei ge­lassen. Ganz in jämmerlicher Manier der Leip­ziger Linie fand diese Hausbe­setzung so ein abruptes Ende. Anklagen auf Haus­friedensbruch, illegalen Gast­stätten­betrieb, Ruhestörung usw. folgten.

Was blieb, war die Verhandlungsbereit­schaft der Stadt, die dem Verein Ausweichobjekte anbot. Einige Ex-Besetzer_innen entschieden sich nach Connewitz zu ziehen, andere wollten in Plagwitz bleiben und auch den Verein nicht aufgeben und zogen so im April 1995 in das LWB-verwaltete Haus in der Industriestraße 97 ein. Aus RM943 wurde das Plaque.

1995 – 2010

Der erste Cafébetrieb fand im Keller des Hauses statt und erst ab Mitte 1996 im Erdgeschoss. Es war der Ort, wo über die Zeit die legendären Halloweenparties und Bingonächte, der Suppendienstag und Punkertresen ihren Anfang nahmen. Ansonsten waren die ersten Jahre mehr braun als rosig. Mindestens drei Mal schafften es Nazis sogar bis in’s Haus hinein. Das Café und auch die Wohnungen wurden verwüstet und nicht nur nagelneue Springerstiefel geklaut. Die Stahltür im unteren Hausflur, Fensterläden und Plexiglas im Erdgeschoß waren daraufhin nur eine Konsequenz. Heldenhaft wurde sich weiter – und nicht nur vor dem Plaque – den Nazis in den Weg gestellt.

Weniger Stress gab es mit der LWB, die all die Jahre keine wirkliche Rolle spielten, außer dass sie wahrscheinlich froh war, die eine oder andere Miete der 6-11 Bewohner_innen zu verzeichnen. Diese versuchten aber schon damals von der LWB weg zu kommen. Das Thema Hauskauf kam immer wieder zur Sprache. Es gab Optionen wie Erbpacht und Zusammenarbeit mit der Connewitzer Genossenschaft, doch konnten diese nie umgesetzt werden.

Haus und Hof in der Industriestr. 97 schien auch nicht so optimal zu sein. Der Riss in der Wand des Hausflures wurde stetig breiter und war nur eine Baustelle im Haus, die durch Reparaturmaß­nahmen vom Vermieter hätte behoben werden müssen. Ende des Jahres 2005 war es dann soweit, dass aufgrund maroder Bausubstanz und akuter Einsturzge­fährdung die LWB das Mietverhältnis auflöste. Auch wenn diese Ausweichobjekte anbot, wurde das neue Plaque eher aus Eigeninitiative zwei Häuser weiter in der Industriestr. 101 gefunden.

Bereits seit dem Jahr 2000 stand dieses Haus leer. Der ehemalige Eigentümer hatte sich damals (wohl nicht nur im Immo­bilienhandel) verspekuliert und ist heute mit 1,5 Millionen Euro bei der Bank verschuldet. Im Laufe der Zeit soll es zwar andere Kaufinteressenten gegeben haben, die jedoch in den laufenden Zwangs­versteigerungsverfahren nie mitgeboten haben. Der Verkehrswert lag bei 250.000 Euro, doch letztlich und glücklicherweise erhielt der Plaque e.V. mit einem 100.000-Euro-Gebot (2) den Zuschlag.

Wie geht’s also weiter? Die 100.000 müssen bis Anfang Dezember überwiesen sein. Damit nicht genug, kommen noch Zinsen, Gerichtskosten, Versicherungsgebühren sowie allgemeine Erwerbskosten wie für Notar und Grundbucheintrag hinzu. Vielleicht müssen ja die Mieten erhöht oder mehr Konzerte, Voküs, Bingonächte oder politische Veranstaltungen organisiert oder einfach mehr Bier getrunken werden. Wichtig ist erst mal, dass es auch weiterhin „Willkommen im Plaque“ heißt – ob nun zum Sonntagsfrühstück von 12-16 Uhr oder abends zur Vokü, zum Suppendienstag, Punkertresen am Mittwoch, Edelvokü jeden Donnerstag jeweils ab 20 Uhr oder zu den nun auch zukünftig stattfindenden Tanzflächen, Bühnen­shows, Zockerfreuden und Trinklaunen.

(droff)

(1) Dies war bereits der 3. Termin im letzten Zwangsversteigerungsverfahren. Die ersten Verfahren liefen ohne Beteiligung des Plaques und wohl ohne jegliche Kaufinteressent_innen.

(2) Ein erster Ersteigerungsversuch scheiterte Anfang April 2009, da der einzige Bieter Plaque mit 95.000 Euro unter dem Min­dest­ge­bot lag und so das Angebot ab­ge­lehnt wurde. Der nächste Termin am 10. August wurde vom Gericht verschoben, weil ein Brief an den Eigentümer nicht zugestellt werden konnte.

Widerstand an der Uni Leipzig

Der Bildung in Deutschland geht es schlecht. Die Bildungspolitik ignoriert die Notwendigkeit von freier und selbstbestimmter Bildung für die geistige Entwicklung einer Gesellschaft. Und nicht nur an den Schulen, sondern eben auch an den Universitäten fehlen die Mittel und der Wille, um qualitativ hochwertige Wissensvermittlung zu organisieren. Die soziale Selektion des Bildungssystems wird nicht bekämpft, sondern durch die geplanten und teilweise schon umgesetzten Studiengebühren weiter verschärft. Die Kürzung der öffentlichen Mittel und Ausrichtung auf wirtschaftliche Verwertbarkeit gestaltete die Bologna-Reform (1), die einen europäischen Bildungsraum schaffen soll. Diese sollte den wissenschaftlichen Austausch erleichtern, aber durch eine mangelhafte und überstürzte Umsetzung sorgte sie für eine Verschulung des Studiums, brachte hohe Kosten mit sich und gestaltete das Studiensystem insgesamt nach ökonomischen Kriterien um. Dagegen regte sich in ganz Europa Widerstand, an zahlreichen Universitäten gab es Aktionen und Besetzungen, so auch in Leipzig.

Rektoratsbesetzung

Der fulminante Auftakt der Proteste im Wintersemester 09/10 war am 23. November die Besetzung des Rektorats, der durch die zeitgleich in Leipzig stattfindende Hochschulrektorenkonferenz (HRK) (2) maximale mediale Aufmerksamkeit zuteil wurde. Geplant war, durch die Blockierung des Rektorats Druck auszuüben, um die Erfüllung von neun Forderungen (siehe Kasten) durchzusetzen, die im Vorhinein ausgearbeitet worden waren. Die Forderungen bezogen sich in erster Linie auf die Verhältnisse an der Uni Leipzig und ihr konkret umsetzbarer Inhalt lag hauptsächlich in der Kompetenz des Rektorats.

Während der vorherigen Besetzung, die eher nach dem Motto „der Weg ist das Ziel“ verlief, wurde sich Zeit genommen, um über die eigene Situation und die Ursachen der Probleme (3) zu reflektieren. Dadurch wurde der Protest allerdings von außen meist als ziellos wahrgenommen. Demgegenüber wurde nun versucht, sich mit konkreten Forderungen an die Verantwortlichen zu wenden, um zu verhindern, dass die Verantwortung einfach auf andere Ebenen abgeschoben werden kann.

Um eine Eskalation, bzw. die sofortige Räumung zu verhindern, verzichteten die BesetzerInnen darauf, sich direkt im Büro des Rektors niederzulassen und bezogen Stellung im Vorraum, was zur Folge hatte, dass sie trotz der unmittelbaren Nähe doch recht wenig störten. Die Arbeit der Rektoren und ihrer Sekretärinnen  ging hinter geschlossenen Türen weiter, die Studierenden wurden schlicht ignoriert.

Weitestgehend ignoriert wurde auch die Demonstration „Keine Stimme ohne uns – Für eine demokratische Bildungspolitik“, die am Dienstag, dem 24. November, vor dem Rektorat startete und mit ca. 5000 Studierenden durch die Innenstadt zog, die auch mit Bussen aus Mannheim, Frankfurt, Dresden und anderen Städten gekommen waren. Nicht zu ignorieren waren allerdings die ca. 10 Protestierenden, die sich Zugang zu der zeitgleich stattfindenden abschließenden Pressekonferenz der HRK verschafften. Dort vertraten sie lautstark die Forderungen der Demonstrierenden nach mehr Mitbestimmung und gegen den Anspruch der RektorInnen, die Hochschulen alleine vertreten zu können.

Am Donnerstag, dem vierten Tag der Besetzung, änderte sich die Situation, als der Zugang zu den Räumen des Rektorats komplett blockiert wurde. Am Mittag wurde dann die Stellungnahme des Rektorats zu den Forderungen bekannt. Während einige Forderungen mehr oder weniger ignoriert wurden, wurde auf andere positiv eingegangen und geplant, konkrete Maßnahmen zu ergreifen. Die Besetzung hatte also ihr Ziel zumindest teilweise erreicht. Am Freitag wurde das Rektorat dann verlassen. Nach dem Wochenende traf sich „der Protest“ jedoch nicht wie ursprünglich geplant in einem besetzten Hörsaal, sondern in den vom Rektorat überlassenen Räumen: dem ehemaligen Sitz des studentischen Radio Mephisto. Die Räume waren einerseits legal und dadurch nicht so kraftraubend, andererseits eröffneten sie auch keine Perspektive, denn die Nutzung war auf zwei Wochen beschränkt. Durch diese Maßnahme der Befriedung wurde es viel ruhiger, – um nicht zu sagen still – um den Protest, zumindest in der Wahrnehmung von außen. Die Arbeitskreise arbeiteten weiter, autonomer und dadurch auch dynamischer, allerdings auch personell ausgedünnt, da der Status der Duldung und die Arbeit im Hintergrund wohl nicht mehr so faszinierend waren wie eine spannende Besetzung. Unter anderem wurde an der Vorbereitung der studentischen Vollversammlung (VV) gearbeitet, die dann am 14. Januar bei eisiger Kälte im Innenhof des Innenstadt-Campus stattfand. Außer der Verabschiedung neuer Forderungen (4) und dem Beschluss, zu Beginn des nächsten Semester eine weitere VV abzuhalten, brachte die VV keinen neuen Schwung. Die ca. 600 BesucherInnen waren leider nicht für weiteres konkretes Vorgehen mobilisierbar. Auch kam es nicht zu einer neuerlichen Besetzung, da wiederum befristete Alternativräume gewährt wurden. Diesmal in der Jahnallee, deren Entfernung vom Campus auch ein Grund für die mangelnde BesucherInnenzahl darstellen könnte. Dort wurde also im kleinen Kreis weitergearbeitet und unter anderem ein Vernetzungstreffen der Protestgruppen aus Jena, Halle, Merseburg und Dresden abgehalten. Im nächsten Semester soll es dann weitergehen, geplant ist ein selbstverwaltetes „Studierenden-Café“ auf dem Campus Augustusplatz. Dieses soll als eine politische Alternative zu den Cafeterien dienen und die Möglichkeit zu kritischer Reflexion beim gemütlichen Kaffee geben.

Eine Bilanz

Der Protest ist also noch nicht ganz abgeebbt, durch eine kleine Anzahl Unermüdlicher artikuliert sich die Unzufriedenheit vieler. Unter anderem gehört dazu auch die Bildungsstreik-Gruppe (5), eine bundesweite Initative, die sich auch um die Vernetzung mit SchülerInnen und „dem Rest“ der Gesellschaft bemüht. Das sich angesichts der massiven Probleme, europaweit und an der Uni Leipzig, nur eine handvoll Menschen auch wirklich engagiert, ist allerdings nicht nur ein Problem der Trägheit der Masse. Schon die Besetzung von 5 Räumen des neuen Seminargebäudes im Sommersemester 2009 sorgte durch endlose Diskussionen in überfrachteten Plena für viel Frust. Durch die Entscheidungsfindung im zentralisierten Plenum entstanden langwierige Diskussionen, die sich durch eigentlich ordnende Elemente wie Anträge noch künstlich verlängerten. Dies führte dazu, dass trotz des Willens zum Konsens, faktisch oft durch Abstimmungen entschieden wurde. Dieses Problem spitzte sich bei der Rektoratsbesetzung durch den Druck der direkten „illegalen“ Aktion extrem zu. Dadurch wurde der Besuch der Plena eher zu einem ermüdenden als energetisierenden Erlebnis, was natürlich extrem abschreckend wirkte. In der Mitte der Besetzung war dann die Frustrationsgrenze erreicht, was dazu führte, dass Entscheidungsbefugnisse in die jeweiligen Arbeitskreise, die zu speziellen Problemstellungen arbeiteten, abgegeben wurden. Damit konnte nicht nur das Plenum endlich flüssiger und dynamischer ablaufen, sondern auch die Arbeitskreise gewannen an Attraktivität, da sie nicht mehr nur dem Plenum zuarbeiteten, sondern selbst Entscheidungen treffen konnten.

In diesem Sinn gab es eine interne Weiterentwicklung die sich hoffentlich fortsetzen wird. Mit einem „Protest-Café“ würde endlich eine notwendige räumliche Basis geschaffen werden, die hoffentlich nicht zum Selbstzweck werden wird. Auch andere Projekte wie die erfolgreiche Veranstaltungsreihe „Kritik.Los!“ und verschiedene kleinere kritische Seminare, sind lokale Früchte der StudentInnenbewegung. Auch sind vielversprechende Ansätze von studentischer Organisierung entstanden, vor allem an kleinen Fakultäten, wie zum Beispiel bei den EthnologInnen.

Insgesamt passiert also durchaus einiges abseits vom „Kernprotest“. Ob die Bewegung insgesamt eine emanzipatorische Entwicklung annehmen kann, ist angesichts der meist reformistischen Forderungen sehr fraglich. Vielen protestierenden Studierenden geht es wohl mehr um den Erhalt des Status Quo, als um einen Widerstand gegen die kapitalistischen Zumutungen, die eben auch vor den Universitäten nicht halt machen.

(konne)

 

Der Blog der aktuell Protestierenden: unile.blogsport.de

(1) Darstellung der Reform und Kritik daran: wiki.bildungsserver.de/index.php/Bologna-Prozess

(2) Bundesweites regelmässiges Treffen aller HochschulrektorInnen. Sie versteht sich als Sprachrohr aller Hochschulen, befürwortet Studiengebühren, die elitäre Exzellenzinitiative und die Bologna-Reformen. Siehe bildungspolitik.bplaced.net/bildungsstreik-herbst-09/aktionen/hochschulrektorenkonferenz/

(3) Alles vom und über den damaligen Protest unter protesttage.blogspot.com

(4) zu finden unter www.stura.uni-leipzig.de

(5) bildungsstreik.tumblr.com

 

Die BesetzerInnen forderten:

1. Keine allgemeinen und/oder versteckten Studiengebühren.
2. Umfassender Bestandsschutz für die auslaufenden Studiengänge.
3. Garantie für die Studierbarkeit der neuen Studiengänge (Studierbarkeit des Wahlbereichs und Möglichkeit eines Nebenfaches mit Abschluss für alle Studierenden).
4. Bereitstellung selbst verwalteter studentischer Räume.
5. Reduzierung der Prüfungslast, Abschaffung von Multiple-Choice-Klausuren, Verbot von Anwesenheitskontrollen.
6. Erhalt und Ausbau der “kleinen Fächer” zur Wahrung der Fächervielfalt.
Umgehende Besetzung aller Lehrstühle.
7. Ein/e studentische/r Konsul/in als studentische Vertretung mit Antrags- und Rederecht im Rektorat und Hochschulrat, der/die bei allen Sitzungen anwesend sein muss.
8. Einstellung der HRK-Finanzierung von Seiten der Universität.

Wir fordern vom Rektorat eine sofortige, schriftliche Positionierung und eine umgehende Umsetzung der Forderungen! Bereits mehrmals hat sich das Rektorat undemokratisch verhalten, leere Zusagen gemacht und auch die Beschlüsse des Senats ignoriert. Sollte das Rektorat den Forderungen seiner Studierenden nicht nachkommen, verlangen wir dessen Rücktritt.

Das Rektorat antwortete:

Das Rektorat antwortete überwiegend positiv. Jedoch wurde durch Formulierungen wie „nach Möglichkeit“ und „bei Fehlentwicklungen Abhilfe schaffen“  versucht, Probleme zu Ausnahmefällen umzuinterpretieren und auf aktuell schon stattfindende Prozesse verwiesen, die Lösungen bringen sollen. Ganz allgemein „begrüßt [das Rektorat] studentisches Engagement, das zur Problemlösung beiträgt“, ist aber anscheinend nicht dazu bereit Fehlentscheidungen einzugestehen und bestehende Probleme konkret als solche zu benennen.

Die Forderungen und die komplette Antwort des Rektorats unter: unile.blogsport.de/allgemeines/

Globalisierungskritik goes to Hollywood

Seit sechs Jahren findet nun schon das alljährliche globalisierungskritische Filmfestival globaLE statt. Dieses geht auf das gleichnamige Filmfestival in Berlin zurück und übernahm anfänglich das Berliner Programm eins zu eins. Seit ein paar Jahren jedoch stellt das Leipziger Team ein eigenes Programm zum Thema Globalisierung zusammen.

Auch diesen Herbst werden wir wieder Filme und Dokumentationen in die Leipziger Kinos bringen. Denn nicht jeder Kinobesuch muss zwangsläufig eine seichte Berieselung mit Hollywood-Blockbustern oder experimentellen Kunstfilmen zur Folge haben. Zwar gibt es in Leipzig so einige Filmfestivals (z.B. Französische und Argentinische Filmtage, DOK), aber keines greift mit seiner Filmwahl so viele Facetten des Weltgeschehens auf wie die globaLE. Außerdem: Wer sah sich nicht schon mit der Frage konfrontiert, ob ein Besuch bei den genannten Festivals denn finanziell überhaupt machbar ist? So verlockend das Programm des kommerziellen Kinos auch sein mag, Eintritt kostet jeder Kinobesuch. Weil wir überzeugt sind, dass Teilhabe am politisch-kulturellen Leben das Recht jedes Menschen ist und nicht vom Einkommen abhängen soll, ist der Eintritt zu den globaLE-Veranstaltungen frei. Die Unterstellung, dass „was nichts kostet nichts wert ist“ gehört ja genau zu den neoliberalen Denkweisen, die im Widerspruch zur Realität stehen, wie Linux-User oder Studierende in Sachsen bei allen Vorbehalten sicherlich am besten wissen.

 

Die globaLE ist auch mehr als reines Politkino in konsumptiver Form. Im Anschluss an die Filmvorführungen bieten ReferentInnen die Möglichkeit, das Thema des Abends kritisch zu diskutieren. Sei dies nun der Zugang zu AIDS-Medikamenten, die Folgen von Massentourismus, der Kampf gegen Konzerne oder die politische Lage in der Kaffee-Region Chiapas (Mexiko): Die globaLE ist stets bemüht, dem Publikum die Verhältnisse in anderen Teilen der Welt nicht nur konsumptiv näher zu bringen. Mit externen ReferentInnen kann das Publikum diskutieren und sich so mit der Thematik des Films näher auseinandersetzen. Auch dies unterscheidet die globaLE von anderen Medien-Spektakeln. Denn eine allabendliche Portion von Desastern und Katastrophen kann sich jedeR bei der Tagesschau um 20:00 Uhr abholen und (damit sich jedeR gleich besser fühlt) im Anschluss etwas für die Opfer der Flutkatastrophe in Pakistan spenden. Da jedoch gesellschaftliche Veränderung nicht ausschließlich über das Unicef-Konto laufen muss oder alle vier Jahre denen vorbehalten ist, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, stellt die globaLE auch immer wieder Organisationen und Initiativen vor, die sich global oder vor Ort der neoliberalen Globalisierung entgegenstellen.

 

So ist Widerstand eines der immer wiederkehrenden Themen, welches von der globaLE in diesem Sommer, mit ihrem monatlichen Programm der globaLE Zwischendurch, aufgegriffen wurde. Am 15. September 2010 zeigte die globaLE den Film „Battle in Seattle“ von Stuart Townsend. Der Titel spricht für sich. Die meisten werden schon einmal von den Protesten gegen die in Seattle stattfindenden Konferenz der Welthandelsorganisation WTO vor nunmehr 11 Jahren gehört haben. Die Proteste werden heute als Startpunkt der globalisierungskritischen Bewegung bewertet. Aber wer weiß schon noch, dass sich in den Tagen vom 30 November 1999 bis zum 4. Dezember 50.000 Protestierende (1) in Seattle einfanden, um ihrem Unmut gegenüber der WTO und deren neoliberaler Politik Ausdruck zu verleihen? Im Gedächtnis geblieben sind die Ereignisse wohl vor allem durch das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen die größtenteils friedlichen Demonstranten (2). Selbst der Ausruf des Notstandes und eine Ausgangssperre konnten nicht verhindern, dass Delegierte am Betreten des Konferenzgebäudes gehindert wurden. Am Ende scheiterten die WTO-Gespräche, was nicht nur den Protesten geschuldet war, sondern auch der afrikanischen Delegation (3) und deren Verärgerung über die Green Room Meetings (4).

 

Der irische Schauspieler und Regisseur Stuart Townsend verfilmte 2007 die Ereignisse als fiktionalisiertes Hollywood-Spektakel. Der Film erzählt die Geschichte der WTO-Konferenz und der Proteste durch verschiedene Protagonisten: dem damaligen Bürgermeister von Seattle, dem Polizeichef Norm Stamper, diversen WTO-Delegierten und natürlich den Protestlern. Schon  in den Wochen und Monaten nach den Protesten gab es Kritik an der medialen Darstellung von „Seattle“. Bemängelt wurden vor allem die einseitige und verkürzte Berichterstattung über die Gewaltausschreitungen und den Vandalismus. Dass vereinzelt Scheiben zu Bruch gingen, ist unbestritten, war jedoch nur ein Teilaspekt. Und dabei Anarchisten und den Schwarzen Block in einen Topf zu werfen, entwirft ein verqueres Bild der Ereignisse. Ebenso geriet der Mythos von einer spontanen Rebellion in die Kritik, da dieser z.B. die Organisationsarbeit des Direct Action Network im Vorfeld der Proteste ignoriert (5).

 

Auch der Film „Battle in Seattle“ geriet für die Darstellung der Aktivisten in die Kritik. Denn wenn dort z.B. eine Aktivistin gezeigt wird, die die Versuchslabore ihres Vaters niederbrennt, erscheint ihr Protest gegen die WTO eher als Resultat eines Elektra-Komplexes und weniger als (eventuell berechtigte) Kritik an der undemokratischen Institution der WTO und ihrer neoliberalen Politik. So reproduziert der Regisseur, obwohl er die mediale Ausblendung der Hintergründe im Film zu thematisieren versucht, genau diese. Ebenso fehlt im Film jeglicher Verweis darauf, dass die Proteste nicht nur von Gruppen aus dem globalen Norden getragen wurden, sondern sich auch zahlreiche Gruppen aus dem globalen Süden durch das Netzwerk People’s Global Action daran beteiligten (5).

 

Zugegebenermaßen ist „Battle in Seattle“ keine Dokumentation der Ereignisse, sondern ist und bleibt ein Spielfilm. Wer sich also Unterhaltung mit einem Hauch von Globalisierungskritik wünscht, dem/der sei dieser Film wärmstens empfohlen. Doch neben seichter Unterhaltung bot die Veranstaltung auch Raum für Reflexion. Als Referentin war Friederike Habermann eingeladen, die als Teilnehmerin der Proteste etwas zu den Ereignissen erzählen konnte. Wie üblich bei der globaLE wurde im Anschluss an den Film über das Thema diskutiert. Denn der Film ließ viele Fragen offen, und eine kritische Auseinandersetzung mit der „Hollywoodisierung“ der globalisierungskritischen Bewegung ist wünschenswert und notwendig.

 

Wer die Veranstaltung verpasst oder Lust auf mehr hat, kann sich nun auf den Herbst freuen. Denn von Oktober bis Dezember findet die globaLE wieder im Wochenturnus statt. Geboten werden  Dokumentationen zu Themen wie Fabrikbesetzung, Gated Communities, Ölsand-Abbau in Kanada,  Uranmunition im Irak, Formen des Widerstands gegen den G8-Gipfel in Göteborg und Gentrifizierung in Hamburg. Wieder einmal sollen Themen kritisch beleuchtet werden, die es sonst nicht in die Schlagzeilen schaffen. Der Einsatz von Uranmunition im Ersten Golfkrieg und dessen Auswirkungen werden zum Beispiel auch der/m einen oder anderen Indymedia-LeserIn noch unbekannt sein. Und was der Abbau von Teersand in Kanada (dessen Prozess im Vergleich zu konventionell gefördertem Öl drei- bis fünfmal so viel Treibhausgase entstehen lässt) mit kapitalistischen Produktionsweisen zu tun hat, ist außerhalb von klimapolitischen Kreisen wohl wenig bekannt. Von Gated Communities haben dagegen vielleicht schon einige gehört. Jedoch ist diese Entwicklung nicht nur durch Sicherheitsrisiken bedingt. Vielmehr spiegelt sie die Realität einer Gesellschaft wieder, in der sich die mit dem nötigen Kleingeld in von Armut und Gewalt abgeschirmte Enklaven zurückziehen können. Auch der Film über die Werkschließung eines deutschen Konzerns in Mexiko und die folgende Mobilisierung der Belegschaft wirft Fragen auf, die es mit dem Publikum zu diskutieren gilt. Denn eine selbstverwaltete Fabrik in den Händen der Angestellten ist nicht frei von Problemen, auch sie muss sich der Logik des kapitalistischen Marktes beugen. Zum selben Thema gibt es auch einen Film aus Lateinamerika, wo in den Favelas von Venezuela Konzepte für die konkrete Umsetzung von der Idee der Selbstverwaltung entwickelt werden. Doch auch in Deutschland passiert so einiges: Zwei Filme, einer aus Berlin und einer aus Hamburg, fragen kritisch, wem die Stadt eigentlich gehört und wer entscheidungsberechtigt ist. Wer die globaLE aus den Jahren davor kennt, kann erahnen, dass das Team aus Ehrenamtlichen sich wieder bemüht hat, die Vielschichtigkeit der Globalisierung deutlich zu machen. Auch wenn der Fokus der globaLE10 auf dem Thema Stadt, Stadtentwicklung und Freiräume liegt, ist die diesjährige globaLE kein rein „urbanes“ Filmfestival. Denn neben Filmen wie Empire St. Pauli, Communa under construction oder RAW. Wir sind gekommen um zu bleiben wird mit umweltpolitischen und sozialen Themen die ganze Bandbreite der Globalisierung abgedeckt. Dabei wird deutlich, dass urbaner Raum, Ressourcen-Nutzung und soziale Auseinandersetzungen eng miteinander verknüpft sind.

 

Für alle, die im Detail wissen möchten, welche Filme die globaLE diesen Herbst in die Leipziger Kinos bringen wird, haben wir hier noch das Programm. Wer weiterhin auf dem Laufenden gehalten werden möchte, kann sich auch auf der Webseite www.globale-leipzig.de informieren oder in unseren Newsletter aufgenommen werden, dazu einfach eine Email an infos@globale-leipzig.de senden.

Euer globaLE-Team

 

(1) Schätzungen reichen von 40.000 bis 75.000. Siehe de.wikipedia.org/wiki/Ministerkonferenz_der_Wirtschafts_und_Handelsminister_der_WTO_in_Seattle_1999. Die Zahl 50.000 ist folgender Webseite entnommen: realbattleinseattle.org/node/70

(2) democracynow.org/2008/9/18/battle_in_seattle_with_a_list

(3) Patrick Bond: „From Seattle to Copen-hagen. Will African again block a bad deal?“ Siehe zeitschrift-luxemburg.de/?p=427

(4) Green room bezeichnet im WTO-Jargon ein besonders informelles Verhandlungsforum, das in einem unbekannten Raum und in unbekannter Zusammensetzung tagt, um problematische Fragen zu besprechen. Siehe germanwatch.org/pubzeit/z10green.htm

(5) David & Rebecca Slonit „The battle of the story of the battle of Seattle“ 2009 AK Press

Neue Kameras im Leipziger Osten

Seit dem 8. September wird ein weiterer öffentlicher Platz in Leipzig von der Polizei videoüberwacht. Zu den bisher vier Kamerastandorten in Leipzig ist damit ein fünfter an der Kreuzung von Eisenbahn- und Hermann-Liebmann-Straße hinzugekommen. Begründet wird dies damit, dass die Eisenbahnstraße ein „Kriminalitätsschwerpunkt“ sei, insbesondere was Drogendelikte angeht (siehe FA!#34).

Mit der Installation von zwei Kameras im Kreuzungsbereich will die Polizei einer „offenen Rauschgiftanbieterszene entgegenwirken“, also Dealer_innen und Konsument_innen in andere Gegenden verdrängen. Zusätzlich verweist sie wie üblich auf das „Sicherheitsgefühl“ der Bürger_innen, das durch die Kameras angeblich verbessert würde. Als Beleg dafür, dass Videoüberwachung nicht nur die „gefühlte“, sondern auch die reale Sicherheit erhöht, werden Statistiken in´s Feld geführt, denen zufolge z.B. die Zahl der Einbruchsdiebstähle aus Kraftfahrzeugen im Umfeld des Leipziger Hauptbahnhofes von 807 im Jahr 1996 auf 33 im Jahr 2008 gesunken sei. Wobei diese Statistiken freilich von der Polizei selbst erstellt wurden und schon deswegen nicht sehr aussagekräftig sind.

Zeitgleich zur Installation der Kameras führte die Polizei „eine großangelegte Komplexkontrolle mit eigenen Kräften sowie einer Hundertschaft der Bereitschaftspolizei durch“ (1). Um die Notwendigkeit der neuen Kameras propagandistisch zu untermauern, „wurde der Fahr­zeug­verkehr auf der Eisenbahnstraße in den Zeiten, 10.30 Uhr bis 11.45 Uhr und 13.00 Uhr bis 14.30 Uhr, im Bereich der Hermann-Liebmann-Straße umgeleitet. Die (…) Kontrollen richteten sich ausschließlich gegen Personen, die augenscheinlich der Rauschgiftszene zugeordnet werden konnten.“ 214 Leute wurden so überprüft und gefilzt, bei 11 davon wurden „Betäubungsmittel zum Eigenbedarf“ gefunden. „Weiterhin konnten zwei Drogendealer mit zum Straßenverkauf abgepackten Heroineinheiten sowie szenetypischem Bargeld von über 1.200 Euro vorläufig festgenommen werden.“ Das dürfte reichen, um kritische Nachfragen zu unterbinden…

(justus)

 

(1) www.polizei.sachsen.de/pd_leipzig/4799.htm

Kürzen für Leipzig

Auf 5% des Leipziger Kulturetats sollten die Fördermittel für die Freie Szene bis zum Jahr 2013 angehoben werden. Dieser Forderung der Initiative Leipzig + Kultur hatte auch der Stadtrat im September 2008 zugestimmt und eine schrittweise Erhöhung der finanziellen Unterstützung für freie Kulturprojekte beschlossen (siehe FA! #31). Ende gut, alles gut, könnte mensch meinen.

Aber das Leipziger Kulturdezernat verfolgt offensichtlich andere Ziele. Einer von Leipzig + Kultur herausgegebenen Pressemitteilung (1) zufolge plant das Amt für 2010 eine Kürzung der Fördergelder, ohne dies allerdings offen zuzugeben. Im Gegenteil soll „die reale Kürzung verschleiert und durch Haushaltstricks als Erhöhung dargestellt“ werden, wie die Initiative schreibt. So würden sechs Einrichtungen, die mit einer eigenen Haushaltsstelle schon gesondert im Leipziger Verwaltungshaushalt auftauchen, in die Berechnung mit einbezogen. Dazu zählen u.a. der Freundeskreis Gohliser Schlösschen e.V. und der Bürgerkomitee Leipzig e.V. (der Trägerverein des Stasi-Museums in der „Runden Ecke“). Auch das Forum Thomanum wird vom Kulturdezernat in seinem Plan zur Fördermittelverteilung als Teil der Freien Szene angeführt. Der Forum Thomanum e.V. hat es sich zum Ziel gesetzt, in Leipzig ein „international ausgerichtetes Bildungszentrum“ aufzubauen, „das sich um den Thomanerchor und die Thomasschule gruppiert“ (2). Unter der Hand plant das Kulturdezernat also eine Umverteilung von Geldern zu Ungunsten der Freien Szene.

Die Empörung von Leipzig + Kultur ist unter diesen Umständen durchaus berechtigt. Leider fragt mensch sich nicht, warum das Kulturdezernat zu solchen Manövern greift. Stattdessen sorgt sich die Initiative in ihrer Pressemitteilung wieder mal um den Wirtschaftsstandort Leipzig. Dem soll auch die 5%-Regelung dienen: „Geht es der Stadt wirtschaftlich gut, so fallen die Zuschüsse für unsere Arbeit höher aus. In schwierigen Zeiten können die Fördermittel sinken.“ Leider denkt das Kulturdezernat nicht daran, soviel Bescheidenheit zu honorieren. Der Standortlogik ist mensch schließlich auch dort verpflichtet. Eben darum will man ja der Freien Szene die Mittel kürzen. Eine rege Sub- und Soziokultur mag für die Lebensqualität vor Ort unentbehrlich sein – für den Standort ist die Hochkultur bedeutend wichtiger. Das Kulturdezernat meint einfach, das Geld sei besser in prestigeträchtigen Projekten angelegt, mit denen sich die Stadt nach außen präsentieren und Touristen anlocken kann. Es wäre an der Zeit, dass auch die Freie Szene das begreift, anstatt hilflos die Argumente ihrer „Gegner_innen“ nachzubeten.

(justus)

 

(1) www.fuenf-fuer-leipzig.de/die-zukunftskampagne/aktuelles/vom/datum/2010/02/02/verwaltung-will-2010-bei-freier-kulturszene-kuerzen/

(2) www.forum-thomanum.de/geschichte.html

Schafft ein, zwei, viele Erwerbslosentheater!

Stichworte wie „Hartz IV“, „1-Euro-Job“ oder „zweiter Arbeitsmarkt“ dürften bei den meisten Leuten eher negative Assoziationen hervorrufen. Nicht ohne Grund denkt mensch da an Erwerbslose, die zum Laubharken in öffentlichen Grünanlagen abgestellt werden, wilde Plakatierflächen säubern dürfen oder bspw. unter dem Namen Bürgerdienst LE (siehe FA!#24) in Uniformen gesteckt und als Aushilfspolizisten auf Streife geschickt werden. Aber zumindest in Teilen der Institution ARGE scheint man mittlerweile erkannt zu haben, dass reine Beschäftigungstherapie wenig zur angestrebten Wiedereingliederung der Erwerbslosen in den ersten Arbeitsmarkt beiträgt. Sogar Kunst kann im Rahmen von AGH-Maßnahmen (1) entstehen – Theater zum Beispiel. Solche Ausnahmen von der schlechten Regel sind weniger ungewöhnlich, als es scheinen mag. Allein in Leipzig laufen derzeit fünf von der Arbeitsagentur unterstützte Theaterprojekte, an denen gut 80 Erwerbslose teilnehmen.

Who is who?

Klären wir erst mal die großen W-Fragen: Wer macht hier wo was, warum und wozu? Die eine Seite bilden dabei die einzelnen Projekte und deren Träger. Da wäre z.B. der Eutritzscher Geyserhaus e.V. (als freier Träger im Kinder- und Jugendbereich auch für die Betreuung von anderen ARGE-Maßnahmen zuständig), dessen Theaterprojekt Faule Haut nun schon im dritten Jahr läuft. Ebenfalls in der dritten Runde befindet sich derzeit das Projekt Theater am Kanal der Agricola-Institut GmbH. Schon die vierte Maßnahme führt, in Kooperation mit der VILLA-Betriebsgesellschaft mbH, die Theatergruppe DramaVision (siehe FA! 33) durch. Im selben Haus probt und arbeitet zeitgleich auch die Figurentheatergruppe Xp3rim3nt 1 1/4. Als weiterer Träger ist in diesem Jahr der Mischhaus e.V. dazugekommen, dessen Kunst- und Sozialwerkstatt gezielt auf die Interessenlage der Arbeitsagentur (und die entsprechenden Geldmittel) hin konzipiert wurde.

Das Wer und Wo wäre damit geklärt – widmen wir uns also der Frage nach dem Warum und Wozu, nach Motiven und Zielen der beteiligten Instanzen, allen voran der Arbeitsagentur als zentralem Akteur. Diese hat beim Erwerbslosentheater nun nicht einfach ihre kulturelle Ader entdeckt. Die aus solchen „kreativen“ Maßnahmen folgende Imageverbesserung nimmt das Amt als Bonus allerdings gerne mit – auch daraus dürfte sich die vor allem in der Chefetage der Leipziger ARGE gepflegte theaterfreundliche Haltung erklären. Dem steht bei den  Arbeitsvermittler_innen das Interesse zur Seite, die eigenen „Klienten“ nicht unnötig zu dequalifizieren – die Theatermaßnahmen dienen dazu, die eigene Angebotsvielfalt zu erhöhen und auch solchen Erwerbslosen Beschäftigung anbieten zu können, die künstlerisch höher gebildet und/oder kreativ veranlagt sind, denen man einförmiges Unkrautzupfen folglich nicht zumuten will.

In erster Linie verfolgt das Amt also auch hier das übliche Ziel, die Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt zu reintegrieren. So sollen die Teilnehmer_innen wieder an Verbindlichkeiten wie pünktliches Erscheinen und Entschuldigung im Krankheitsfall gewöhnt werden. Auch werden Verwaltungs- und sozialpädagogische Betreuungsaufgaben an die Projektträger ausgelagert, was eine erhebliche Entlastung für die ARGE darstellt. Über die geforderte Teilnehmerbeurteilung werden zudem persönliche Daten der Erwerbslosen (vorhandene Qualifizierungen, Begabungen und allgemeine Arbeitseinstellung) für das Amt erhoben, die von diesem selbst nicht erschlossen werden könnten. Die theaterpädagogische Betreuung soll den Zielvorgaben der ARGE nach u.a. dazu dienen, Selbstbewusstsein und Auftreten der Erwerbslosen und damit ihre Chancen bei Bewerbungsgesprächen zu verbessern.

Die künstlerischen Inhalten, die produzierten Stücke selbst sind für die meisten Bürokrat_innen dagegen nur als Mittel zum Zweck interessant. Positiver Nebeneffekt dieser Ignoranz ist immerhin, dass den diversen Theaterprojekten in ihrer kreativen Tätigkeit weitgehend freie Hand gelassen wird und so auch sehr kritische Äußerungen zur Realität der Institution ARGE auf die Bühne kommen.

Für die Träger dagegen sind die Theaterprojekte nicht nur eine Möglichkeit, sich in der öffentlichen Wahrnehmung zu profilieren, sondern sich auch der ARGE als verlässliche Partner anzudienen. Eben das ist für viele Einrichtungen überlebenswichtig, bekommen sie dadurch doch nicht nur praktisch kostenlose Arbeitskräfte, sondern auch zusätzliche finanzielle Mittel vom Amt. Ohne solche Unterstützung müssten einige soziokulturelle Zentren in Leipzig schlicht dichtmachen.

Dabei können die verschiedenen Einrichtungen auf ganz verschiedenem Wege zum Theater kommen. Im Fall der Gruppe DramaVision ging die Initiative von dem Dramaturgen und Theaterpädagogen Matthias Schluttig aus, der schließlich in der VILLA einen geeigneten Träger fand, um 2005 das erste Erwerbslosentheater in Leipzig auf die Bühne zu bringen. Dagegen entstand beim Agricola-Institut die Idee eines eigenen Theaterprojekts daraus, dass im Rahmen des Aus- und Weiterbildungsbetriebes auch Bühnenkulissen gebaut wurden. Hier suchte man sich also einen Theaterpädagogen, um quasi ein passendes Stück zu den Kulissen zu inszenieren. Diesen verschiedenen Ausgangspunkten entsprechen auch in ihrer künstlerischen Qualität sehr unterschiedliche Ergebnisse.

Blick von unten

Die beteiligten Erwerbslosen sollen dabei nicht vergessen werden. Die jeweiligen Gruppen sind anfänglich meist kaum mehr als ein bunter Haufen von Anfänger_innen, Laien mit Theatererfahrung und (ehemaligen) Profis, von irgendwie am Theatermachen Interessierten oder auch gänzlich Uninteressierten, die nur aufgrund des von ARGE-Vermittler_innen ausgeübten Drucks oder des zusätzlichen Verdienstes dabei sind.

Das sind nicht gerade günstige Startbedingungen für einen produktiven gruppendynamischen Prozess, wie ihn Theaterarbeit im besten Fall darstellt. Künstlerischer Anspruch (sofern vorhanden) und institutioneller Rahmen gehen also nicht reibungslos zusammen. Denn die Schwierigkeiten der Theaterarbeit mit Laien potenzieren sich natürlich, wenn mensch nicht nur unausgebildete, sondern auch unmotivierte Schauspieler_innen zu vorzeigbaren Leistungen bringen soll. Mangelnde Motivation macht es auch schwierig Kontinuität aufzubauen, und darunter leidet wiederum die Qualität. Nicht umsonst verzeichnet z.B. das Theaterprojekt des Agricola-Instituts eine Abbrecherquote von knapp 50%. Und so verständlich das Bedürfnis ist, die ARGE-Vorgaben zu erfüllen um die finanzielle Förderung nicht zu gefährden, so unsinnig ist es andererseits, wenn etwa der Hauptdarsteller eines Stücks wegen wiederholten Zuspätkommens gekündigt wird (wie beim Theater des Mischhaus e.V. einen Tag vor der Premiere geschehen) – immerhin wird damit auch die bereits investierte Arbeit zunichte gemacht.

Anders bei DramaVision, wo ein zum Großteil aus Teilnehmer_innen früherer Projekte gebildetes stabiles Ensemble entstanden ist. Motivierte Mitwirkende, die zudem schon über Theatererfahrung verfügen, ermöglichen weitgehend selbständige Arbeit an mehreren Stücken gleichzeitig, ein Umstand, der diese Gruppe auch künstlerisch auszeichnet. Es wäre den Leiter_innen der einzelnen Erwerbslosen-Theaterprojekte also generell größerer Mut bei der Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber der Arbeitsagentur anzuraten – dies würde auch der Qualität der eigenen Arbeit nur dienlich sein.

Dabei sind sie natürlich auf das (längst nicht selbstverständliche) Wohlwollen der jeweiligen Sachbearbeiter_innen angewiesen. Dabei können gerade die „unkonventionellen“ Theaterprojekte einen realen Zugewinn an Selbstbewusstsein und Kompetenzen, Erfahrungen und persönlicher Reife bedeuten, also womöglich auch im Sinne der ARGE mehr erreichen als bloße Beschäftigungstherapie. Mehr noch: Eine gute Theaterarbeit kann Lernprozesse anstoßen, die nicht nur dafür taugen, die eigene Haut möglichst gewinnträchtig zu Markte zu tragen. Theater und lebendiges, überzeugendes Schauspiel braucht schließlich mehr als das widerspruchslose Erledigen von Vorgaben – es erfordert die Auseinandersetzung mit sich selbst, das Einbringen und Austauschen eigener Erfahrungen, Kommunikation und vielfältige Aushandlungsprozesse zwischen den Teilnehmer_innen. Auch um solche Lernprozesse zu ermöglichen, wäre es nötig sich nicht umstandslos den Vorgaben der ARGE zu beugen, sondern solche Theatermaßnahmen als (wenn auch prekäre) Freiräume zu begreifen, die nach ihren eigenen (von allen Beteiligten mitbestimmten) Regeln funktionieren. Das setzt natürlich voraus, dass es Trägern und Projektleiter_innen um mehr geht als nur den Zugriff auf staatliche Finanzmittel.

Anschauen!

Trotz aller Reibungsverluste, die zwischen Kunst und institutionellem Rahmen auftreten, ist es beachtlich, was das Leipziger Erwerbslosentheater in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Es ist eben die besondere Möglichkeit des Theaters, Öffentlichkeit herstellen, Geschichten erzählen zu können, ein Publikum zu berühren. Vielleicht ist dies einer der letzten Orte, wo ein politisches Theater, das diesen Namen verdient, noch stattfinden kann. Ein Theater, das soziale Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern ein stückweit auch real verändert, das nach Innen Freiräume zur Selbstentfaltung schafft und nach Außen zur Selbstermächtigung anregt.

Es dürfte also lohnen, sich das bunte Programm der Ensemble im Sommer mal genauer anzuschauen – umso mehr, da die Zukunft der Erwerbslosentheater eher ungewiss aussieht. Der Etat der Bundesagentur für Arbeit weist riesige Löcher auf und die schwarz-gelbe Regierung plant massive Einschnitte gerade bei Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen. Ob wir also gerade den letzten großen Sommer des Leipziger Erwerbslosentheaters erleben, bleibt abzuwarten. Bis dahin lautet die Parole: Erwerbende und Erwerbslose aller Länder, auf ins Theater!

(justus & clov)

 

(1)  AGH heißt aus dem Amtsdeutsch übersetzt „Arbeitsgelegenheit“. Die AGH MAE (Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung), volkstümlich auch „Ein-Euro-Job“ genannt, ist dabei die unterste Stufe in der Pyramide staatlich gestützter Teil- und Vollzeitjobs, deren höchste Stufe die AGH Entgelt darstellt, bei der 1400,- Euro brutto monatlich verdient werden können.

Jugendkultur? Aber bitte mit Sahne!

Vom Kampf um ein Alternatives Jugenzentrum in Wittenberg

Echte Probleme erkennt mensch oft daran, daß (vermeintlich) Ungewöhnliches geschieht. Hausbesetzungen von Jugendlichen, die so ihren Bedarf nach kulturellem, sozialem und politischem Wirkungs- und Selbstverwirklichungsraum hinausschreien, gehören „hier­zulande“ definitiv dazu. Nach dem Niedergang eines dieser Räume, des Topf Squat in Erfurt (FA! #32, #33), und der kurzen Geschichte zum Magdeburger besetzten Haus (FA! #34) widmen wir uns heute einer Luther­stadt und ihrem Problem mit der (fehlenden) Jugendarbeit.

Wie viele Städte in Ost­deutschland ist Wit­ten­berg dabei zu überal­tern und bietet seinen Ein­wohner_innen kaum mehr als eine Tourismusindustrie rund um Martin Luther, Philipp Me­lanch­thon und Lucas Cranach; mit vielen Sehenswürdigkeiten vor allem für Reformationstouristen, die täglich von 9 bis 6 durch die Stadt gejagt werden, bevor die Bordsteine wieder hochgeklappt werden können. So ist für Engagement und Investitionen in Kultur und bitter notwendige Jugendarbeit in der knapp 50.000-Ein­wohner_innen-Stadt im östlichen Zipfel Sachsen-Anhalts eher wenig Platz. Die wenigen übriggebliebenen Einrichtungen Wittenbergs, in denen noch Jugendarbeit stattfindet, bangen regelmäßig um ihre Existenz. Doch trotz ihrer Dienste haben viele junge Menschen keine Räume um kulturellen und sozialen Aktivitäten nachzugehen bzw. welche zu entfalten. Kein Wunder also, daß es Leute gibt, die diese Arbeit in die eigenen Hände nehmen, Orte des Miteinanders und der politischen Betätigung etwas abseits staatlicher und städtischer Strukturen schaffen wollen.

So hatte sich der Verein Kultur mit Sahne (KumS) schon 2004 die Aufgabe gestellt, Wittenbergs Jugendlichen ein alternatives Jugendzentrum zu besorgen und trat im letzten Jahr verstärkt in Verhandlungen mit dem Stadtrat, dem Jugend­hilfe­aus­schuß und dem Bürgermeister Wit­tenbergs. Es handelt sich bei dem Verein um eine „alternative Jugendgruppe, in der sich Menschen im Alter von 16 bis 30 Jahren bewegen“, die sich „für mehr Toleranz und Aufklärung jeglicher Art im Landkreis Wittenberg“ einsetzen. Um solch hehre Ziele verwirklichen zu können, bedarf es allerdings einer geeigneten Immobilie mit genügend Platz für Konzerte, Kreativwerkstätten, einen Infoladen und was es eben sonst noch so alles braucht für ein selbstverwaltetes soziokulturelles Zentrum.

Um dies zu verwirklichen, ging der Verein den Weg durch die Instanzen – wurde nach Selbstauskunft von der Stadt letztlich aber nur „verarscht“. Die Jugendlichen, für welche Kultur mit Sahne mühselig den Amtsschimmel ritt, nahmen die Sache schließlich in die eigenen Hände und besetzten am 14. August kurzerhand das ehemalige Gesundheitsamt in der Wallstraße, eine schöne, seit drei Jahren leerstehende Immobilie in Stadteigentum, nicht mal 5 Minuten vom Marktplatz entfernt. Die Besetzer_innen bezeichneten sich als solidarisch zu KumS und wollten diesem so ein Objekt beschaffen bzw. die Mitwirkung der Stadt und des Kreises ein wenig vitalisieren. Oberbürgermeister Naumann (SPD) signalisierte auch sofort Verhandlungsbereitschaft und hielt die Polizei im Zaum; stellte allerdings von Anfang an klar, daß es Regeln gäbe, an die sich auch die ja illegal handelnden Jugendlichen zu halten hätten. So war auch diese Besetzung nur eine auf Zeit, die Räumung von Vorherein absehbar. Es galt nur Aufmerksamkeit zu schaffen und mit dieser illegalen Aktionsform auf die Dringlichkeit des lobenswerten Anliegens in möglichst breiter Öffentlichkeit hinzuweisen. Und so wurde sich von Seiten der Besetzer_innen auch redlich um ein medientaugliches Bild ihres kulturellen und politischen Engagements bemüht. Von Beginn an gewaltfrei und auf Dialog bedacht, präsentierten sie schon vom Abend der Inbesitznahme an aufgeräumte Gemeinschafts- und Partyräume, einen Infoladen mit kleiner Bibliothek sowie eine provisorisch eingerichtete Küche für den „Mampf zum Kampf“.

Am 18. August kam es im Neuen Rathaus der Lutherstadt zu Verhandlungen zwischen Vertreter_innen der Besetz­er_in­nenfraktion, des Vereins Kultur mit Sahne und der Stadt Wittenberg. An diesen seitens der Stadt von Ausreden und Lavieren geprägten Gespräche war das einzig Greifbare die Aussage, daß das Haus so schnell wie möglich geräumt werden müsse, um „eine verfassungskonforme Situation“ zu erhalten. Und natürlich der Clou: Die Stadt schloß mit dem Verein einen „‘moralischen’ Vertrag“ ab, in der eine intensive Suche nach Räumlichkeiten seitens der Stadt Wittenberg zugesichert wurde. Weiterer Inhalt war aller­dings, daß sowohl die Stadt als auch KumS die Besetzung missbilligten. Mit dieser Klausel machten die Vertreter_innen der Stadt wiederum deutlich, wer in den Verhandlungen das Sagen hat. Zusätzlich setzten sie den Hausbesetzer_innen ein Ultimatum zum „freiwilligen“ Verlassen bis zum 25. August (also eine ganze Woche) und drohten KumS mit der Einstellung aller sonstigen Verhandlungen, sollte es zu einer gewaltvollen Räumung kommen müssen. In den Augen mancher Besetz­er_innen vielleicht eine Art Verrat am Kampf um das Squat in der Wallstraße, sahen die Vertreter_innen von Kultur mit Sahne jedoch nur durch die abgepresste Distanzierung die Möglichkeit, sich langfristig einen Weg zu einem alternativen Zentrum in der Lutherstadt offen zu halten.

Die anfängliche Zusage Naumanns am Besetzungstag („Wir veranlassen hier keine Räumung, solange alles normgerecht läuft.“) löste sich so nur vier Tage später in Luft auf, als er direkt nach den Verhandlungen die Räumungsaufforderung verschickte. Freilich wie immer mit der Zusicherung der Gesprächsbereitschaft.

Am Abend des 25. dann verließen die Besetzer_innen „heimlich“ das Haus, um sich der drohenden Räumung sicher zu entziehen. Das alte Gesundheitsamt wurde nur Stunden später von der Polizei wieder in den Stadtbesitz zurückgeführt, dezente Hinweise auf Besetzungsaufgabe bekamen sie dabei durch ein paar um­ge­stoßene Mülltonnen und einen an­gezündeteten Papierkorb rund um den geschichtsträchtigen Marktplatz.

Genau dort zog einige Wochen später, am 19. September, eine Freiraumdemon­stration an den Denkmälern Luthers und Melanchthons vorüber. Allerdings völlig ohne den Verein Kultur mit Sahne, der sich weder als Veranstalter, Teilnehmer noch Supporter dieser Demo die „gute Ver­handlungsbasis mit der Stadt“ verderben wollte. Worüber mensch nun denken kann wie mensch will.

Was blieb übrig von einer kurzen, aber ereignis- und hoffnungsreichen Zeit im ersten offiziell besetzten Haus Wittenbergs des neuen Jahrtausends? Sieben Anzeigen wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung zum Beispiel, entgegen dem Versprechen OB Naumanns, bei Aufgabe der Besetzung auf diese zu verzichten. Oder unzumutbare Ersatzobjekte, die die Vereinsmitglieder besichtigen durften. Die Krönung jedoch waren wohl die Erfahrungen vor’m Jugendhilfeausschuß im Landratsamt am 8. Oktober. Dort mussten sich die Vereinsmitglieder sagen lassen, daß finanzielle Unterstützung für ein Zentrum gerade sowieso nicht drin sei, die Stadt im Jugendbereich eher einsparen muss als neue Mittel freizumachen für „Dilletanten“, die eh keine Jugendarbeit machen und nur ihre Szene ansprechen würden. Freilich wie immer mit der Zusicherung von Bürgermeister Zugehör, daß sich schon irgendwie eine Möglichkeit finden werde.

Eine Lösung für ein alternatives Jugendzentrum in Wittenberg fanden die engagierten jungen Menschen aber wahrscheinlich in Eigenregie. Die Zeichen stehen allerdings gut, daß die Verhandlungen um das alte Kreiswehrersatzamt mit seiner den Anforderungen mehr als entsprechenden Lage* von Erfolg gekrönt sein wird. Als „Traumobjekt“ bezeichneten sie das Haus und das dazugehörige Grundstück schon, erschwingliche 99.000 Euro (plus Maklercourtage) soll es kosten und so hat Kultur mit Sahne die Kampagne „Zwölf + Zwei = Wir ziehen in unser Haus“ gestartet. Zwölf Bürgen werden noch gesucht, um die vom Eigentümer geforderte Kaution von 25.000 Euro aufzubringen, und – vorrangig um die monatlichen Kosten zu decken – zusätzlich zu den schon vier Mieter_innen noch zwei Personen, die gerne einziehen möchten in’s neue alternative Zentrum.

Bleibt KumS und allen Mitstreiter_innen noch zu wünschen, daß diese Bedingungen bald erfüllt sind und der Unterzeichnung des Kaufvertrages auch sonst nichts im Wege steht. Nicht zu wünschen ist ihnen nach all den Erfahrungen allerdings jegliche Abhängigkeit von Stadt oder Land, denn nur so werden sie es noch weit schaffen, die sympathischen Akti­vist_in­nen rund um den Verein Kultur mit Sahne.

shy

 

* Fast direkt gegenüber befindet der ehemalige berüchtigte „Schweizer Garten“, das besetzte Haus und Autonome Zentrum Wittenbergs in den 90ern. Weichen musste es schlussendlich u.a. wegen dem Neubau der Hauptsparkasse und anderen Aufwertungsprozessen im unmittelbaren Umfeld des rauhen „Zeckenhauses“. Auch wenn sich die Menschen um das neue Alternative Zentrum um einiges moderater darstellen, birgt diese „exponierte“ Lage evtl. doch Zündpotenzial …